PAUL W. FAIRMAN
FRANKENSTEINS FLUCH
- 13 SHADOWS, Band 4 -
Horror-Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
FRANKENSTEINS FLUCH
1. Der Wahnsinnige
2. Die Aufzeichnungen des Totengräbers
3. Das Monster lebt!
4. Das Monster lebt noch!
5. Ein feuriger Fingerzeig
6. Das Tagebuch des Monsters
7. Eine Reise in die Gefahr
8. Die Spur des Monsters
9. Die Burg des Grauens
10. Der lebende Tote
11. Der Kreuzzug
12. Am Ort des Schreckens
13. Die grauenhafte Antwort
Das Buch
Max Gregor wird in eine geschlossene Anstalt eingeliefert, weil er in seinem kleinen Heimatdorf eine ebenso unglaubliche wie schreckliche Geschichte verbreitet hat: Eines Nachts hatte er beobachtet, wie ein Monster seine Geliebte, die schöne Fischerstochter Lenia, beim Tanz am Strand überraschte und sie ins Meer hinaustrug. Seither wird Max Gregor für verrückt gehalten, denn Lenia ist in Wahrheit schon vor langer Zeit gestorben, und ihr Grab ist unversehrt.
Henry Roger indes lässt diese merkwürdige Geschichte keine Ruhe mehr: Er ist ein wissenschaftlich gebildeter und entsprechend neugieriger Mann, und so fährt er zu den kalten, öden Orkney-Inseln hinaus und geht den vagen Angaben nach, über die er verfügt. Und Wort für Wort findet er schließlich die entsetzliche Legende von Frankenstein und dessen Kreatur bestätigt.
Doch damit beginnt das Drama erst...
FRANKENSTEINS FLUCH von WILLIAM F. FAIRMAN erscheint als vierter Band der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht.
FRANKENSTEINS FLUCH
1. Der Wahnsinnige
Im Jahre 1800 hatte ich besonders viel zu tun. Mein Vater, Lord Cecil Roger, war ein Jahr zuvor gestorben, wodurch mir eine große Verantwortung aufgelastet wurde. Man erbt nicht jeden Tag einen Titel, und das, zusammen mit der Trauer, die mich befallen hatte, ließ die Last doppelt so groß werden. Mein Vater und ich hatten einander sehr nahe gestanden, und sein Verlust ging mir sehr zu Herzen.
Es mag sonderbar erscheinen, dass ich es als Segen empfand, dass er seine Geschäfte in einem miserablen Zustand hinterlassen hatte, aber so war es. Wäre die
Übernahme des Erbes glatt vor sich gegangen, hätte ich mehr Zeit gehabt, meinen Verlust zu beklagen und mich in Selbstmitleid zu ergehen. So jedoch ergaben sich
viele Probleme, mit denen ich mich auseinanderzusetzen hatte. Mein Vater war ein Träumer gewesen, ein Dichter, der auch malte und der das offene Land, den Himmel und die Schönheit geliebt hatte, und nicht der geeignete Mann zur Verwaltung eines riesigen Besitzes.
Und so war das Gras des Frühlings auf dem Grabhügel meines Vaters gewachsen und mein ärgster Schmerz hatte etwas nachgelassen, als es mir endlich gelungen war, die Probleme zu beseitigen und einen tüchtigen Verwalter zu finden.
Danach wusste ich mit meiner Zeit nichts mehr anzufangen und wurde von Reiselust gepackt. Ich verbrachte einige Zeit in Italien und begab mich dann in die Schweiz und ins östliche Frankreich, wo mich die Großartigkeit der schneebedeckten Gipfel und reißenden Flüsse tief beeindruckte und mich etwas von
dem Kummer ablenkte, den ich immer noch verspürte.
Anschließend begab ich mich in bekanntere Gegenden und durchstreifte die Hügel und Täler von England, Wales und Schottland, und als ich in den Straßen von Edinburgh spazieren ging, erinnerte ich mich eines Freundes.
