RONALD M. HAHN
Harry Flynn – Private Eye,
Band 1:
Der Mann ohne Vergangenheit
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
DER MANN OHNE VERGANGENHEIT
Das Buch
Chicago 1927. In den USA herrscht striktes Alkoholverbot. Gangster unterlaufen es täglich und liefern sich einen ständigen Kleinkrieg mit den Cops. Der Privatdetektiv Harry Flynn, ein großer Trinker vor dem Herrn, kämpft ums Überleben. Da kommt ein Gentleman in sein verqualmtes Büro und bietet ihm einen kuriosen Job an: Er soll herauskriegen, wer er ist. »Ich bin Geschäftsmann. Ich lebe in New York. Ich bin in der Filmbranche tätig. Ich verdiene einen Haufen Kohle.« Er grinste süffisant. »Die Filme, die ich produziere, kriegen Sie freilich in keinem Filmtheater zu sehen. Sie ernähren allerdings einen Mann, und das gleiche gilt für meine Darsteller – in der Regel gut bestückte junge Männer und von keinerlei Hemmungen geplagte junge Damen.« Ich nickte. »In meiner Branche hat es man es ja nicht nur mit Pfarrerstöchtern und Philologen zu tun.« Ich hatte wiederholt für Leute gearbeitet, die in der Freudenbranche tätig waren. In ihren Plüschsalons hatte ich auch schon mal Filme gesehen, die unter meinem Beinkleid etwas in Bewegung versetzt hatten. »Sie verstehen also, was ich meine.« Kavanaugh saugte voller Genuss an seiner Zigarette, die, ich muss es gestehen, für meinen Geschmack alles andere als angenehm roch. »Ich wurde allerdings nicht als Filmproduzent geboren, Mr. Flynn.« Seine Stimme wurde leiser. Er schaute sich um. »Ich bin erst seit 1917 in dieser Branche tätig. Davor war ich Kellner, Heizer in einem Kraftwerk und Schauermann im Hafen von New York. Und davor...« Er schaute mir in die Augen. »Davor habe ich nicht existiert.« Harry ist baff, aber Geld stinkt ja nicht. Er kassiert einen Vorschuss, steckt seinen Flachmann ein und nimmt den Fall in Angriff. Natürlich ahnt er nicht, in welchen Scheiß er sich wieder mal rein geritten hat, aber Harry wäre nicht Harry, wenn er nicht wüsste, wie man dem Bösen mit Witz und einer großen Klappe ein Beinchen stellt....
HARRY FLYNN – PRIVATE EYE – hard-boiled Krimis von Ronald M. Hahn! Raymond Chandler und Dashiell Hammett hätten fraglos ihr Späßchen an diesem hartgesottenen Schnüffler.
Der Autor
Ronald M. Hahn, Jahrgang 1948.
Schriftsteller, Übersetzer, Literaturagent, Journalist, Herausgeber, Lektor, Redakteur von Zeitschriften.
Bekannt ist Ronald M. Hahn für die Herausgabe der SF-Magazine Science Fiction-Times (1972) und Nova (2002, mit Michael K. Iwoleit) sowie als Autor von Romanen/Kurzgeschichten/Erzählungen in den Bereichen Science Fiction, Krimi und Abenteuer.
Herausragend sind das (mit Hans-Joachim Alpers, Werner Fuchs und Wolfgang Jeschke verfasste) Lexikon der Science Fiction-Literatur (1980/1987), die Standard-Werke Lexikon des Science Fiction-Films (1984/1998, mit Volker Jansen), Lexikon des Horror-Films (1985, mit Volker Jansen) und das Lexikon des Fantasy-Films (1986, mit Volker Jansen und Norbert Stresau).
Für das Lexikon der Fantasy-Literatur (2005, mit Hans-Joachim Alpers und Werner Fuchs) wurde er im Jahr 2005 mit dem Deutschen Fantasy-Preis ausgezeichnet. Insgesamt sechsmal erhielt Hahn darüber hinaus den Kurd-Laßwitz-Preis – dem renommiertesten deutschen SF-Preis - , u.a. für die beste Kurzgeschichte (Auf dem großen Strom, 1981) und als bester Übersetzer (für John Clute: Science Fiction – Eine illustrierte Enzyklopädie, 1997).
