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Leseprobe

 

 

 

 

JUDITH LANCASTER

 

 

AUS DEM DUNKEL

- 13 SHADOWS, Band 2 -

 

 

 

Horror-Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

AUS DEM DUNKEL 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

13. Kapitel 

14. Kapitel 

15. Kapitel 

16. Kapitel 

17. Kapitel 

18. Kapitel 

19. Kapitel 

20. Kapitel 

21. Kapitel 

 

Das Buch

Flora ließ die Laterne sinken und drehte sich. Nach und nach kamen sechs Türen in ihr Blickfeld. Der Lichtstrahl wanderte über die Wände. Der Raum war kreisrund. 

Basreliefs zeigten monströse Lebewesen: aufrecht gehende Rieseninsekten; teuflisch anmutende Gestalten, die der Phantasie eines Irrsinnigen entsprungen schienen. 

Flora erschrak bis ins Mark. Ihre Knie bebten. Sie trat langsam zurück und leuchtete von da nach dort. Die Motive waren sich alle ähnlich: Horden spitzzahniger und gehörnter Blutsauger fielen über entsetzte Menschlein her. 

Sie stieß mit dem Rücken gegen etwas Hartes, schrie auf und fuhr herum. Hinter ihr ragte etwas auf... Ein Altar? An den Stirnseiten des etwa eineinhalb Meter hohen Dings waren breite metallene Klemmen befestigt, die an Handschellen erinnerten. Sie waren rostig. 

War sie hier in einer Folterkammer? 

 

AUS DEM DUNKEL, ein fesselnder Schauerroman von JUDITH LANCASTER und der zweite Band der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

AUS DEM DUNKEL

 

 

   1. Kapitel

 

»Wenn ich tot bin, ruf ich dich an.«

An diesen Satz musste Flora Lennox denken, als ihr Austin den letzten Schnaufer tat.

Um zu verhindern, dass er mitten auf der Landstraße starb, lenkte sie ihn, ein stummes Gebet auf den Lippen, mit letzter Kraft an den Rand der Fahrbahn.

Ihr Schulfreund David hatte diesen Satz gesagt. Vor zehn Jahren. David hatte immer merkwürdige Dinge gesagt. Er hatte auch immer merkwürdige Dinge getan. Ihm war auch zuzutrauen, dass er einen merkwürdigen Beruf ergriffen hatte: Fönforscher, Pfeifen-Designer oder Redakteur einer Anglerzeitschrift.

Flora öffnete die Wagentür und stieg aus. Der Austin war fast so alt wie sie. Das einzige Erbe, das Papa ihr hinterlassen hatte. Sie trat gegen den Kotflügel und äußerte einen nicht sehr damenhaften Fluch.

Zum Glück war nichts passiert. Es hätte schlimmer kommen können. Sie schaute sich um. Der Himmel war grau. Die Luft war kalt. Die Gegend sah öde aus. Die Laubbäume waren kahl. Nur die Tannen sahen aus wie immer.

Ihr Reiseziel - das alte Landhaus - war von der Straße aus gut zu erkennen: Ein mit Efeu bewachsener Klotz aus dem 18. Jahrhundert. Er sah finster aus; fast schon unheimlich. Das Bauwerk bestand aus verschachtelten Teilen, die alle unterschiedlich hoch waren. Die parkähnliche Umgebung wirkte in der nebeligen Landschaft fast wie ein Friedhof.

»Wenn ich tot bin, ruf ich dich an.« Flora schüttelte sich. Was mochte aus dem hübschen David MacQuarry geworden sein? Auf der Abschlussfeier hatte er gesagt, er wolle nach Kanada auswandern, um Trapper oder Goldgräber zu werden.

Ein Jahr später hatte sie sein Bild in der Zeitung gesehen: Er war Gitarrist bei einer Punk-Band namens Angebrannte Spiegeleier. Vielleicht war er ja inzwischen - wie einst die Beatles - auf den Kontinent übergesiedelt und in Hamburg berühmt geworden. Flora hatte keine Ahnung, was aus ihm geworden war. Außerdem stand sie nicht auf Punk-Musik. Elvis war ihr lieber.