Leland Welch und ich hatten einander in Cambridge ausgezeichnet verstanden. Dann war der überaus ehrgeizige Leland nach Wien gefahren, wo er einen Psychologen namens Freud aufsuchte, der erstaunliche Fortschritte damit gemacht haben sollte, das Rätsel des menschlichen Geistes zu lösen. Sowohl Leland als auch
ich besaßen einen hervorstechenden Charakterzug, und das war - die Neugier. Seine jedoch war diszipliniert und stets auf ein Ziel gerichtet, während mich alles Mögliche interessierte. Als Kind konnte ich beispielsweise stundenlang über die phantastischen Eigenschaften des Kolibris nachdenken, aber anstatt mich daran zu machen, sie richtig zu erforschen, widmete ich mich lieber wieder anderen Dingen.
Mit Leland verhielt es sich anders. Ihn faszinierte der menschliche Geist, und darauf konzentrierte er sich beharrlich. Und als ich mich in Edinburgh befand, erinnerte ich mich seiner und hoffte, dass er sich noch im Queens Hospital befand, wo er die neuen Erkenntnisse anwandte. Ich traf ihn dort tatsächlich.
Wir freuten uns beide sehr über das Wiedersehen. Abends gingen wir miteinander essen, und ich lauschte ihm interessiert, wie er aus der Vergangenheit, von seiner Arbeit und seinen Plänen erzählte.
»Jeden Tag eröffnet sich mir eine neue Welt, Henry: die vielfältige Welt des menschlichen Geistes!«
Etwas später sprach er einen Satz aus, der eine Kette von Ereignissen auslösen sollte: »Es ist wirklich erstaunlich, welcher Irrtümer ein kranker Geist fähig ist. Manchmal sind sie pathetisch, manchmal komisch, manchmal schrecklich.«
»Schrecklich?«
Er warf mir einen durchdringenden Blick zu. »Warum fragst du gerade danach, Henry?«
»Was meinst du?«
»Ich erwähnte die Wörter pathetisch, komisch und schrecklich. Auf die ersten beiden hast du nicht reagiert, auf das dritte schon.«
Ich war irritiert. »Moment mal. Unterziehst du mich einer... wie war doch das seltsame Wort, das du erwähntest?«
»Psychoanalyse?«
»Ja. Versuchst du, mich einer Psychoanalyse zu unterziehen?«
Er lachte. »Verzeih. Es ist schwer, nach Arbeitsschluss abzuschalten. Aber nachdem es dich interessiert - was hältst du von einem Mann, der eines Nachts sieht, wie ein schreckliches Ungeheuer seine Geliebte davonträgt, während das Mädchen in Wirklichkeit tot und begraben ist?«
»Ja, das ist schrecklich. Aber es steckt sicher mehr dahinter.«
»Natürlich. Der Patient befindet sich unter meiner Aufsicht.«
»Und welche Pläne hast du mit ihm?«
»Ich werde in seinen Geist eindringen und nach der Ursache seiner Wahnvorstellung suchen.«
»Bist du sicher, dass es sich um eine Wahnvorstellung handelt?«
»Aber Henry! Du besitzt die romantische Einstellung des typischen Laien.«
»Du hast gesagt, dass mehr dahintersteckt.«
»Das ist richtig, doch passt das Gesprächsthema kaum zu einem gemütlichen Abendessen. Wenn es dich tatsächlich interessiert, kannst du mit dem Patienten persönlich sprechen und dir selbst ein Bild von ihm machen.«
»Das würde ich gern tun.«
»Gut. Er heißt Max Gregor und stammt von einer der besonders trostlosen Orkney-Inseln nördlich von hier. Er ist ein schwerfälliger Mensch. Die Landschaft seiner Heimat ist ebenfalls düster, also sind auch seine Halluzinationen dementsprechend.«
»Ist er eingesperrt?«
»Ja, er befindet sich in der geschlossenen Abteilung, damit er nicht weglaufen kann, doch ist er nicht etwa gefesselt. Wenn du mit ihm sprichst, wirst du dich darüber wundern, welch normalen Eindruck er macht.«
»Aber du hältst ihn nicht für normal.«
»Sobald du seine Geschichte gehört hast, wirst du es auch nicht tun...«
Als ich mich am nächsten Nachmittag im Krankenhaus einfand, begrüßte mich Leland überrascht. »Du bist tatsächlich gekommen.«
»Selbstverständlich. So war es doch ausgemacht, oder?«
»Ja, aber ich habe nicht geglaubt, dass dein Interesse echt war.«
»Es ist wirklich echt.«
Er warf mir einen seiner durchdringenden Blicke zu, als er murmelte: »Wahrscheinlich zu echt.« Aber ehe ich noch protestieren konnte, fuhr er fort: »Na schön. Komm mit; ich führe dich zu ihm.«
Leland brachte mich in einen kleinen Raum, der bis auf einen Tisch und zwei Stühle leer war. Ein paar Minuten später trat Max Gregor ein. Er war ein kräftig gebauter Mann mit langsamen Bewegungen, auf dessen Wangen früher die ledrige Rote des nördlichen Klimas gestanden haben musste. Jetzt aber waren diese Wangen von einer leichenhaften Blässe und der Blick leer.
