Cover

Leseprobe

 

 

 

TOM MADDOX

 

 

HALO

 

 

Ein Cyberpunk-Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

HALO 

 

TEIL EINS 

Brennen, brennen 

Ich tue für Sie, was ich kann 

Tanz im Dunkeln 

Das Privileg, nicht zu existieren 

So komm' in meine Arme 

 

TEIL ZWEI 

Halo City, Aleph 

Ein Garten, angefüllt mit kleinen Maschinen 

Halo City 

Café Virtuale 

Sag' mir, wenn es genug ist 

Deine Buddha-Natur 

 

TEIL DREI 

Einbrennen 

Kosmos 

Wie ein seltsamer Ballon treibt der Geist der Ewigkeit entgegen 

Chaos 

 

TEIL VIER 

Noch tiefer im Untergrund 

Fliegen, sterben, wachsen 

Gebt alles zurück 

 

TEIL FÜNF 

Reden, träumen, kämpfen 

Trunken vor Liebe 

Aus dem Ei 

Byzanz 

Das Buch

Die Raumstation Halo City wird von Aleph, einem gigantischen Computer, am Leben erhalten, doch Aleph hat die Begrenzungen der Computer-Technologie längst überwunden: Er kann nicht nur alternative Wirklichkeiten erschaffen, sondern auch Tote zum Leben erwecken. Als Jerry Chapman, einer seiner Erfinder, an einer Seuche stirbt, konserviert Aleph dessen lebendiges Bewusstsein. Und die anderen Wissenschaftler der Station wagen ein einzigartiges Experiment: Sie wollen Chapmans Persönlichkeit auf Dauer retten – dazu aber muss jemand in die alternativen Wirklichkeiten des Maschinenwesens hinabsteigen...

 

Tom Maddox' aufsehenerregender Debüt-Roman aus dem Jahr 1991 ist das perfekte Beispiel eines post-modernen und zeitlosen Science-Fiction-Romans: eine faszinierende Geschichte über Menschen und Computer, über Pronomen und Anti-Pronomen – und den Traum von der Unsterblichkeit. Dabei bedient sich Tom Maddox den Stilmitteln des literarischen Cyberpunk und kann doch zugleich als deren Überwinder und Vollender bezeichnet werden.

 

Der Autor

 

Tom Maddox, Jahrgang 1945. 

Tom Maddox ist ein US-amerikanischer Science-Fiction-Autor, der bekannt wurde durch seine Beiträge zur Cyberpunk-Bewegung.

Sein Debüt-Roman Halo wurde im Jahr 1991 veröffentlicht, seine das Genre Cyberpunk nachhaltig prägende Erzählung Snake Eyes (1986 – dt. Schlangenaugen, 1988) erschien in der von Bruce Sterling herausgegebenen legendären Anthologie Mirrorshades (1986 – dt. Spiegelschatten, 1988).

Besondere Popularität erlangte Tom Maddox durch die gemeinsam mit William Gibson verfassten, deutlich vom literarischen Cyberpunk beeinflussten Akte X-Episoden Kill Switch (1998 – dt. Kill Switch) und First Person Shooter (2000 – dt. Game Over).

Laut William Gibson ist Tom Maddox der Erfinder des Begriffs Intrusion Countermeasures Electronics (oder: ICE), welchem in Gibsons Erzählung Burning Chrome (1982 – dt. Chrom brennt!, 1986) und in dessen Debüt-Roman Neuromancer (1984 – dt. Neuromancer, 1986) größte Bedeutung zukommt.

Tom Maddox ist Professor für Literaturwissenschaften am Evergreen State College in Olympia, Washington/USA.

HALO

 

 

 

 

Im Gedenken an George Maddox, meinen Vater;

Paul Cohen, meinen Freund;

und an unsere beklagten Toten, versunken in der Zeit.

 

 

 

 

 

 

TEIL EINS

 

 

»Alles ist dazu bestimmt, als Simulation wiederzukehren.«

 

- Jean Baudrillard, America 

 

 

 

 

 

  

  Brennen, brennen

 

  

  An einem regnerischen Morgen in Seattle war Gonzales bereit für das Ei. Eine Woche vorher war er von Myanmar, jenem Land, das früher als Burma bekannt gewesen war, zurückgekehrt, und nun, nach zwei Tagen - angefüllt mit Drogen und Fasten - war er vorbereitet: Er war zu einem Alien geworden, daheim in einer fernen Landschaft.

  Sein Gehirn lief über von Blüten aus Feuer, deren gespreiztes weißes Fleisch gelbgebrannt war, das Zentrum einer brennenden Welt. Auf der dunkel gefleckten Eichentür tanzten Engelsschwingen in blauen Flammen, ihre Gesichter glückselig im kalten Feuer.

  Während er die belebten geschnitzten Figuren betrachtete, dachte Gonzales: Das Feuer ist in meinen Augen, in meinem Gehirn. Er drückte die S-förmige Messingklinke herunter und schritt durch den Gang, wobei seine offenen Sandalen aus weicher Baumwolle und geflochtenen Schnüren geräuschlos über die Fußböden aus gebleichter Eiche glitten. Durch die offene Tür am Ende des Gangs erzeugte das Morgenlicht mit dem bunten Glas abstrakte Muster in Karmesinrot und Buttergelb. In dem Raum stand vor der hinteren Wand eine blaue Monitorkonsole, auf deren Schirm das sonnenförmige Firmenlogo von SenTrax leuchtete; in der Mitte des Raums befand sich das Ei, geteilte Hälften aus verchromtem Stahl, aufgeklappt und abwartend. Eine Eihälfte war mit beigefarbenen Schläuchen und verschlungenen optischen Kabeln gefüllt, die andere Hälfte enthielt hartes dunkles Plastikmaterial, das sich schlaff an die Innenwand schmiegte.

