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Leseprobe

 

 

 

 

ROBERT LORY

 

 

DRACULAS RÜCKKEHR

- 13 SHADOWS, Band 3 -

 

 

 

Horror-Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DRACULAS RÜCKKEHR 

 

Das Buch

Graf Dracula, der König der Vampire, ist tot. Ein spitzer Holzpflock, direkt in sein Herz getrieben, hat dem Bösen ein Ende gemacht. Doch Draculas Schatten liegt wie eine düstere, allgegenwärtige Furcht über seiner Heimat Transsylvanien...

Im New York der 1970er Jahre erscheint die Gefährtin Draculas bei Professor Harmon – in Gestalt einer schwarzen Katze. Der Meister des Okkultismus soll den Vampirfürsten zu neuem, untotem Leben erwecken.

Damit nimmt ein unheimliches Wagnis seinen Anfang – denn Draculas Sarkophag muss entführt und um die halbe Welt transportiert werden...

 

DRACULAS RÜCKKEHR, der erste Roman aus ROBERT LORYs legendärer DRACULA-Serie, erscheint als dritter Band der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

DRACULAS RÜCKKEHR

 

 

  Prolog 

 

 

 

  »Wir haben ihn! Jetzt - haben wir ihn!«

  Der Ruf hallte weit durch die Nachtstille. Er war Ermutigung und Warnung zugleich. Der Rufende deutete den felsigen Hang hinauf und unterbrach seinen Aufstieg, bis er sich vergewissert hatte, dass die drei anderen seinen ausgestreckten Arm gesehen hatten. Bei den von Zinnen gekrönten Mauern auf der Kuppe des Hügels schimmerte im Mondlicht eine fliehende Gestalt.

  Der Ruf - auf Englisch - klang fremd in diesem Land, aber die drei anderen verstanden ihn. Sie waren selbst Ausländer; drei von den vier Mitgliedern der Gruppe, darunter auch das Mädchen, stammten aus England, der vierte aus Holland. Auch der Verfolgte hätte die Sprache verstanden, wenn er die Worte des Engländers gehört hatte, allein: Er hörte sie nicht.

  »Nur noch ein kleines Stück - dann gehört er uns!«, drängte der Mann an der Spitze.

  »Sobald die Sonne aufgeht, meinst du«, berichtigte ihn der zweite Engländer.

  »Richtig, sobald die Sonne aufgeht. Aber bis wir die Burg erreicht haben, wird es hell sein. Vorwärts!«

  Sie stiegen weiter, schneller jetzt, die Mauern des Kastells vor Augen. Die Gestalt, die sie verfolgten, geriet bald außer Sicht, aber jeder von ihnen hatte die hinkende Gangart des Gejagten gesehen.

  Der Aufstieg war nicht einfach und wurde von der Nacht und dem trügerischen Mondlicht weiter erschwert. Zwei von den Männern hatten bergsteigerische Erfahrung, aber die zwei anderen waren völlige Amateure. Während der Verfolgung hatten sie den überwachsenen Pfad, der zur Burgruine hinaufführte, verlassen und waren dem Flüchtigen weglos über den Steilhang nachgestiegen. Je höher sie nun auf ihrer Route kamen, desto schwieriger wurde das Gelände.

  An einigen Stellen waren Felsterrassen zu überwinden, die nur zentimeterbreite Griffe und Tritte für Hände und Füße boten. Aber ihr Tempo war nicht gemächlich, obschon die Logik jedem von ihnen sagte, dass übermäßige Eile unnötig sei; er konnte ihnen nicht mehr entkommen.

  Er konnte nirgendwohin als in die Mauern der Burg, die sein Heim war. Er musste im Inneren der Burg und in diesem anderen Ding sein, bevor es Tag wurde. Trotzdem eilten sie, so schnell sie konnten, ohne sich um Logik zu kümmern. Schließlich stand er außerhalb der Logik der Dinge, ist es nicht so?

  Ein stumpfes Orange am Osthimmel kündigte den nahen Sonnenaufgang an, als die vier vor dem hohen, Tor aus Eichenholz ankamen, das ihnen den Eingang in die

große Vorhalle versperrte. Sie waren schon einmal im Inneren gewesen und wussten. dass die massiven Torflügel von innen durch eine dicke schmiedeeiserne

Stange gesichert werden konnten. Sie hofften, dass er sie in seiner Eile nicht vorgeschoben hatte.