Wenn man länger im Freien stand, spürte man die Kälte.

Flora schüttelte sich noch einmal. Dann holte sie ihr Reisetäschchen aus dem Wagen, schloss das Fahrzeug ab und machte sich zu Fuß auf den Weg zum Landhaus.

Vor einer Woche hatte sie am Telefon erfahren, wie man das Anwesen fand. Lord Robert Barlow war Unternehmer und Kunstfreund und verdiente sein Geld in mehreren Branchen. Er hatte in der Bibliothekars-Zeitschrift inseriert, weil...

Flora blieb stehen.

Ihr durch das kahle Geäst der Laubbäume fallender Blick traf auf eine Gestalt. Ein Mann? Vermutlich. Er war dunkel gekleidet und trug einen Umhang, wie man ihn Anfang des 20. Jahrhunderts getragen hatte. Dazu einen schwarzen Schlapphut. Der letzte Mensch, den sie in diesem Aufzug gesehen hatte, hieß Orson Welles.

Eigenartig war, dass der Mann, der hinter einem Baum stand, das Landhaus durch ein Fernrohr beobachtete. Wollte er nicht gesehen werden?

Floras Herz schlug schneller. Solche Menschen hatten es sicher nicht gern, wenn sie merkten, dass sie beobachtet wurden... Sie schaute demonstrativ in eine andere Richtung und ging weiter.

Nach fünfzig Metern kam sie an einen unbefestigten Weg, der tiefer liegenden Anwesen der Barlows führte.

Ein silberner Rolls Royce kam ihr entgegen.

Am Steuer saß ein Mann mit schwarzem Wuschelkopf und gesunder Hautfarbe. Er war in blauen Jeansstoff gekleidet. Zwischen seinen Zähnen klemmte eine kalte Zigarette. Er nickte Flora zu, bog auf die Landstraße ab und fuhr in Richtung Exeter davon.

Flora wandte sich wieder ihrem Weg und dem klobigen Landhaus zu. Der schwarz gekleidete Mann mit dem Schlapphut war verschwunden. Obwohl sie große Neugier empfand, bezähmte sie sich: Sie wusste nicht, wer sie vielleicht beobachtete und wollte nicht den Eindruck erwecken, dass sie ihre Nase in Dinge steckte, die sie nichts angingen.

Der Gedanke, einen Spanner gesehen zu haben, ließ sie allerdings nicht los. Es war wohl angebracht, wenn sie den Leuten, die hier wohnten, von ihrer Beobachtung erzählte.

 

*

 

Auf ihr Klopfen hin öffnete eine adrett gekleidete weizenblonde Dame die Tür.

Flora sah sofort, dass sie nicht die Hausherrin war: Der Blick, mit dem sie gemustert wurde, kam zu sehr von oben herab. Adelige Damen, die in Häusern dieser Größenordnung wohnten, waren immer gut erzogen und kultiviert. Sie hätten nie gezeigt, dass sie jemanden nicht mochten.

Doch diese Frau musterte Flora von Kopf bis Fuß. Ihr Blick war so abschätzig, als wolle sie sagen: Du bist für dieses Haus nicht vornehm genug.

»Ja, bitte?«, bequemte sie sich schließlich zu sagen.

»Ich bin Flora Lennox.« Flora sprach mit fester Stimme, damit ihr Gegenüber merkte, dass sie kein ängstlicher Typ war. »Lord Barlow erwartet mich.«

Eigentlich hätte sie auch sagen können, dass sie hier war, um in Barlow Manor eine Stellung anzutreten. Aber hatte dies diese arrogante Ziege überhaupt zu interessieren?

»Ah, die neue Sekretärin.« Die Frau nickte gönnerhaft. »Treten Sie doch ein, Miss Lennon.«

»Lennox.«

»Verzeihung, Miss Lennox.« Die Frau bemerkte nun Floras kleine Reisetasche. »Ist das Ihr ganzes Gepäck?«

Flora ging an ihr vorbei und erwähnte das Missgeschick mit ihrem Auto.

