Alexander Besher
Satori City 2.0
Erster Roman der RIM-Trilogie
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
Danksagungen
Prolog I
Prolog II
Arroyo
BARDO EINS
Shuttle
Wolkenhände
Fahrrad-Karma
Tara
Ashok
ƩoZ!
Kimura
Alptraum
Alta Bates
Pausbacken und schwarze Seele
Schlechtes Chi
Tashi Nurbu
Taxi
BARDO ZWEI
Butoh
Station Sieben
Claudia
Das Allerheiligste
»Jetzt!«
Onsen
Greenspace II
Haus der Tengus
Der Abflug
New Narita
Yaz
Satori
Moray
Amas Bar
Sayonaraville
Sarumawashi (Affentanz)
Burakumin
Todes-Express
Das Grand Interface
BARDO DREI
Veränderung
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Bilder einer Ausstellung
Piccadilly Peripherals Ltd. - Hausieren verboten
Westlich der Leere
Kundalini Kid
Der Anruf
Die Ersatzperson
Flachland
Der Rimi
Am Morgen
Epilog
Das Buch
Das Jahr: 2027. Die USA sind fest in der Hand der Keiretsu, japanischer Mega-Konzerne, die den westlichen Markt beherrschen. In dieser Welt lebt Professor Frank Gobi ein meditatives Leben: bis zu jenem Tag, als er erfährt, dass sein Sohn Trevor in der virtuellen Welt von Satoris Gametime gefangen ist – mit der wenig verheißungsvollen Chance, nur als Toter wieder herauszukommen. Um Trevor zu retten, nimmt Gobi einen Auftrag an, der unmittelbar mit der Situation seines Sohnes verknüpft ist. Er reist nach Neu-Tokio, um einen Virus namens Tantrix aufzuspüren, der von einem verrückten tibetischen Programmierer in die weltumspannenden Datennetze eingespeist worden ist. Aber der Wahnsinn des Tibeters hat durchaus Methode: Und von Minute zu Minute bleibt Frank Gobi weniger Zeit, das Leben seines Sohnes – und Hunderttausender anderer – zu retten...
Zen und die Kunst, den Cyberspace zu beherrschen: Satori City 2.0 ist der spektakuläre Auftakt zu Alexander Beshers legendärer RIM-Trilogie – ein Meilenstein der Cyberpunk-Literatur!
»Eine faszinierende Mischung aus William Gibson und Douglas Adams – genau so sollte Science Fiction heute sein.«
Entertainment Weekly
»Ein brillanter Roman, der Dort anfängt, wo NEUROMANCER und BLADE RUNNER aufgehört haben. Zu Risiken und Nebenwirkungen befragen Sie Ihren Neuro-Chirurgen.«
Douglas Rushkoff
Der Autor
Alexander Besher, Jahrgang 1951.
Alexander Besher ist US-amerikanischer Schriftsteller, Journalist und Autor von Drehbüchern.
Geboren in China (als Sohn russischer Eltern) wuchs Besher in Japan auf, wo er zwanzig Jahre lang lebte. Er promovierte an der Canadian Academy-Highschool in Kobe sowie anschließend an der Sophia-University in Tokio.
Für den San Francisco Chronicle verfasste er sechs Jahre lang die Kolumne Pacific Rim, in welcher er Essays über technologische, kulturelle und marktwirtschaftliche Trends/Innovationen veröffentlichte; diese Essays erschienen im Jahre 1991 in zusammengefasster (Buch-)Form unter dem Titel The Pacific Rim Almanac.
1994 veröffentliche Alexander Besher den - für den Philip K. Dick-Award nominierten - Roman Rim (dt. Satori City 2.0), einen komplexen Cyberpunk-Roman (und Auftakt der Rim-Trilogie), der im Japan der 2020er und 2030er Jahre spielt. Es folgten die Fortsetzungen Mir (dt. Virtual Tattoo, 1998) und Chi (dt. Cyber Blues, 1999).
Seit 2002 veröffentlichte er mehrere Kabbalah-Noir-Erzählungen, darunter der Roman/das Drehbuch The Clinging und die Semi-Sequels The Night Of The Golem und The Unchosen.
Im Apex-Verlag erscheinen die Romane der Rim-Trilogie als sowie Beshers neuester Roman The Manga Man als E-Books.
Alexander Besher lebt und arbeitet in San Francisco, Californien, USA.
Für Nicholas, der mich zu dieser Story anlegte
Für Françoise, die sie am Laufen hielt
und
For the Family Everywhere
Danksagungen
Ich möchte Geoff Leach in Japan danken, der Rim als erster entdeckte und es der Zeitschrift MacPower in Tokio empfahl, die einen frühen Entwurf des Manuskripts auf Japanisch in Fortsetzungen brachte. Geoff machte mich auch mit meinem japanischen Literaturagenten Kiyoshi Asano bekannt, der meinem bis dahin ungeschriebenen Romanerstling beim Verlag Chrest-sha in Tokio ein erstes Zuhause verschaffte. Außerdem möchte ich Cheflektor Makoto Satoh für seine Geduld und für sein Vertrauen in das Projekt danken.
Darüber hinaus gilt mein Dank vor allem dem Kyoto Journal, das in Japan zum ersten Mal einen Auszug aus Rim veröffentlichte, und zwar auf Englisch.
Nicht weniger dankbar bin ich meinem amerikanischen Literaturagenten Bill Gladstone und meiner Lektorin bei HarperCollinsWest, Joann Moschella. All den vielen anderen, darunter Joe Holzer, Christophe Marcant, Choni Yangzom, Renée
Wildman, David Bunnell, Paul Salto, Tom Peters, Bernie Krisher und Leonard Koren, die mich auf meinem Weg unterstützt und ermutigt haben, sage ich: domo arigato.
Alexander Besher
San Francisco
7. März 1994
Prolog I
Die Keiretsu-Kriege waren sogar für die Verhältnisse virtueller Welten blutig. Eines Tages, ehe das Megabeben von '26 Neo-Tokio aus der Matrix löschte, saß der erste ahnungslose CEO in seinem Garten in Neu-Nippon und erfreute sich an seinen Troden, als der Feind ihn herunterlud.
Sein ehrenwertes Bewusstsein wurde in einen Bio-ROM eingefangen und in einem Brokatkästchen weggeschafft, um es dem Herrn des Rim zum Geschenk zu machen. Die anderen fielen genauso schnell. Der Welt blieb das weitgehend verborgen. Im Westen sollten noch einige Jahre vergehen, ehe das wissenschaftliche Establishment die Tatsache anerkannte, dass man Energie durch Bewusstsein manipulieren kann.
Danach waren nur noch zwei Keiretsu-Konzerne übrig - einer, der dem Herrn des Rim gehörte, und ein anderer, der vom Herrn des Traums bewohnt wurde. Einer zog das Schwert, und der andere stellte sich eine Scheide um das Schwert herum vor. Wer war der Mächtigere?
In dieser Geschichte müssen Sie das entscheiden. Doch bevor Sie das tun, müssen Sie wissen, dass die Wett nicht so ist, wie sie zu sein scheint. Nicht mehr.
