EVA BAUCHE-EPPERS
Wanderer unter dunklen Himmeln
Erzählungen
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Die Autorin
Tagila
Der Gott
Aine
Wanderer unter dunklen Himmeln
Das Buch
Wanderer unter dunklen Himmeln – erstmals im Jahre 1981 veröffentlicht – enthält die Novelle Tagila, die Miniatur Der Gott sowie die Erzählungen Aine und Wanderer unter dunklen Himmeln, Texte, die das Genre der literarischen Fantasy nicht nur gekonnt widerspiegeln, sondern auch (und vor allem) erweitern; der Nihilismus, der viel, viel später u.a. Game Of Thrones innewohnen sollte (und der auch zahlreiche Werke von beispielsweise Michael Moorcock prägt), ist tief verankert in diesem herausragenden Werk der deutschen Schriftstellerin und Übersetzerin Eva Bauche-Eppers: Es sind Geschichten von Außenseitern, von Verkannten und Gebrandmarkten, Metaphern des menschlichen Makels, Heldenmut und Tugendhaftigkeit findet sich bestenfalls in aus tiefstem Elend geborenen Regungen, und insbesondere an den dramatischen Zuspitzungen und tragischen Wendungen von Tagila und Aine hätte William Shakespeare seine rege Freude gehabt
Wanderer unter dunklen Himmeln – ein zu Unrecht lange Jahre vergessenes Meisterwerk deutschsprachiger Fantasy-Literatur, wiederentdeckt und neu veröffentlicht im Apex-Verlag.
Die Autorin
Eva Bauche-Eppers, Jahrgang 1954.
Eva Bauche-Eppers ist eine deutsche Übersetzerin Schriftstellerin.
Ihr literarisches Debüt feierte Eva Bauche-Eppers (unter dem Pseudonym Eva Christoff) im Jahr 1979 mit dem Roman Das Kaiser-Komplott, welcher als Band 3 der Science-Fiction-Serie Die Terranauten (Bastei-Verlag) erschien. Für dieselbe Serie verfasste sie 1980 fünf weitere Romane: Das PSI-Inferno (Band 6), Die Kinder Yggdrasils (Band 7), Invasion der toten Seelen (Band 29), Blick in die Vergangenheit (Band 30) und schließlich Der Einsame von Ultima Thule (Band 31). 1981 folgte mit Wanderer unter dunklen Himmeln (wiederum im Bastei-Verlag) eine Sammlung von vier Fantasy-Erzählungen.
Seither ist Eva Bauche-Eppers in erster Linie als Übersetzerin ins Deutsche tätig. So übersetzte sie beispielsweise Werke von Tanith Lee (u.a. Red As Blood), Michael Moorcock (The Eternal Champion, The Phoenix in Obsidian und The Dragon In The Sword), Richard Kirk - aka Robert Holdstock und Angus Wells - (Raven-Zyklus) und Robert E. Howard (u.a. The Lost Race und Zukala's Hour). Herausragend sind ihre zahlreichen Übersetzungen der Werke von China Miéville: u.a. The Scar (2002), The Iron Council (2005), Perdido Street Station (2006), Un Lun Dun (2007), The City & The City (2009), Embassytown (2011), Railsea (2012). In den Jahren 2003 und 2016 wurde sie für Perdido Street Station und Railsea jeweils mit dem Kurd-Laßwitz-Preis als beste Übersetzerin ausgezeichnet.
Eva Bauche-Eppers lebt und arbeitet in Bitburg.
»The dreamers ride against the men of action,
oh see the men of action falling back.«
Leonard Cohen, The Traitor
Tagila
Die hundert Auserwählten warteten stumm vor den geschlossen Toren des Palastes. Bewegungslos standen sie dort, als hätte die Nacht sie mit einem schwarzen Panzer umgossen. Aber nicht nur die hundert Männer, auch die Stadt unter ihrem Schleier aus erdrückender Sumpfvegetation wartete lautlos und dunkel.
Die Augen der Männer waren unbeirrt auf das Doppeltor des Palastes gerichtet. Der hauchfeine, gelbliche Elfenbein-Belag des Tores wirkte in der Dunkelhit wie ein übergroßes Leichentuch.
Der Lichtschein, der jetzt vor dieser Tür aufzuckte, wurde von dem Elfenbein gedämpft und floss matt über die ersten Stufen der Freitreppe. Schon nach wenigen Augenblicken aber schien die Tür in goldenen Flammen zu stehen, und die Schatten der beiden Sklaven, die herbeieilten, um sie zu öffnen, wirkten für die Außenstehenden wie die letzten Verteidiger der Nacht.
Dann schwangen die Flügel auf, und das Licht des gewaltigen Kohlenbeckens in der Mitte des Thronsaals strömte unbarmherzig in die Dunkelheit.
Die hundert Auserwählten verloren ihre Starre und hoben die toten Fackeln, die sie in beiden Händen hielten. Unter die Türöffnung trat Tagan'sol. Erster Feldherr des Fürstentums Tibar. Er trug in der Armbeuge ein Schwert.
»Schmied!«, rief er.
Aus dem Schatten eines Baumes neben der Treppe löste sich ein gewaltiger Mann, der mit bedächtigen Schritten die Stufen hinaufstieg und nach dem Schwert griff, das Tagan'sol ihm reichte.
»Der Fürst von Tibar ist tot«, sagte der Feldherr. »Nimm seine Waffe, Schmied, und lege sie in das Feuer. Schaffe daraus eine neue Klinge für den jüngsten der drei neuen Fürsten von Tibar. Du kennst seine Hand und seinen Arm. Und hier, nimm dieses Juwel...« Er griff in sein Gewand und nahm einen riesigen Smaragd heraus, der wie ein funkelnder grüner Ball auf seiner Handfläche lag. »Dieser Smaragd soll der Knauf des Schwertes sein.«
Mit einer scheuen Bewegung nahm der Schmied den Edelstein entgegen und trat an das Kohlenbecken.
Tagan'sol breitete die Arme aus. »Nun hört alle, ihr Auserwählten!«, rief er. »Delman, Fürst von Tibar, ist tot. Zu Nachfolgern bestimmte er seine drei Söhne - T'bor, Tegan und Tagila. Tagila, dem Letztgeborenen, vermachte er sein Schwert. Damit verstieß er gegen die Sitte, nach der die Waffe eines toten Fürsten auf seinen ältesten Sohn übergeht, aber er war Herrscher, und sein letztes Wort ist Gesetz. Kommt jetzt, seht den tote Fürsten, schwört Treue unseren neuen Herren und eilt dann, die Trauer über den Tod und die Freude über den neuen Herrscher zu verbreiten.«
Die hundert Männer folgten ihm durch den Thronsaal, die stufenlose Spirale zu den Gemächern der fürstlichen Familie hinauf und traten hinter ihm in den Raum, in dem Delman, der Fürst, gestorben war.