Auf den ersten Blick machte er einen völlig normalen Eindruck, und als ich offen sagte: »Ich bin kein Arzt, und wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie überhaupt nicht mit mir zu sprechen«, zuckte er nur mit den Achseln und erwiderte: »Ich habe nichts dagegen.«
»Dann erzählen Sie mir doch bitte über sich.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin ein einfacher Mensch, der ein einfaches Leben geführt hat. Ich bin Fischer - oder ich war es zumindest. Außerhalb des Krankenhauses hat man kein Vertrauen mehr zu mir und schon gar nicht auf dem Meer, aus Angst, dass ich mir etwas antun könnte.«
»Vielleicht sind Sie zurzeit wirklich am besten hier aufgehoben?«
»Vielleicht«, gab er zu. »Man sagt, ich sei wahnsinnig geworden, Mag sein, dass das stimmt. Hier, so weit weg von meiner Heimatinsel, frage ich mich manchmal selbst, ob es wirklich geschehen ist.«
»Ist nicht ein Mädchen darin verwickelt? Ihre Verlobte?«
In seinen bereits leeren Blick trat nun grenzenlose Verzweiflung, und als er sprach, sprach er mehr zu sich selbst als zu mir. »Lenia. Sie war so schön, so erfüllt von Leben, als ich sie verließ.«
»Sie unternahmen eine Fahrt?«
»Wir fuhren fast bis zu den Grand Banks. Wir waren auf Dorsch aus, hatten jedoch wenig Glück, und der Kapitän, Nels Amunsen, wollte unbedingt mit voller Ladung heimkehren. Er war Lenias Vater, und ich war ihm fast ein Sohn. Wochen vergingen, und als wir endlich zurückkehrten, erfuhren wir, dass seine Tochter, meine Geliebte, von uns geschieden war.«
»Wie tragisch!«
Er hörte mich nicht. Sein Blick war starr auf die gegenüberliegende Wand gerichtet. »Es war ein entsetzlicher Verlust«, sagte er, »aber es sollte noch schlimmer kommen.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Wenn ich Lenia schon nicht in den Armen halten konnte, so sollte sie wenigstens in ihrem Grab Frieden haben.«
Es war die Einfachheit des Satzes, die ihn so schaurig machte. Es lief mir kalt über den Rücken, und hätte er die Worte in hysterischem Wahnsinn hinausgeschrien, wäre mir nicht unheimlicher zumute gewesen. Später schämte ich mich der Art, wie ich weiter in ihn eindrang, aber damals konnte ich es nicht unterlassen.
Meine Neugier zwang mich, immer mehr Fragen zu stellen, obwohl die Antworten immer langsamer und zögernder kamen.
Kurz darauf schrieb ich seine Geschichte nieder, wobei ich die Fragen und Wiederholungen wegließ. Hier folgt im Wesentlichen das, was der Unglückselige erzählte.