Zunächst einmal wurde, als Neo-Tokio zu existieren aufhörte, etwas Größeres geschaffen. Eine neue Matrix wurde geboren. Welche war real, welche eher imaginär? Das Reisen von einem Reich ins andere wurde zur neuen Fahrt des Pendelverkehrs. In beiden Matrices zugleich zu Hause zu sein kostete teures Geld. Als dann jedoch beide Welten per Interface miteinander verbunden waren, fielen solche Unterschiede allesamt weg.
Aber bevor das geschah, bevor die Feier des Bewusstseins zur hoch entwickelten Kunstform wurde und bevor Träume zur gefragtesten Ware auf dem Markt wurden, herrschten schwere Zeiten, in denen die Keiretsu-Kriege endlos zu währen schienen und man die Hoffnung zu fürchten lernte, auch wenn die Liebe andauerte.
Dies ist ein Teil der Geschichte, ein kleiner Teil, den ich gut kenne. Ich widme den Bericht meinem Vater, der jetzt ein Ronin im Reich des Unbekannten ist.
Tresor Gobi
aus: 'Die Keiretsu-Monogatari'
('Annalen der Megakonzern-Kriege')
Vektor 16, Matrix Zwo
Taihei 43 (2067 A.E.)
Prolog II
Ein japanischer Teegarten,
Neo-Tokio, Herbst 2025
Der ältere Japaner ging zielstrebig auf den Eingang des inneren Gartens zu. Es handelte sich um eine exklusive Wohngegend von Neo-Tokio, in der Angehörige der kaiserlichen Familie und hochrangige Klanmitglieder der Firma wohnten. Die Kuckucke riefen vom Pinienwäldchen herüber, das an die Villa von Prinz S. grenzte. Irgendwo im Zwielicht des Gartens klimperte ein Glockenspiel im Wind. Es war ein einsames Geräusch.
»Wartet draußen«, befahl der Mann seinem Gefolge mit barscher Stimme. Die vier Personen in dunklen Anzügen verbeugten sich und blieben reglos stehen, während seine in einen grauen Kimono gekleidete Gestalt kurz verharrte und dann durch das fünfhundert Jahre alte strohgedeckte Tor davonstürmte.
Zwei von ihnen waren Leibwächter des Alten und bezogen an der Schwelle zum Roji aufmerksam Posten, die Sinne wach, die Körper jedoch entspannt. Die beiden anderen waren seine persönlichen Gehilfen. Einer trug eine Aktentasche mit dem Backup-Bewusstsein des Alten, die er müde zwischen den Beinen abstellte. Sein Kollege zündete sich eine Ginko-Zigarette an und genoß die Ruhe der Anlage. Es fiel schwer zu glauben, dass nur Minuten entfernt vom hektischen Tumult des Stadtzentrums so viel Frieden herrschte.
Auf der anderen Seite des Bambuszauns blieb der Alte für einen Moment stehen und bewunderte eine Gruppe gelber und weißer Chrysanthemen. Diese einfache, atemberaubende Schönheit. Trotz der Schmerzen, die der unbarmherzig in sei- nem Innern fressende Krebs verursachte, atmete er den frischen, reinigenden Geruch der Pinien ein und fühlte sich augenblicklich gestärkt.
Der Krebs war unheilbar, aber gemessen an den Kämpfen, die er während der dreiundachtzig aktiven Jahre seines Lebens bereits ausgetragen hatte, handelte es sich dabei nur um eine geringfügige Unannehmlichkeit. Und das würde ihn jetzt nicht aufhalten.
Unregelmäßig geformte Trittsteine führten im Zickzack auf das kleine Teehaus am Ende des gewundenen Pfades zu. Das Moos war so grün und so dicht. Einen Moment lang erinnerte ihn die Farbe an den Mekong, der durch Indochina fließt. Das waren glücklichere Zeiten gewesen; vielleicht nicht ganz frei von Sorgen, aber aufregend, als er in Südostasien einen Markt nach dem anderen erobert hatte. Zeiten, in denen das Reich aufgebaut worden war.
Und wie konnte er bei der Erinnerung an den Mekong nicht an Mai denken? Süße, hinreißende Mai, die für ihn alle Merkmale eines Weibes und einer Frau in sich vereinte, ihm Körper und Seele darbot, ein junges Mädchen, das sich für einen alten Mann aufopferte. Er roch noch den Duft des Sandelholzes auf ihrer weichen braunen Haut. ..
Die Piniennadeln knisterten unter seinen Schritten, und ein dürrer Rauchfaden fiel ihm auf, der sich aus dem Kamin des Teehauses emporkräuselte. Mai lag jetzt hinter ihm, genauso wie alles andere. All seine vergangenen Leben, die wie Datteln von einem Baum fielen, den es nicht mehr gab. Schon vor langer Zeit war er gefällt und entwurzelt worden, spurlos ausgelöscht von seinen Gedanken, die jetzt auf die Grenze zueilten, hinter der ihn sein nächstes Leben erwartete.
Wenn alles nach Plan verlief, dann würde das hier der wichtigste Tag seines Lebens werden: der Höhepunkt seiner Laufbahn und der Anfang einer neuen Ära für das Haus Kobayashi.
Er trat ans Wasserbecken aus Stein, hob die Bambusschöpfkelle und füllte sie mit dem kühlen Nass, das er sich über die Hände goss. Er zog ein gefaltetes Blatt handgeschöpften Papiers aus dem Ärmel und trocknete sich die Hände, dann drehte er sich zu dem Durchschlupf um, durch den man sich geradezu in den Teeraum hineinzwängen musste. Das war der rituelle Zugang, der Demut und Abkehr von der Weltlichkeit bedeutete.
Er stellte seine Holzpantinen auf dem Stein ab, zog die kleine Pergamenttür zur Seite, bückte sich dann tief herunter und kroch ins kühle Innere der nur zweieinhalb Tatamimatten messenden Kammer.
Durch die Leisten der Bambusgitterfenster warf die späte Nachmittagssonne ihre letzten weichen goldenen Strahlen auf die braunen Gipswände. Der Mann wandte sich dem Alkoven zu, in dem eine Schriftrolle hing. Die dicken schwarzen japanischen Kanji-Ideogramme waren dem Anlass angemessen, dachte er.
»Durch das, was vor dir liegt,
bis ins Universum hineinschauen.«
Im Brenner hatte man ein Räucherstäbchen entzündet, und in einer Bambusvase steckte eine einzelne Chrysantheme ohne Kopf. Augenblick mal, ohne Kopf? Der Mann erstarrte und starrte den Stiel an. Dann erschienen oberhalb des Stiels plötzlich die gelben Blütenblätter der Chrysantheme, ein graphisches Wunderwerk, ebenso prächtig wie die Blumen draußen. Die Blumen waren natürlich online. Mitsubishi-Mummenschanz.
Im schwindenden Licht des Zimmers hörte er das Geräusch kochenden Wassers, beinah wie ein Bach, der durch einen Wald plätschert. Unter dem Kessel glomm die Kohle schwach im Herd. Auf einer Seite befand sich der kleine Teeraum, in dem bereits alle Utensilien für die Zeremonie bereitgelegt waren.