»Ich werde dem Chauffeur sagen, dass er sich um Ihr Fahrzeug kümmert.«

»Danke.« Flora folgte der Frau durch einen breiten Korridor, von dem mehrere kunstvoll verzierte Türen abzweigten. Zwei Ritterrüstungen flankierten eine Tür, die in einen Rauchsalon führte.

Hinter der letzten Tür befand sich eine gut vierzig Quadratmeter große Küche, in der eine dralle Mittdreißigerin mit blondem Haar, blauen Augen und roten Lippen in einem Topf rührte. An einem Tisch in einer Ecke saß eine schlanke rothaarige junge Frau von vielleicht zwanzig Jahren.

Die Köchin wandte sich um. Der Blick, der die noch immer namenlose Dame traf, demonstrierte eindeutig Kühle. Als die Köchin Flora sah, taute sie jedoch auf und lächelte freundlich.

»Miss Fleming, unsere Köchin«, sagte die Dame.

»Nenn mich Della, Schätzchen.« Miss Fleming wischte sich die Hände ab und umarmte Flora. Flora war auf solche Herzlichkeiten zwar nicht vorbereitet, empfand sie aber nicht als unangenehm. Sie mochte innige Menschen.

»Ich bin Flora Lennox.« Sie zwinkerte Della zu. Sie hatte den Eindruck, jemanden gefunden zu haben, mit dem sie sich verstand.

»Ich bin Mrs. Graves, Lady Cynthias Hausdame.« Mrs. Graves klang verschnupft. Vertraulichkeiten des Personals passten ihr wohl nicht. Was hatte eine Hausdame überhaupt zu sagen? War sie so etwas wie ein weiblicher Butler, der das Personal herumkommandieren durfte?

»Das ist Nicola, das Hausmädchen.« Mrs. Graves deutete auf die junge Rothaarige, die sich schüchtern erhoben hatte und Flora freundlich anlächelte. »Den Chauffeur werden Sie kennen lernen, wenn er mit seiner Lordschaft aus Exeter zurück ist.« Sie räusperte sich. »Ich nehme an, dass Sie  nach der langen Fahrt müde sind und vielleicht gern ein Tässchen Tee trinken.«

»Das kann man wohl sagen.« Flora nickte.

»Miss Fleming wird sich um Sie kümmern, während ich mich davon überzeuge, ob Nicola Ihr Quartier den Wünschen seiner Lordschaft gemäß hergerichtet hat.«

Nicola errötete und schien etwas zu murmeln. Sie setzte sich jedoch nicht zur Wehr.

Della hob den Mittelfinger als Mrs. Graves die Küche verließ. Als die Tür sich hinter der Hausdame schloss, musste Flora lachen.

»Wie ist denn das Betriebsklima hier?« Sie nahm Nicola gegenüber Platz.

»Mrs. Hochwohlgeboren ist eine Ausnahme. Wir anderen verstehen uns prächtig.« Della kehrte an die Küchenzeile zurück. »Tee oder Kaffee, Schätzchen?«

»Kaffee.« Flora war nicht daran gewöhnt, »Schätzchen« genannt zu werden; schon gar nicht von Frauen. Aber bei einem kumpelhaften Typ wie Della war dergleichen zu erwarteten. »Ich war zu lange auf dem Kontinent, da sind mir manche britischen Sitten abhandengekommen.«

»Du warst im Ausland? Wo denn?«

Flora nickte. »Zuletzt in Düsseldorf.«

»Düsseldorf?« Della stellte eine Tasse Kaffee vor Flora ab. Sie war in Geographie wohl keine Leuchte.

»Deutschland.«

»Ah.« Della nickte. »Ich war noch nie Ausland. Wenn man Schottland nicht als Ausland zählt.«

»Ich schon«, piepste Nicola. »Ich war schon mal mit meinen Eltern in Spanien. Auf Mallorca.«

»Da war ich auch schon mal.« Flora nippte an ihrem Kaffee.