  Sie stießen dagegen, aber so einfach war das Tor nicht aufzubringen. Ihre Schultern krachten hart gegen die massiven Bohlen, doch sie bewirkten nichts.

  »Die Fenster?«, schlug das Mädchen vor.

  »Alle vergittert«, sagte der Holländer. »Wir müssen durch das Tor – durch dieses. Alle anderen Zugänge haben ebenfalls Riegel.«

  »Es sieht ziemlich alt aus«, bemerkte der Senior der beiden Engländer. »Vielleicht eine Art Rammbock -«

  Die Vier machten sich auf die Suche und fanden sich wieder zusammen, als der jüngere Engländer rief, dass er etwas gefunden habe. Es war ein Stapel von Bohlen

und Holzkloben in einem Mauerwinkel, unweit einer eisenbeschlagenen kleinen Tür. Sie zogen den längsten und schwersten Balken heraus und versuchten es mit dem Nebeneingang. Die Tür hielt stand. Sie trugen den Balken zum Tor.

  »Die Scharnierbeschläge sehen verrostet aus«, sagte der ältere Engländer. »Zielen wir knapp darüber.«

  Mühsam hob er das hintere Ende des Balkens, und sie stürmten mit ihrer Ramme gegen das Tor. Der harte Stoß brachte den Schlussmann aus dem Gleichgewicht, und er fiel auf den Rücken.

  »Da - es hat nachgegeben!«, rief der Holländer.

  »Glück gehabt«, sagte der jüngere Engländer. »Das Holz ist verrottet. Noch zwei oder drei Stöße, und wir sind durch.«

  Die Eingangshalle hinter dem Tor war still und leer. Der Holländer zog etwas aus seiner Jacke und ging voran.

  Ihre Schritte hallten laut durch die gewölbte Halle, als sie den gepflasterten Hof rechts liegenließen und in den erhaltenen Wohntrakt der Burg gingen. Kurz darauf standen sie zwischen den Bücherwänden des alten Studierzimmers, wo sie in einer anderen Zeit mit dem Schlossherrn Brandy getrunken hatten. Das waren angenehme Stunden gewesen, an die man - sofern sie jetzt überhaupt erinnert wurden - mit einem gelinden Schrecken zurückdachte. Dass sie tatsächlich künstlerische und philosophische Fragen mit diesem Mann diskutiert hatten, der -

  Mann? Ein Unhold war er, einer, der mit dem Teufel im Bund stand!

  An der Nordseite des Studierzimmers hing ein chinesischer Wandteppich. Der Holländer zog ihn zur Seite, und sie sahen die Steinstufen, die in den Weinkeller führten.

  »Wir werden Licht brauchen«, sagte er.

  Der jüngere Engländer nahm eine Petroleumlampe vom schweren Eichentisch in der Mitte des Studierzimmers und zündete sie an. »Und es ward Licht«, zitierte er fröhlich.

  Sein älterer Landsmann wandte ärgerlich den Kopf und war im Begriff, etwas über witzige Bemerkungen zu sagen, und dass dies nicht die Zeit dafür sei, aber dann ließ er es sein. Es war eine Fassade, verständlich unter den Umständen und vielleicht notwendig für die geistige Gesundheit des Gefährten. Ihrer aller Vernunft war weiß Gott in Gefahr, bis diese Tat getan wäre, aber getan musste sie sein.

  Der jüngere Mann übernahm nun die Führung, und der Schein der hochgehaltenen Lampe warf schwarze Schatten, die verrückt um sie hersprangen, als sie die Steintreppe hinabstiegen, Sie führte in einen gewölbten Raum mit plattenbelegtem Boden. Das Lampenlicht ließ groteske Formen herumhüpfen. Kauernde Bestien schienen längs der Wände zu lauern. Es war, als ob Dämonen auf sie gewartet hätten.

  Der Verstand erkannte die gedrungenen Formen als das, was sie waren - Weinfässer, gefüllt mit den besten Rebensäften, deren Europa sich rühmen konnte. Aber in einer Situation wie dieser konnte man seinem Verstand nicht voll vertrauen. Umso weniger, wenn man wusste . oder auch nur vermutete -, was man jenseits

des Weinkellers finden würde.