  Gonzales wischte sich mit der Hand über die Augen, dann raffte er sein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und streifte ein Gummiband darüber. Er griff nach unten an seine Taille und erfasste den Saum seines marineblauen T-Shirts und zog sich das Hemd über den Kopf. Er ließ es auf den Fußboden fallen, schleuderte die Sandalen von seinen Füßen und stieg aus der ausgebeulten braunen Hose und dem lose sitzenden weißen Baumwollslip. Er stand nackt da, und seine Haut glänzte von einem dünnen Schweißfilm. Seine Haut fühlte sich heiß an, seine Augen brannten, und in seinem Magen brodelte es.

  Gonzales stieg hoch und in eine chromglänzende Eihälfte. Er erschauerte und lehnte sich zurück, während körperwarme Flüssigkeit in die schlaffen Plastikfalten lief und sie unter ihm aufblähte. Er ergriff fingerdicke Kabel und schob ihre Kontakte in die Buchsen in seinem Nacken. Während das Ei sich weiter füllte, stülpte er die Maske über sein Gesicht, spürte, wie ihre Ränder sich auf seiner Gesichtshaut festsaugten, und atmete ein. Katheter näherten sich seinem Schoß, Injektionsnadeln zielten auf seine Armbeugen. Das Ei schloss sich um ihn, und Flüssigkeit strömte in die Höhlung.

  Er trieb in völliger Stille, wartete, atmete langsam und tief, während das Hochgefühl durch die chaotische Mischung aus Empfindungen drang, die durch Drogen, Meditation und das Ei erzeugt worden war. Ganz gleich, dass er seinen eigenen Schrecken erneut durchleben würde, dies war es, was ihn bewegte: der Zugang zu den Vielwelten menschlicher Erfahrung - eine Reise durch Raum, Zeit und Wahrscheinlichkeit zugleich.

  Virtuelle Realitäten waren überall - virtuelle Urlaubstage, virtueller Sex, Superstarruhm, was auch immer man wollte -, aber verglichen mit dem Ei waren sie nur hochauflösende Videospiele oder Bühnenzauber. VRs benutzten eine Reihe von Tricks, um physische Präsenz zu simulieren, doch die Sinne konnten nur bis zu einem gewissen Grad getäuscht werden, so dass es einem durchaus bewusst war, wenn man eine VR einatmete, und die Illusion letztendlich davon abhing, wie weit man willentlich bereit war, seine Skepsis auszuschalten. Beim Ei hingegen waren sämtliche sensorische Modalitäten beteiligt; die Welten waren so überzeugend, dass Leute, die nach diesen Ausflügen erwachten, in der wachen Welt verloren erschienen, als befänden sie sich in einem Traum.

  Eine Nadel bohrte sich durch eine Membrane in eines der neutralen Kabel und injizierte eine Neuropeptidmischung.

  Gonzales ging auf die Reise.

 

  Es war der letzte Tag von Gonzales dreiwöchigem Aufenthalt in Pagan, der Stadt mitten in Myanmar, wohin die Regierung infolge heftiger Rassenunruhen in Yangon vor Jahrzehnten ihre Archive ausgelagert hatte. Er saß mit Grossback, dem Abteilungschef von SenTrax Myanmar, an einem Rosenholztisch in der Mitte des großen Konferenzsaales. Die Workstations des Tisches - längliche, in die Tischplatte eingelassene Glasgebilde - lagen dunkel und stumm vor ihnen.

  Gonzales war nach Myanmar gekommen, um ein Informations-Audit durchzuführen. Die örtliche SenTrax-Gruppe versorgte den Konföderierten Staat von Myanmar mit seinen grundlegenden Informationsmitteln: darunter auch alle Aufzeichnungen über Personal und Material sowie die Transaktionen zwischen ihnen. Einen Monat vorher hatten die Berichte der örtlichen Gruppe in den passiven Kontrollprogrammen der Mutterfirma Look-see-Alarme ausgelöst, und Gonzales und sein Memex waren losgeschickt worden, um sich die Daten etwas genauer anzusehen. Deshalb hatten Gonzales und das Memex zwanzig Tage lang Datenstrukturen und ihre Inhalte getestet und nominal funktionelle Beziehungen mit der Wirklichkeit verglichen. Wo immer es Bewegungen von Informationen, Geld, Ausrüstung oder Personal gab, existierten auch entsprechende Aufzeichnungen, und diese verfolgten die beiden. Sie untersuchten den Geldfluss, verglichen Beschaffungsorder mit geleisteten Diensten und verbrauchtem Material, kontrollierten Paraffen mit den Personalakten, verglichen die Personalunterlägen mit den regierungsamtlichen Datenstämmen und beschäftigten sich mit dem Umfeld und den Aktivitäten der Personen, die sie repräsentierten; sie lasen Verträge und verfolgten sie zurück bis zu Entwurf und Ausführung; sie kontrollierten die täglichen Betriebsprotokolle.

  Harte, mühsame Arbeit, nur mit Geduld und Sinn fürs Detail zu bewältigen, und bisher hatte sie nichts als die üblichen Schlampereien erbracht. Grossback leitete keinen ausgesprochen effizienten Betrieb, aber im Augenblick sah es so aus, als gebe es keine gezielten Unregelmäßigkeiten. Trotzdem war weder seine noch die Überprüfung von SenTrax Myanmar abgeschlossen; Gonzales' abschließender Bericht käme später, nachdem er und das Memex die Geschäftsunterlagen ausgiebig analysiert hätten.

  Gonzales streckte sich und rieb sich die Augen. Wie immer am Ende einer solchen kurzzeitigen, arbeitsintensiven Mission war er müde, fühlte er sich ausgebrannt und von dem Wunsch getrieben, endlich aufzubrechen. Zu Grossback sagte er: »Ich fliege mit einer Firmenmaschine heute Nachmittag von hier nach Bangkok. Dort nehme ich den nächsten Linienflug, den ich erreichen kann.«

  Grossback lächelte und war offensichtlich froh, dass Gonzales abreiste. Grossback war ein zierlicher Mann; er hatte hellbraune Haut, schwarzes Haar und ein feingeschnittenes Gesicht. Er kleidete sich nach alter burmesischer Mode: ein dunkler Rock, longyi genannt, zu einem weißen Baumwollhemd.