Er hörte, wie der Gastgeber sich dem anderen Eingang näherte. Die Pergamenttür glitt auf, und der Zeremonienmeister zwängte sich hinein. Er verbeugte sich vor dem Alten, der die Verbeugung wortlos erwiderte. Seltsam, dachte der Alte. Er war so ein junger Meister. Ein Meister des Nichts.
Sein ganzes Leben fang hatte der Alte darum gekämpft, massenhaft Reichtümer anzuhäufen, große Macht und noch größeren Einfluss zu erringen, und doch war das alles nichts im Vergleich mit der Macht, über die der blasse Jüngling mit den bleistiftdünnen gewölbten Augenbrauen und dem sengenden Blick verfügte.
Auch ohne dass dieser Blick dem seinen begegnete, sahen diese Augen alles, nahmen alles in sich auf.
Sie begriffen, dass die Macht des Alten ihren Höhepunkt erreicht hatte und dass ihm nur eines den Seelenfrieden bringen konnte, nach dem es ihn so sehr verlangte: indem er die Leere beherrschte, die ihn erwartete, sie im tiefsten Innern bereitwillig annahm und der Struktur seiner mächtigen weltweiten Organisation einverleibte.
Dieses Nichts würde dafür sorgen, dass er nach seinem Ableben etwas zurückließ. Es wäre wie das Siegel seiner Unterschrift, das er allem aufgedrückt hatte, dem er begegnete, allen geschäftlichen Transaktionen und allen weltlichen Zusammenhängen.
Den Jüngling störte es nicht, dass er das Medium für den Transfer dieser Macht sein sollte, denn ihm persönlich bedeutete das wenig. Auf dieser Ebene war Nichts nur ein Spiel. Auf anderen Ebenen hatte es andere Auswirkungen. Es gab viele Ebenen des Nichts. Im jetzigen Stadium seiner persönlichen Entwicklung konnte der Alte dieses Wissen wohl kaum w4rdigen.
Der Jüngling verbeugte sich und brachte ein kleines, in Brokat eingeschlagenes Bündel zum Vorschein. Er hielt es mit beiden Händen hoch und legte es dann genau zwischen ihnen auf die Matte.
Der Alte saß wie versteinert da. Er wagte nicht zu zweifeln. Er hatte den Beta-Test selbst miterlebt. Mit Hilfe eines K700Downsizers von Kobayashi war aus vierhundert Kilometern Entfernung ein ganzer Felsblock mit vier Tonnen Gewicht aus dem Zen-Garten der Ryoanji digitalisiert worden. Er hatte das Bild in einer Datei abgespeichert, die er in einem Amulett an seinem Hals aufbewahrte.
Als der Beweis zum ersten Mal vor ihm lag, hatte er ihn mit einem Gefühl fast religiöser Einkehr gemustert. Für ihn hatte das Bild das volle Gewicht, Aussehen und Gepräge des großen Felsblocks, der einmal in diesem berühmten Zen-Garten vergraben gewesen war. Wenn Illusion im Spiel war, dann nur die, dass es sich einmal um einen soliden Felsen gehandelt hat. Dabei war es noch immer ein Felsen. Es hatte die Essenz eines Felsens.
Der Alte hielt den Atem an, als der Meister das Bündel auspackte. Er nahm den Zeremonienhandschuh und streifte ihn nahezu beiläufig über seine rechte Hand. Die Untertreibung war äußerst raffiniert. Dann begann der Jüngling mit einer weiteren kurzen Verbeugung die Zeremonie der virtuellen Realität: Vacharu-no-yu. Der neue Weg, der Realität zu dienen und sie auszukosten.
Für Teetraditionalisten bedeutete das natürlich eine Abweichung. Sie hinkten der Zeit hoffnungslos hinterher. Für sie konnte nichts an die Stelle der ursprünglichen Teezeremonie des Cha-no-yu treten, die der Teemeister Sen Rikyu im sechzehnten Jahrhundert festgelegt hatte.
Narren! Kein Wunder, dass Neu-Nippon wieder genau wie während der Bürgerkriege der Feudalzeit von Streit und Hader heimgesucht wurde. Was Rikyu anging, so weigerten die Traditionalisten sich ja sogar, den Meister in seiner gegenwärtigen Holokarnation anzuerkennen.
Du meine Güte! Dank eines Kobayashi-Chajin-Projektors hatte Rikyu persönlich ihn schon in ebendiesem Teeraum bedient. Diese Trottel! Was musste noch geschehen, um sie endlich davon zu überzeugen, dass die Zeiten sich wirklich geändert hatten!? Musste erst Shogun Nobunaga selbst erscheinen und ihre Köpfe fordern?
Mehrere Ebenen unter seiner Maske der Ausdruckslosigkeit grinste der Alte. Das ließ sich einrichten. Tatsächlich hatte er das sogar schon einmal getan. Ein paar feige Keiretsu-Herren konnten das bestätigen - das heißt, wenn sie noch imstande
wären, zu sprechen. Mit Hilfe der Kompressionstechnologie, die der junge Meister so fachmännisch für ihn entwickelt hatte, besaß er bereits eine ansehnliche Sammlung ihrer extrahierten Bewusstseine.
Neuronetsukes, so nannte der Alte sie scherzhaft. Gehirn-Bonsais! In einer Glasvitrine hatte er ein Dutzend Figurinen ausgestellt. Mal sehen, da gab es den Verräter Ono, der sich heimlich mit dem Fuji-Klan von Osaka gegen ihn verschworen hatte. Und dann waren da noch seine anderen Beutestücke Shigehara, Tamba und Ikeda. Hatten sie sich nicht erklärtermaßen gegen das Haus Kobayashi gestellt? Jetzt waren sie alle Teile seiner kostbaren Netsukesammlung. Wer außer ihm konnte sich in der Welt noch rühmen, für solche handgearbeiteten Gäste den Gastgeber zu spielen!
All seine früheren Feinde waren in einmalige Kunstwerke verwandelt worden. Miniaturen mit neuem Status. Der Alte kicherte bei diesem Gedanken lautlos. Tamba war jetzt ein Wildschwein, Ono seiner Unverschämtheit wegen eine Ratte und der schlüpfrige Ikeda ein Fisch, der im Netz zappelt.«
Diese exquisiten Details! Dieses Pathos! Ihnen haftete so viel Leben und Bewegung an. Sie sollten dankbar sein, dass man ihnen erlaubt hatte, aus dem Abschaum, der sie waren, in große Kunst verwandelt zu werden!
Der Alte holte tief Luft. Er sah zu, wie der junge Meister jede noch so kleine Bewegung bei der Zeremonie mit außerweltlicher Anmut ausführte. Von der Art, wie er den Handschuh benutzte, als sei er ein Kalligraph, der den Pinsel führt, bis zu der Art, wie er die Meta-ROM-Schale von ihrem Platz nahm und ehrfürchtig hochhielt.
Es war eine alte Kyocera-Keramikschale, die von holotropen Schadstellen, die braun, fast schwarz waren, nur so strotzte.
