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Leseprobe

 

 

 

 

FRANÇOIS RIVIÈRE

 

 

KAFKA

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

KAFKA 

 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

 

 

Das Buch

Prag im Herbst 1912. Ein Mann wird von zwei schemenhaften Gestalten in die Moldau gestoßen. Die Mörder verschwinden im Morgennebel.

Der junge Kafka ist auf der Suche nach einem Freund, der plötzlich auf seltsame Weise verschwunden ist. Die Spur führt ihn ins legendäre Künstlercafé »Continental«. Dort trifft er auf den Totengräber Bizzlebeck, eine finstere Gestalt, der ihm rätselhafte Fragen stellt.

Wenig später identifiziert Kafka die Leiche seines Freundes. Die Polizei geht von einem Selbstmord aus, doch Kafka glaubt nicht daran.

Die Spur seines toten Freundes führt ihn zu einem gewissen Dr. Murnau, der im Schloss ein geheimnisvolles Labor betreibt und sogenannte »Gehirnumwandlungen« vornimmt. Kafka entdeckt, dass sein Freund einer im Untergrund arbeitenden Anarchistengruppe angehörte, gegen die die Regierung angeblich seit neuestem mit ganz ungewöhnlichen Mitteln erfolgreich vorgeht. Der teuflische Dr. Murnau scheint dabei eine zentrale Rolle zu spielen. Und Kafka begreift, dass er das nächste Opfer sein soll...

 

Kafka -  verfilmt im Jahre 1992 von Steven Soderbergh (Sex, Lügen und Video, Ocean's Eleven) mit Jeremy Irons, Alec Guiness, Theresa Russell und Armin Müller-Stahl - , neu und ungekürzt ins Deutsche übersetzt von Zasu Menil und Christian Dörge.

 

 

Der Autor

François Rivière, Jahrgang 1949.

François Rivière ist ein französischer Schriftsteller und Comic-Autor.

Seine erste große Veröffentlichung war ein Buch über den Comiczeichner Hergé im Jahr 1976. Kurz darauf textete er seinen ersten Comic im Magazin Pilote: Die Serie Albany (dt.: Die rätselhaften Fälle des Francois Albany) für den Zeichner Floc'h, mit dem er danach die Serie Blitz schuf. Zur gleichen Zeit textete er die beiden Bände von Thierry Laudacieux (dt.: Die Abenteuer des Patrick Timmermans). 20 Bände umfasst die mystische Krimi-Serie Victor Sackville, die 1986 startete.

In den 1990er Jahren erschienen Comic-Abenteuer mit Agatha Christie und Jules Verne von ihm.

 

Seit Mitte der 1980er Jahre ist Rivière auch als Jugendroman-Autor aktiv. Eine bekannte Serie heißt Jonathan Cap.

  KAFKA

 

 

 

 

 

Für Sébastien Briand

 

 

 

 

»Zärtlich lächelte er ihr zu, bewegte die Lippen, als wollte er etwas sagen, als sich plötzlich der Boden des Zimmers öffnete und er aus ihrem Blickfeld verschwand. Die Anstrengung, die sie machte, um seinem Sturz nicht zu folgen, weckte sie.«

 

  • Ann Radcliffe

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

Elsa spazierte zwischen den hohen Bäumen des Waldes von Epping hindurch.

Sie hatte Angst, und ihr Herz schlug rasend schnell. Ein Mann folgte ihr auf dem rutschigen Pfad, der sich zwischen den Stämmen der jahrhundertealten Bäume hindurchschlängelte. Zuerst hatte sie seine Anwesenheit in der menschenleeren High Street bemerkt, und nun ließ der Fremde nicht mehr von ihr ab.  Sie kannte ihn vom Sehen: Er war einer dieser Stadtstreicher, die meist in der Nähe der Eisenbahnbrücke oder in den Park-Alleen des Waisenhauses übernachteten.    

Und obgleich Elsa am ganzen Körper zitterte, fühlte sie sich  dennoch seltsam stark. Sie glich eher einem jungen Mann und fragte sich plötzlich, ob der andere sich nicht das falsche Opfer ausgesucht hatte. In der Stille der Novembernacht hörte sie den  Atem des Mannes, der nun immer schneller ging und obszöne Worte auszustoßen begann. Wenn sie nicht bald  anfangen Würde zu laufen, wäre es zu spät. Aber sie hatte  Angst, auf dem mit aufgeweichten Blättern bedeckten  Boden auszurutschen und hinzufallen. Dann könnte sie  überhaupt nichts mehr tun. Sie musste mit List vorgehen, sich die Leibesfülle und den vermutlich schlechten gesundheitlichen Zustand des Mannes zunutze  machen. Diese Kerle waren doch alle irgendwie krank und konnten sich oft kaum auf den Beinen halten.