»Hast du da gearbeitet?«, fragte Della. »Sprichst du die Sprache?«

Flora nickte. »Mein Vater war als Soldat lange im Rheinland stationiert. Da hat er meine Mutter kennen gelernt. Ich bin in Hamburg geboren.« Sie schaute ihre neuen Kolleginnen an. »Sag mal, wieso nennst du Mrs. Graves Hochwohlgeboren? Ist sie etwa adelig?«

»Georgina Graves’ Vater wurde irgendwann mal zum Ritter geschlagen und durfte sich von da an ‚Sir Johnny’ oder so was nennen.« Della grinste. »Deswegen hält sie sich für was Besseres.«

»Eigentlich soll sie mit Lady Cynthia spazieren gehen oder ihr was vorlesen«, piepste Nicola. »Aber die Gnädige hat kaum Bedarf für sie. Deswegen meint Mrs. Graves, sie müsste alle Nase lang im Haus nach dem Rechten sehen.«

Flora schaute auf. »Was ist mit der Gnädigen? Ist sie krank?«

Della und Nicola tauschten einen Blick.

»Könnte man so sagen. Genaues weiß man nicht. Momentan leidet sie jedenfalls an Migräne.« Nicola zuckte die Achseln. Sie hatte ein dünnes, doch liebes Stimmchen.

»Haben die Herrschaften Kinder?«

Della und Nicola schauten sich erneut an. Flora hatte den Eindruck, dass sie sich gegenseitig fragten: Sollen wir sie einweihen oder lieber nichts sagen? 

»Ja, eins. Es lebt hier im Haus. Vermuten wir.« Della stand auf. »So, und jetzt ran an den Rettich.« Sie ging zum Herd, um sich ihrem Beruf zu widmen. Auch Nicola erhob sich. Sie murmelte, sie müsse da und dort noch Staub wischen.

Flora saß allein am Tisch. Sie trank Kaffee, ließ den Blick durch die riesige Küche schweifen und fragte sich, wie Dellas geheimnisvolle Antwort zu verstehen war. Sie vermutete, dass das Kind unter diesem Dach wohnte?

»Miss Lennon?«

Flora schaute auf. »Lennox.«

»Verzeihung.« Mrs. Graves stand in der Tür und räusperte sich verlegen. »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen jetzt Ihre Unterkunft zeigen.«

 

 

2. Kapitel

 

Flora hatte mit allem Möglichen gerechnet, aber nicht damit, dass ihr Quartier eine Fürstensuite war. In einem Schlosshotel hätte diese Unterkunft ein Vermögen gekostet.

»Ich bin entzückt.« Sie stand, die Reisetasche an der Hand, in der offenen Tür und begutachtete die rustikalen Polstermöbel.

Durch hohe Fenster fiel das erste Sternenlicht in den Raum hinein. Die Standuhr zeigte 18.00 Uhr, doch draußen war es stockdunkel. Vereinzelte Schneeflöckchen wehten vor den Scheiben vorbei. Im Kamin bullerte ein Holzfeuer. »Sind alle Angestellten so herrlich untergebracht?«

»Nicht ganz.« Mrs. Graves klang etwas dröge als sie Flora mit einer Geste zu verstehen gab, sie möge hinein gehen. »Ich nehme an, Ihr besonderer Status rechtfertigt einen besonderen Aufwand, Miss L...«

»Lennox.«

»Miss Lennox.« Mrs. Graves räusperte sich. »Ich weiß auch nicht, warum ich Ihren Namen immer verwechsle.«

»Vermutlich hat der Oberbeatle sich Ihnen besonders eingeprägt.« Flora lachte leise. »Er ist ja auch viel berühmter als ich.«

Mrs. Graves zuckte die Achseln. »Ach, den anderen fand ich eigentlich immer viel hübscher.« Sie voran, zeigte Flora alle Räume und machte sie mit den Standorten von Steckdosen und Lichtschaltern bekannt. Flora kam sich vor als würde sie von einem Hotelpagen eingewiesen.