Bis auf die Schale und die Teedose, bei der es sich um eine Vakuumflasche von Hitachi handelte, waren alle Utensilien voll funktionsfähige Hologramme, vom Teelöffel bis hin zur Schöpfkelle. Sogar der Dampfkessel war ein hochverdichtetes Trugbild. Unbezahlbar!
Jetzt schöpfte der Meister eine Kelle voll Wasser und gab sie in die Schale. Er wusch den Teebesen und legte die Kelle wieder auf den Kessel zurück. Er leerte die Teeschale. Er wischte die Schale mit einem Tuch ab. Er legte das Tuch auf den Deckel des Kessels.
Endlich war der Augenblick der Wahrheit gekommen. Der Meister schraubte den Verschluss der Hitachi-Vakuumflasche ab, und das grüne Leuchten des Virus erhellte den Raum.
Unglaublich! Das war es also. Der junge Mann hatte es persönlich von der Quelle hierhergeschafft. Das Wirklichkeit gewordene Unwirkliche, seufzte der Alte, als er nachdenklich den
strahlenden Glanz betrachtete.
Der junge Mann nahm zwei Löffel voll grüner Pixel heraus und gab den Virus in die Kyocera-Schale. Er goss eine Kelle heißen Wassers in die Schale und rührte den Tee kräftig um. Dann nahm er die Teeschale in die Linke und bot sie dem Alten mit der behandschuhten Rechten dar.
Der Alte drehte die Teeschale ein wenig, hielt sie hoch und spähte aufmerksam hinein. Durch den grünen Dunst sah er die Berge und Flüsse des alten Yamato. Er sah die Virtuelle-Realität-Fabriken von Neu-Nippon und die kodierte Vision eines Volkes. Er sah ihr Streben und ihre Ängste, ihre Verbundenheit und ihre Sehnsüchte. Er sah die lange Schriftrolle ihrer Geburten und die Weihrauchwolken, die ihren Tod verschleierten. Er sah den Himmel über Neu-Nippon, grau, blau und grün, und das Wetterbild, das über die Inseln hinweg zog, ehe es sich über dem Binnenmeer auflöste.
Er sah alles, was es vom ersten Augenblick an, als die Schöpfung auf den Inseln Einzug hielt, zu sehen gab, bis zu dem Augenblick, als der Schaum des grünen Tees sie wieder in undurchdringliche Gegenwart hüllte.
Ja, undurchdringlich war stets nur die Gegenwart. Der Alte kannte diese Wahrheit schon lange und würde sie mit sich ins Grab nehmen. Fürwahr, sie war der undurchdringlichste aller Augenblicke.
Beinah hätte er geseufzt, aber das wäre angesichts dieses einzigartigen Geschenks ungebührlich gewesen. Er hielt sich die Schale vors Gesicht, atmete den Wohlgeruch der Berge und Flüsse, der Seen und Felder ein, dann trank er alles lautstark schlürfend aus, um so seine Wertschätzung auszudrücken.
Nichts hatte ihm jemals so gut geschmeckt.
Der Jüngling verneigte sich. Er gestattete dem Augenblick, wortlos zu verstreichen. Der Alte hatte Neu-Nippon in sich aufgenommen, bis in sein ureigenstes Wesen hinein. Sollte er sich doch des flüchtigen Ruhms erfreuen. Der Virus war sowieso überall, und niemand konnte ihn jetzt noch aufhalten, geschweige denn kontrollieren. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, es dem Alten gegenüber zu erwähnen. Wie hätte es ihm auch möglich sein sollen, den Umstand zu würdigen, daß es ihn gar nicht gab?
Dass es ihn niemals gegeben hatte?
Doch kehren wir für einen Augenblick zu diesem harmlosen Dualismus und zum
sprudelnden Teekessel zurück.
Jeder einzelne Augenblick ist mit jedem anderen Augenblick verbunden. Es gibt nichts, was etwas trennt. Jedes Fragment sitzt fest an jedem anderen Fragment. Raum und Zeit, Leben und Tod, alles ist so flüchtig. Digitalisiertes Nichts.
Gatay gatay paragatay parasamgsatay bodhi suaha. Fort, fort, fort ins Jenseits, fort ins Jenseits hinter dem Jenseits zur vollen Erleuchtung...
Die Feier der Virtuellen Realität fängt gerade erst an.
Möge sie also beginnen.
Arroyo
US-mexikanische Grenze,
Frühling 2027
Es war ein brütend heißer Tag; der blaue Himmel waberte grellweiß und blendend wie ein Wurm, den man mit einem Glas Meskal die Kehle hinunterspült. Der Mann mit dem Silbergesicht wartete auf der amerikanischen Seite der mexikanischen Grenze zwischen Tijuana und San Ysidoro. Er trug einen langen, lohfarbenen Wildledermantel und eine mit Pentium-Prozessoren besetzte Rastamütze.
Er musste nicht allzu lange warten. Etwa zwanzig Minuten lang hatte er den Berghang durch den Gestaltsucher beobachtet. Das Chaparral auf der mexikanischen Seite flackerte von Chi-Energiewellen. Jetzt trat die erste Person ins Freie, rasch gefolgt von fünf weiteren.
Der Jeep mit den Beamten der US-Einwanderungsbehörde hatte im Arroyo geparkt, im Trockental, dem ausgetrockneten Flussbett. Chi-Wellen wogten wie flirrende Hitzeschleier. Der Mann überprüfte das Gestaltmeter: 35 Hertz. Nicht schlecht. Er spuckte aus. Vamonos, Amigos. Es wird Zeit, dass wir weiterkommen. Hayaku.
Er erhob sich aus der Hocke, dann schlenderte er das ausgetrocknete Flussbett entlang auf die wartenden Beamten zu. Im nächsten Moment hörte er, wie der Motor des Jeeps ansprang und katzengleich schnurrte. Als die Illegalen amerikanischen Boden betraten, wurde aus dem Schnurren ein Brüllen, und die Maschine sprang aus der verborgenen Senke hervor.
Die sechs Illegalen schien das nicht zu stören. Sie gingen weiter geradezu beiläufig auf den US-Jeep zu, der sich ihnen inmitten einer gewaltigen Staubwolke näherte. Sie versuchten nicht, sich zu verstecken oder zu fliehen. Quietschend kam der Jeep zum Stehen, und das metallische Echo klang weithin durchs Flussbett. Die Illegalen standen einfach nur da und warteten.
Einige von ihnen legten ihre Säcke auf den Boden, als die beiden Beamten der Einwanderungsbehörde langsam aus dem Jeep stiegen. Der Anführer der Gruppe winkte ihnen zur Begrüßung zu. »Hola! Konichiwa!«
Einer der Beamten drehte sich um, als er sah, dass der Mann mit dem Silbergesicht hinter einem riesigen Kardonkaktus hervortrat. »Was zum...?«, setzte er an, wurde aber unterbrochen. Er erlitt mitten im Satz einen Systemausfall. Im gleichen Augenblick bemerkte auch sein Partner den Eindringling. Doch seine Anzeigen reagierten genauso langsam und wurden durch den plötzlichen Zusammenbruch außer Gefecht gesetzt.