Am Kopfende stand Sitan, der Ratgeber Delmans, neben ihm T'bor und Tegan in weißer Trauerkleidung. Zu ihnen hatte sich Hyrtana gesellt, die Schwester des Königs von Kryollt und Gemahlin Tagilas, der abseits von seinen Brüdern an einem Fenster lehnte. Er war schwarz gekleidet wie immer, und die massige Flut seiner dunklen Haare verdeckte sein Gesicht.
Die Auserwählten schritten an dem Leichnam vorbei und erwiesen den fürstlichen Brüdern ihre Ehrerbietung.
»Habt ihr gesehen und könnt ihr bezeugen, dass er in Wahrheit tot ist?«, fragte Sitan, als sie sich wieder bei der Tür versammelt hatten.
»Wir haben es gesehen und können es bezeugen«, antworteten sie.
»Dann geht.«
Im Laufschritt eilten die hundert Männer den Gang hinab, entzündeten am Kohlenbecken ihre Fackeln und verschwanden in der Dunkelheit. Einige von ihnen mussten ihre Botschaft bis nach Gerith tragen, zu Hagan'thol, der als reichster Kaufherr die Geschicke des östlichen Nachbarn Tibars lenkte.
Andere eilten nach Kryollt, wo Kraan als König herrschte, dessen Leibesumfang und Bequemlichkeit eigentlich das einzig Bemerkenswerte an ihm waren, aber er war der Lehnsherr der Edlen von Tibar, und deshalb waren sie ihm besonders verpflichtet.
Der Weg einer dritten Gruppe führte nach Haldon, dem Land des Kons Kolpotan. Haldon war karg und gebirgig, Kolpotan ein neidischer und unberechenbarer Nachbar, doch war es bisher nicht zu offenen Streitigkeiten gekommen.
Die vierte, größte Gruppe trug die Nachricht vom Tode Delmans und der Ernennung der neuen Fürsten durch die Städte und Dörfer Tibars, die versteckt und abgeschlossen in dem Sumpfgebiet der Danuva-Mündung lagen, des großen Flusses, der die wichtigste Verkehrsader zwischen Gerith, Kryollt und Tibar bildete und dessen Weitverzweigtes Delta eigentlich das ganze Land Tibar ausmachte.
Es war unwirtliches Sumpfgebiet mit einem nur schmalen Streifen Nutzland. Kryoll I., vor dreihundert Jahren König von Kryollt, hatte diesen Teil seines Reiches den Nomaden zum Lehen gegeben, damit sie nicht länger seine Dörfer verwüsteten und seine Handelsboote überfielen. Er verlor nichts damit, denn die Kryollter wagten sich nicht in die Sümpf, weil nach ihren Sagen dort die Kurunut hauste, die seelenfressende Sumpfschlange. Die Nomaden aber kannten weder Gott noch Teufel, nahmen das Land in Besitz und aus ihnen. erwuchs das Volk der Tibarer.
Sitan, Tagan'sol, die drei Fürsten und Hyrtana blieben allein im Sterbezimmer Delmans zurück. Sie hatten sich, von der Leiche abgewendet und blickten aus einem hohen Fenster über die Palastgärten auf die Stadt. In den Häusern waren. Lampen und Fackeln wieder entzündet worden, denn die ersten Boten hatten die Nachricht schon durch die Straßen getragen.
»In zehn Tagen werden die Auserwählten bei Hagan'thol sein«, meinte Sitan leise, »in fünfzehn Tagen werden sie Kryollt erreichen und die dritte Gruppe wird elf Tage brauchen, bis sie die Burg Kolpotans erreicht hat. Wie werden unsere Nachbarn den Tod Delmans aufnehmen?«
Tagan'sol lächelte spöttisch. Seine langen, allzu gepflegten Finger spielten mit der goldenen Stickerei an seinem Schulterüberwurf.
»Du bist alt, Sitan«, sagte er. »Jedes deiner Worte beweist es. Unsere Nachbarn werden sehr viel früher Bescheid wissen, als du denkst. Erstens, weil ich am Stadtrand reitfertige Syllas für die Boten bereithalten lasse. Zweitens, weil sie alle ihre Spione in Tibar haben. Solltest du das tatsächlich nicht wissen?«
Sitan verzog sein hageres Gesicht zu einer säuerlichen Grimasse.
»Die Tradition verlangt, dass die Todesboten laufen«, sagte er.
»Traditionen!«, unterbrach ihn Tagan'sol. »Traditionen. sind nur so lange nützlich, als sie ein gläubiges Publikum haben, aber es wird wohl niemand den Männern nachrennen, um sich zu überzeugen, dass sie den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen.«
»Ruhe!«, befahl T'bor, der älteste von Delmans Söhnen und gab seine lässige Haltung auf. »Unser Vater mag eure Streitereien amüsant gefunden haben, ich dagegen halte sie für lächerlich und überflüssig. Entscheidend ist: Wird Hagan'thol sich weiterhin damit abfinden, von unseren Häfen abhängig zu sein und unseren Seehandel über uns abzuwickeln? Teilt Kraan den Aberglauben seiner Vorfahren, was die Kurunut betrifft? Wird...«
Tegan, sein jüngerer Bruder, braunhaarig und untersetzt wie er selbst, legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Nicht so eilig«, meinte er bedächtig. »Eins nach dem anderen. Keine dieser Fragen ist neu. Alle hat sich auch unser Vater immer wieder gestellt. Hagan'thol mach .t mir die wenigsten Sorgen. Er sammelt Geld, aber keine Soldaten. Vielleicht versucht er, unsere Hafen- und Lotsengebühren zu drücken, aber sonst wird er sich ruhig halten. Außerdem würde er keinen Gerither dazu verlocken können, einen Fuß in die Sümpfe zu setzen. In Gerith haben sich die Gerüchte über die Kurunut über drei Jahrhunderte hinweg gut gehalten.«
Tagan'sol betrachtete die beiden jungen Fürsten schläfrig. Den Zorn über den Tadel T'bors ließ er sich durch nichts anmerken. Anders Sitan, der angelegentlich aus dem Fenster starrte und vorgab, taub zu Sein.