Auf ihren Verfolger schien dies jedoch nicht zuzutreffen. Er kam näher und lud sie zu einer hemmungslosen Orgie ein, bei der sie, wie er versicherte, nichts zu befürchten hätte. In diesem Augenblick blieb Elsa wie angewurzelt stehen und drehte sich um. Ihr Kopf war voller Bilder: lauter sorgfältig ausgesuchte Bilder aus Horrorfilmen, die ihr das weitere Vorgehen diktierten. Auch der andere hielt überrascht inne. In der Dunkelheit konnte sie sein rundes, bärtiges Gesicht, seine blutunterlaufenen Augen und die ekelhaften Zähne in seinem Mund kaum erkennen. Sie überließ sich den Bildern und der sie begleitenden, aufpeitschenden Musik und warf sich wie eine wildgewordene Katze auf den Mann. Dumpf fiel er zu Boden, und sie hörte, wie sein Kopf auf etwas Hartes aufschlug - zweifellos auf einen Stein, der unter den Blättern verborgen lag. Sie beugte sich über ihr Opfer und wich dabei den riesigen Händen aus, die sie zu packen versuchten. Mit der ganzen Kraft der jungen, sportlichen Frau aus einem Londoner Vorort fiel sie über ihn her, beschimpfte und beleidigte ihn. Sie ließ erst von ihm ab, als er sich nicht mehr rührte, und sie verschwand in die Einsamkeit jener seit langem von den Feen und Schelmen aus Kindermärchen verlassenen Orte und ging ihrem Schicksal entgegen...

 

*

Elsa schloss das Buch, das auf ihren Knien lag, und hob den Kopf. Die langsame Bewegung ihres Blickes, der von der Karlsbrücke zum imposanten Schloss wanderte, ließ sie schaudern. Wieder waren ihre Augen zum Objektiv einer folgsamen Kamera geworden, durch das die junge Frau die Welt betrachtete. An jenem Morgen spielte sich der Film in Prag ab, und ihre stete Verwunderung war derart groß, dass sie alles andere vergaß: sowohl den blonden Jungen, der neben ihr saß, als auch diese schrecklichen Kopfschmerzen, die sie seit Beginn ihrer Reise quälten.

Leise vor sich hin murmelnd wiederholte Elsa den Satz, den sie soeben gelesen hatte: »Am Anfang seiner Karriere, so heißt es, trug Murnau an der Stelle seines Kopfes eine Kamera.« Genau wie sie hatte dieser Magier, dessen Filme sie alle gesehen hatte, die Welt durch das Prisma eines immer wiederkehrenden Traumes betrachtet; er hatte die Leben seiner sämtlichen Figuren - Faust, Nosferatu und viele andere mehr - selbst gelebt und dabei die Wirklichkeit vergessen, diese Quelle aller Ängste, die auch Elsa beständig zu beschwören versuchte.

Sie wandte sich an Clive, der lesend auf dem schmutzigen Gras des Bahnsteigs lag, und sagte mit heiserer Stimme und ziemlich ausgeprägtem Cockney-Akzent: »Es wird kälter. Wir sollten von hier fortgehen.«

Mit einer jähen Bewegung hob der Junge den Kopf und versuchte, die lange blonde Haarsträhne aus seinen Augen zu streichen. Sie verlieh ihm immer noch das Aussehen eines jungen Schülers der Wilkinson Public School, die er zehn Jahre zuvor besucht hatte.

Clive besitzt diese irgendwie unwirkliche Schönheit der Söhne der besseren englischen Gesellschaft, dachte Elsa.

In der Geheimsprache, in der sie nur mit sich selbst sprach, war er eine Figur, eines jener Wesen, die sie auf ihren endlosen Wanderungen durch London durch das Objektiv ihrer Kamera beobachtete. Lange Zeit hatte sie das Gefühl gehabt, gar nicht zu existieren, sondern nur die Summe außergewöhnlich genauer Wahrnehmungen zu sein, die einzig und allein dazu bestimmt waren, das äußere Erscheinungsbild der sie umgebenden Welt festzuhalten und dieses unaufhörlich in sich aufzusaugen - wie im Kino, ihrer einzigen wahren Leidenschaft.