Die Illegalen rührten sich nicht. Sie waren in der Bewegung erstarrt und bewerteten die neue Entwicklung aus ihrer Sicht. Viel Gutes würde es ihnen nicht bringen. Die Wellen waren nur für denjenigen umkehrbar, der einen Chi-Absorber trug.
Im Umkreis von fünfzig Yards knallte alles, was nicht den geeichten Parametern der Chi-Kompatibilität entsprach, durch wie eine überlastete Sicherung.
»Willkommen in den Virtuellen Staaten von Amerika«, sagte der Mann mit dem Silbergesicht und beugte sich über die gelöschten Gestalten. »Tut mir leid, dass ich euch die Party verderben musste«, fügte er im Flüsterton hinzu, als er ihre inerten CPU-Einheiten scannte. »Nur einige kleinere Formalitäten, dann lasse ich euch wieder frei.«
Das Herunterladen war schnell erfolgt, und der Puffer mit dem Antiviren-Protokoll schützte ihn dabei. Bloß für den Fall, dass sie vernetzt waren. Er überprüfte genau die Anzeige des Messgeräts. Die beiden falschen US-Beamten waren in jeder
Hinsicht von äußerst hoher Qualität, nur in einer nicht. Die Neuankömmlinge hatten ein Interface an ihrem Bewusstseinsprozessor, das ihm bisher noch nicht untergekommen war. Sehr interessant. Und einer der Illegalen war etwas Besonderes. Etwas ganz Besonderes
Er wandte sich zu einer der auf dem Boden liegenden Gestalten und drehte sie mit dem Fuß herum. Sie hatte das Gesicht eines jungen Mannes von etwa dreiundzwanzig Jahren. Kurzgeschnittenes kastanienbraunes Haar, glatter Teint, ein unschuldiger Ausdruck auf den ebenmäßigen Zügen. Der Mann mit dem Silbergesicht tastete ihn ab und brachte ein Treiberholo zum Vorschein.
Er schaltete es ein. Das Voiceprint nannte seinen Namen: Thomas Ferris. Geburtsdatum: 2. Juni 2005. Anschrift: Hollyoake Drive 1862, San Diego. Beruf: Nanopharmazeut, Western Labs. Die medizinischen Unterlagen führten seine Immunisierung auf, zuletzt welche gegen Agoraphobie, Depressionen, Gastritis und Todesangst.
Der Mann mit dem Silbergesicht grinste. Für eine Marionette hast du dir aber viel Mühe gegeben, Hombre. Trotzdem musste er die ungeheure Detailarbeit bewundern, die in den Droiden eingeflossen war. Es war ein Kobayashi aus den Neuro-Werkstätten in Todos Santos.
»In Ordnung, Mr. Ferris, schauen wir mal, ob Sie uns etwas zu sagen haben.«
Mit einem raschen Messerschnitt holte er die Box aus dem Neokortex am Hinterkopf. Während er im Staub kauerte, studierte er ein paar Augenblicke lang die Platine; seine Augen leuchteten auf.« Volltreffer, Tyrone!«, rief er erfreut aus. »Domo arigato, Mr. Sato!«
Er ließ die Platine in die Tasche seines langen Mantels gleiten. Dann nahm er eine Prise aus der Schnupftabakdose, nieste, spuckte laut aus und sah die anderen auf dem Boden liegenden Gestalten an. Da kann ich mich auch gleich über die hermachen, dachte er bei sich. Es waren ältere Modelle, für die keine große Nachfrage mehr bestand, aber wer weiß - vielleicht brachten sie ihm ja noch ein paar Extrapesos ein.
Als er mit dem Ausweiden fertig war, hatte er alle ihre Neuroplatinen. Dann ging er, wobei die Sporen an seinen Stiefeln aus Eidechsenleder klirrten.
BARDO EINS
»Du und ich, Arjuna, wir haben schon viele Leben gelebt. Ich erinnere mich an alle, du jedoch nicht.«
Bhagavadgita
Shuttle
L. A. Metro - New Narita, 2027
Als Frank Gobi durch den Metroplex von Los Angeles hetzte, um seine Mittagsmaschine nach New Narita noch zu erwischen, zeichnete seine Ray-Bans-Minikamera vor dem Duty-free-Shop eine interessante Szene auf.
Er war zu spät dran für den Flug und schon ganz außer Atem, wandte jedoch instinktiv den Kopf, um Zeuge des Austauschs von Konzernenergien zu werden! Zwei amerikanische Angestellte verbeugten sich voreinander.
»Ich wünsche Ihnen eine sichere Reise, Johnson-san«, sagte der größere im dreiteiligen Hakama-Anzug zu seinem Kollegen.
»Domo arigato, Smith-san«, entgegnete sein Freund.
Ihrem Midwestern-Akzent nach zu urteilen stammten die beiden aus Chicago. Es geschah in Sekundenschnelle, doch Gobi war sich sicher, dass er die Szene auf Band hatte. Wenn ja, dann konnte er sie bei einer seiner Vorlesungen wiederholen. Das hieß, falls er jemals wieder lehren sollte.
Etwas daran war seltsam gewesen. Er musste sich den Clip noch einmal ansehen, wenn er mehr Zeit hatte. Ihre Verbeugungen waren steif aus der Hüfte heraus erfolgt, einfach so. Die Hände, deren offene Flächen fest gegen die Schenkel gepresst waren, hatten etwas zu mechanisch gewirkt. Lag neuer Konservatismus in der Luft?
Die letzten drei Jahre hatte Frank Gobi ein Seminar über transkulturelle Konzernanthropologie und Organisationsschamanismus an der University of California in Berkeley, Zweigstelle Tokyo University, geleitet.
Seinen Studenten gefielen diese dem echten Leben entnommenen Fallstudien der neuen Geschäftskultur, die sich in der Gegend allmählich durchsetzte. Unter normalen Umständen wäre er jetzt damit beschäftigt gewesen, den Clip für eine mögliche Verwendung in der nächsten Ausgabe des interaktiven Leitfadens TransRim Customs 3.0 geistig mit Querverweisen zu versehen.
Aber im Augenblick hätte Gobi dem Ganzen nicht gleichgültiger gegenüberstehen können. Erst heute Morgen hatte ihm einer seiner Kollegen, der als Trancetherapeut in Johore Bahru in Malaysien lebte, ein paar großartige Sequenzen von Traumsimulationen überspielt. Famoses Zeug, das alle möglichen Folgen für den Ätherleib nach sich zog. Aber sein Geist - sein Shen - hatte sich daran nicht erbauen können. Wer wollte es ihm auch verdenken?
Er sah noch das Gesicht seines Sohns in der Chi-Box vor sich. Sie hatten Trevors Bewusstsein an ihn weitergeleitet. Mittlerweile dürfte er wohl wach sein und spielen. Wie spät mochte es für den Jungen gerade sein? Woher sollte er den Unterschied kennen zwischen der Erfahrung, von jeder Verbindung abgeschnitten zu sein, und der, sich gleichzeitig an zwei Orten aufzuhalten?
Für Trevor war es vermutlich ein verlängerter Urlaub. Wie alle Zehnjährigen war er ganz versessen darauf, vom Schlafen einmal abgesehen, ununterbrochen in Gametime zu leben. Sogar in seinen Träumen spielte er dort. Er hatte schon dunkle Ringe unter den Augen.