»Völlig entmutigt wanderte ich über unsere Insel und suchte Trost beim Anblick des wogenden Meeres und des wechselnden Himmels. Ich sah zu, wie sich Wolken bildeten und veränderten, und überall glaubte ich ihr liebliches Antlitz zu erkennen. Ich scheute menschliche Gesellschaft und suchte die Unbill der Natur. Aber die kalten Regenfälle vermochten das Fieber meines Grams nicht zu löschen, und ich wusste, dass sich meine Freunde um mich zu sorgen begannen.
Endlich begann jedoch die Zeit die schlimmsten Wunden zu heilen, und ich fand mich mit dem ärgsten Verlust ab, den ein Mann zu tragen hatte. Danach suchte ich Trost in häufigen Besuchen ihres Grabes, das ich stets mit Blumen schmückte.
Eines Nachts erwachte ich - vielleicht durch einen bösen Traum. Jedenfalls sehnte ich mich erneut nach ihrer Gegenwart. Ich verließ mein Bett und begab mich im Licht des Vollmondes an ihr Grab, wo mir ein solcher Friede beschieden ward, wie ich ihn seit der Nachricht von ihrem Tode nicht mehr gekannt hatte. Ich weiß nicht, wie lange ich dort gekniet hatte, aber als der Mond sich dem Horizont zuneigte, machte ich mich auf den Weg zurück, der mich oben am Steilufer entlangführte.
Und da sah ich sie, Lenia, am Strand unter mir. Sie lief, und ihr Haar und das weiße Gewand flatterten hinter ihr, und sie hielt ihr Gesicht dem Wind entgegengestreckt, während sie über den Sand eilte. Ich war wie gelähmt. Ich weigerte mich, meinen Augen zu trauen, dass meine Geliebte aus ihrem Grab auferstanden war und nun im silbrigen Licht des Mondes wie ein lieblicher Geist über das Ufer lief.
Nach dem ersten Schock jedoch dachte ich nicht mehr an Geister oder Gespenster. Ich sehe recht gut, und die Entfernung war nicht groß. Es war kein Schatten, den ich sah, sondern in der Tat meine Geliebte, die lebte und atmete und deren schönes Gesicht voller Lebenslust war. Die Arme streckte sie freudig zum Himmel.
Ich rief: Lenia! Lenia!
Sie warf mir einen raschen, strahlenden Blick zu, lief jedoch weiter.
Lenia!, rief ich wieder. Bleib stehen! Warte auf mich!
Ohne mich um die Steine und Dornensträucher zu kümmern, stürzte ich das Steilufer hinab. Ich fiel, landete schwer am Strand, sprang auf und verfolgte sie. Als ich lief, bemerkte ich zuerst nicht die Erscheinung, die schließlich all meine Hoffnungen zerschmettern sollte. Die See befand sich zu meiner Linken, und von eben dort kam das Monster, das zugleich mit mir Lenia erreichte. Es sah so schrecklich aus, dass ich wie versteinert stehenblieb.
Es war von riesiger Gestalt und hatte das Gesicht einer Mumie. Das Leben darin machte es jedoch nur noch entsetzlicher und verlieh ihm den Ausdruck eines Dämons aus der Hölle. Die ausgestreckten Arme waren selbst für den riesigen Leib noch zu groß, schienen jedoch irgendwie nicht gleich zu sein, und auch die ausgestreckten Hände gehörten nicht zu den ledrigen Handgelenken, an denen sie saßen. Der ungestalte Kopf saß auf einem tierischen Hals, und die Haut war mit grässlich aussehenden Nähten übersät, die aussahen, als wäre ein verrückter Chirurg am Werk gewesen.
Unter anderen Umständen wäre ich zweifellos schreiend in die Nacht davongelaufen. Aber ich hatte meine Geliebte wiedergefunden und wollte nicht mehr von ihr lassen.
Als das Ungeheuer nach ihr griff, warf ich mich dazwischen.