  Während Gonzales' Aufenthalt war er ihm kühl und korrekt hinter eine Maske aus kollegialer Höflichkeit begegnet. Völlig okay, hatte Gonzales gedacht: Der Betrieb dieses Mannes stand unter einem gewissen Verdacht, und der Mann selbst auch. Außerdem verabscheuten die Leute im Allgemeinen diese Einmischungen von draußen; als Vertreter der Abteilung für Innere Angelegenheiten berichtete Gonzales ausschließlich seinem Abteilungschef, F. L. Traynor, und dem Verwaltungsrat von SenTrax, und das machte fast jeden nervös.

  »Starten Sie vom Myaung-U-Airport?«, fragte Grossback.

  »Nein, ich habe darum gebeten, mich südlich der Stadt abzuholen.« Wie jeder andere, der entsprechende Arrangements treffen konnte, wollte er nicht den offiziellen Flughafen von Pagan benutzen, wo Partisanengruppen gelegentlich Flugzeuge abschossen. Grossback musste das eigentlich wissen.

  Grossback fragte: »Wie lautet Ihr Bericht?«

  Überrascht sah Gonzales ihn an. »Sie wissen doch, dass ich Ihnen darüber nichts mitteilen darf.« Allein diesem Punkt zur Sprache zu bringen war eine erhebliche Peinlichkeit, abgesehen davon, dass es sich um eine Verletzung der firmeninternen Vorschriften handelte, die gemeldet werden konnte. Der Mann war entweder dumm oder verzweifelt

  »Sie haben doch nichts gefunden, oder?«, meinte Grossback.

  Was für ein Problem hatte er? Gonzales erwiderte: »Ich muss die Daten von einem ganzen Jahr überprüfen, ehe ich eine Bewertung abgeben kann.«

  »Sie wollen mir also nicht verraten, wie der vorläufige Bericht aussieht«, sagte Grossback. Sein Gesicht war starr geworden.

  »Nein«, erwiderte Gonzales. Er erhob sich und sagte: »Ich muss noch packen.« Im Augenblick wollte er nur verschwinden, ehe Grossback etwas tat, was nicht mehr zu ignorieren wäre, zum Beispiel ihn zu bedrohen oder zu versuchen, ihn zu bestechen. »Auf Wiedersehen«, sagte Gonzales.

  Der andere Mann sagte nichts, als Gonzales den Raum verließ.

 

  Gonzales kehrte ins Thiripyitsaya Hotel zurück, eine Ansammlung niedriger Bungalows aus Bambus und Eisenbeton, die oberhalb des Irawadi River angelegt war. Die Zimmer waren von der schäbigen Version Myanmars von Touristenluxus verschandelt: lackierter Bambus an den Wänden neben Holos von fliegenden Drachen sowie eine Kommode, Tische, Stühle und Bettrahmen aus schwarzem Teak; Deckenventilatoren, die sich aus dem zwanzigsten Jahrhundert hierher verirrt hatten. Nur um dem Durchschnittsbürger diesen geballten Eindruck von exotischem Ostasien zu vermitteln, dachte Gonzales. Das Hotel war jedoch vor weniger als zehn Jahren renoviert worden, daher verfügte Gonzales, nach lokalen Maßstäben, über jeden Luxus: Klimaanlage, Mikrowellenherd und Kühlschrank in funktionsfähigem Zustand.

  Natürlich arbeitete die Klimaanlage an vielen Abenden nicht, und Gonzales lag schwitzend und halb benommen in den heißen, feuchten Nächten auf seinem Bett und wurde anschließend im ersten Morgengrauen von Eidechsen begrüßt.

  An mehreren dieser frühen Morgen war er über die Wege spaziert, die sich durch Ebenen rund um Pagan zogen, war zwischen den Tempeln und Pagoden umhergeschlendert, während die Sonne aufging und den Morgendunst in einen riesigen Schleier leuchtenden Rosas verwandelte, aus dem die Türme wie Märchenschlösser herausragten. Überall in und um Pagan herum standen die Tempel, als Wilhelm der Eroberer König gewesen war. Nun hingegen hockten Fertigbauten, die Regierungsbehörden beherbergten, zwischen den tausend Jahre alten Pagoden, einige in einem noch nahezu makellosen Zustand wie der Thatbyinnu-Tempel zum Beispiel, unzählige andere jedoch nicht mehr als Ruinen und längst vergessene Namen. Man machte sich verdient, indem man Pagoden baute, und nicht indem man die erhielt, die von jemandem erbaut worden waren, der längst tot war.

  Wie einige andere Länder Südostasiens versuchte Myanmar noch immer, sich von der politischen Entwicklung des späten zwanzigsten Jahrhunderts zu erholen; im Falle Myanmars war das sein Jahrzehnte währender Kampf gegen eine ständige Folge von Militärdiktaturen und das Chaos, das auf sie folgte. Und wie es häufig bei politisch instabilen Ländern der Fall war, sein immer noch stark eingeschränkter Zugang zum Weltnetz; während verschiedener Arten von Regierungen hatten die Führer des Landes die Aussicht auf einen freien Informationsfluss als unannehmbar betrachtet. Ka-Band-Antennen waren teuer, ihre Benutzung nur nach Erwerb einer Lizenz gestattet, die zu erlangen so gut wie unmöglich war. Infolgedessen waren Gonzales und das Memex sich vorgekommen wie Fleischfresser, die unter die Vegetarier geraten waren und keine Möglichkeit hatten, die Nahrung zu finden, die sie lebensnotwendig brauchten.