Der Junge betrachtete sie mit einem ironischen Lächeln.

Hatte er nicht bemerkt, wie sehr Elsa sich seit ihrer Abreise zurückhielt? In jenen fünf Tagen hatten sie sich kurze Zeit in Paris, Brüssel und Frankfurt aufgehalten. Anschließend erreichten sie Prag, wo ihre eigentliche Pilgerfahrt begann. Elsa zitterte immer noch. Clive. Der elegante Liebhaber des Kinos, in den sie sich sechs Monate zuvor, nach einer Vorführung anlässlich des London Festival of Film, plötzlich Hals über Kopf und mit einer Begeisterung, die zweifellos eher fetischistisch als vernünftig war, verliebt hatte, und zwar nachdem sie sich eine höchst seltene Kopie des Films Der Student von Prag angesehen hatten. Diese befremdenden, mysteriösen Bilder hatten sie gleichzeitig hingerissen und überwältigt, und anschließend hatte das schlanke, braunhaarige Naturkind eine beinahe surrealistische Unterhaltung mit dem Jungen begonnen, der sie später auf einen Drink in eine Bar in Soho einlud. Gewöhnlich ging sie nach einer Vorstellung sofort in das große, trostlose Haus in Woodford, im Norden der Hauptstadt, zurück. Doch diesmal hatte die Schönheit des jungen Mannes über ihre Schüchternheit gesiegt. Sie hatte sich ein Herz gefasst und war ihm gefolgt. Unter den stumpfsinnigen Blicken zweier Punks mit orangefarbenen Mähnen hatten sie mehr als eine Stunde lang über ihre Liebe zum Kino geredet, und vor allem über jene Filme, die beide gleichermaßen zu begeistern vermochten, wenn sie im Halbdunkel des kleinen Tempels des British Film Institute saßen. Über die Meisterwerke des deutschen Expressionismus: über Murnau, Pabst, Dreyer und deren Epigonen Karl Freund, James Whale, Tod Browning usw.

Sie hatten den gleichen Geschmack, was Elsa zunächst ungemein überraschte. Dieser Junge aus guter Familie, mit dem aparten Gesicht, den guten Manieren und dem Chelsea-Akzent, fühlte sich von diesen schauerlichen und finsteren Welten, in denen sie sich zu Hause fühlte, genauso angezogen wie sie. Doch an jenem Tag erzählte sie ihm nichts von sich, sondern verriet lediglich, dass sie Studentin sei - was an sich nur eine halbe Lüge war, da sie ein Fernstudium in Wirtschaftswissenschaften absolvierte und sich nebenbei mit kleinen Jobs etwas Geld verdiente, um zu überleben.

Clive erzählte ihr, dass er als Journalist bei Time Out zu arbeiten begonnen habe und dass sein Onkel einer der Teilhaber dieser Zeitung sei. Anschließend verabredeten sie sich für den nächsten Abend zur Vorführung von Die maskierte Frau. Als Elsa später in dem schwankenden Waggon der Northern Line saß, ließ sie, bei geschlossenen Augen, diese eigenartige Begegnung noch einmal Bild für Bild an sich vorüberziehen und träumte noch sehr lange von diesem bezaubernden, ihr so vertrauten und gleichzeitig so fernen Jungen.

Die maskierte Frau wurde im letzten Moment vom Programm gestrichen, so dass sie stattdessen Das Kabinett des Dr. Caligari zu sehen bekamen. Nach der Vorstellung bestand Clive darauf, gemeinsam in ein Café in der Fulham Road zu gehen - einer jener Orte, an die sie sich gelegentlich verirrte, fasziniert von der eleganten und modernen Jugend dieses Viertels, zu der auch Clive gehörte. Dort stellte Clive sie einigen seiner Freunde vor, gezierten jungen Männern, die nach der neuesten Mode gekleidet waren und die, was Elsa betraf, keinerlei Fragen zu haben schienen. Mit ihren braunen, sehr kurz geschnittenen Haaren, ihrer Jeansjacke, dem engen Rock aus Kunststoff und den schwarzen Strümpfen hätte auch Elsa bei Time Out arbeiten können. Dennoch blieb sie auf der Hut, denn schließlich bewegte sie sich hier auf unbekanntem Terrain.

Mehrmals machte Clive sich über ihre düstere Miene lustig. Am Ende verschwand sie und kehrte in ihre Welt zurück, in jenen Londoner Vorort am Rande des Waldes von Epping, in dem sie geboren und zusammen mit ihrem jüngeren Bruder bei ihrem Vater aufgewachsen war.