  Es war dort in dem achteckigen Raum, genau in der Mitte und mit Abmessungen, die mit der Geometrie des Raums harmonierten. Glänzend poliertes Holz mit goldenen und silbernen Verzierungen im strengen Stil der Frührenaissance reflektierte den Lampenschein. Ein schönes Stück, dachte der ältere Engländer, dann stutzte er über seinen eigenen Gedanken. Schön in der künstlerischen Verarbeitung, korrigierte er sich, aber was alles Übrige anging, war entsetzlich das zutreffendere Wort.

  Das Mädchen blieb bei der Tür stehen, als die drei Männer sich dem Sarg näherten. Der Holländer hielt die zwei Gegenstände, die er aus seiner Jacke gezogen hatte, hoch in die Luft und nickte. Still, beinahe andächtig hoben die zwei Engländer den Deckel und klappten ihn ganz zur Seite, so dass er offen blieb.

  Er lag wie tot im Sarg, umgeben von weißem Satin, mit dem sein Ruheplatz ausgeschlagen war, aber unter seinem Körper war eine Schicht dunkler, fettig aussehender Erde. Ein ellenlanger Riss in seinem linken Hosenbein verriet, wo der Degen des jungen Engländers seinen Unterschenkel geritzt hatte. Er lag da wie tot. Aber er war nicht tot; diesen Zustand herbeizuführen, waren die vier Ausländer gekommen.

  »Jetzt«, sagte der ältere Engländer leise.

  Mit seiner linken Hand setzte der Holländer den zugespitzten Holzpflock über das Herz dessen, der im Sarg lag. Sein rechter Arm holte weit aus, schlug kraftvoll zu, und der Schlegel in seiner Rechten landete mit hellem, hartem Klang auf dem Pflock.

  Ein unmenschlicher Schrei zerriss die Luft.

  Die Gestalt im Sarg richtete sich halb auf. Das Gesicht, das in seiner starren Blässe etwas von der müden Verfeinerung aristokratischer Dekadenz hatte, erwachte für einen Moment zum Leben. Ein hübsches Gesicht, dachte die junge Engländerin, obwohl sie vor dem starren Blick der aufgerissenen Augen zurückschreckte, in denen Schock und ein ungläubiges Begreifen lagen, dass sie nicht mehr sehen würden. Der Schrei erstarb in einem Gurgeln, und der Körper fiel schlaff zurück.

  »Es ist getan«, sagte der Holländer mit dumpfer Stimme.

  Der ältere der beiden Engländer nickte und griff zum Sargdeckel, dann hielt er mitten in der Bewegung inne.  

  Aus einer der acht Ecken des Raums stachen zwei Lichtschlitze. Nun wurden auch die anderen aufmerksam, und die erhobene Lampe zeigte, um was es sich dabei handelte. Eine ziemlich große schwarze Katze saß dort auf ihren Hinterbeinen und beobachtete sie.

  Das Mädchen schauderte. »Bitte, können wir jetzt gehen?«

  Die drei Männer schlossen den Sargdeckel, und der junge Engländer führte sie mit der Lampe zurück in den Weinkeller. Unterwegs zur Treppe dachte er an eine Idee, die er zuvor gehabt, aber wieder vergessen hatte.

  »Der Holzpflock wird dem Schrecken ein Ende bereiten«, sagte er zu seinen Gefährten, »aber vielleicht sollten wir ein Übriges tun.«

  »Nämlich?«, fragte der Holländer.

  »Können wir ihm nicht das Höllenfeuer geben, dem er entsprungen ist?«

  Der Holländer blickte von den Augen des anderen zur Flamme der Petroleumlampe. »Es könnte nicht schaden. Mach, was du willst, aber hol eine zweite Lampe von oben. Denn zumindest eine werden wir brauchen, um unseren Weg hinauszufinden.«

  Dies war ein vernünftiger Rat, und der junge Engländer befolgte ihn; er brachte eine weitere Lampe in den Weinkeller. Als er jedoch versuchte, den achteckigen Raum zu betreten, fand er den Weg versperrt. Irgendwie war eine gemauerte Wand erschienen, wo es zuvor keine gegeben hatte. Ein Zufall, zweifellos. Wahrscheinlich hatte einer von ihnen beim Hinausgehen unabsichtlich die Vorrichtung ausgelöst, die die Schiebetür bewegt hatte. Sicherlich konnte jener dort drinnen nicht... und außer dem Toten im Sarg war da nur diese Katze, die unfähig sein würde, so etwas...