Weitere Werke sind u.a. die Kurzgeschichten-Sammlungen Ein Dutzend H-Bomben (1983), Inmitten der großen Leere (1984) und Auf dem großen Strom (1986) sowie – als Übersetzer – der Dune-Zyklus von Frank Herbert.
Ronald M. Hahn lebt und arbeitet in Wuppertal.
Ronald M. Hahn
DER MANN OHNE VERGANGENHEIT
1.
An dem Morgen, an dem alles begann, sah die Welt besonders übel aus: Die Stadt war so grau wie noch nie. Die Menschen waren vermummt. Es schneite wie verrückt.
Vor dem Café, in das ich geflüchtet war, kämpften Scharen von Automobilisten gegen das Wetter. Ihre Fahrzeuge rutschten von hier nach da, andere stellten sich quer.
Das Gehupe derjenigen, die glaubten, so kämen sie schneller voran, nervte die den Verkehr regelnden Cops, die allmählich sauer wurden und herumbrüllten. Es war halb zehn, aber es wurde einfach nicht hell.
Da war allerdings etwas, das die Welt noch schlimmer machte: Ich war so gut wie blank. Wohnungs- und Büromiete waren seit zwei Wochen überfällig. Ich hatte Schulden bei meinem Tabakhändler und an der Zeitungsbude. Geldeintreiber meiner Vermieter pirschten täglich um meine Domizile. Meine Sekretärin Maggie, der ich zwei Wochenlöhne schuldete, verzog seit Tagen vorwurfsvoll die Schnute, wenn ich die Bürotür öffnete.
Ich hatte mir gleich nach dem Aufstehen vorgenommen, heute nicht ins Büro zu gehen. Was sollte ich dort machen? Mir Maggies Schnute und ihren vorwurfsvollen Blick anschauen? Das Zigarrenkästchen, in dem ich meine Notgroschen aufbewahrte, war leer. Ebenso der Not-Flachmann.
Ich hatte gerade das letzte Zigarettenpäckchen angebrochen und saß mit der aufgeschlagenen Chicago Tribune vor einem Tässchen Kaffee, als die Tür aufging und ein Mann eintrat, der wie ein russischer Großfürst aussah: Er war groß, breitschultrig, bärtig und trug eine schwarze Hornbrille und einen Homburg. Sein teurer dunkler Mantel war mit einem Pelzkragen verziert.
Obwohl er einen Spazierstock mit einem silbernen Knauf in der Rechten hielt, sah er nicht so aus als brauche er ihn als Stütze. Der Mann war Mitte vierzig, vielleicht aber auch jünger. Er sah ausgeschlafen aus. Seine wachen grauen Augen nahmen mich aufs Korn. Er wirkte, als hätte er mich gesucht.
In deiner Lage, dachte ich, ist es vielleicht angebracht, zu den Menschen freundlich zu sein, Harry.
Ich grinste den Mann einladend an, und er stapfte mit einer eleganten Bewegung auf mich zu, nahm mir gegenüber Platz und sagte: »Mr. Flynn, nehme ich an.«
»Sie haben’s erfasst.« Ich schaute auf. Ich war ziemlich baff, denn ich hatte den Mann noch nie gesehen.
»Ich habe einen Auftrag für Sie.« Der Bärtige winkte der Kellnerin, einer hübschen Schwarzen, die sofort zu uns kam und sich nach seinen Wünschen erkundigte. Er bestellte einen Kaffee.
Als wir allein waren, beugte er sich über den Tisch. »Ihre Sekretärin hat mir gesagt, wo ich Sie finde.«
Das fand ich interessant, weil Maggie gar nicht wusste, wo ich war.
Eine halbe Stunde zuvor hatte ich selbst noch nicht gewusst, wo ich landen würde. Ich saß nur in diesem Café, weil der Tank meines Wagens leer war und ich keine Lust gehabt hatte, mir in diesem Unwetter den Arsch abzufrieren.
Andererseits war ich Geschäftsmann genug, um niemandem zu widersprechen, der sich als zahlungskräftiger Kunde entpuppen könnte. Ich fragte mich kurz, woran der Gentleman mich erkannt hatte. Außer mir hielten sich nur noch zwei Männer in dem Café auf, die wie polnische Metzger aussahen. Hätte ich jemanden gesucht, der einem Schnüffler ähnlich sah, wäre ich vermutlich auch zu mir gekommen.