 

In ihrem Schlupfloch unter dem Dach fand sie zu ihren Büchern und der riesigen Foto-Sammlung zurück, die sie im Lauf der Jahre angelegt hatte und die sie stundenlang betrachten konnte. Noch nie hatte sie einem ihrer Freunde erlaubt, dieses stets verschlossene Zimmer zu betreten; nur ihr Bruder Jim wagte sich manchmal hinein. Aber schließlich war er mehr als nur ein Bruder, nämlich eine Art Komplize, dem sie sich in psychologischer Hinsicht überlegen fühlte. Ihre einzigen Kameraden in Woodford waren die Kinder, mit denen sie aufgewachsen war, Bastarde der Vorstadt: der Sohn einer alkoholabhängigen Irin, Saeed und seine Schwester Naima, die Kinder indischer Immigranten, und Tonino, der das Lebensmittelgeschäft seines italienischen Vaters übernommen hatte. Mit Saeed und Tonino, die für sie fast wie richtige Brüder waren, hatte Elsa die Sexualität entdeckt, doch ihre wahren Liebhaber waren die Schauspieler aus ihren Lieblingsfilmen: David Hemmings, Terence Stamp und Ian Ogilvy, so wie sie ihn in den Filmen von Michael Reeves kennengelernt hatte, in Die Hexer und in Der Großinquisitor.

In der ersten Zeit war sie überzeugt, auch Clive gehöre dieser Art von Helden an. Wenn sie sich sein Leben vorstellte, dann ähnelte es dem Leben in jenen Filmen, die sie für die letzten expressionistischen Meisterwerke hielt. In einer ihr vertrauten Umgebung - London, New York oder, wie jetzt, Paris - gaben diese vom Schicksal geprägten Menschen ihr eindeutige Zeichen. Wie durch ein Wunder war Clive von der Leinwand zu ihr herabgestiegen. Doch sie fühlte sich wie gelähmt. Eine innere Stimme riet ihr, misstrauisch zu sein; es war dieselbe Stimme, die ihr seit jeher diktierte, was sie in ihrem Leben zu tun hatte. Möglicherweise handelte es sich um die Stimme ihrer Mutter, die sie nie gekannt hatte und deren Fotos sie manchmal mit unendlicher Sehnsucht betrachtete. Sie ähnelte ihr nicht im Geringsten, doch das spielte keine Rolle, da Elsa sich diese Frau in einem Film vorstellte, der noch trauriger war als jene, die sie so sehr liebte.

Es war nicht Clives Art, eine sentimentale Annäherung zu versuchen - ein Ausdruck, den Elsa benutzte, um einen galanten Vorgang zu beschreiben, von dem sie keine Ahnung hatte. Bislang hatte sie selbst nur flüchtige Umarmungen bar jeglicher Sentimentalität kennengelernt. Sie liebte die gebrochenen Herzen der Helden ihrer Filme und versuchte manchmal sogar, hinter dem Make-up der Schauspieler geheime Botschaften zu entdecken, die nur für sie allein bestimmt waren. Ihr neuer Freund jedoch schien noch sehr weit von ihr entfernt zu sein - weit entfernt von jener Elsa, die nichts von sich preisgab und ihn im stillen und mit einer Hoffnungslosigkeit bewunderte, die ihr in der Welt, in der er sich bewegte, die einzig mögliche Form der Annäherung zu sein schien.

Die Entdeckung jedoch, die sie bei ihrer dritten Begegnung machte, stürzte sie in schreckliche, ihr bis dahin völlig unbekannte Verwirrung. Sie kam zu früh zu ihrer Verabredung im Garten Eden. Ein wenig schüchtern nahm sie an einem Tisch auf der Terrasse Platz und vertiefte sich in die Lektüre von Sheridan Le Fanus' Carmilla.

Plötzlich wurde ihr Blick auf ein vorfahrendes Auto, einen prachtvollen italienischen Wagen, gelenkt, in dem sie Clive neben dem Fahrer, einem etwa dreißigjährigen Mann, sitzen sah. Clive küsste diesen Mann auf den Mund, woraufhin dieser lächelnd die Wange des jungen streichelte. Dann schwang Clive sich aus dem Wagen, und in diesem Augenblick kreuzte sein Blick den von Elsa, die sofort begriffen hatte.