  Er hatte an diesem Morgen das Memex heruntergenommen. Die Funktionen ausgeschaltet, ruhte es in einem seiner beiden Glasfiber- und Aluminium-Schutzbehälter und war bereit für den Transport. Die andere Box enthielt Speicherkästen mit den Protokollen der Abteilung Myanmar von SenTrax.

  Sobald sie zu Hause wären, würde Gonzales dem Memex die neuesten Daten über Grossback mitteilen und wie der Mann im letzten Moment der Mission zusammengebrochen war. Gonzales war sicher, dass das M-I das gleiche denken würde wie er: Grossback hatte Dreck am Stecken und panische Angst, dass sie es herausfinden könnten.

 

  Am Rand eines sandigen Flugfeldes südlich von Pagan wartete Gonzales auf seine Maschine. Er trug seine übliche internationale Reisekluft, einen braunen zweiteiligen Gabardineanzug sowie ein weißes Leinenhemd mit offenem Kragen und dunkelbraune Slipper an den Füßen. Sein Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und wurde von einem Silberring gehalten, der aus Eidechsenfiguren bestand, die einander in den Schwanz bissen. Neben ihm standen ein weicher brauner Lederkoffer und die beiden Schutzbehälter.

  Vor ihm erhob sich eine Pagode in einer Reihe von Terrassen und endete in einem vergoldeten und mit Edelsteinen besetzten Schirmdach, das zum Himmel wies. Auf ihren Stufen, neben der mächtigen Tatze eines steinernen Löwen, saß ein Mönch in Lotoshaltung, das Gesicht von dem Tier überschattet, das massig und wuchtig und übertrieben bedrohlich neben ihm aufragte. Die Flanken des Löwen wurden vom Sonnenuntergang orangenfarben getönt, die Lippen hatten die Farben von getrocknetem Blut. Die Minuten verstrichen, und die Stimme des Mönchs erklang in einem eintönigen Gesang, wobei sein Gesicht im Schatten verborgen blieb.

  »Machen Sie einen Rundgang durch die Tempel des alten Pagan«, sagte eine Stimme. »Shwezigon, Ananda, Thatbyinnu...«

  »Verschwinde«, befahl Gonzales dem Rundfahrtwagen, der von hinten an ihn herangerollt war. Er bot etwa zwei Dutzend Passagieren in acht Reihen schmaler Holzbänke Platz, war jedoch im Augenblick leer. Fast alle Touristen drängten sich jetzt sicherlich auf den Terrassen von Thatbyinnu, wo sie den Sonnenuntergang über dem weiten Tempelfeld beobachten konnten.

  »Die letzte Rundfahrt des Tages«, sagte der Wagen. »Sehr billig, außerdem biete ich als besonderen Service für unsere Besucher einen sehr günstigen Umtauschkurs.«

  Er wollte Kyats gegen Dollars oder Yen umtauschen: In Myanmar betätigten sich sogar die Maschinen auf dem schwarzen Markt. »Nein, danke.«

  »Ein extrem guter Kurs, Sir.«

  »Verpiss dich«, schimpfte Gonzales. »Oder ich melde dich als defekt.« Der Wagen schnurrte, während er sich entfernte.

  Gonzales beobachtete einen jungen Mönch, der von der anderen Straßenseite zu ihm herübersah, bereit, die Straße zu überqueren und um Bleistifte oder Geld zu betteln. Gonzales fing den Blick des Mönchs auf und schüttelte den Kopf. Der Mönch hob die Schultern und ging weiter, wobei sein orangefarbenes Gewand flatterte und sich bauschte.

  Wo zum Teufel blieb sein Flugzeug?

  Bald würden Jagdleuchtkugeln die Dunkelheit des Neumondes zerreißen, und Regierungshummeln würden wie riesige mutierte Fledermäuse an der Grenze der Dunkelheit umherschwirren. Im Landesinnern befand Myanmar sich am Rand des Chaos, ausgelöst durch ein Vielvölkergemisch von Karenen, Kachinen und Shanen mit verschiedenen politischen Anliegen, alle geeint in ihrer heftigen Ablehnung der Zentralregierung. Sie kämpften mit allem, was ihnen in die Hände geriet, vom angespitzten Holzknüppel bis hin zur kleinsten Rakete, und sie gaben erst Ruhe, wenn sie im Kampf umkamen.

  Ein schrilles Heulen wurde schnell lauter, bis es die ganze Luft ausfüllte. Innerhalb weniger Sekunden erschien über der dunklen Masse des Waldes ein silberner Schwing-Flieger, ein unförmiges Ding, deren riesige rechteckige Tragflächen mit je einem wuchtigen, übergroßen Motorengehäuse versehen waren. Mit rot und gelb blinkenden Positionslichtern verharrte der Schwing-Flieger über dem Flugfeld, klappte die Tragflächen um, und das Brummen der Motoren klang tiefer und tiefer. Die Scheinwerfer leuchteten auf dem Grund einen etwa zehn Meter großen Kreis mit ihrem weißen Lichtschein aus, auf den der Schwing-Flieger sich herabsenkte und dabei Sandwolken hochwirbelte, die über Gonzales hinwegfegten. Das Heulen der auf Gegenschub geschalteten Turbinen wurde zu seinem Flüstern, und mit einem Knarren belastete die Maschine ihr Landegestell, so dass das Cockpit dicht über dem Boden schwebte. Gonzales ergriff sein Gepäck und ging auf die Maschine zu. Eine Leiter faltete sich mit einem hydraulischen Zischen aus dem Rumpf, und Gonzales stieg auf ihr nach oben und verschwand im Inneren des Flugzeugs.