Gobi sah den blonden Haarschopf seines Sohns, mit dem Messerschnitt eines Chorknaben, und seine blauen Augen, die hell strahlten.
»Hi, Dad! Ich weiß, dass du dir wahrscheinlich echt Sorgen um mich machst, aber das brauchst du nicht. Mir geht es prima. Ich weiß, dass ich im Augenblick nicht zu dir kann. Aber das ist schon in Ordnung, ich komme ja bald heim. Ich verspreche es. Ich muss nur noch ein paar Ebenen packen, dann mache ich hier den Abgang. Du glaubst ja nicht, was für ein irres Spiel das ist, Dad! Da stürmen all diese Wahnsinnsteile auf dich ein. Dämonen, Zombies, Gdons, Oger, alle möglichen hungrigen Gespenster... So was hast du noch nicht gesehen! Ups! Ich muss jetzt Schluss machen! Das kostet mich ein Vermögen!« Er lächelte matt. »Du schuldest mir zwei Blitze, Dad! Ich liebe dich! Tschüs! Ich klinke mich aus!«
Trevor war sein einziges Kind. Gobi lebte in Scheidung. Seine Exfrau war von Beruf Künstlerin und hatte ein Atelier in den Bergen von Santa Cruz, wo sie lebte und malte. Also war er Mutter und Vater zugleich - Papi Gottheit, wie seine Exfrau ihn scherzhaft nannte. Trevor hatte ständig bei ihm gelebt. Bisher.
Jetzt lebte er online in der VR-Einheit für Heranwachsende in Alta Bates.
Eine Stimme unterbrach seine Gedanken. »Dr. Gobi? Hier entlang, bitte.« Eine Flugbegleiterin von Satori Airlines trat vor, um ihn zu begrüßen, als er den Abflugschalter erreichte. Sie lächelte verkniffen. Das Lächeln war höflich, aber sichtlich erleichtert darüber, dass er endlich eingetroffen war.
Auf dem Namensschild stand Claudia Kato. Sie war eine junge, attraktive, schwarzhaarige Japano-Amerikanerin und trug einen grünen Latex-Kimono, auf dessen Ärmel das Logo von Satori prangerte.
Zum ersten Mal an diesem Morgen erlaubte sich Gobi, sich zu entspannen. Er hatte es geschafft. Alles würde gut werden. Er musste nur Vertrauen haben. Das hier war eine Prüfung. Was sollte es sonst sein? Kummer war Balsam für die Seele. Er grinste über seinen Galgenhumor. Manchmal war Galgenhumor eine gute Therapie.
»Tut mir leid, dass ich so spät dran bin«, entschuldigte Gobi sich, während sie rasch auf den Boarding-Bereich des Shuttles zugingen. »Ich hatte einen schlechten Anschluss von San Francisco erwischt.«
Sie traten durch die Schwingtüren des Sicherheitskorridors. »Schon gut, bis zum Start bleiben uns ja noch ein paar Minuten«, sagte Claudia Kato und musterte ihn neugierig von der Seite. Sie hatte einen erheblich älteren Mann erwartet. Bei ihrem Job hatte sie es nicht allzu oft mit Gelehrten zu tun.
»Unser Bordkünstler vom Live Entertainment Channel ist auch erst vor wenigen Minuten eingetroffen. Er war in einen Stau geraten«, sagte sie in dem Bemühen, lockere Konversation zu betreiben. »Es heißt, dass dieser Butoh wirklich sehr gut sein soll. Er gehört zur dritten Generation von Living Treasure aus Seattle.«
»Ich freue mich schon auf seine Performance.« Gobi verneigte sich, während er ihr den Pass reichte. Sie standen am Eingang der Gangway, die an Bord führte. Erschütterungen brachten die Plattform wie ein Spinnennetz zum Schwingen, als die Motoren begannen, die Biobeschichtung des Shuttles aufzuwärmen.
Claudia zog die blaue Karte durch den Optosensor und gab sie ihm mit einem knappen Lächeln wieder, nachdem das Gerät bestätigend gepiepst hatte.
Einen Moment lang nahm sein Holofoto Gestalt an. Die Augen waren rote Nadelstiche auf dem Air Screen, Identifikation positiv. Sie zeigten nicht seinen Schmerz.
Noch nicht ganz fertig mit der offiziellen Eincheckprozedur, musterte Claudia Kato Gobi ein zweites Mal. Ihr Blick glitt professionell über seinen Körper und hielt gelegentlich inne, um bestimmte Stellen zu prüfen.
Es war ein Standardcheck, urteilte Gobi, während er spürte, wie sie sich auf ihn einstellte. Sehr elementar. In Berkeley brachte er seinen Erstsemestern umfassendere Techniken bei.
Trotzdem war es ein interessantes Gefühl. Sie hatte eine angenehme Art, fast als atme sie ihn von innen her an. Er erlaubte sich, das Gefühl zu genießen, von einer attraktiven Frau gescannt zu werden.
Als ihr Check weiter in die Tiefe ging, entspannte Gobi seine gesamten Muskeln.
Sie archiviert mich, dachte er und ließ sich treiben. Dr. Frank Gobi, weiß, männlich, Mitte Dreißig, zweiundachtzig Kilo, gut in Form, kräftig, kurzgeschnittenes braunes Haar, leicht gelockt. Eine gebogene Nase, die ihm das Profil eines römischen Kaisers auf einer Münze verlieh, aber ohne die Arroganz. Graue Augen, die verträumt und doch wachsam dreinschauten. Volle und sinnliche Lippen. Lachfältchen um den Mund herum, die auf ein offenes Wesen hindeuteten. Linien, die inzwischen von der Last eines schweren Herzens nach unten gezogen wurden.
Claudia hielt inne und fuhr dann mit ihrem routinemäßigen Gesichtscheck fort. Der Betreffende hatte ein feingeschnittenes Kinn, das ein Grübchen aufwies und auf Willenskraft, Hartnäckigkeit und Widerstand gegen jede Art von Obrigkeit schließen ließ.
Er lächelte wieder aufreizend. Sie lächelte zurück und stellte fest, dass seine Energie ihr eine gewisse Ruhe gab. Es verlieh ihr ein Gefühl der Entspanntheit.
Sie musterte ihn erneut. Diesmal aus persönlichem Interesse. Eindeutig ein attraktiver Mann. Ups, sie sprach sexuell auf ihn an. Halt dich besser nur an deine Pflicht, ging sie innerlich mit sich ins Gericht und setzte anschließend die offizielle Prozedur fort.
Seit sie vor sechs Monaten bei Satori Airlines angefangen hatte, war Claudia einer Sicherheitsschulung seitens der Fluggesellschaft unterzogen worden, um verschiedene körperbezogene psychosensitive Fähigkeiten aufzubauen. Es handelte sich um ein weltweit anerkanntes Seminar, das die Dale Carnegie School of Light Body Reading entwickelt hatte.