  Der junge Mann fröstelte unbehaglich.

  Der Monat war der September. Das Jahr war 1883. Das nächste Dorf hieß Arefu, gelegen im nördlichen Teil des früheren Fürstentums der Walachei, das heute zum

Kernland Rumäniens gehört.

 

  Das Jahr ist 1938, der Monat ist Juli.

  Der Ort ist New York, genauer gesagt das Hafengebiet auf der Westseite der Halbinsel Manhattan. Es ist fünf Minuten nach Mitternacht. Der Mann, der reglos auf den schmutzigen Bohlen der Anlegebrücke liegt, ist fünfundzwanzig Jahre alt.

  Er schreit auf, als das Bleirohr seinen Rücken trifft. Das Rohr saust ein zweites Mal auf ihn nieder. Er schreit wieder. Er versucht seine Arme und Beine zu bewegen und fortzukriechen, aber er kann es nicht. Er wird von vier Männern niedergehalten. Der Mann, der auf seinem linken Bein kauert, wird ungeduldig.

  »Colly. Lass den Blödsinn. Gib diesem Schnüffler den Rest, oder lass es einen von uns erledigen.«

  Der Mann namens Colly grinst. »Schnauze ja? Das ist meine Show. Ich will unserem kleinen Professor hier eine Lektion geben. Hörst du mich, Professor?«

  Das Bleirohr schlägt ein drittes Mal mit dumpfem Geräusch auf den Körper. Wieder schreit das Opfer.

  Der Mann namens Colly lacht. »Wisst ihr, wer dieser Fischprofessor ist, he? Er ist so ein verdammter Gehirnmensch, ein großer Eierkopf. Nicht bloß ein akademischer Grad, sondern gleich zwei. Das bedeutet, dass man ihn mit Doktor anreden muss. Und was macht er mit all diesem Gehirn? Er schleimt sich bei den Bullen ein und schnüffelt uns armen Schweinen nach. Macht uns das Leben schwer.

Richtig, Professor?«

  Colly schlägt ein viertes Mal zu. Dann ein fünftes und ein sechstes und ein siebtes und ein achtes Mal. Der Mann auf den faserigen Holzplanken schreit nicht mehr; er stöhnt nur noch.

  Als das Bleirohr ein elftes Mal herunterkommt, ist dem Opfer auch das Stöhnen vergangen. Seine Augen sind geschlossen, seine Zunge hängt aus seinem offenen Mund. Der zwölfte Schlag des Bleirohrs, auf seinen Kopf gezielt, bricht ihm den Schädel.

  Colly richtet sich grinsend auf. »Siehst du, Professor - Gehirn ist nicht alles, sage ich immer. In Ordnung, Jungs, zu den Fischen mit ihm. Mal sehen, ob unser Fischprofessor überhaupt schwimmen kann.«

  Während Colly über seinen Scherz lacht, packen zwei seiner Gefährten den zusammengeschlagenen Zivilfahnder an Armen und Beinen und werfen ihn von der Landungsbrücke ins schmutzige Brackwasser des Hudson River.

  Colly schmunzelt noch, als er seinen Ford anspringen lässt. Einer seiner vier Männer setzt sich neben ihn, die anderen quetschen sich in den Fond. Der kühle Nachtwind über dem Wasser hat sie alle durstig gemacht, und ihre Gedanken sind schon bei dem Magenwärmer, der sie in der Stammkneipe erwartet.

  Das erklärt vielleicht, warum sich keiner die Mühe macht, nachzusehen, ob der Professor auch unter der ölig schillernden schwarzen Wasseroberfläche blieb.

  Er tat es nicht.

  Mehr tot als lebendig, unfähig, seine Beine zu gebrauchen, ruderte er mit seinen Armen gegen den Ebbstrom, der ihn an Manhattan vorbei hinauszuziehen trachtete. Ein wütender Schmerz stieß immer wieder durch seinen Kopf, und Blut trübte seine

Augen. Er kämpfte mit Armen und Instinkt, und schließlich fühlten seine Hände die schleimigen Steinquader einer schrägen Uferböschung.

  Man flickte sein Schädeldach mit einer Silberplatte.