»Lord Barlow hat erwähnt, dass Sie auch als Schriftstellerin tätig sind«, sagte Mrs. Graves, als sie nach der Führung vor der offenen Tür standen.

Flora errötete. »Ach, so sehe ich es nicht unbedingt. Ich habe eigentlich mehr als Übersetzerin gearbeitet...« Sie zuckte die Achseln. »Ich habe vor fünf Jahren einen Roman geschrieben, der auch fürs Fernsehen verfilmt wurde, aber seitdem...« Sie seufzte. »Ich weiß nicht... Vielleicht ist es doch eher meine Berufung, die Bücher anderer Autoren zu übersetzen als eigene zu schreiben.«

Natürlich hätte sie Mrs. Graves erzählen können, dass der Fernsehfilm ein Flop gewesen war. Der Produzent hatte leider darauf bestanden, die Hälfte ihrer Geschichte umzuschreiben und die Hauptrolle mit seiner hübschen aber untalentierten Freundin zu besetzen.

Doch wie hätte das ausgesehen? Wie eine Rechtfertigung. Nein, sie wollte nicht wie der Fuchs wirken, dem die Trauben zu sauer waren. Sie wollte in der Abgeschiedenheit dieser Region Südenglands ihr Hirn auslüften, neue Kräfte und Ideen sammeln und einen neuen Anfang wagen.

»Und was werden Sie hier tun?« Mrs. Graves hob fragend die Brauen.

Lord Barlow hatte sie anscheinend nicht in seine Pläne eingeweiht. Konnte Flora sich die Freiheit nehmen, in die Informationspolitik ihres neuen Arbeitgebers einzugreifen und die Hausdame über Dinge in Kenntnis setzen, die er ihr - vielleicht mit gutem Grund - verschwiegen hatte?

»Ich werde mich hauptsächlich um die Bibliothek von Barlow Manor kümmern«, erklärte Flora unverbindlich. »Ich habe gehört, sie soll fünfzigtausend Bände umfassen. Allein die Registrierung dieser Bücher ist eine Menge Arbeit.«

»Ach so.« Mrs. Graves nickte.

Flora hatte den Eindruck, dass sie erleichtert war. Wenn ja, warum? Sah sie etwa eine Konkurrenz in ihr?

»Ich werde Ihnen Bescheid geben lassen, wenn Mylord aus Exeter zurück ist.« Mrs. Graves ging hinaus.

Flora schloss die Tür, durchquerte das Wohnzimmer und trat ans Fenster. Hinter ihr knisterten die Scheite im Kamin. Es war warm und heimelig in diesem Zimmer. Sie dachte an Mann, von dem sie sich vor einem halben Jahr getrennt hatte. Er hatte sie ausgenutzt und betrogen.

Seit sie aus Birmingham abgereist war, hatte sie sich geschworen, nie wieder auf einen aussehenden Kretin hereinzufallen. Die Welt wimmelte von lässigen Burschen, die glaubten, Frauen seien nur dazu da, ihnen das Leben zu versüßen. Beim nächsten Mann, der ihr Herz gewinnen wollte, würde sie zuerst in Erfahrung bringen, ob seine Lektüre nur aus der Sportzeitung bestand oder ob er schon mal ein Buch las.

Und wenn er schon mal eins gelesen hat, dachte sie, will ich wissen, wie es heißt und wer es geschrieben hat. Sie seufzte leise. Aber zuerst wollen wir mal über die Runden kommen. 

Als sie ihre Koffer auspacken wollte, fiel ihr ein, dass sie noch im Wagen lagen. Na, dann musste sie eben warten, bis der Chauffeur mit Lord Barlow aus der Stadt zurückkam.

Flora ging kurz ins Bad, schaute sich im Spiegel an, frischte ihr Makeup auf, zupfte ihren dunklen Lockenschopf zurecht und ging ins Parterre hinab.

 

*

 

In dem Korridor, der zur Haustür führte, schaute sie sich um. Die von den Rüstungen flankierte Tür stand noch immer offen, so dass sie keine Schwierigkeiten hatte, sich den Rauchsalon anzuschauen.