  »Michail Gonzales?«, fragte der Pilot. Er hatte sich die multifunktionale Fliegerbrille nach oben auf die Stirn geschoben, wo die verspiegelten ovalen Gläser ein leeres zweites Augenpaar bildeten; ein dünner Strang eines faseroptischen Kabels ringelte sich von ihrem 'Rand herab. Unter der Brille war das schmale Gesicht gebräunt und faltig. Keine kosmetische Renovierung bei diesem Typen, dachte Gonzales. Der Mann trug ein tropisches Wegwerfhemd mit tanzenden rosafarbenen Flamingos auf einem marineblauen Untergrund

  »Das bin ich«, erwiderte Gonzales. Er beschrieb mit dem Behälter in seiner rechten Hand eine Geste, und der Pilot legte einen Schalter um, der den Gepäckraum öffnete. Gonzales stellte seine Koffer in das Stahlabteil und sah zu, wie das Sicherheitsnetz sich um die Koffer strammzog und die Abteiltür sich schloss. Er suchte sich einen Platz in der ersten von acht freien Reihen hinter dem Piloten. Polster seufzten unter ihm, und aus der Rückenlehne seines Vordersitzes sagte eine weibliche Stimme zu ihm: »Sie sollten Ihre Gurte anlegen. Wenn Sie dazu irgendwelche Erläuterungen brauchen, dann sagen Sie es jetzt.«

  Gonzales schloss den trapezförmigen Haken, wo Schulter- und Bauchgurte zusammenkamen, dann stemmte er sich probeweise gegen das Geschirr und spürte, wie der Schweiß auf seiner Haut in der kalten Luft der Flugzeugkabine trocknete.

  »Danke sehr«, sagte die Stimme.

  Der Pilot unterhielt sich mit der Flugkontrolle des Myaung-U-Airport, während die Maschine hinaufstieg in die Dämmerung über der Stadt. Der weiche, weiße Schimmer der Kuppelbeleuchtung verschwand, dann waren da nur noch die letzten Strahlen orangefarbenen Sonnenlichts, die durch die Blasenwand drangen.

  Das Tempelfeld erstreckte sich unter ihnen, düster und mit tiefen Schatten übersät, aus denen die Tempel- und Pagodentürme sich zum Licht reckten, weiß und golden, überzogen mit rotem und orangefarbenem Glanz.

  »Mann, ist das ein herrlicher Anblick«, sagte der Pilot.

  »Da haben Sie Recht«, meinte Gonzales. Es war wirklich wunderschön, doch er hatte diesen Anblick schon früher genossen, und außerdem war es für ihn ein anstrengender Tag gewesen.

  Der Pilot schob seine Brille herunter, und das Flugzeug legte sich in eine weite Linkskurve und folgte dem Fluss nach Süden.

  Gonzales lehnte sich in seinem Sitz nach hinten und versuchte sich zu entspannen.

  Sie flogen über schwarzem Wasser dahin und orientierten sich am Verlauf des Irawadi River, bis sie einen internationalen Flugkorridor nach Bangkok kreuzten. Im Halbdunkel der Flugzeugkabine war Gonzales beinahe eingeschlafen, als er die

Stimme des Piloten vernahm: »Scheiße, da ist jemand. Eine Partisanengruppe - kein Erkennungscode. Die sind offenbar mit Ultralights unterwegs. Unser Radar hat sie nicht bemerkt. Aber jetzt bekommen wir ein Bild.«

  »Irgendwelche Probleme?«, erkundigte sich Gonzales.

  »Sie sind nur neugierig. Ausländische Maschinen belästigen sie nicht.« Und er wies auf ihre Transpondermeldung, die über den Bildschirmen blinkte:

 

DIESER INTERNATIONALE FLUG IST NICHT MILITÄRISCH

ÜBERFLUG UND PASSAGE GESTATTET

LAUT U. N. ACT AUS DEM JAHR 2000.

 

  Diese Information würde ständig wiederholt, bis sie in den thailändischen Luftraum überwechselten.

  Das Display des Flugcomputers zeigte in hellroter Schrift die Meldung KOLLISIONSCEFAHR, und der Klang einer Alarmsirene erfüllte das Flugzeuginnere. Der Pilot fluchte. »Verdammt noch mal, sie haben sie abgeschossen!« Die Turbinen des Schwing-Fliegers kreischten laut auf, als der Computer der Maschine das Kommando übernahm und die Hände des Piloten den Knüppel umklammerten, nicht um zu lenken, sondern nur, um sich festzuhalten.

  Gonzales' Gurte spannten sich, als die Maschine taumelte und absackte, ins Trudeln geriet, sich auf den Rücken legte und wieder zu steigen begann - ein raffinierter stählerner Fisch, der den Harpunen auswich. Explosionen blühten in der Dunkelheit auf, asymmetrische Feuerbälle, gefolgt von hartem und dumpfem Drohnen und Wüsten Schockwellen, die den Schwing-Flieger attackierten, während er seinem wirren Kurs durch die Nacht folgte.

  Dann erschien ein Ultralight, ein gleißender Feuerblitz, von Flammen umwabert, der Pilot eine strahlende Silhouette – ein Streichholzmännchen, das die Arme zum Himmel reckte, kurz bevor Pilot und Flugkörper sich in einer Stichflamme auflösten.

  Sie setzten ihren eigenen Flug ruhig und ungestört fort, und die Steuerung wurde wieder auf den Knüppel des Piloten geschaltet. Gonzales' überlastete Netzhäute meldeten noch immer einen dichten Funkenregen, während die Nacht wieder zu ihrer alten Schwärze fand. »Kollision abgewendet«, verkündete der Flugcomputer. »Zeitspanne in rotem Bereich - sechs Punkt acht neun Sekunden.«

  »Was zum Teufel?«, fragte Gonzales, »ist passiert?«

  »Verflucht noch mal«, stieß der Pilot hervor.

  Gonzales saß angespannt da, klammerte sich an seinen Sitz und fröstelte von dem Hauch eisiger Luft aus der Klimaanlage des Flugzeugs, die über sein schweißnasses Hemd fächelte. Er starrte in seinen Schoß; nein, er hatte sich nicht nass gemacht. Tatsächlich war alles viel zu schnell passiert, als dass er richtige Angst verspürt hätte.