  Man sagte ihm, dass er für den Rest seines Lebens an einen Rollstuhl gefesselt sein werde. Man sagte ihm, dass er seine Fahndung auf eigene Faust und ohne Auftrag der Vorgesetzten Dienststelle unternommen habe.  Er sei als Kriminologe für Spezialaufgaben eingestellt worden, sagte man ihm, und da er sich der Insubordination schuldig gemacht habe, könne er nicht länger im Polizeidienst bleiben. Auch könne die Stadt nicht für die Folgen aufkommen, die sich aus seinen Verletzungen ergäben. Man erinnerte ihn taktvoll, dass seine finanziellen Verhältnisse dergestalt seien, dass er sich um seine Zukunft keine Sorgen zu machen brauche, und versicherte ihm, dass ein Mann mit seiner Ausbildung und Intelligenz keine Schwierigkeiten haben werde, eine Position in der Wissenschaft zu finden. Wenigstens in diesen letzten Punkten hatten sie Recht.

  Aber es gab Dinge, die dieser Mann zu vollbringen gedachte.

  Und er beschloss aktiv zu werden - ob man ihn dafür bezahlen wurde oder nicht.

  Das Opfer von 1938 ließ sich Zeit.

  Ebenso wie das Opfer von 1883.

 

 

 

   

  1. 

 

 

  Es war ein diesiger, schwüler Spätsommerabend, als das gelbe Taxi vor einem vierstöckigen altersbraunen Ziegelbau zwischen Central Park und East River hielt. Als er die große Banknote wechselte, die er bekommen hatte, spähte der Taxifahrer, ein Veteran der New Yorker Straßen, in die dunstige Nacht hinaus, weniger um sich zu vergewissern, dass er die richtige Adresse gefunden hatte, als vielmehr in dem Bestreben, mögliche Bedrohungen seines weiblichen Passagiers auszumachen. In den alten Tagen hatte man noch gewusst, welche Gegenden der Stadt gefährlich und welche harmlos waren. Heutzutage war keine Gegend frei von Strolchen und kriminellen Fixern, denen ein Leben wenig bedeutete, wenn es zwischen ihnen und einer Brieftasche oder Geldbörse stand, deren Inhalt den nächsten gierig ersehnten Druck kaufen konnte.

  Die Frau, die er an Bord hatte, war auch genau der Typ, auf den diese Brüder ein Auge hatten. Eine ältere Dame in den Sechzigern, vielleicht sogar in den Siebzigern. Nicht dass sie schwach oder gebrechlich ausgesehen hätte. Ganz und gar nicht. Er hatte ihr Gesicht im Rückspiegel beobachtet. Sie hatte die ruhige würde und Selbstsicherheit des Reichtums. Auch ihre Kleidung - schwarzer Sommermantel und Handschuhe, dazu ein schwarzer Hut, der das aufgesteckte silbrige Haar fast ganz bedeckte - war von bester Qualität und kündete unaufdringlich von Wohlstand und materieller Unabhängigkeit, obwohl sie für die schwüle Augustnacht ein wenig schwer schien. Ja, die Frau war der Typ, den ein Straßenräuber als lohnend empfinden würde. Doch es war etwas Seltsames an der Frau. Ein Straßenräuber könnte sich täuschen. Die Augen hatten einen Ausdruck, der zur Vorsicht gemahnte. Natürlich waren es alte Augen, gelblich, geädert und zwischen faltigen Lidern. Vielleicht war es die seltsame Färbung, ein beinahe blasses Grün. Während der Fahrer sie im Rückspiegel beobachtete, hatte er diese Augen nicht ein einziges Mal zwinkern sehen. Sicher, er hatte sie nicht die ganze Zeit beobachten können - so ruhig war der Verkehr nie -, aber immer, wenn er sie ansah, hatte er diesen abwesenden, starren Blick der blassen Augen bemerkt. Es war, als sahen sie irgendwelche weit entfernten Dinge, vielleicht eine Erinnerung aus ihrer längst vergangenen Jugend.

  »Ihr Wechselgeld, Madam.«

  Die Frau hatte zum Hauseingang hinübergesehen. Der Klang seiner Stimme schien sie in die Gegenwart zurückzureißen. Einen Moment schien sie nicht zu wissen, wo sie war, dann lächelte sie und sagte: »Danke, junger Mann. Bitte behalten Sie den Rest. Es war nett von Ihnen, dass Sie um meine Sicherheit besorgt waren.«

  Ihre Stimme hatte einen ausländischen Akzent, aber das bedeutete nicht viel. Wenigstens ein Viertel seiner Fahrgäste sprachen mit ausländischem Akzent. Nein,

in dieser Stimme war noch etwas anderes, als sei ihr nicht bloß das Englische ungewohnt, sondern das Sprechen per se. Aber das war ein einfältiger Gedanke.