Es war vergeblich. Der Mut der Verzweiflung hatte keine Chance gegen die Stärke des Ungeheuers. Als meine Hände das klamme Fleisch seines Halses berührten, schwang einer der keulengleichen Arme im Halbkreis herum und traf mich auf der Brust. Ich wurde rückwärts geschleudert und fiel nach Atem ringend zu Boden. Ich war sicher, dass einige Rippen gebrochen waren, versuchte jedoch trotzdem aufzustehen. Es gelang mir nicht, und ich fiel zurück und musste qualvoll mitansehen, wie das Monstrum Lenia packte, sich über die Schulter warf und ins Meer floh, aus dem es gekommen war,
Als ich endlich aufstehen konnte, war es bereits meinen Blicken entschwunden. Nur noch der tiefstehende Mond, der Strand und das Meer waren zu sehen. Ich bekam meinen Körper wieder unter Kontrolle und rannte so rasch ich konnte ins Dorf und schrie aus vollem Hals: Wacht auf! Lenia lebt! Sie wurde von einem Ungeheuer verschleppt! Kommt! Wir müssen die Inseln absuchen!«
An diesem Punkt der Erzählung angelangt, sank der arme Mann, den ich so unbarmherzig angetrieben hatte, in seinem Stuhl zusammen. Er fiel zwar nicht zu Boden, doch hing ihm der Kopf auf die Brust, und die Arme baumelten herab. Die letzten Worte kamen nur noch flüsternd: »Sie meinten, ich wäre wahnsinnig. Sie gaben mir kein Boot, sondern brachten mich stattdessen zu Lenias Grab, das völlig unversehrt war. Als ich zu toben begann, legte man mich in Ketten. Jetzt... befinde ich mich hier.«
In diesem Augenblick kehrte Leland zurück. Er betrachtete seinen Patienten kurz und sagte: »Nun ist es genug. Du hast den armen Kerl überanstrengt. Ich bringe ihn ins Bett zurück.«
In diesem Moment war ich mit Leland einer Meinung, was den Geisteszustand des Mannes betraf. Er war wahnsinnig, Sein Verstand hatte dem Schmerz über den Verlust seiner Geliebten nicht standgehalten, wodurch es zu Halluzinationen gekommen war.
Aber als er sich gehorsam erhob. blieb er kurz stehen und sah mir in die Augen.
»Bitte helfen Sie mir«, murmelte er, Dann sanken seine Schultern herab, und er schlurfte hinter seinem Beschützer her.
Es war, als wären seine bittenden Augen zu Linsen geworden, durch die ich in die tiefsten Tiefen seiner gepeinigten Seele zu blicken vermochte. Ohne dieses Ereignis wäre meine ganze Denkweise unverändert geblieben und ich meines Weges gegangen, und ich hätte den armen Kerl seinem Schicksal überlassen. So aber musste ich einfach weitere Nachforschungen anzustellen.
Als Leland zurückkam, und wir beide den traurigen Ort verließen, sagte ich zu ihm: »Ob er nun verrückt ist oder nicht - jedenfalls glaubt er seine Geschichte.«
»Oh, das tun sie alle«, antwortete er mit der fröhlichen Gelassenheit seines Berufstandes, ohne die er wahrscheinlich selbst verrückt werden würde.
»Das glaube ich; und zweifellos ist das meiste von dem, was dir deine Patienten erzählen, letztlich irgendwelchen Halluzinationen zuzuschreiben - aber alles? Könnte nicht ein kleiner Anteil auf Wahrheit beruhen? Zum Beispiel das, was Max Gregor erzählt?«
Leland lachte. Dann legte er mir entschuldigend die Hand auf den Arm und sagte: »Verzeih mir, Henry. Du stehst mit deinen Ansichten keineswegs allein da. Wenn sie es zum erstenmal mit Geistesgestörten zu tun haben, neigen die meisten Menschen dazu, ihnen zu glauben - das heißt, solange deren Geschichten nicht gänzlich haarsträubend sind.«
»Und du meinst, Gregors Geschichte gehört dazu.«
Der Griff seiner Hand verstärkte sich kurz, dann ließ er meinen Arm los. »Was hältst du denn davon?«
Im Hinblick auf Lelands Berufserfahrung konnte ich den Mann nicht verteidigen, und daher tat ich es auch nicht. Eigentlich hielt ich ihn ja auch nicht für normal, aber ein gewisses Mitgefühl, das Leland seines Berufes wegen versagt bleiben musste, ließ mich die Entscheidung hinauszögern. Zuerst musste ich einige Nachforschungen anstellen. Ich redete mir ein, dass dies aus Mitgefühl geschah, doch mochte es genauso gut an meiner angeborenen Neugier und dem Bedürfnis nach einem Ziel gelegen haben, dem ich mich zuwenden konnte.