»Mit Hagan'thol mögt Ihr Recht haben«, stimmte Tagan'sol den Worten Tegans zu. »Aber Kraan hat sich eine schlagkräftige Truppe aufgebaut, seit er König wurde. Und seine jungen Männer kümmern sich nicht um die Ängste ihrer Väter. Auch haben sie kaum genug Seele, um nur eine Kurunut satt zu machen - falls es diese Ungeheuer jemals gegeben hat.«
»Aber er muss sich doch an die Verträge halten, die sein Vorfahr mit unseren Ahnen geschlossen hat?«, warf T'bor ein.
Hyrtana, die sich bis jetzt still verhalten hatte, blickte plötzlich von der stillen Gestalt ihres Mannes zu seinen Brüdern und lachte scharf.
»Was sind Verträge für meinen lieben Bruder!«, höhnte sie. »Wäre Kraan zu Zeiten Kryoll I. schon an der Macht gewesen, er hätte einen endgültigeren Weg gefunden, euch von seinen Besitztümern fernzuhalten. Statt euch aus Angst und Bequemlichkeit ein Gebiet zuzusprechen, dass euch außer dem Besitz der Häfen auch noch die Kontrolle über die Danuva-Schifffahrt nach Kryollt und Gerith eingebracht hätte, hätte er...«
Sie verstummte, aber ihre Augen sprachen aus, was sie nicht sagen wollte.
»Und du meinst, er könnte diesen Fehler seines Vorfahren nachträglich gutmachen wollen?«, fragte Tegan.
»Es ist möglich. Aber nicht alleine. Dazu ist er zu feige. Wenn er Verbündete fände...«
Tagan'sol wollte etwas sagen, aber T'bor gebot ihm mit einer Handbewegung Schweigen und wandte sich an Tagila, der noch nicht einmal seine Haltung verändert hatte, seit Delman den letzten Atemzug tat.
»Was meinst du, Bruder?«, fragte er. Auf das Wort Bruder legte er eine merkwürdige Betonung, die Verachtung und... ja, Furcht ausdrückte.
Tagila hob ruckhaft den Kopf. Die schwere Haarflut, die das schmale Gesicht zu erdrücken schien, wogte träge über seine Schultern zurück.
»Da sind Kolpotan, Hamman und Arrat«, sagte er leise und sehr weich.
Die vier Männer und die Frau zuckten unwillkürlich zusammen, als sie sich so plötzlich und ungeschützt seinen Augen ausgesetzt fanden. Die Iris zwischen den überlangen schwarzen Wimpern war so groß, dass von dem Weiß kaum noch etwas zu sehen war. Für jeden, der ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, waren seine Augen zwei blauschwarze Schilde aus undurchdringlichem Stahl, erschreckend und abweisend.
»Pah!« Sitan gab seine beleidigte Pose auf und drehte sich zu Tagila herum. »Kraan und Kolpotan. Kraan müßte verrückt sein, sich den Wolf ins Haus zu holen.«
»Ich sprach nicht von Kraan und Kolpotan«, gab Tagila in dem gleichen sanften Tonfall zurück. »Ich sprach von Kolpotan und den Wandernden aus den Wüstengebieten. Kolpotan wird von Neid und Gier verzehrt, und auch die Wandernden lieben den Glanz der Juwelen.«
Sitan machte ein vielsagendes Geräusch mit den Lippen, Tagan'sol verbarg ein Lächeln hinter der Hand, und Tegan und T'bor blickten verständnislos in das ausdruckslose Gesicht ihres Bruders. Hyrtana machte eine scheue Handbewegung wie um ihn am Arm zu berühren, aber er schritt bereits zur Tür. Bevor er den Raum verließ, warf er noch einen kurzen Blick zurück.
»Warum nur«, sagte er leise, »fragt ihr mich immer, wenn ihr doch keine Antwort wollt?«
Eine Erwiderung wartete er nicht ab. Seine Schritte verklangen auf dem Gang, eine Tür schloss sich kaum hörbar.
Hyrtana stand einen Augenblick unbeweglich, dann lief sie auf den Gang und blieb vor einer schwarzen Tür mit silberner Einlegearbeit stehen. Sie rüttelte an dem silbernen Schlangenkopf des Griffes, aber die Tür gab nicht nach. Sie war von innen verriegelt. Mit geballten Fäusten wartete sie, ein, zwei, drei Minuten, aber alles, was sie hörte, war der gedämpfte Klang einer Klthara.
Die Lippen fest zusammengepresst folgte sie mit langsamen Schritten der Spirale weiter hinauf zu ihren eigenen Gemächern. Ihre langen Fingernägel hinterließen blutige Halbmonde in ihren Handflächen.
Das felsige, karge Haldon grenzte an die schwellende Üppigkeit von Kryollt und Tibar. Am Fuß des Gebirgszugs lagen vereinzelte Dörfer, die sich in das wenige fruchtbare Land teilten. Weiter oben gab es einsame Höfe, die Viehzucht und ein wenig Ackerbau betrieben.
Reich war Haldon nicht, aber an diesem Spätsommermorgen war es schön. In der klaren Luft schimmerten die weißen Gipfel in zartem Rosa, und die nackten Felswände zeigten ein metallisch schimmerndes Blau, aus dem die schattigen Schründe und Schluchten finster herüberdrohten.
In gleicher Düsternis ragte der Raubhorst des Kons von Haldon empor. Diese Mauem, schroff und unersteigbar, verneinten die Sonne und den Morgen. Sie zogen den Schatten der Nacht vor, die einen verhüllenden Mantel über die Schandtaten Kolpotans deckte.
Seine hohe Gestalt bückte sich unter der niedrigen Tür hindurch, die von der Wachstube auf die Plattform seines höchsten Turmes führte. Der Soldat, der dort seine Runde ging, drehte sich erschrocken um und fiel auf ein Knie.
»Ich bin wachsam, Herr«, sagte er heiser. »Wenn einer etwas anderes sagt, so lügt er.«
Kolpotan erkannte die mühsam verborgene Angst in den Zügen des gepanzerten Mannes und nickte zufrieden.
»Geh!«, befahl er. »Ich will alleine sein. Wenn ich dich brauche, werde ich rufen.«
Der Soldat nickte erleichtert und verschwand in seiner winzigen Kammer.