  Er war einen Block entfernt, bevor er sich fragte, wie sie hatte wissen können, dass er um ihre Sicherheit besorgt gewesen war. An deinem Gesicht, natürlich, dachte er. An deinem Gesicht hat sie es gesehen, Junger Mann! Er grinste, schüttelte seinen Kopf und nahm Kurs auf den Times Square, wo das bevorstehende

Ende der Abendvorstellungen neue Kundschaft versprach.

  

  Die Dame in Schwarz stand vor den Stufen des Hauseingangs und blickte an der Fassade hinauf. Es sah beinahe so aus, als lausche sie auf etwas; nach einem Moment nickte sie ein wenig und stieg die Stufen hinauf. Ihre Bewegungen waren unbeholfen und schienen sie anzustrengen. Vor der Haustür angelangt, drückte sie

den einzigen Klingelknopf, ein altmodisches Ding in einer ornamentierten Messingfassung. Einige Sekunden vergingen, dann drückte sie noch einmal. Ein Schloss klickte, und die große, massive Tür schwang auf.

  Ein Mann Anfang Dreißig stand in der Öffnung, eine Hand auf der Klinke. Er war ein Riese, gute zwei Meter groß und sicherlich zweihundertzwanzig Pfund schwer. Sein lose sitzendes Hemd und die ausgebeulte Hose konnten nicht verbergen, dass sein Körper der eines muskelbepackten Athleten war. Der Mann hatte dunkelbraune, spanisch aussehende Augen und war völlig kahl. Seine Stimme war tief, aber weich und höflich.

  »Ja, bitte?«

  »Ich möchte zu Professor Damien Harmon. Ich muss ihm sprechen. Er kann mir helfen.«

  Der Mann nickte. »Vielleicht, aber der Professor hat heute Abend zu tun und wünscht nicht gestört zu werden. Es sei denn, er erwartet Sie. Haben Sie ihn angerufen und einen Termin vereinbart?«

  Die alte Frau lächelte. »Ich wusste nicht, dass Professor Harmon ein Telefon im Haus hat.«

  Der hünenhafte Mann lächelte zurück, »Er hat keins. Ich schlage vor, Sie lassen Ihre Karte oder eine Nummer hier, über die Sie erreicht werden können. Morgen wird er Sie vielleicht anrufen. Obwohl ich nichts versprechen kann. Seine Zeit ist sehr kostbar.«

  »Und meine«, sagte die Frau mit matter Stimme, »ist sehr begrenzt. Kann ich ihn nicht heute Abend sprechen? Ich werde ihn nicht lange mit meinem Anliegen behelligen.«

  »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, aber ich habe strikte Anweisungen. Außerdem ist der Aufzug defekt; ich weiß nicht, ob Sie bis zum vierten Stock steigen könnten. Und der Professor ist an den Rollstuhl gefesselt.«

  »Ja, ich weiß von seiner Behinderung. Und was mich betrifft, so haben Sie recht; ich könnte die Treppen nicht steigen« Die alte Frau wandte sich um.

  »Ihre Karte, Madam. Oder eine Telefonnummer?«

  »Danke, aber ich habe keine Karte. Und wie Ihr Professor, habe ich auch kein Telefon. Ich werde zu einem späteren Zeitpunkt wiederkommen.«

  Sie begann die Stufen hinabzusteigen, mühsam und wankend, als ob ihre Kniegelenke das Gewicht des Körpers nicht tragen könnten.

  »Ist Ihnen nicht gut, Madam?«, fragte der Mann.

  Eine Hand am schmiedeeisernen Geländer, wandte sie sich halb um. Ihr Körper straffte sich. »Danke, es ist alles in Ordnung. Machen Sie sich keine Gedanken um

mich.«

  Die Tür schloss sich mit leisem Schnappen. Die Frau stand auf dem Gehsteig und blickte wieder hinauf. Ja, dachte sie, die Zeit ist sehr begrenzt. Vielleicht habe ich zu lange gewartet, aber ich musste meiner Sache sicher sein. Selbst jetzt bin ich nicht absolut sicher, aber der Zyklus ist bald erschöpft. Es reicht nicht mehr, um anderswo nachzuforschen. Es muss jetzt sein. Es muss hier sein. Sie senkte ihren Kopf und blickte wieder zur Tür. In ihren Augen brannte ein grünes Feuer.