Jedenfalls verabschiedete ich mich von meinem Freund Leland, und ohne ihn davon zu unterrichten, buchte ich eine Reise auf einem Küstenschiff nach Norden - vorbei an Aberdeen, an Kinnaird's Head, vorbei an John o'Groats. Mein Ziel waren die kalten und öden Orkneys.
2. Die Aufzeichnungen des Totengräbers
Die Orkney-Inseln bestehen aus etwa siebzig Inseln, die sich von Caithness und dem Pentland Firth aus zum nördlichen Sund und darüber hinaus erstrecken. Davon ist nur eine Handvoll bewohnt - die meisten davon in der Nähe von Mainland, der größten Insel der Gruppe. Dort ging ich in der Stadt Kirkwall an Land, der letzten Station des Küstenschiffes.
Im Edinburgher Krankenhaus hatte ich mich unauffällig nach dem Namen der Insel erkundigt, auf der Gregor gewohnt hatte. Sie lag noch weiter im Norden, jenseits von Stronsay, und hieß Eastray. Ich kann leidlich gut segeln, und daher mietete ich ein Segelboot und machte mich auf die Fahrt. Bei ruhiger See erreichte
ich mein Ziel, das Dorf Larswall. um etwa zehn Uhr früh.
Das Dorf besaß einen kleinen Hafen, in dem mehrere Fischerboote vor Anker lagen und Fischer an Land ihren Beschäftigungen nachgingen. Ich vertäute mein Boot und fragte einen von ihnen nach dem Bürgermeister. Er betrachtete mich zwar neugierig, zeigte mir jedoch höflich das Haus, vor dem wir standen - das eindrucksvollste Gebäude von all den wenig beeindruckenden Wohnhäusern.
»Der Bürgermeister heißt Dave Tander«, sagte er noch.
Tander war ein kleiner, rundlicher Mann, dessen Kondition sich stark verschlechtert hatte seit jenen Tagen, da er zur See gefahren war - sofern er dies überhaupt einmal getan hatte. Er war freundlich und offenbar intelligent und etwas gebildet. Ich stellte mich vor und wurde sofort zu einer Tasse Tee eingeladen.
Ich hatte überlegt, auf welche Weise ich in Larswall vorgehen sollte, und war zu dem Schluss gekommen, dass völlige Offenheit am angebrachtesten wäre. Also erklärte ich Mr. Tander beim Tee mein Anliegen und berichtete alles so, wie es geschehen war.