Die Regale enthielten Nippes, hübsch eingebundene Bücher aller Art und Illustrierte, wie sie auf dem Lande lebende Gentlemen und ihre Gattinnen lasen: Sie beschäftigten sich mit Pferden und Pferderennen, Fuchsjagden, Autos, der High Society und der Welt hinter dem Großen Teich - hautsächlich Hollywood. Die Musikzeitschrift Melody Maker kam Flora hier fehl am Platze vor. Doch dann fiel ihr ein, dass Lord Barlow auch einen Musikverlag besaß.

Die anderen Türen waren geschlossen. Da Flora nicht wusste, welche Räume sie betreten konnte, ohne jemanden in eine peinliche Lage zu bringen, kehrte sie in die Küche zurück, wo Della und Nicola mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt waren.

Der Kaffee war noch heiß. Flora nahm am Ecktisch Platz, gönnte sich eine zweite Tasse und fragte sich, weswegen sie ihre Suite eigentlich verlassen hatte.

Ach ja!

»Ich kümmere mich drum«, sagte Nicole, als Flora auf das Problem mit ihrem Wagen hinwies. Das Hausmädchen trocknete sich die Hände ab. »Davey ist gerade eingetroffen. Die Heckleuchte des Wagens ist kaputt. Er repariert sie gerade. Normalerweise kommt er nämlich immer auf eine Tasse Tee rein, wenn er in der Stadt war...«

»Und seine... ähm... Lordschaft?« Flora war eigentlich nicht darauf aus, ihren neuen Arbeitgeber noch heute Abend intellektuell zu beeindrucken.

»Übernachtet in der Stadt«, gab Della bekannt. »Er zieht mit irgendwelchen Geschäftsfreunden um die Häuser, vermute ich.«

Flora atmete erleichtert auf und händigte Nicola die Wagenschlüssel aus. Das Hausmädchen ging hinaus. Als Flora aus dem Fenster schaute, zuckte sie  zusammen.

Da stand er wieder - zwischen den Tannen: der Mann mit dem Schlapphut. Er war gut fünfzig Meter weit entfernt. Sein Kragen war hochgeschlagen, damit man ihn nicht erkannte. Den Hut hatte er tief in die Stirn gezogen. Auch diesmal hielt er ein Fernglas an die Augen.

Er beobachtete das Landhauses - und zwar jene Fenster, die links von der Küche im Parterre lagen. Was gab es dort zu sehen?

Flora räusperte sich.

»Ist was?«, erkundigte sich Della, ohne von ihren Töpfen aufzuschauen.

»Da draußen ist jemand.« Flora wusste nicht, ob sie das Kind beim Namen nennen sollte. Einerseits hatte sie gerade in der Fremde ein großes Bedürfnis nach Sicherheit. Doch andererseits wollte sie keinen harmlosen Spinner, den in dieser Grafschaft jeder kannte, in Verruf bringen, weil er sich vielleicht für Insekten interessierte, die im Efeu alter Landhäuser nisteten.

Della zischte etwas, das wie ein Fluch klang. Sie schnappte sich einen langen Schöpflöffel und stürzte ans Fenster. Als hätte der Schlapphut es gespürt, drehte er sich um und tauchte zwischen den Tannen unter, die den ganzen Hang bis zur Landstraße bedeckten. »Wo ist er?«

»Abgehauen.« Flora stellte die Kaffeetasse auf den Tisch. Sie schüttelte sich. Geheimnisvolle Männer, die das Tageslicht scheuten, passten irgendwie zu einsam gelegenen Landhäusern.

»Wie sah er aus?« Della spähte in die Finsternis. »Hatte er einen Schlapphut auf?«

»Ja, und so einen altmodischen Umhang, wie Orson Welles ihn getragen hat.«

»Orson Welles?« Della runzelte die Stirn.

»Ein Filmregisseur.« Flora räusperte sich. »Und Schauspieler. Er war der Bösewicht

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Judith Lancaster/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Tag der Veröffentlichung: 22.06.2017
ISBN: 978-3-7438-1929-0

Alle Rechte vorbehalten

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