  Ein Mitsubishi-McDonnell Loup Garou Kriegsflugzeug tauchte vor ihnen weg und flog Zeitlupenkreise. Genauso wie die Ultralights war es mattschwarz gespritzt, hatte aber einen massigen Rumpf. Es beschrieb eine träge Rolle, während es sie umkreiste, einem lauernden Raubtier nicht unähnlich, das sich an eine fette, schwerfällige Beute anschleicht, dann wurden grelle Flutlichter eingeschaltet, deren Lichtstrahlen über ihre Kabine hinwegglitten.

  Der Pilot und Gonzales erstarrten beide im gleißenden Licht.

  Dann erhellte sich das schwarze Cockpit des Loup Garou; hinter der transparenten Hülle erblickte Gonzales den Piloten mit seinem verspiegelten Visier und den beiden dünnen Kabeln, die sich aus seinem Schädel hervorschlängelten. Die Flügel des Loup Garou glitten zur Kursumkehr nach vorn, und er stellte sich auf sein Leitwerk und verschwand.

  Gonzales stemmte sich gegen sein strammes Gurtgeschirr.

  »Arschlöcher!«, brüllte der Pilot.

  »Wer war das?«, fragte Gonzales, und seine Stimme klang dünn und zitterte. »Was meinen Sie?«

  »Die Myanmar Air Force«, erwiderte der Pilot gepresst, und sein Gesicht rötete sich hinter den Spiegelgläsern seiner Fliegerbrille. »Sie haben uns hereingelegt. Sie haben uns als Köder für einen Guerillaflieger benutzt.« Der Pilot schob seine Brille hoch und blickte mit übertriebener Wachsamkeit aus dem Cockpitfenster, als könnte er in der Schwärze etwas erkennen. »Und sie haben gewartet«, sagte er. »Sie haben gewartet, bis sie die Maschine sicher erwischten.« Der Pilot drehte sich abrupt auf seinem Sitz um und sah Gonzales an. Seine Gesichtszüge waren zu einer irren und wütenden Karikatur des Mannes verzerrt, der Gonzales neunzig Minuten vorher freundlich willkommen geheißen hatte. »Haben Sie eine Ahnung, wie verdammt knapp das für uns war?« fragte er.

  Nein, antwortete Gonzales mit einem Kopfschütteln. Nein.

  »Millisekunden, Mann. Wir waren uns so nahe, dass wir uns hätten berühren können«, sagte der Pilot. Er drehte sich mit seinem Sessel, um wieder nach vorn zu schauen, und Gonzales hörte das Klicken der Verriegelung, als er sich wieder in seinen eigenen Sitz zurücksinken ließ.

  So etwas hatte Gonzales bisher noch nie verspürt - den Tod bis in seine Eingeweide, in seiner Kehle und seiner Nase, so nahe wie seine Haut; den Tod mit einem schlimmen Gestank... Brennen, Brennen.

 

 

 

 

 

  Ich tue für Sie, was ich kann

 

 

  Als der Morgen verstrich, wanderte die Sonne aus dem Buntglasfenster heraus, und das Innere des Zimmers versank im Dämmerschein. Nur das Monitorleuchten blieb, lange Reihen grüner Schirme über blinkenden Zahlenkolonnen auf dem hellblauen Schirm der Monitortafel.

  Ein Haushaltsroboter, ein beigefarbener Kegel mit den Ausmaßen einer großen Gans, bewegte sich langsam über den Fußboden, tastete sich durch die Ecken des Zimmers, und verließ dann den Raum, wobei seine Fortbewegungstentakeln unter ihm ein Geräusch verursachten, das dem Wind glich, der durch trockenes Gras streicht.

  Das Cockpit-Display blinkte und flackerte, während Landecodes in den Flugcomputer eingespeist wurden, dann klinkte sich der Schwing-Flieger ins Landenetz von Bangkok ein und begann seinen Abstieg durch eine unsichtbare Anflugröhre. Von elektronischen Händen gelenkt, setzten sie auf.

  Der Pilot wandte sich an Gonzales, während sie im Anflug waren, und sagte: »Ich muss eine Meldung über den Angriff machen. Aber Sie haben Glück - wenn wir in Myanmar gelandet wären, hätten die Ermittler der Regierung sich in Scharen auf Sie gestürzt, und dann wären Sie für Tage - wenn nicht gar Wochen - nicht mehr von dort weggekommen. Damit haben Sie jetzt nichts mehr zu tun: Wenn sie erst einmal die Meldung registriert und analysiert haben und die Thais bitten, Sie festzuhalten, sind Sie längst weg.«

  Im Augenblick wünschte Gonzales sich nichts weniger, als mehr Zeit als nötig in Myanmar zuzubringen. »Ich steige aus, so schnell es geht«, meinte er.

  Nun, da alles vorüber war, konnte er spüren, wie die Furcht in ihm aufstieg wie die Wirkung einer gefährlichen Droge. Indem er versuchte, sich zu beruhigen, dachte er: Wirklich, es ist überhaupt nichts passiert, außer dass du dir vor Schreck fast in die Hose gemacht hättest.

  Während der Schwing-Flieger sich auf seine Halteposition schob, stand Gonzales auf, um sein Gepäck aus dem nun offenen Frachtabteil zu holen. Der Pilot saß entspannt in seinem Sessel.

  Tu etwas, sagte Gonzales sich und spürte, wie sich die Panik in ihm steigerte. Er holte den Behälter des Memex aus der Halterung und sagte: »Ich hätte gern eine Kopie von Ihren Flugprotokollen.«

  »Das kann ich nicht machen.«

  »Sie können. Ich gehöre zur Abteilung für Innere Angelegenheiten, und ich bin bei einem Flug in Ihrer Maschine beinahe ums Leben gekommen.«

  »Das gilt auch für mich, Mann.«

  »Das stimmt. Aber ich brauche diese Daten. Später wird meine Abteilung sich sowieso dieses Vorfalls annehmen und den Dienstweg beschreiten und sich alles Notwendige beschaffen, aber ich brauche die Daten jetzt. Ein kurzes Überspielen auf mein Gerät hier, das ist alles. Ich erteile Ihnen die Erlaubnis und gebe Ihnen eine Bestätigung.« Gonzales wartete und verlieh seiner Forderung durch seinen eindringlichen Blick und seine abwartende Haltung Nachdruck.