»Die brave Maggie...« Ich nickte. »Sie ist wirklich die Seele meines Unternehmens.« Ich legte die Zeitung beiseite. »Kann ich Ihnen irgendwie dienlich sein, Mister...?«
»Kavanaugh. Michael Kavanaugh.« Er sprach ohne erkennbaren Akzent und wirkte wie ein Mann von Welt.
»Angenehm, Sir. Darf ich fragen, wie mich Ihnen empfohlen hat?«
»Das Branchenverzeichnis.« Kavanaugh griff in die Manteltasche. Er entnahm ihr ein silbernes Etui und klappte es auf. Es enthielt flache türkische Zigaretten jener Art, die gut betuchte Europäer rauchten. »Wollen Sie eine?«
»Danke, nein.« Ich zückte mein eigenes Päckchen, denn ich wollte nicht den Eindruck erwecken, klamm zu sein. Klamme Privatdetektive haben meist nicht viel zu tun, was wiederum darauf schließen lässt, dass es mit ihrer beruflichen Kompetenz nicht weit her ist.
Dann kam die dralle Bedienung. Wir prosteten uns mit dem Kaffee zu. Ich hätte lieber in einer Kneipe gesessen und etwas anderes getrunken, aber die paar Kröten, die mir noch verblieben waren, wollte ich für Lebenswichtigeres aufheben. Zum Beispiel Benzin.
»Ich habe Ihren Namen gelesen, und er hat mir gefallen. Harry Flynn klingt so bodenständig. Ich kannte mal jemanden, der so hieß.«
»Ach, wirklich?« Ich schaute ihn an. »Wo war das?«
»In der Bronx. New York.« Kavanaugh schaute mich an. »Er hatte einen kleinen Tabakladen. Er hat mir Kredit eingeräumt, als ich noch ein armer Schlucker war – und er hat es nirgendwo rumerzählt, was ich für sehr nobel halte. Deswegen habe ich gedacht, schau dir doch diesen Harry Flynn mal an. Vielleicht ist er ebenso.«
Ich beugte mich vor. »Mein zweiter Vorname ist Diskretion.«
»Ausgezeichnet.« Kavanaugh bleckte freundlich die Zähne. »Einen solchen Mann brauche ich.« Er trank einen Schluck Kaffee und schaute aus dem Fenster. »Ich gehe mal davon aus, dass ich mir Ihren Tarif leisten kann...«
Angesichts seines Pelzkragens sagte ich, dass ich pro Tag vierzig Dollar plus Spesen berechnete und es üblich sei, die ersten drei Tage im Voraus zu zahlen. Kavanaugh zuckte mit keiner Wimper. Vierzig Dollar waren wohl eine Kleinigkeit für ihn.
»Ich erzähle Ihnen erst mal was«, sagte er. »Dann entscheiden Sie, ob der Auftrag was für Sie ist, einverstanden?«
»Okay.« Ich nickte.
Kavanaugh legte los. »Ich bin Geschäftsmann. Ich lebe in New York. Ich bin in der Filmbranche tätig. Ich verdiene einen Haufen Kohle.« Er grinste süffisant. »Die Filme, die ich produziere, kriegen Sie freilich in keinem Filmtheater zu sehen. Sie ernähren allerdings einen Mann, und das gleiche gilt für meine Darsteller – in der Regel gut bestückte junge Männer und von keinerlei Hemmungen geplagte junge Damen.«
Ich nickte. »In meiner Branche hat es man es ja nicht nur mit Pfarrerstöchtern und Philologen zu tun.« Ich hatte wiederholt für Leute gearbeitet, die in der Freudenbranche tätig waren. In ihren Plüschsalons hatte ich auch schon mal Filme gesehen, die unter meinem Beinkleid etwas in Bewegung versetzt hatten.
»Sie verstehen also, was ich meine.« Kavanaugh saugte voller Genuss an seiner Zigarette, die, ich muss es gestehen, für meinen Geschmack alles andere als angenehm roch. »Ich wurde allerdings nicht als Filmproduzent geboren, Mr. Flynn.« Seine Stimme wurde leiser. Er schaute sich um. »Ich bin erst seit 1917 in dieser Branche tätig. Davor war ich Kellner, Heizer in einem Kraftwerk und Schauermann im Hafen von New York. Und davor...« Er schaute mir in die Augen. »Davor habe ich nicht existiert.«
»Wie?« Meine Kinnlade sank ein Stück herunter.