Der anfänglichen Benommenheit folgte ein Zustand unterdrückter Wut, wie Elsa ihn nur allzu gut kannte. Am meisten ärgerte sie sich darüber, blind gewesen zu sein. Für eine Situation, für die es doch so viele Anzeichen gab. Auf Clive hingegen war sie nicht böse, und diese Tatsache rettete ihre Freundschaft. Eine Freundschaft, die sogar Woche für Woche wuchs und sich in eine Komplizenschaft verwandelte, wie das Mädchen sie bislang niemals wirklich kennengelernt hatte. Einige Monate später war Clive zum ersten Mal damit einverstanden, sie in Epping zu besuchen, um dort - unter einer Frühlingssonne, die den Wald beinahe einladend wirken ließ - eine Elsa zu erleben, die von dem Plan, mit dem sie sich bereits seit einiger Zeit beschäftigten, geradezu erregt war: eine Reise an jene Orte, wo das von ihnen so sehr geliebte Kino geboten worden war.

Das alles spielte sich auf dem kurzgeschnittenen Gras einer Lichtung ab, auf der Clive sich lässig ausgestreckt hatte, genau wie jetzt in Prag, in jener Stadt, die für sie den Ursprung sämtlicher Geheimnisse darstellte, den symbolischen Ort ihrer Liebe zum Kino. Sie hatten beschlossen, die Kulissen aufzusuchen, vor denen ihre Lieblingsfilme, von Der Student von Prag bis zu Golem, sich abspielten, und sich von der Atmosphäre jener Stadt durchdringen zu lassen, deren bloßer Name genügte, umso viele Legenden heraufzubeschwören.

 

»Wollen wir gehen?«, schlug Clive vor, als er sich erhob. Seit ihrer Abreise hatte er ein wenig von der Steifheit des jungen Londoners im Trenchcoat eingebüßt, und die schlichtere Bekleidung, die er nun trug, verliehen ihm das Aussehen all jener Studenten, denen sie auf Schritt und Tritt begegneten und denen auch Elsa ähnlich sah. Obwohl die beiden jungen Leute sich inzwischen gut genug kannten, um über das Leben des jeweils andern Bescheid zu wissen, hatte Elsa zu Beginn große Angst davor, lange Tage in Begleitung des Jungen verbringen zu müssen, woran sie aus London nicht gewöhnt war. Elsa hatte Clive ihre Einsamkeit eingestanden, und er hatte ihr von seiner Beziehung zu Herb erzählt, zu dem Mann mit dem italienischen Wagen, der Direktor einer bekannten Fotogalerie war und so viel auf Reisen, dass sie sich nur selten trafen.

Sie schulterten ihre Rucksäcke und gingen am Fluss entlang in Richtung der Gassen des Viertels Mala Strana. Sie durchquerten einen Park, wo Schüler einer Kunstakademie sich nicht recht entscheiden konnten, ob sie faulenzen oder sich ihren Skizzenblöcken widmen sollten.

Sie schlenderten durch die Altstadt mit ihrn gelben Mauern, sprachen kein Wort und ließen sich ausschließlich von dem Verlangen leiten, das zu entdecken, was Clive gleich nach ihrer Ankunft das Prager Studio genannt hatte. Sie stiegen unendlich viele Stufen hinauf, die auf einigen Umwegen zu dem alles dominierenden Schloss führten. Erschöpft gingen sie anschließend zur Karlsbrücke und zum Hotel Zu den Drei Straußen zurück, in dem sie ein Zimmer gemietet hatten. Den Aufenthalt in diesem barocken Etablissement, das vor allem von betuchten amerikanischen Touristen bewohnt wurde, zahlte Clives Zeitung, die mit der Reportage, die er vorgeschlagen hatte, einverstanden gewesen war.

Mit Begeisterung und gleichzeitigem Schrecken hatte Elsa die gemütlichen Salons, die Oberkellner mit den herablassenden Mienen und die Arroganz einer Kundschaft entdeckt, die sie auf Anhieb verabscheute. Doch ihr Missmut ließ nach, sobald sie ihr Zimmer unter dem Dach betreten und die winzigen Fenster geöffnet hatte, die genau wie in Die freudlose Gasse - den Blick auf den Fluss und die Altstadt mit ihren verschrobenen Dächern freigaben. Beim Anblick geriet sie in Verzückung und stieß einen Schrei der Begeisterung aus, von dem Clive sehr überrascht war.