Jetzt fing sie an, Gobis Hara zu scannen. Als sie im Geist die Checkliste durchging, stellte sie fest, dass sich bei ihm der Vitalbereich im unteren Schwerpunkt des Rumpfs im Gleichgewicht mit den körperlichen, mentalen und emotionalen Energien befand.
Für einige Augenblicke verschmolzen ihre Brennpunkte. Es war fast wie... nun ja, wie ein kühles Feuer, das sie durchfuhr, bis es in ihrem Gefühlszentrum auf der Ebene des vierten Chakras der sieben größeren Energiezentren des Körpers einen warmen Energiepool bildete.
Natürlich entging Gobi nicht, dass sie sich mit seinen gesamten persönlichen - und sogar intimen - Ebenen beschäftigte. Obwohl die Maßnahme von der Federal Aviation Administration gesetzlich vorgeschrieben war, bereitete es ihm Vergnügen. So wie sich das anfühlte, stellte es für ihn eine willkommene Abwechslung dar.
»Sie sind sauber, Dr. Gobi«, sagte sie schließlich und reichte ihm mit einem Lächeln den Pass.
»Jederzeit wieder«, lächelte er zurück. »Sie haben eine angenehme Art«, schmeichelte er ihr. »Sehr zart.«
Sie errötete. »Ziehen Sie heute den vegetarischen oder den nicht-vegetarischen Bereich vor?«
Was ihn anging, so war Nahrung entschieden eine Angelegenheit des zweiten Chakras. Er hatte keinen Appetit. Aber der Flug nach Neo-Tokio dauerte drei Stunden, und wenn er dort ankam, würde er seine ganze Kraft brauchen.
»Was servieren Sie denn heute im V-Bereich?«, fragte er, von ihrem zufälligen Energieaustausch immer noch erregt.
»Mal sehen«, sagte sie sachlich, während sie versuchte, ihre Fassung wiederzuerlangen. »Wir servieren Shiitake-Pizza, Shogun-Salat mit Blaugrünalgen-Dressing... und zur Begrüßung Champagner von Domain-Suntory.«
»V-Bereich wäre mir recht.«
»Sehr gut. Übrigens, Sir«, sie hielt inne, und ihre Stimmlage wurde auf einmal um eine Nuance tiefer. »Haben Sie auch Ihr PVI-Besteck dabei? Das ist für alle Passagiere, die nach Neu-Nippon reisen, vorgeschrieben - wie Sie sicherlich wissen.«
»Natürlich«, erwiderte er. Das Psychoviren-Immunisierungsbesteck befand sich in seiner Aktentasche. Er ließ die Tasche aufschnappen und reichte ihr das versiegelte Päckchen.
»Die Vorschriften der FAA verlangen, dass wir Ihr Besteck durch den Flugantrittstester laufen lassen, um sicherzugehen, dass alle Siegel intakt sind«, intonierte sie und ließ den Kanister zur Untersuchung in eine pneumatische Röhre fallen.
Eine letzte Angelegenheit musste noch geklärt werden - für die meisten Passagiere der entnervendste Teil der Eincheckprozedur. Es brachte Claudia nach wie vor zum Frösteln, unabhängig davon, wie sehr das in den zwölf Monaten, seit das Megabeben Neu-Nippon heimgesucht hatte, auch zur normalen Routine geworden sein mochte.
»Als Passagier des Flugs 129 von Satori Airlines«, zitierte sie die Präambel der Flugbestimmungen, »erklären Sie sich damit einverstanden, auf jede wie auch immer geartete persönliche Haftung durch Satori Airlines für neuronale, psychische oder körperliche Schäden, die Ihnen vor oder nach dem Start zu Ihrem endgültigen Ziel, dem New Narita International Airport in Neu-Nippon, vielleicht entstehen könnten, zu verzichten.«
Gobi blickte direkt in die Notar-Vidkamera, die die Szene automatisch aufzeichnete. »Ich bestätige«, antwortete er leise und wandte sich ab.
Welche Rechte hatte er jetzt eigentlich noch? Die Rechte der Verdammten? Hatten Gespenster Rechte? Hatte Trevor irgendwelche Rechte? Eine düstere Wolke legte sich schwer auf sein Herz. Hatte sein Herz Rechte?
»Sie bekommen Ihr PVI-Besteck gleich nach dem Start zurück«, teilte sie ihm mit, nachdem die Laborlampe für die Freigabe aufgeleuchtet war. »Ich werde auf der Reise Ihr Flugbegleiter sein«, fügte sie hinzu.
»Sie müssen Ihren Impfstoff eine Stunde vor der Landung in New Narita nehmen. Ich werde eine spezielle Durchsage machen, um alle Passagiere daran zu erinnern, dass sie sich rechtzeitig immunisieren«, sagte sie zu ihm.
Sie reichte ihm die Bordkarte, in deren schwarzen Firnisstreifen das goldene Satori-Emblem eingeprägt war. »Hier, bitte, Dr. Gobi«, sagte sie nach Beendigung der Prozedur mit jetzt bewusst fröhlicher Stimme. »Sie fliegen in der Chrysanthemen-Klasse, Sitz 6-A. Wenn ich etwas für Sie tun kann, was Ihnen den Flug angenehmer gestaltet, dann zögern Sie nicht, mich darum zu bitten. Ich hoffe, Sie haben einen angenehmen Flug.«
»Vielen Dank«, sagte er. Aber seine Worte klangen irgendwie hohl.
Trevor hatte sich gerade im Würfel die Nachrichten angesehen, als die ersten Meldungen über das Beben eintrudelten.
»Dad! Sie sagen, dass genau das gleiche vor Millionen von Jahren auch den Dinosauriern zugestoßen ist.« Sein blasses, lernbegieriges Gesicht trug einen besorgten Ausdruck. »Verschwinden wir jetzt genauso?«
»Unsinn«, hatte Gobi gesagt. »Das ist nur eine große Wolke, nicht mehr. Wenn sie höher steigt, werden wir alles sehr viel deutlicher erkennen können. Alles wird wieder gut. Keine Sorge, mein Junge.«
Doch die Wolke war tagelang nicht gewichen. Und als sie endlich höher gestiegen war, hatte ein Meer strahlender Lichter über Neu-Nippon geschwebt, das sämtliche Satelliten blendete. Die Kommunikationsverbindungen zwischen der Inselnation und dem Rest der Welt waren ohne vorhergehende Warnung zusammengebrochen.
Innerlich erschauerte Gobi noch immer, wenn er an die darauf folgenden Wochen zurückdachte. Die Wissenschaftler und Seismopsychologen der Projektgruppe hatten präzise zusammenzusetzen versucht, was eigentlich geschehen war.
Die ersten Meldungen waren nicht sehr hilfreich gewesen und hatten nur oberflächliche Details gebracht. Klar, auf fühlbarer und messbarer Ebene hatte das Beben auf der Richter-Skala den Wert von 11,2 hervorgerufen. Aber was das genau bedeutete, davon hatte keiner einen Schimmer. Es war fast, als hätte es sich um unsichtbare 11,2 gehandelt. Man spürte sie, bekam sie aber nicht zu sehen.