Kolpotan trat an die Zinnen und überblickte sein Land. Die Schönheit bemerkte er nicht. Er sah nur den kahlen Fels, auf dem keine reichen Ernten wuchsen, und die schäumenden Wasserfälle, auf denen keine Handelsboote fahren konnten.
Seine bernsteinfarbenen Augen wandten sich nach Osten, wohin er schon unzählige Male geblickt hatte, von der gleichen unbefriedigten Gier erfüllt wie. seine Vorfahren. Warum war ausgerechnet seinem Geschlecht dieser erbärmliche Haufen Steine zugefallen, während andere, weniger würdige, in Pracht und ständig zunehmendem Reichtum lebten? Hagan'thol, Kraan - wer waren sie schon gegen ihn?
»Die Wache am Nadelfelsen hat gemeldet, dass die Boten aus Tibar kommen«, sagte Kalan, der lautlos neben den Kon getreten war.
Kolpotan nickte nur, sah ihn aber nicht an.
»Dann ist Delman tot«, überlegte er. »Ich fühle, dass unsere Zeit kommt, Kalan. Seine Söhne sind jung, sie können beeinflusst werden. Wenn es uns gelingt, Tibar auf unsere Seite zu ziehen, können wir mit Hammans und Arrats Unterstützung Kryollt und Gerith einkreisen.«
Kalan wiegte den Kopf. »Und wenn die vormaligen Wölfe sich inzwischen zu Haushunden gewandelt haben?«, gab er zu bedenken. »Die Tibarer sind seit dreihundert Jahren sesshaft und haben sich an ein Leben als Händler gewöhnt. Was die Wandernden aus Hamman und Arrat anbetrifft - sie sind nicht besonders vertrauenswürdig, das weißt du so gut wie ich. Wenn es hart auf hart geht, könnten sie leicht auf die Idee kommen, eine Kehrtwendung zu machen und mit Gerith und Kryollt gegen uns zu marschieren, falls man ihnen dort nur genug bezahlt.«
Kolpotan schlug mit der ungeschützten Faust auf den rauen Fels der Brüstung. Aus der zerschrammten Haut tropfte etwas Blut.
»Wenn und Aber, Zweifel und Erwägungen - Kalan, bist du mein Reiterführer oder meine Amme? Wir müssen es wagen! Alle meine Vorfahren haben gezögert, sich mit kindischen Überfällen begnügt - ich will nicht sein wie sie! Ich will alles!«
»Oder nichts...« sagte Kalan.
Kolpotan stierte seinen Reiterführer as blutunterlaufenen Augen an, aber Kalan war mit ihm zusammen aufgewachsen und an all Launen des Kons gewöhnt. Außerdem war er ein Mann von außergewöhnlichem Mut, und auch der Gedanke, dass Kolpotan einmal ihre lebenslange Freundschaft vergessen und ihn zu einer Besichtigung seiner Folterkammern einladen konnte, hielt ihn nicht davon ab, zu sagen, was er dachte.
»Du hast Recht wie immer«, sagte Kolpotan endlich nach einem tiefen Atemzug. »Ich weiß, dass du aus Sorge um mich zur Vorsicht mahnst, aber sieh ein, dass mein Entschluss feststeht. Ich will mein Leben nicht als Strauchdieb beenden. Du und Hrenata - ihr werdet nach Tibar reisen. Sprecht mit dem neuen Fürsten, bestimmt wird es T'bor sein, der älteste von Delmans Söhnen. Und wenn er nicht vernünftig ist, tötet ihn! Ihn und seine Brüder. Ein führerloses Tibar wird, wenn schon nicht nützlich, doch wenigstens ungefährlich sein.«
Kalan neigte den Kopf. Der Kon hatte entschieden.
»Was soll mit den Boten geschehen?«, fragte er. »Einer deiner Foltersklaven hat ein neues Gerät fertiggestellt. Sollen wir heute Abend ein Fest geben...?«
Kolpotan lächelte. »Aber nicht doch!«, antwortete er. »Vorläufig bemühen wir uns doch um ein gutes Verhältnis zu Tibar. Gebt ihnen das Beste vom Besten und lasst sie ziehen.«
Gemeinsam gingen sie zur Wachstube zurück, doch vor der Tür blieb Kalan stehen. Kolpotan sah sich auffordernd nach ihm um.
»Muss ich Hrenata wirklich mitnehmen?«, fragte Kalan.
Kolpotan lachte belustigt. »Ich weiß, dass du dich mit deiner Tochter nicht verstehst«, sagte er. »Aber sie besteht darauf, mitzureisen, und du weißt ja, wie sie ist... Auch ist es ganz gut, wenn ihr von einer Frau begleitet werdet. Es unterstreicht die Friedfertigkeit meiner Absichten
Kalan hob ergeben die Schultern und folgte Kolpotan die Wendeltreppe hinab.
Hrenata trat aus der Tür des Zimmers, das man ihr im tibarischen Palast angewiesen hatte. Sie blickte sich vorsichtig um, und als sie über den Gang hastete, legte sie eine Hand über den Dolchgriff, um zu verhindern, dass er gegen ihr knielanges Kettenhemd klapperte.
Kalan mit den restlichen sechs Mitgliedern der Gesandtschaft bewohnte drei ineinander übergehende Gemächer schräg gegenüber ihrem eigenen. Er öffnete sofort, nachdem sie sich durch Klopfzeichen zu erkennen gegeben hatte.
»Es ist Zeit«, sagte sie, kaum dass sie sich durch den schmalen Türspalt gezwängt hatte.
»Das weiß ich selbst«, antwortete Kalan schroff.. »Ich habe nur noch auf Euch gewartet, damit Ihr nicht behaupten könnt, ich würde über Euren Kopf hinweg handeln. Werdet Ihr hier warten?«
Hrenata nickte nur. Sie war zu erregt, um sich auf ein Streitgespräch einzulassen. Nachdem die Männer gegangen waren, wanderte sie unruhig durch die Rätime1 blickte aus den Fenstern und lauschte an der Tür, aber alles blieb ruhig. T'bor, Tegan und ihre Ratgeber hatten sich von den begeisterten Berichten der Boten über die Gastfreundschaft des Kon und dem zurückhaltenden, beinahe demütigen Auftreten der Gesandtschaft so in Sicherheit wiegen lassen, dass sie im Palast so gut wie keine Wachen aufgestellt hatten.
Hrenata trat von der Tür zurück und richtete sich stolz auf, als sie die leisen Schritte ihrer Leute hörte.