 

Elsa Hilbrett und Clive Jeffrey-Davies schliefen nicht miteinander. Doch ihre Freundschaft ging auch nicht in jene brüderliche Vertrautheit über, von der Elsa geträumt hatte, die der Junge jedoch ablehnte. Wenn sie das Zimmer mit den geblümten Stofftapeten an den Wänden und den dunklen Holzmöbeln betreten hatten, waren die beiden jungen Leute nicht länger ein angelsächsisches Touristenpaar, sondern verwandelten sich wieder in jene zwei Menschen, die einzig und allein durch einen gemeinsamen Traum, nicht jedoch durch gegenseitige physische Anziehung miteinander verbunden waren. Clive schien diese Art von Zusammenleben nicht zu stören; Elsa hingegen empfand eine Art Kummer, der sich mit Enttäuschung vermischte. Verstohlen beobachtete sie den - so verführerischen - Körper des Jungen, wenn er vom Bad zum Bett ging und sich mit der Anmut eines Prinzen darauf ausstreckte. Sie war in Clive verliebt und konnte nicht anders, als ihn heimlich leidend anzuhimmeln.

Während Clive im Licht der Nachttischlampe erneut zu lesen begonnen hatte, trat die junge Frau an eines der Mansardenfenster und verlor sich in der Betrachtung der in der Dämmerung liegenden Stadt. Sie vergaß die Anwesenheit des Jungen und träumte vor sich hin, wie eine junge Hexe, die auf ihrem Besen über die jahrhundertealte Stadt hinwegfliegt. Sie schwebte über den Fluss und gelangte ins jüdische Viertel Josefov. Sie erinnerte sich an die Bilder aus dem Film von Paul Wegener, der als erster Golem von Rabbi Loew verfilmt hatte. Einst hatte sie ganze Nächte damit verbracht, von dieser Figur zu träumen und sich immer neue Heldentaten für sie auszudenken, »wenn der Nebel an den Herbstabenden in den Straßen steht und ihr kaum wahrnehmbares Antlitz verbirgt...«

Früher war Frankensteins Monster einer ihrer Begleiter durch die Einsamkeit gewesen. Dann hatten andere Kreaturen sich diesem ersten Weggefährten angeschlossen und Elsa häufig auf ihren Spaziergängen durch das Heideland von Hampstead oder durch die Wälder von Epping begleitet. Zu jener Zeit hatte sich jenes nicht wiedergutzumachende Ereignis zugetragen, das sie das Opfer nannte und das sich in ihren Träumen oft wiederholte: der Mord an dem Stadtstreicher Woodford, dessen Mörder nie gefasst wurde.

Der Himmel über Prag glich einer schwarzen Leinwand, auf der sie ihre Tat noch einmal erlebte. Dumpfe Trauer erfasste sie und vermischte sich mit ihrer Enttäuschung über ihre unerwiderte Liebe zu Clive. Am liebsten hätte sie geweint, doch wie immer gelang es ihr nicht, so als hätte sich ihr Herz in jener Nacht für immer Verhärtet. Aber wie war es dann möglich, daß sie zu diesem unvernünftigen Gefühl, das sie für den unnahbaren Jungen empfand, fähig war? Sie konnte und wollte das nicht verstehen. Sie hatte wieder schreckliche Kopfschmerzen.

Wenige Schritte von ihr entfernt lag Clive und war eingeschlafen. Mit einer Hand hielt er sein Buch fest, und sie hörte seinen regelmäßigen Atem. Sie legte sich hin, ohne ihn eines einzigen Blickes zu würdigen.

Sie drehte sich zur Wand, schaltete ihre Nachttischlampe an und öffnete das in Paris gekaufte Buch, dessen erste Kapitel sie bereits am Flussufer verschlungen hatte: Lotte Eisners Monographie über F. W. Murnau, den Regisseur von Nosferatu und Tabu. Als sie das Buch aufschlug, fiel ein Stück Zeichenkarton heraus. Sie konnte sich nicht erinnern, es als Lesezeichen zwischen die Seiten gesteckt zu haben. Mit blauer Tinte und in einer ihr unbekannten Schrift standen darauf folgende Worte geschrieben:

 

PRAG IST ERFÜLLT VON GEHEIMNISSEN

UNTER DEM DECKENGEWÖLBE DES SLAVIA

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

  

»English breakfast?«, fragte der perfekte Oberkellner mit einem Lächeln, das Elsa ärgerte. Clive und sic waren spät aufgestanden, und während der Junge sich noch lange unter den Laken geräkelt hatte, war sie schnell unter die Dusche gesprungen. Sie hatte gespürt, dass ein heimtückischer Migräneanfall sich ankündigte, und wusste, dass eiskaltes Wasser ein gutes Heilmittel dagegen war. Als sie wieder einen klaren Kopfhatte, dachte sie an das Stück Zeichenpapier und die mysteriöse Botschaft.