  Der Pilot sagte: »Okay, damit dürfte ich aus dem Schneider sein.«

  Gonzales stellte den Behälter neben den Pilotensitz, kniete sich hin und klappte den Deckel auf. »Nehmen Sie alles auf?«, fragte er den Piloten.

  Der Mann nickte und erwiderte: »Ständig.«

  »Das habe ich mir gedacht. Na schön, dann los: für die Registrierung, dies ist Michail Michailowitsch Gonzales, leitender Angehöriger der Abteilung für Innere Angelegenheiten bei SenTrax. Ich übernehme jetzt Flugdaten dieser Maschine zwecks weiterer Ermittlungen im Zusammenhang mit gewissen Vorkommnissen, die während des letzten Fluges auftraten.« Er sah den Piloten an: »Das müsste eigentlich reichen«, sagte er.

  Er zog das Datenkabel aus dem Behälter und führte es in die Buchse auf der Instrumententafel ein. Lichter blinkten auf der Tafel, während die Daten in das schweigende Memex übertragen wurden. Ein Glockensignal ertönte auf der Tafel, um anzuzeigen, dass der Transfer abgeschlossen war, und Gonzales trennte die Kabelverbindung, rollte das Kabel zusammen und schloss den Behälter wieder.   »Danke«, sagte er zu dem Piloten, der wortlos aus dem Cockpitfenster schaute.

  Gonzales erhob sich und klopfte zufrieden auf den Schutzbehälter und dachte: Hey, Memex, wenn du aufwachst, erwartet dich eine Überraschung. Er fühlte sich viel besser.

 

  Ein Transportgleiter trug Gonzales etwa eine Meile weit durch einen hellerleuchteten Tunnel mit babyblauen Plastik- und Gipswänden, die mit Schildern in einem halben Dutzend verschiedener Sprachen versehen waren, auf denen mit schneller Vergeltung für Vandalismus gedreht wurde. Rote und grüne Graffiti bedeckten alles, die Schilder inklusive, und vor Gonzales' Augen veränderten sich die Botschaften in Thai und Burmesisch, und andere Streichholzmännchen erschienen mit Sprechblasen und sagten Gott weiß was. Ein einzelner Satz in roter Farbe verkündete auf Englisch HEROIN ALPHA DEVIL FLOWER. Zerschmetterte Gehäuse aus schwarzem Fibermaterial oder ausgefranste Kabel verrieten, wo früher einmal Überwachungskameras gehangen hatten.

  Graue, vom Fußboden bis zur Decke reichende Stahlrolläden blockierten den schmalen Eingang zu den Bereichen Internationale Ankunft und Abflug. Gesichtslose Holoscan-Roboter - dunkle, mit Rädern ausgestattete Würfel mit Tentakeln und Sensorantennen - kontrollierten die Besucherschar und ließen ihre Antennen rotieren.

  Überall waren asiatische Reisende zu sehen, Männer in dunklen Anzügen und Frauen: Japaner, Chinesen, Malayen, Indonesier, Thais. Sie kamen aus den asiatischen Drachen, Weltzentren für Forschung und Produktion, und breiteten sich mit ihren niedrigen Löhnen und aggressiven Verkaufstechniken in Europa und Amerika aus, wo der Konsum zum Lebensprinzip geworden war. Überall, wohin Gonzales auch kam, schien es, als träfe er sie wieder: Kampftruppen, bewaffnet mit technischem und wissenschaftlichem Können und angetrieben von einem nimmermüden Ehrgeiz und Erfolgsstreben.

  Sie bildeten den stählernen Kern eines wesentlichen Teils des Fortschritts der Welt. Die Vereinigten Staaten und die Drachen lebten in einer seltsamen Symbiose: Die Asiaten hatten hundert verschiedene Methoden dafür zu sorgen, dass die amerikanische Wirtschaft nicht einfach umkippte und einging - und den erstklassigen nordamerikanischen Konsumentenmarkt gleich mit ins Verderben riss. Ob Japaner, Koreaner, Taiwanesen... sie kauften einige Konzerne und verbanden sich mit anderen, und am Ende arbeiteten Amerikaner für General Motors Fanuc, Chrysler Mitsubishi oder Daewoo-Dec, und von ihren Löhnen kauften sie japanische Memexe, koreanische Automobile und malaysische Robotertechnik.

  Rolladenlamellen schoben sich mit einem schrillen metallischen Quietschen nach oben, und Gonzales trat ein. Ein ägyptischer Wächter mit weißer Kopfbedeckung, einem blau-weiß karierten Stirnband und grauer UN-Kluft überprüfte seine Identität, und reagierte mit einem knappen, bedeutungslosen Lächeln und winkte ihn weiter.

  Der Zoll der Südostasiatischen Fraktion wartete in Gestalt einer kleinen Thai in brauner Uniform mit unentzifferbaren Kritzeleien auf gelben Abzeichen. Ihre Gesichtszüge waren hübsch und ausdruckslos; sie trug ihr schwarzes Haar glatt nach hinten frisiert und hatte es mit einem durchsichtigen Plastikkamm festgesteckt. Sie stand hinter einem grauen Stahltisch; neben dem Tisch befand sich ein etwa zwei Meter hoher Allzweckscanner, dessen Kontrollen, Sichtschirme und Anzeigeninstrumente unter einer schwarzen Stoffhülle verborgen waren. Schmutzig-grüne Wände waren mit unregelmäßig darauf verteilten Schildern in einem Dutzend verschiedener Sprachen bedeckt, auf denen in kleiner Schrift die zahlreichen Arten von Schmuggelgut aufgeführt waren.