»Ihr habt euch Zeit gelassen«, sagte sie spröde. »War es so schwierig, drei nichtsahnende schlafende Männer gefangen zu nehmen?«
Kalan bedachte sie mit einem spöttischen Blick und wies die Krieger an, ihre Lasten vor den Füßen der Frau niederzulegen.
»Es ist nicht die Zeit, darüber zu streiten, wer von uns der bessere Krieger ist«, antwortete er. »Unser Unternehmen ist unbemerkt geblieben. Ihr Hochmut und ihre Dummheit haben diese Fürsten eines stinkenden Sumpfes zu einer leichten Beute gemacht. Ich bin der Ansicht, wir sollten uns jetzt noch der Ratgeber und Heerführer bemächtigen. Was meint Ihr?«
Hrenata beugte sich über die drei gefesselten leblosen Bündel und hob die Kapuzen, die man ihnen über den Kopf gezogen hatte.
»Wir wollen uns nicht unnütz belasten«, meinte sie und musterte die Gesichter der Bewusstlosen. »Es genügt, dass wir die Fürsten haben. Ohne sie sind die übrigen...
Sie bückte sich rasch, packte den Haarschopf des letzten Gefangenen in der Reihe und riss seinen Kopf in die Höhe. Sie lachte auf.
»Was ist das denn?«, fragte sie belustigt. »Dieser Mann ist doch viel zu alt. Kalan!«
Der haldonische Reiterführer war mit einem Sprung an ihrer Seite und starrte in ein faltiges Gesicht, das keinerlei Ähnlichkeit mit den Zügen der beiden anderen Gefangenen aufwies.
»Weckt ihn auf!«, befahl er flüsternd, kaum noch seiner Stimme mächtig, denn er fühlte den Blick Hrenatas wie weißglühendes Eisen auf seinem Nacken.
Unter den Bemühungen der Haldonier wurde der alte Mann schnell munter. Seine Augen wanderten furchtsam von Kalan zu Hrenata und weiter über die sechs Krieger, die sich etwas abseits hielten.
Kalan ließ ihm keine Zeit, sich zu sammeln, sondern schlug ihm die flache Hand ins Gesicht.
»Wer bist du?« fragte er drohend. »Wie kamst du in die Gemächer der Fürsten? Sprich!«
Er brauchte keine Drohungen auszusprechen, in seinem Blick stand alles deutlich zu lesen, und der Alte begriff sofort.
»Ich bin nur ein Sklave«, wimmerte er. »Seit ihrer Jugend schlafe ich in dem Zimmer der beiden Fürsten, um sie bedienen zu können, sollten sie des Nachts einen Wunsch haben.«
Kalan versetzte ihm einen grausamen Tritt in die Seite, und der Diener krümmte sich mit einem hohen, zitternden Schmerzenslaut zusammen.
»Du redest von nur zwei Fürsten«, mischte Hrenata sich ein. »Wo ist der Dritte, der Jüngste?«
Sie hob befehlend die Hand, als Kalan den alten Mann erneut treten wollte, und wartete mit erzwungener Ruhe, bis er seine Schmerzen überwunden hatte.
»Tagila... der Bastard... er lebt nicht im Palast«, murmelte er. »Er ist nicht wirklich ein Fürst, nur der Bastard von Delman und einer Frau, die niemand je gesehen hat. Er ist der schwarze Schatten unseres Landes.«
»Wo ist er?«, fauchte Kalan, dessen Geduld erschöpft war.
»Im Park!« Der Alte fuhr verängstigt in die Höhe, wich zurück und kreuzte die Arme vor dem Gesicht. »Er pflegt auf der kleinen Lichtung zwischen den Takanbüschen zu ruhen.«
Kalan nickte den haldonischen Kriegern zu. »Geht hinaus und bringt ihn mir«, sagte er. »Aber seid auf der Hut. Ich habe in den Straßen von ihm flüstern hören. Bastard oder nicht - er scheint ein scheues Wild zu sein.«
Hrenata stützte eine Hand auf den Knauf des Schwertes, das sie umgegürtet hatte. und beugte sich zu dem alten Sklaven, der sie anstarrte, als erwarte er den Tod. Lächelnd entblößte sie die Zähne.
»Keine Angst«, sagte sie leise. »Noch ist deine Zeit nicht gekommen. Lauf hinaus aus dem Palast. Und sobald du in die Straßen der Stadt kommst, sorge, dass bekannt wird, was wir getan haben. Sage aber auch, dass wir die Fürsten töten werden, sollten wir uns bedroht fühlen. Hast du alles verstanden?«
Der Alte nickte nur und floh aus der Tür.
Die sechs Haldonier drangen in das Gewirr der Palastgärten ein. Lautlos und vorsichtig, wie Jäger auf der Spur einer verwundeten Raubkatze. Aus gutem Grund waren sie so behutsam, denn sie wussten mehr als Kalan über den jüngsten Sohn des verstorbenen Fürsten. Als einfache Krieger hatten sie nicht nur die Prachtstraße Tibaras gesehen, sondern waren auch in die Nebengassen, Weinstuben und Hurenhäuser gekommen
Sie wussten, dass Tagila wie ein Fremdling durch die Straßen der Stadt, die Pfade des Sumpfes und die goldenen Hallen des Palastes schritt. Sie hatten erlauscht, dass man ihn nicht nur hasste, verabscheute, sondern auch fürchtete. Man sagte über ihn, dass er kaum jemals sprach, keines Menschen Freund war und niemals lachte.
»Aber warum fürchten sie ihn?«, fragte einer der Krieger flüsternd. »Er hat doch nie die Waffe gegen einen Menschen erhoben und selbst die Sklaven prügelt er nicht.«
Sein Nebenmann lachte unbehaglich. »Vielleicht eben deshalb«, gab er leise zurück. »Und wir haben ihn ja noch nicht gesehen.«
Auf ein Zeichen des vorangehenden Kriegers verstummten sie und duckten sich hinter den dichten Wall der rotblättrigen Takanbüsche. Wenige Schritte vor ihnen befand sich die Beute, der sie nachgespürt hatten.
Tagila lag schlafend unter einer Decke im Gras, neben sich die Klthara, in Reichweite seiner Hand den reichverzierten Gürtel mit dem Dolch.
Wie ein körperloser Geist schob der erste Späher sich vorwärts, gefolgt von seinen Gefährten, bis er sich mit raschem Sprung nach vorne warf, in der Hand die blitzende Klinge.