Kavanaugh nickte. »Es ist wirklich wahr. Ich weiß nicht, wie alt ich bin. Die Leute schätzen mich auf Anfang bis Mitte vierzig. Tatsache ist aber, dass ich keine Ahnung habe, wie alt ich wirklich bin und wie ich heiße. Ich habe keine Papiere, die etwas über mich aussagen. Ich weiß nur eins: Den Namen Michael Kavanaugh habe ich mir selbst ausgesucht.«
Das war harter Tobak. Ich schaute mir den Mann genau an. Da ich meine Nase nicht nur Schundromane steckte, sondern auch in kulturell wertvolle Zeitschriften, hatte ich auch mal schon gehört, dass man Gedächtnisschwund in studierten Kreisen Amnesie nannte.
»Natürlich habe ich mich im Laufe der Jahre sachkundig gemacht«, fuhr Kavanaugh fort. »Ich leide an retrograder Amnesie, an einem Gedächtnisverlust, bei dem man sich an nichts erinnert, das vor einem bestimmten Termin passiert ist. So etwas kann auf verschiedene Art ausgelöst werden. Bei mir war es möglicherweise eine starke Gehirnerschütterung.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte ich.
»Ich kam in einer Silvesternacht in einer Gasse in Chicago zu mir. Ich lag zwischen Stapeln von Hausmüll im Dreck. Ich konnte mich nicht erinnern, wie ich dahin gekommen war. Ich wusste nicht, wer ich war. Ich weiß noch, dass ich unglaublich starke Kopfschmerzen und eine dicke Beule am Kopf hatte.« Er räusperte sich. »Ich war entsetzt. Ich richtete mich auf und dachte, gleich fällt dir alles wieder ein. Aber nichts ist mir eingefallen.« Er schüttelte den Kopf. »Gar nichts.«
»Wann war das?«
»Neunzehnhundertsieben.«
»Gütiger Gott! Das sind zwanzig Jahre!« Ich starrte Kavanaugh an. So eine bizarre Geschichte hatte ich noch nicht gehört. »Und Ihnen ist in all diesen Jahren nichts eingefallen, das Ihnen geholfen hätte, irgendwas über sich in Erfahrung zu bringen?«
»Nichts.« Kavanaugh schüttelte den Kopf. »Rein gar nichts. Ich wusste nicht, wo ich wohnte und wovon ich gelebt hatte.« Er schaute mich an. »Ich bin in ziemlicher Panik zum Bahnhof gelaufen und habe eine Fahrkarte nach New York gelöst. Ich habe mir den Namen Kavanaugh zugelegt und Arbeit gesucht. Ich habe es gut getroffen.« Er lächelte. »Ich habe mein Glück gemacht. Ich kann nicht klagen. Doch es wurmt mich, dass ich nicht weiß, woher ich komme und wer ich wirklich bin. Habe ich Familie? Eltern? Geschwister? Komme ich aus Chicago oder war ich damals nur auf der Durchreise?«
Ich winkte der Kellnerin und bestellte noch einen Kaffee. Auch Kavanaugh ließ sich nachschenken.
»Sie haben gesagt, Sie sind in Panik zum Bahnhof gelaufen und haben sich eine Fahrkarte nach New York gekauft. Warum in Panik?«
»Oh...« Kavanaugh setzte sich zurück und blies einen blaugrauen Rauchkringel in die Luft. »Ich hatte Grund zu der Annahme, dass ich in etwas Böses verwickelt war, Mister Flynn – vielleicht sogar in etwas Ungesetzliches.« Sein Blick wanderte unbehaglich hin und her, aber die beiden Metzger gingen gerade hinaus, und die Kellnerin schäkerte mit einer Vertretertype, die gerade eingetreten war und sich am Tresen auf einen Hocker fläzte.