 

  Carmelo Sanchez kehrte ins Wohnzimmer zurück und machte es sich in dem lederbezogenen Ohrensessel bequem, der sein bevorzugter Leseplatz war. Er nahm das Buch auf, in dem er gelesen hatte, einen schmalen Band über Radiophonie, den er erst an diesem Abend aus der Bibliothek des Professors genommen hatte. In den drei Jahren bei Damien Harmon hatte er ungefähr ein Fünftel vom Bücherbestand des alten Mannes durchgeackert. Die meisten Bücher hatte er allerdings nur angelesen. Mit der einen Hälfte der Bibliothek - jener, die sich aus okkulten und philosophischen Schriften zusammensetzte - wusste Carmelo Sanchez nicht viel anzufangen. Warum wertvolle Zeit mit dem Erwägen des Unwägbaren vergeuden? Er wusste, warum Professor Harmon so viel Zeit mit dem Studium dieser Bände verbrachte, und er wusste auch, dass der alte Mann unverdrossen bemüht war, die dabei gewonnenen Einsichten in die Praxis umzusetzen. Carmelo Sanchez war mehr an den praktischen Aspekten des Lebens interessiert: Er las die Bücher und Fachzeitschriften, die sich mit naturwissenschaftlichen Themen befassten, mit Physik und Elektronik. Das war die Lektüre, bei der er bleiben würde, bis der Professor erfolgreich einen von diesen Zaubertricks demonstrierte, die einen Geist beschwören konnten. Wenn der Dämon dann vor ihnen stünde, würde Carmelo die Studien des Professors vielleicht ernst nehmen.

  Carmelo Sanchez hatte niemals eine Universität besucht, aber wenn ihm danach gewesen wäre, hätte er in jedem elektronischen Laboratorium seinen Mann stehen können. Das war nicht schlecht für einen armen Puertoricaner, der die letzten fünfzehn Jahre in einem New Yorker Slum gelebt hatte und ein schlechtbezahlter Polizist gewesen war, bis sie ihn vor drei Jahren aus dem Dienst gefeuert hatten.

  Seine Miene verdüsterte sich, als er daran dachte.

  Noch immer konnte er sich nicht ohne ein Aufflammen von Hass an die Demütigung erinnern. Der Hass galt nicht so sehr den Vorgesetzten, die ihm den Tritt verpasst hatten, als vielmehr dem System. Er hatte nicht mit den Drogenhändlern und Dealern in den Slums der Latinos Ball gespielt, hatte keine Schmiergelder eingesteckt, wie man ihm vorgeworfen hatte. Niemand unter seinen Kollegen hatte daran gezweifelt, dass es ein abgekartetes Spiel gewesen war. Das

Päckchen mit Heroin war nach einem Tipp, dass Polizist Sanchez seine Schweigegelder statt in Scheinen in Naturalien annehme, in seinem Streifenwagen gefunden worden. Der Endverbraucherpreis des weißen Pulvers hatte mehr als zweitausend Dollar betragen, ein Beweis, dass man bereit gewesen war, sich die Ausschaltung des lästigen Sanchez etwas kosten zu lassen.

  Die Rechnung war aufgegangen. Innerhalb von nur zwei Wochen hatte er auf der Straße gesessen, und dabei hatte er sich noch glücklich schätzen können. Ein paar Jahre Knast wären ihm so gut wie sicher gewesen, wäre nicht plötzlich ein geierköpfiger alter Mann in einem Rollstuhl aufgetaucht. Seine Anwälte hatten den puertoricanischen Ex-Polizisten herausgepaukt.

  »Warum?«, hatte er den alten Mann gefragt. »Warum haben Sie sich für mich eingesetzt?«

  Der Professor war mit der Hand durch seine weiße Mähne gefahren und hatte beiläufig

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Robert Lory/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Walter Brumm und Peter Sladek (OT: Dracula Returns!).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 09.07.2017
ISBN: 978-3-7438-2178-1

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