Tagila fuhr aus tiefem Schlaf empor und tastete aus alter Gewohnheit sofort nach seiner Waffe. In seinem Nacken hörte er den jagenden Atem eines Mannes, dann drückte das Gewicht ihn zu Boden. Der Späher ritt auf dem bäumenden Körper wie auf einem wilden Pferd, und es war höchste Zeit, dass seine Gefährten ihm zu Hilfe kamen, denn dem jungen Fürsten war es gelungen, sich herumzudrehen und sich des Dolches zu ermächtigen.
Als Tagila die fünf weiteren Gegner erkannte, begann er zu schreien, denn er erkannte, dass er aus eigener Kraft nicht loskommen konnte. Der Schlag eines Schwertknaufs gegen seinen Kopf ließ ihn verstummen.
Den leblosen Körper mit sich tragend, kehrten die Haldonier in den Palast zurück. Kalan hatte die doppelflügelige Tür des Balkons geöffnet, und so waren deutlich die Schreie und Drohungen der Tibarer zu hören die sich vor dem Palast versammelten. Der Reiterführer gab seinen Männern einen Wink, T'bor und Tegan, die inzwischen zu sich gekommen waren, auf. die Füße zu stellen und auf den Balkon zu schaffen. Er folgte ihnen hinaus, während Hrenata stehenblieb und einen überraschten Blick auf den noch besinnungslosen Tagila warf.
»Der Bastard«, murmelte sie. »Welchem Volk wohl seine Mutter angehörte? Aus Tibar, Kryollt oder Gerith war sie bestimmt nicht, auch nicht aus Haldon. Haman? Arrat? Nein. Vielleicht kam sie mit einem Schiff von einer fremden Küste. Nun, ich hatte ihn mir anders gedacht, nach den Dingen, die man über ihn berichtete. Ein entschlussloser Träumer sei er, der düstere Schatten eines Mannes, aber - bei den Götter des Schnees und der hohen Gipfel - dass er schön ist, sagte keiner.«
Sie trat näher, als der junge Fürst die Augen aufschlug. Er stellte keine Fragen - was er sah, schien ihm genug zu sagen. Mühsam zog er sich an einer geschnitzten Säule in die Höhe und blickte durch den dünnen weißen Vorhang auf den Balkon hinaus, wo Kalan stand und zu den Tibarern sprach, während seine Männer den Fürsten den Dolche an die Kehle hielten.
»Mäßige deinen Zorn, Volk von Tibar!«, rief Kalan eben. »Seht, wir haben uns der Fürsten bemächtigt, weil wir im Palast nicht gehört wurden. Man verweigerte uns eine Audienz. Solche Missachtung kann der Kon von Haldon nicht ungeahndet lassen. Doch wir kamen nicht mit bösen Absichten. Im Gegenteil - wir haben einen guten Vorschlag zu machen, der die Schmach der Lehnspflicht von euch nehmen und euch zu größerem Glanz und auch zu größerem Reichtum verhelfen wird. Nichts weiter wünscht Kolpotan von euch, als dass ihr nicht Kryollt zur Hilfe eilt, wenn es euch ruft und vielleicht...«
Er sprach noch weiter, doch Tagila konnte ihn nicht mehr verstehen, weil Hrenata ihn ansprach. Mit einer unwilligen Kopfbewegung wandte er sich ihr zu.
»Nicht die klügsten Männer schickt der Kon«, sagte er ohne auf ihre Worte einzugehen und scheinbar unbeeindruckt von dem Schauspiel: »Glaubt Ihr, mit solch einfältigen Reden das Fürstenhaus von Tibar zur Untreue an seinen Wohltätern verleiten zu können?«
Hrenata lächelte. »Wir glauben es!«, sagte sie überzeugt. »Wir werden dich und deine Brüder mitnehmen, und Worte würden nicht ausreichen, dir zu beschreiben, was wir mit euch tun werden, wenn ihr unseren Vor-schlägen nicht gehorcht. Und deinen hochmütigen Blick kannst du unterlassen, gewesener Fürst. Von der Gnade Haldons wird es abhängen, ob ihr unter neue Herrschaft geratet oder frei, als Gleichberechtigte, neben uns leben dürft.«
Tagilas Lachen war unverkennbar spöttisch. »Haltet Ihr mich für so dumm?«, antwortete er. »Selbst mein Verstand reicht aus, um zu erkennen, dass hinter Euren schönen Worten die Lüge steht. Der Kon von Haldon wird niemanden gleichberechtigt neben sich dulden, und auch meine Brüder wissen das.«
Hrenata musterte ihn neugierig und auch sein Blick glitt über die hohe Gestalt im leichten Kettenhemd und blieb an dem Schwert hängen, das sie trug.
Was er dachte, konnte sie nicht erraten. Seine schillernden blauschwarzen Augen verbargen jeden Gedanken, der sich hinter der hohen Stirn regen mochte.
Er trug keine Rüstung, nur ein kniekurzes Gewand aus schwarzer Seide, um die Hüften von einem schmalen Gürtel zusammengehalten. Die Brust war unbedeckt und zeigte krauses, schwarzes Haar bis zum Halsansatz. Doch lag über seinem Körper eines Mannes noch die Zartheit der Jugend, von der nur sein Gesicht nichts wusste. Hart waren seine Lippen, von Bitterkeit gekräuselt.
»So glaube denn, was dich glücklich macht«, sagte Hrenata schließlich. »Doch es ist nun einmal so, dass ihr Haldon folgen müsst, oder euer Fürstenhaus wird von der Erde vertilgt. Rettet wenigstens den Schein und das Leben, wenn nicht die Macht.«
»Mich hat noch nichts glücklich gemacht«, gab Tagila ruhig zurück. »Doch mehr als Leben und Macht gilt der Stolz; selbst wenn er zu Folter und Tod führt. Ihr mögt gute Kämpfer und geschickte Meuchelmörder sein in Halden, kluge Gesandte seid ihr nicht.«
Hrenata lächelte verächtlich. »Stolz!«, rief sie. »Ihr seid ein träumender Narr.«
Tagila wandte den Blick zu seinen Brüdern.
»Das weiß ich längst«, murmelte er, aber seine letzten Worte ertranken in dem immer wütender werdenden Getöse vor dem Palast und dein Geräusch vieler Fäuste, die gegen die verschlossene Palasttüren hämmerten. Kalan schien nicht die rechten Worte gewählt zu haben, um das Volk Tibars auf seine Seite zu ziehen. Seine Stimme erhob sich schrill über das drohende Toben.