»Sehen Sie eine Möglichkeit, in meinem Fall tätig zu werden, Mister Flynn?«
»Ich soll in Erfahrung zu bringen versuchen, wer Sie sind? Beziehungsweise, wer Sie vor Silvester 1907 waren?«
Kavanaugh nickte. »Yeah.«
»Ich muss zugeben, dass der Job, den Sie mir anbieten, verdammt interessant klingt«, sagte ich. »Ich muss allerdings auch sagen, dass es unglaublich schwierig ist und teuer werden kann, Dinge aufzuklären, die vor zwanzig Jahren passiert sind...«
»Es ist mir bewusst, Mister Flynn. Aber wenn ich nicht bereit wäre, die Kosten zu tragen, hätte ich mich gar nicht erst nach Chicago aufgemacht.« Er zückte seine Brieftasche, und ehe ich mich versah, blätterte er mir 280 Dollar auf den Tisch. »Hier, das ist für die ersten sieben Tage.«
Ich hatte noch nie so schnell 280 Dollar von einem Tisch in meine Tasche wandern sehen. »Es ist der Sache sicher dienlich, wenn Sie mir noch ein paar Fragen beantworten, Mister Kavanaugh.«
»Nur zu, junger Mann«, sagte Kavanaugh.
Ich beugte mich über den Tisch. »Wieso nehmen Sie an, Sie könnten in ungesetzliche Aktivitäten verwickelt gewesen sein?«
Kavanaugh bewegte kaum die Lippen, als er antwortete. »Neben mir lag ein blutiges Messer.«
Oh, Scheiße. Ich schluckte. »Was haben Sie damit gemacht?«
»Ich hab’s in den nächsten Gully geworfen.«
»Das war gut.« Ich atmete auf. Wenn Kavanaugh jemanden erstochen hatte, war die Tat vielleicht verjährt. Gully neigen dazu, in wässerige Kanäle zu münden. Wasser wiederum neigt dazu, Fingerabdrücke zu verwischen oder gar verschwinden zu lassen – speziell nach zwanzig Jahren. »Was haben Sie nach dem Aufwachen gemacht?«
»Ich bin zum Bahnhof gelaufen.«
»Sie hatten nicht vergessen, wo er ist?«
»Nein...« Kavanaugh fasste sich an die Stirn. »Eigenartigerweise nicht.«
»Es hat Sie nicht verwundert? Sie hatten Ihren Namen vergessen, aber Sie wussten noch, wo der Bahnhof war?«
Kavanaugh zuckte die Achseln. »Ich hatte auch nicht vergessen, wie man geht, spricht oder sich die Schnürsenkel bindet. Ich konnte auch Lesen. Ich nehme an, es ist wie mit dem Fahrrad fahren oder dem Gitarre spielen: Solche Dinge verlernt man wohl nie.«
»Können Sie Fahrrad fahren?«
»Ich weiß nicht. Ich habe allerdings nach diesem Tag nie wieder auf einem Fahrrad gesessen.«
»Können Sie Gitarre spielen?«
Kavanaugh schaute mich verdutzt an. »Ja. Warum fragen Sie?«
»Bestimmte Fähigkeiten können Aufschluss über Ihre Vergangenheit geben. – Sind Sie religiös?«
»Nein.«
»Können Sie das Vaterunser aufsagen?«
Kavanaugh nickte. »Komischerweise ja. Aber das hat sicher damit zu tun, dass man es uns im Kindergarten beigebracht hat.«
Ich nickte. »Stimmt. – Sprechen Sie Fremdsprachen?«
Kavanaugh schüttelt den Kopf. »Nein.«
»Was hatten Sie in den Taschen, als Sie zu sich gekommen sind?«
»Du liebe Güte...« Kavanaugh klemmte sich die nächste Zigarette zwischen seine trotz allem makellosen Zähne und schaute an die Decke. »Es ist zwar zwanzig Jahre her, aber ich weiß noch genau, dass ich mir damals auch gesagt habe, schau mal nach, ob du was bei dir hast, das dir was über dich sagen kann.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hatte hundertzwanzig Dollar in Scheinen und ein paar Münzen in der Tasche. Außerdem ein Taschentuch - ohne Monogramm, falls es Sie interessiert.« Er dachte nach. »Eine benutzte Kinokarte für das Astoria; ein angebrochenes Päckchen Chesterfield; ein neutrales Streichholzbriefchen und ein angebrochenes Päckchen Wrigley-Kaugummi.«
»Sie sprechen zwar keinen erkennbaren Akzent«, sagte ich, »aber Ihr Tonfall erinnert mich doch an den vieler irischer Einwanderer.«
»Also, Gälisch spreche ich nicht.« Kavanaugh grinste. »Ich muss allerdings sagen,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Ronald M. Hahn/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Tag der Veröffentlichung: 25.01.2017
ISBN: 978-3-7396-9463-4
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