Am Frühstückstisch zeigte sie es Clive, der sogleich den Mund verzog: »Ein Witz. Ich kenne die Schrift nicht. Vielleicht hast du es selbst geschrieben, im Schlaf...?«

Seine Stimme klang irgendwie verächtlich, und der lässige Ton machte Elsa noch wütender: »Nein, Clive, ich war es nicht. Wer also dann?«

Sie schämte sich ihrer Stimme mit dem typischen Vorstadtakzent und sah sich nach allen Seiten um. Doch die wohlhabend aussehenden Paare achteten nicht auf sie.

Zerstreut und mit einer Unbekümmertheit, um die die junge Frau ihn beneidete, strich Clive Butter auf seine Toastscheibe, während Elsa ständig an dem Zettel herumfingerte.

»Wer kann das wohl getan haben? Wir sind in Prag noch niemandem begegnet. Sag mal, Clive, das Slavia ist doch dieses große Café, an dem wir vorbeigegangen sind, als wir vom Wenzelsplatz kamen?«

Der Junge nickte, hob seine Teetasse und trank mit geschlossenen Augen. Bestimmt hatte er diese Gesten von seiner Mutter. Elsa fühlte sich immer weniger wohl in ihrer Haut. Ein Schraubstock drückte auf ihre Schläfen, und plötzlich hatte sie Lust, einfach aufzustehen, diesen feindseligen Ort zu verlassen und in die Stadt zu laufen, wo die Spuren ihrer bevorzugten Alpträume sie erwarteten. Doch dann beruhigte sie sich und öffnete das Buch, das neben ihr lag - das Buch, in dem sie den Zettel gefunden hatte -, und vertiefte sich in die Lektüre des Textes über die Dreharbeiten zu Der letzte Mann von Murnau.

 

Am Vormittag beschlossen sie, den jüdischen Friedhof von Josefov zu besuchen. Sie verließen das Hotel und überquerten die Karlsbrücke, die an diesem unerwartet sonnigen Tag von Touristenmassen belagert wurde. Es waren viele junge Leute ihres Alters darunter, die Elsa und Clive bestimmt für ein ganz gewöhnliches Paar hielten. Allmählich ließen die Kopfschmerzen nach, und Elsa sog die frische Luft ein.

Als sie den Friedhof betraten, der in ein eigenartiges, grünes Licht getaucht war - genau das Licht, das sich ein talentierter Regisseur mit Sicherheit gewünscht hätte, um die Magie dieses Ortes besser zur Geltung zu bringen -, haftete Elsas Blick auf den Grabsteinen, die sich in Reihen angeordnet den Ästen der großen, kahlen Bäume auf unheimliche Weise entgegenstreckten.

Clive suchte nach dem Grab des Rabbi Loew, und als er es gefunden hatte, pflanzte er sich in äußerst arroganter Haltung davor auf. Ohne sich um die Leute zu kümmern, die sich in einer gewissen Andacht um das legendäre Grab versammelt hatten, sagte er mit ironischem Unterton:

»Rabbi, sag uns, wer die Botschaft geschrieben hat, die Elsa gestern Abend in dem Buch gefunden hat.«

Es war der jungen Frau ungeheuer peinlich. Ein jugendlicher, der neben ihr stand, begann laut zu lachen, während eine Deutsche mit strenger Miene Clive einen erzürnten Blick zuwarf. Das Benehmen des jungen Engländers war in der Tat dazu angetan, die zu schockieren, die sich vor dem Grab des Meisters des Golems versammelt hatten. Elsa zog Clive am Ärmel seiner Jacke mit sich fort.