  Die Frau bedeutete ihm mit einer Handbewegung, auf dem Stuhl vor dem Tisch Platz zu nehmen und dann seinen Kleiderkoffer und die Behälter auf den Tisch zu stellen.

  Sie sagte etwas, und die Übersetzerbox an ihrem Gürtel wiederholte in deutlichem, neutralem Englisch: »Sie wurden überprüft und freigegeben.« Sie stellte den weichen braunen Koffer in die Öffnung des Scanners, und das Gerät untersuchte das Gepäckstück mit einem leisen Piepton. Die Frau schob den Koffer zu Gonzales hinüber.

  Sie redete erneut, und der Übersetzer sagte: »Bitte öffnen Sie diese Behälter«, während sie auf die beiden Schutzboxen wies. Bei jedem schirmte Gonzales die Verschlussplatte mit der linken Hand ab und tastete mit der rechten den Zugriffscode ein. Die Behälterdeckel öffneten sich einem leisen Zischen. In den Behältern blinkten Überwachungs- und Kontrolllampen über aufgereihten Speichermodulen, schwarzen Plastikwürfeln, die in etwa die Ausmaße von kleinen Safe-Kassetten hatten.

  Gonzales sah, dass sie eine Kopie des Daten-Deklarations-Formulars in der Hand hielt, welches das Memex in Myanmar ausgefüllt und den zuständigen Regierungsstellen von Myanmar und Thailand übermittelt hatte. Die Frau schaute in einen der Behälter und wies auf eine Reihe rot markierter und versiegelter Speichermodule.

  Die Übersetzerstimme erklang nach ihrer und sagte: »Wir müssen diese Module hierbehalten, um uns zu vergewissern, dass sie keine zollpflichtigen Informationen enthalten.«

  »Das hat bereits der Zoll in Myanmar getan. Es handelt sich um SenTrax-Daten.«

  »Das mag schon sein. Aber wir haben sie noch nicht freigegeben.«

  »Wenn Sie es wünschen, stelle ich Ihnen die Zugriffsprotokolle zur Verfügung. Ich habe nichts zu verbergen, aber ich brauche die Module dringend für meine Arbeit.«

  Sie lächelte. »Ich habe keine geeigneten Geräte. Die Module müssen von Dienststellen in der Stadt untersucht werden.« Der Tonfall des Übersetzers gab sehr genau ihre völlige Gleichgültigkeit wieder.

  Gonzales sah schon die ersten Anzeichen für bürokratische Kompromisslosigkeit. Aus welchen geheimnisvollen Gründen auch immer war diese Frau entschlossen, ihm das Leben schwerzumachen, und je heftiger er sich zur Wehr setzte, desto schlimmer würden die Schikanen am Ende sein. Da war es besser, wenn er gleich kapitulierte. Er sagte: »Ich hoffe doch, dass sie mir so bald wie möglich wieder zur Verfügung stehen.«

  »Gewiss. Nach eingehender Überprüfung. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass die Überprüfung vor Ihrem Weiterflug abgeschlossen sein wird.« Sie nahm den Behälter vom Tisch und stellte ihn hinter sich auf den Fußboden. Auf ihrem Gesicht lag das zufriedene Lächeln des fanatischen Bürokraten. Sie wandte sich wieder zu ihrer Konsole um und schien Gonzales' Behälter bereits vergessen zu haben, Sie blickte auf, sah, dass er noch immer vor ihrem Tisch stand, und fragte: »Wie kann ich Ihnen sonst noch behilflich sein?«

  

  Die Maschinenwelt begann sich aufzulösen, verwandelte sich in Nebel, und während dieses Vorgangs flammten überall im Raum matte Leuchtkörper auf, und die Lichter auf der Kontrolltafel blinkten in schneller Folge und bildeten vielfältige

Muster, während Gonzales allmählich in einen Wachzustand zurückgeholt wurde. Die Raumbeleuchtung brannte bereits eine ganze Stunde mit voller Helligkeit, als der Reanimationsvorgang abgeschlossen war und das Ei aufklaffte.

  In dem Ei lag Gonzales bleich, nackt, in einem Koma-ähnlichen Zustand und mit der Maschine verbunden: ein modernes Schneewittchen. Ein Katheter führte aus seinen Genitalien heraus, transparente intravenöse Kanülen steckten in seinen Unterarmen. Weiße Dichtungs- und Reizhemmpaste klebte an den Röhren, die in Hals und Mund steckten. Der scharfe Ozongeruch der Paste hüllte ihn rundum ein.

  Eine automatische Trage war neben das Ei gerollt, und ihre Hände, glänzende Chromklauen, begannen die Röhren- und Schlauchverbindungen von seinem Körper zu lösen. Dann setzte die Trage Hände und schwarze biegsame Arme von der Dicke eines kräftigen Seils ein, um Gonzales aus dem Ei heraus und auf ihre Liegefläche zu heben.

  Gonzales erwachte in seinem eigenen Zimmer und begann zu wimmern. »Es ist alles in Ordnung«, flüsterte das Memex durch den Zimmerlautsprecher. »Es ist alles gut.«

  Einige Zeit später erwachte Gonzales erneut, lag in einem Dämmerzustand da und testete seinen Allgemeinzustand. Eine leichte Übelkeit, die Beine schwach, aber keine spürbare Einbuße motorischer Kontrolle, keine direkten parapsychologischen Auswirkungen (Desorientierungen, Amnesie, Synästhesien)...

  Gonzales stand auf und ging ins Bad, blieb auf weißen Fliesen zwischen polierten Aluminiumwänden und Spiegeln stehen und sagte: »Warme Dusche.« Wasser zischte, und die Tür der Duschkabine schwang auf. Das

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Tom Maddox/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Christian Dörge (OT: Halo).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 17.07.2017
ISBN: 978-3-7438-2338-9

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