Tagila konnte nicht verstehen, was er befahl, aber er sah es und sprang aufschreiend nach vorne. Wächter rangen ihn nieder und hilflos musste er mitansehen, wie T'bor niedersank, mit aufgerissener Kehle, aus der sich im breiten Schwall zuckend das Blut ergoss. Ein rascher Schnitt mit blitzender Klinge durchtrennte den Hals Tegans bis zum Wirbel, und während das Volk raste, stürmte Kalan in den Raum hinter sich seine Gefolgsleute. Auch Hrenata wandte sich zur Flucht, doch fuhr sie noch einmal herum, den Dolche in der Hand.
»Nun wird mein Vater über Tibar herrschen!«, zischte sie, und mit einem Seufzer glitt Tagila zu Boden. Seine kraftlose Hand umklammerte den silbernen Griff, der aus seiner Kehle ragte.
Tagila erwachte in tiefer Dunkelheit und erschrak. Seine Schwäche und den Schmerz der Wunde spürend, glaubte er zuerst, dass man ihn für tot gehalten und begraben hatte. In panischer Angst richtete er sich auf die Ellenbogen und tastete um sich. Im gleichen Moment raschelte es in seiner Nähe, eine gedämpfte Flamme zuckte empor, und die schattenhafte Gestalt einer Frau glitt lautlos neben sein Lager.
»Hyrtana?«, murmelte er, denn er glaubte, seine Gemahlin hätte seine Schwäche ausgenutzt und sich gegen sein ausdrückliches Verbot in sein Zimmer geschlichen. Die Frau kniete sich neben das niedrige Bett und reichte ihm eine dampfende Schale,
»Trinkt, Herr«, murmelte sie. »Der Trank wird Euch stärken. Die Fürstin ist gegangen, um zu sehen, dass alles gerichtet wird. Die Großen des Reiches warten in der Halle.«
Willenlos trank er die bittere. Flüssigkeit. »Welche Stunde ist es?«, fragte er endlich schwach, zu müde, um sich nach seinem Leibsklaven zu erkundigen, der ihn sonst bediente.
»Herr, sechsmal wandte sich die Sanduhr«, antwortete das Weib. »Wollt Ihr hinuntergehen oder sollen die Edlen zu Euch befohlen werden?«
Tagila kämpfte gegen den Schmerz, den das Schlucken ihm bereitete und gegen den Hustenreiz, der ihn quälte. Es schien ihm unmöglich, jetzt eine Rede zu halten und Befehle zu erteilen. Und doch musste es sein: Für einen panikerfüllten Augenblick hasste er seine Brüder, die ihn mit einer Aufgabe allein gelassen hatte, die er nicht tragen konnte, nicht tragen wollte.
Er ließ den Kopf auf die Polster zurücksinken und versuchte Kraft zu sammeln. Die Wärme des Kräutertranks belebte ihn und linderte etwas den Schmerz an seiner Kehle. Die Sklavin hatte sich schweigend zurückgezogen. Er sah ihren Schatten undeutlich in einem Winkel des Raumes und spürte ihre Augen auf sich ruhen.
»Was ist mit Sitan?«, flüsterte er. »Kann er die Beratung nicht leiten?«
»Aber, Herr, Ihr seid der Fürst!«, antwortete die Sklavin verwundert.
Der Fürst!, dachte Tagila und würgte das Lachen hinunter, das schmerzhaft in seiner Kehle aufstieg. Eben noch der unerwünschte Bastard und jetzt der Fürst.
Angstvoll sog r den Atem ein. Er hatte das Gefühl, dass die Luft durch den Schnitt am Hals wieder ausströmte, bevor sie seine Lungen erreichte. Um das Gefühl der Todesfurcht zu vertreiben, richtete er sich hastig auf und versuchte erneut zu sprechen.
»Reiche mir die Gewänder!«, befahl er krächzend.
Eilfertig kam die Sklavin heran, übergab ihm ein Gewand aus einfacher schwarzer Wolle und half ihm, den goldenen Gurt mit dem kurzen Dolch um die Hüften zu legen.
»Die Verwundung ist schlimm«, murmelte sie dabei, als hätte sie seine Angst erkannt. »Doch sie wird Euch nicht töten. Die Klinge drang mehr in die Schulter als in den Hals, und sprecht Ihr nicht allzu viel oder hustet gar, wird Euch die Stimme erhalten bleiben.«
Tagila ging nicht auf ihre Worte ein. »Wo ist Ptet, mein Sklave?«, fragte er stattdessen. »Und wer bracht mein Eigentum hier herauf?«
»Ptet wurde, wie alle Männer, zu den Arbeiten in den Waffenschmieden herangezogen«, war die Antwort. »Eure Gemahlin trug die Sachen aus dem Garten herauf. Ihr den Eintritt zu verwehren, stand mir nicht zu, obwohl ich wusste, dass Ihr verboten hattet, dass jemand Eure Gemächer betritt, wenn Ihr anwesend seid.«
Er machte eine verärgerte Handbewegung und erhob sich mühsam von seinem Lager zu voller Höhe. Die Welt um ihn herum schien nicht mehr geordnet und der Boden unter seinen Füßen nicht mehr fest, alles wankte und schwankte, so dass er hilfesuchend die Hand ausstreckte. Die marternde Übelkeit, die in ihm aufstieg, der eisige Schweiß auf seinem Rücken, brachte die Angst vor dem Tod zurück.
Von blinder Panik ergriffen wankte er zu der doppelflügeligen Tür des Raumes. Menschen musste er jetzt sehen, Lichter, Stimmen hören und die üblichen Geräusche des Alltags. Die Stille und Dunkelheit seines Zimmers erschien ihm wie die dumpfe Abgeschlossenheit einer Gruft, das leise Huschen und Wispern der Sklavin wie das Wehen körperloser Schemen.
Kraftlos auf das weitgeschweifte Geländer gestützt, trat er auf den sich sacht senkenden Gang hinaus, der in den großen Empfangssaal der Fürsten von Tibar hinabführte.
Die lange Speisetafel war gerichtet, und hinter den hochlehnigen Stühlen standen die Großen des Reiches, ihres Fürsten harrend. Ihre forschenden Augen folgten jeder seiner Bewegungen, hafteten in seinem Gesicht und wichen seinen Augen aus. An ihrer Haltung war deutlich zu erkennen, dass Tagila ein harter Kampf bevorstand, bis sie bereit waren, sich seiner Autorität widerspruchslos zu beugen.