Nachdem ich geendet hatte, schüttelte er den Kopf und lächelte traurig. »Armer Max. Es hat uns hier sehr mitgenommen, was ihm zugestoßen ist, aber es war ja auch verständlich. Max... ist stets ein Träumer gewesen, und der Verlust des entzückenden Mädchens war für uns alle ein schwerer Schlag.«
»Das Gespräch mit ihm in der Anstalt ging mir sehr nahe.«
»Das glaube ich. Es fiel uns nicht leicht, ihn dorthin zu schicken; es ist ja wie ein Gefängnis. Aber es erschien uns am besten so. Man hat uns gesagt, dass eine Heilung in solchen Fällen möglich ist.«
»Es gab also nichts hier in Larswall, das seine Geschichte stützt?«
Tander lächelte wieder, und diesmal überkam mich das unangenehme Gefühl, als bemitleide er nicht nur Max Gregor, sondern auch mich. »Einen Beweis dafür, dass ein totes Mädchen ihr Grab verlassen hat, um im Vollmond am Strand zu tanzen? Kaum.«
»Sie haben es nicht für notwendig gehalten, das Grab öffnen zu lassen?«
»Aus welchem Grund?«
Mein Unbehagen wuchs. Ich schien mich in eine Lage manövriert zu haben, in der ich mich gezwungen fühlte, eine phantastische Halluzination zu verteidigen. »Ich dachte, vielleicht um sich völlig davon zu überzeugen...«
»Mein lieber Mr. Roger«, sagte Tander mit Nachsicht in der Stimme, wozu er völlig berechtigt war, »das war nicht nötig. Das Grab war nämlich gänzlich unberührt.«
Meine Teetasse klapperte auf dem Teller, als ich sagte: »Ich fürchte, ich mache keinen allzu guten Eindruck.«
»Keineswegs, keineswegs«, erwiderte Tander herzlich. »Wir sind über jeden Besucher hier auf dieser zurückgebliebenen Insel froh - ganz gleich, weshalb er kommt. Ich bitte Sie, während Ihrer Anwesenheit bei mir zu Gast zu sein.«
»Sie sind sehr großzügig.«
In seinen blauen Augen blitzte der Schalk, als er sagte: »Sie können sogar nach Herzenslust nach dem Freund des armen Max suchen.«
»Bitte...?«
»Verzeihen Sie mir. Ich bin ein unverschämter Gastgeber. Aber das Ungeheuer war in gewisser Weise real.«
»Auf welche Weise?«
»Im Sinne einer... grotesken Erklärung, könnte man sagen. Mit dem armen Max besteht überhaupt kein Zusammenhang, aber einer unserer weniger angesehenen Dorfbewohner hat seine Geschichte auf beschämende Weise ausgenutzt.«
»Das klingt... interessant.«
»Ich fürchte, Ihr Interesse wird nicht lange anhalten, wenn ich Ihnen davon erzähle. Die Person. die ich meine, heißt Sam Lenz. Auf ihn würden wir gern verzichten. Er lebt am Rande unserer Gemeinschaft und verdient sich seinen Lebensunterhalt so gut er kann. Er ist Totengräber und sucht die Ufer nach Strandgut ab. Zweifellos wird er Sie während Ihres Aufenthaltes um Almosen angehen, aber sobald er sie erhalten hat, wird er Sie mit seinen gelben Zähnen höhnisch angrinsen.«
Ich war überrascht darüber, dass der fröhliche Tander zu einer solchen Abscheu fähig war. Lenz musste wirklich ein erbärmlicher Mensch sein.
»Warum erlaubt man ihm dann, sich frei auf der Insel zu bewegen?«
»So weit wir es wissen, hat er noch kein Gesetz gebrochen. Und nach angelsächsischem Recht kann niemand auf bloßen Verdacht hin eingesperrt werden.«
»Auf welche Weise wurde er in Gregors Geschichte verwickelt?«
»Gar nicht, wie ich Ihnen schon sagte, außer dass er sie für seine Zwecke missbrauchte. Er tauchte im Gasthaus mit einer seltsamen Goldmünze auf, die der misstrauische Wirt als einen französischen Louisdor erkannte, wie ich glaube. Jedenfalls fragte ich Lenz, woher er die Münze hätte. Er grinste mich höhnisch an,
wie es seine Art ist, und antwortete, dass er sie von Gregors Monstrum für gewisse Dienstleistungen erhalten habe.«
»Für welche Dienstleistungen?«
»Diese Frage wurde nicht gestellt, damit der Schurke nicht noch mehr Gelegenheit bekam zu lügen und das Gesetz zu verspotten.«
»Und was kam heraus?«
»Nichts.« Tander zuckte die
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Paul W. Fairman/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Peter Sladek (OT: The Frankenstein Wheel).
Tag der Veröffentlichung: 12.07.2017
ISBN: 978-3-7438-2254-2
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