Sie gingen um diesen seltsamen, zwischen hohen Mauern eingeschlossenen Friedhof herum und suchten den Boden dessen ab, was in ihren Augen der Drehort des phantastischsten Films des Expressionismus hätte sein können, als sich ihnen plötzlich die Notwendigkeit zu innerer Sammlung aufdrängte. Elsas Kehle war wie zugeschnürt, und sie hielt immer noch Clives Arm fest, so als wollte sie einer weiteren ungebührlichen Geste dieses Jungen, der vor nichts Respekt zeigte, zuvorkommen. Tief in ihrem Innern verspürte sie das eigenartige Gefühl, von Hunderten, ja, von Tausenden von Augen beobachtet zu werden, doch als sie den Kopf wandte, sah sie, dass das nicht der Fall war. Die Besucher des jüdischen Friedhofs von Prag interessierten sich nicht im Geringsten für diese beiden jungen Engländer, die langsam an den Grabsteinreihen entlangspazierten. Nein, die vielen tausend Blicke kamen anderswoher, es waren die Blicke einer Welt in Schwarzweiß, die nur in Elsas fieberndem Hirn existierte und der die Magie des Ortes zu neuem Leben verhalf. Sie erinnerte sich an einen Satz aus dem Buch Die Klassiker des Horrorfilms: »Beim geringsten Befehl des Regisseurs reagieren alle diese Gestalten des Grauens wie Golems. Sie sind wie verzaubert von dessen Arbeit und vergessen darüber zu essen und zu schlafen, so dass ihre Magerkeit, ihre hohlen Augen, ihr völlig verstörtes Aussehen ihre Beteiligung an der Verwirklichung des Meisterwerkes noch wirkungsvoller werden lassen.«

Weder Clive noch Elsa hatten das Gesicht bemerkt, das in einer der Öffnungen der Mauer, die den Friedhof zur Flussseite abgrenzte, aufgetaucht war. Das Vollmondgesicht eines alterslosen Mannes mit kurzsichtigen Augen, die hinter dicken Brillengläsern blinzelten.

Sie gingen um das Totenlabyrinth herum, erreichten das Tor und gelangten zurück auf die Straße mit den Verkaufsständen. Einige boten Nachbildungen des Golems aus Ton zum Verkauf an. Kurz darauf betraten sie eine Buchhandlung, und plötzlich erinnerte sich Elsa an das kleine rechteckige Papier und zog es aus der Jackentasche.

Clive begann zu lachen: »Das lässt dir einfach keine Ruhe, wie? Ich nehme an, als nächstes machst du den Vorschlag, auf einen kurzen Abstecher ins Slavia zu gehen...«

Elsa wurde rot vor Zorn. Clive brachte es fertig, grundlos verletzend zu sein. Doch vielleicht hatte er tatsächlich allen Grund, seine Begleiterin für töricht zu halten.

»Ich kann nichts Schlimmes daran finden, in dieses Café zu gehen und etwas zu trinken. Gestern Morgen hast du selbst gesagt, dass du solche Orte sehr magst.«

Sie gingen zur Uferstraße zurück, die nun mit Autos und Touristenbussen überfüllt war.

Auf der Höhe der Karlsbrücke wurde es immer schwieriger voranzukommen, so dicht war hier die Menschenmenge. Junge Männer in alten Klamotten der US Army sangen Beatles-Lieder und spielten Gitarre. Auch Clive begann zu singen. Er blieb kurz stehen, doch Elsas mahnender Blick veranlasste ihn weiterzugehen.

Elsa schaute zur anderen Flussseite hinüber, zu den verschachtelten Dächern von Mala Strana. Das Geheimnis dieser Stadt ist unergründlich, dachte sie, doch gleichzeitig erinnerte sie sich an die zwölftausend Gräber auf dem jüdischen Friedhof. Dieses Bild wurde von anderen Bildern, von Filmbildern überlagert. Einige Sekunden lang schloss sie die Augen. Ihre Schläfen pochten wieder.

Sie ging schneller, um Clive einzuholen, der mit eiligen Schritten auf das große Theater zuging, dessen goldenes, helmartiges Dach wie tausend Flammen funkelte.

Das Café Slavia, einst Schlupfwinkel der Prager Intellektuellen und nun von Japanern, Amerikanern und auch von nostalgischen deutschen Touristen belagert, lag dem monumentalen Eingang des Theaters gegenüber. Elsa und ihr Begleiter mussten sich gut eine Viertelstunde gedulden, ehe sie an einem kleinen Tisch hinter dem großen Fenster Platz nehmen konnten. Ein dickes Mädchen mit sehr roten Wangen schob eine Art Schubkarre mit Feldblumen über den Bürgersteig.

»Schau«, sagte Elsa und zeigte mit dem Finger auf das Mädchen, »man könnte es für das Blumenmädchen aus Die freudlose Gasse halten!«

Sie bestellten Milchkaffee und Apfelstrudel.

Clive zog das Buch über Murnau aus seiner Jacke und legte es vor

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: François Rivière/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Zasu Menil und Christian Dörge (OT: Kafka).
Tag der Veröffentlichung: 29.03.2017
ISBN: 978-3-7438-0535-4

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