Hochaufgerichtet, seine Schwäche und seinen Schmerz verbergend, trat er an seinen Platz und hob grüßend beide Hände.
»Seht, wie er blickt!«, flüsterte Tagan'sol seinem Nachbarn zu, dabei seinen Stuhl zurechtrückend. »Ob diese Lippen lächeln können?«
Quaran, ihm zur Rechten sitzend, hüstelte. »So wenig wie seine Augen«, murmelte er zur Antwort. »Stets ist er finster, und ich glaube, er dünkt sich besser als wir, denn er spricht doch kaum ein Wort, wenn man versucht, ihn in ein Gespräch zu ziehen. Nun, lasst uns sehen, ob er zum Fürsten taugt. Wenn nicht - es gibt viele Männer im Reich, die den Thron der Schlange auszufüllen vermögen.« Er verstummte, als der Blick des Fürsten über ihn und Tagan'sol hinwegglitt, und so leise sie auch gesprochen hatten, ließ ihn das Gefühl nicht los, dass der Unheimliche alles verstanden hatte. Unbehagliches Schweigen erfüllte den Raum, nur unterbrochen vom Klirren der Messer auf den Tellern und den huschenden Füßen der Sklavinnen, die die Schalen herumreichten und aus goldenen Kannen Wein in die Pokale füllten.
Tagila spürte, dass der Wein ihm wohltat. Der dumpfe Schleier hob sich vor seinen Augen, und seine Gedanken wurden klarer. Finster zogen seine schweren Brauen sich zusammen, denn er hatte Tagan'sol und Quaran flüstern sehen und konnte sich denken, was ihre Gemüter bewegte. Sich in den reichgeschnitzten Stuhl zurücklehnend und den langstieligen Pokal in den Händen drehend, beobachtete er die Heerführer, Ratgeber und Minister.
An der rechten Seite des Tisches, zunächst den Sitzen der drei Fürsten, von denen zwei jetzt leer standen, beugte sich Sitan lustlos über seinen Teller. Er war dem Fürstenhaus treu verbunden, aber es behagte ihm nicht, dass von den drei Söhnen Delmans ausgerechnet der Bastard übriggeblieben war. Niemand wusste schließlich, wer seine Mutter gewesen war, und die dunkle Erscheinung des Jungen kam ihm unnatürlich vor. Auch war ihm das Wesen Tagilas zuwider. Man ahnte zu wenig von dem, was ihn bewegte, und Sitan schätzte Herrscher, deren Gedanken man lesen konnte, die sich blind auf seine Ratschläge verließen und sich damit die Bürde des Herrschens erleichterten.
Tagila wusste dies, wie er auch Quaran durchschaute, der nur darauf wartete, dass der unbeliebte Herrscher einen Fehler machte, um sich dann selbst auf den Thron heben zu lassen. Er rechnete dabei auf das Volk, denn er bildete sich ein, sehr beliebt zu sein. Dass sein freigiebiges, freundliches Betragen die Verachtung und den Abscheu, den er vor den einfachen Leuten empfand, nicht überdecken konnte, ahnte er nicht.
Nein, Quaran war nicht sonderlich gefährlich, außer wenn es Tagan'sol einfiel, ihn zu unterstützen. Tagan'sol bemerkte den Blick Tagilas, und rasch, wie bei einer Eidechse, huschten seine Augen in eine andere Richtung. Er trank angelegentlich aus seinem Pokal und tat so, als nähme das Essen seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Tagan'sol - der beste Heerführer von Tibar. So sagte man, obwohl er wenig Gelegenheit gehabt hatte, diesen Ruf unter Beweis zu stellen, außer in ein paar Scharmützeln gegen nomadisierende Räuberbanden. Ehrgeizig, dabei skrupellos, ein Meister der Verstellung und ohne jeden, auch noch so kleinen Funken einer höheren Idee. Was über das hinausging, das er sehen, hören, fühlen oder riechen konnte, war für ihn nicht vorhanden. Das war einer der Gründe, aus denen er Tagila zutiefst verabscheute. Dieser Knabe, wie er ihn zu nennen pflegte, war eher ein Nebelstreif als ein Mensch, und wer wusste schon, was er alles in seinem wirren Kopf ausbrütete, wenn er einen so unverwandt ansah, mit seinen hässlichen dunklen Augen.
In Wahrheit hatte Tagila ihn kaum beachtet, nachdem er sich schon vor Jahren, nach einem kurzen Blick auf Tagan'sol, über dessen Charakter klargeworden war.
Tagila fuhr erschreckt zusammen, als er Ragas unbehagliches Räuspern vernahm. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er in Erinnerungen versunken war und dabei durch Raga hindurchstarrte, als sei er gar nicht da.
Raga, oberster Herr der Schiffe, von großem Einfluss und bedenklicher Sturheit. An diesem Felsen konnte das von Tagila noch unsicher gesteuerte Schiff der Herrschaft leicht zerschellen.
Neben der Hünengestalt mit dem eisgrauen Bart saßen Geomer und Stalza. Beide reich, beide eingebildet, beide bedeutungslos. Der Adel ihrer Familien war nach dem des Fürstenhauses der älteste, und dementsprechend hochfahrend war ihr Wesen. Delman hatte sie dazu verwendet, die Gesandtschaften aus Gerith, Kryollt, Hamman und all den anderen Ländern, zu empfangen und zu bewirten. Auch verhandelten sie mit den fremden Seefahrern, allerdings nur in Dingen, bei denen es nicht um Geld ging.
Tagila setzte den schweren Pokal hart auf den Tisch und beugte sich vor, den Teller mit den kaum angerührten Speisen von sich schiebend.
»Ich hoffe, Ihr seid alle gesättigt?«, erkundigte er sich, einen spöttischen Unterton in der Stimme. Das unbehagliche Schweigen im Saal hatte die Männer dazu veranlasst, mehr zu essen, als der guten Sitte entsprach.
Jetzt horchten sie auf, und zwischen ihnen wanderten Blicke hin und her, aus denen Tagila ersah, wie sehr sie hofften, er möge sich der Aufgabe als nicht gewachsen erweisen.
»Wurden Kundschafter ausgesandt?«, fragte
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Eva Bauche-Eppers/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2017
ISBN: 978-3-7438-0777-8
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