Nachdem er Trevor zu Bett gebracht hatte, war Gobi noch bis in die frühen Morgenstunden aufgeblieben und hatte wie gebannt ferngesehen. Mit roten Augen verfolgte er, wie Bryan Ishimoto für PacRim 2 aus dem russischen Hafen von Wladiwostok am Japanmeer berichtete. Wladiwostok war das provisorische Hauptquartier für die Notversorgung mit Hilfsgütern, die die neue UN eingerichtet hatte.
Ishimotos Haare wehten vor dem lasererhellten Hintergrund der stürmischen See. Aufgeregte russische, japanische und englische Gesprächsfetzen waren von außerhalb des Bildausschnittes zu hören, während der Fernsehreporter auf die dunkle Weite des Wassers mit den weißen Schaumkronen deutete, die das Lichternetz des Nachrichtenteams reflektierte.
»Mehr können wir Ihnen bisher nicht mit Bestimmtheit sagen«, verkündete Ishimoto in düsterem Tonfall. »Die Seismologen bezeichnen dieses Ereignis bereits als Megabeben des Jahrhunderts. Das letzte katastrophale Erdbeben in Neu-Nippon ereignete sich vor fast hundert Jahren, 1923, und dabei starben mehr als einhunderttausend Menschen. Aber dieses neue Beben ist... nun ja, offiziell gibt man noch keinen Kommentar ab, doch hinter vorgehaltener Hand ist bereits von Formulierungen wie über jedes menschliche Fassungsvermögen hinaus und die ultimative Katastrophe die Rede, um die Ereignisse zu beschreiben.«
Ishimotos Gesicht wirkte abgezehrt, als er einen Blick auf seine Notizen warf. »Über die Abfolge der Ereignisse, die zu dem Beben geführt haben, besteht keinerlei Zweifel. Wie Sie auf Ihrer Bildschirm-Sim sehen können, hat sich genau an dieser Stelle, wie vom Netzwerk der Seismosensoren von Neu-Nippon vorhergesagt, die philippinische Meeresplatte unter die eurasische Kontinentalplatte geschoben. Dann hat sie den Rand dieser Platte nach unten gepresst und mit einer Heftigkeit, die in der Geschichte der Erdbeben bisher einzigartig ist, wieder nach oben gedrückt...«
Der Journalist hielt inne und blinzelte mit geweiteten Augen. »Bitte entschuldigen Sie«, bat er die Zuschauer. »Was wir zurzeit nicht wissen, ist die Antwort auf die Frage: Was ist aus der mächtigsten Stadt der Welt geworden? Wie war es möglich, dass sie einfach vom Angesicht der Erde verschwindet? Bisher ist keiner unserer Satelliten imstande gewesen, irgendwelche Bilder von Neo-Tokio aufzuzeichnen, geschweige denn das Ausmaß der Zerstörung in Japans Hauptstadt zu offenbaren.«
Wieder hielt Ishimoto inne und räusperte sich. Sein Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an. »Man kann es auch anders ausdrücken: Neo-Tokio wird vermisst. Wenn das verrückt klingt, sei's drum.« Er fröstelte. »Das hier ist ohne jeden Zweifel das größte Rätsel der Weltgeschichte. Bleiben Sie jetzt bitte am Apparat für die neuesten bahnbrechenden Meldungen, die PacRim 2 Ihnen bringt. Hier spricht Bryan Ishimoto, live aus Wladiwostok, dem Hauptquartier der internationalen Erdbebenhilfe für Neu-Nippon.«
Gobi schaltete auf einen anderen Sender um. Eine New-Age-Fernsehstation befragte gerade mehrere Erhabene Meister über die metaphysische Bedeutung des Megabebens. Die beiden Gäste, Beauftragte der Sender St. Germain und des Kommenden Buddhas Maitreya, schienen in dieser Sache unterschiedlicher Auffassung zu sein.
Benjamin Dream, ein ernster, weißhaariger Brite, bezeichnete das Beben als weiteres Indiz für die Auferstehung Christi, der angeblich ein noch nicht näher identifizierter pakistanischer Einwanderer mit Wohnsitz im East End von London sei. »Meister Maitreya wird erstmals öffentlich auftreten, sobald die Medienwelt ihn dazu einlädt. Dann wird er sein wahres Licht offenbaren.«
Anna Seacliffe, eine Beauftragte des Senders St. Germain mittleren Alters, neigte zu der Ansicht, das japanische Volk habe einen kollektiven Pakt geschlossen, sich aus der Außenwelt zurückzuziehen, um endlich seine noch ungelösten Rassenprobleme zu lösen.
»Das ist so eine Art karmischer Hausputz...«, sagte die kleine, dunkelhaarige Frau. Sie nestelte an einem Kristallanhänger an ihrem Hals. »Meine lieben Kinder - denn ihr seid meine Kinder -, verliert nicht das Vertrauen.«
Gobi killte die Talk-Show und wechselte wieder zur ersten Würfel-Berichterstattung. Er stieg tiefer in das Stillleben des Satelliten ein und versuchte, weitere Informationen über die Katastrophe zu bekommen.
Es geschah um 11:59 am Mittwoch, dem 2. September. Der Wetterbericht von AsiaSat hatte wolkenlosen blauen Himmel und brütende dreißig Grad in Tokios Innenstadt angekündigt. Das Bruttosozialprodukt belief sich auf 730 Milliarden, und der Nikkei-Index bewegte sich um die 60 000 Punkte. Die brandheißen neuen Wachstumsaktien waren Kyoceras neues Bioplastik. Kaiser Naruhito empfing im Kaiserpalast den neu gekrönten russischen Zar Nikolaus III. Die Keiretsu-Megahochhäuser im Geschäftsviertel von Marunouchi summten von der üblichen Aktivität. Gegen Mittag war Underground City dreißig labyrinthische Stockwerke unter der Bucht von Tokio mit 140 000 Menschen dicht bevölkert.
Dann setzte ein Knirschen und Rucken ein, und plötzlich änderte sich die Geschichte der Welt für immer.
Besonders, als Neo-Tokio drei Wochen später ohne erkennbare Anzeichen von Schäden wieder auftauchte.
Nein, diese armen Seelen haben gar nicht mitgekriegt, wie ihnen geschah, dachte Gobi, als er die düstere, halogenerleuchtete Kabine des Chrysanthemen-Decks von Shuttle MLS400 der Satori Airline betrat.
Die schräg gestellten Rotoren vibrierten, während er sich zu seinem Sitzplatz begab. Das Pendlerflugzeug würde jeden Augenblick abheben.
Gobi nickte den Passagieren, die um ihn herum saßen, entschuldigend zu. Ihre Gesichter, halb im Schatten verborgen, musterten ihn, ohne eine Spur von Neugier zu verraten. Trotz der Chakra-Snacks und Stimmungsdrinks, die man ihnen serviert hatte, während sie an Bord auf ihn warteten, hatte seine Ankunft wenig dazu beigetragen, ihre Laune zu verbessern.
Er sah sich um und bewunderte die beruhigende Ausstattung. Der beigefarbene Teppich des Innenraums, dessen Wellenmuster sich um die Befestigung der schweren schwarzen Lederdrehstühle kräuselte, ähnelte dem gerechten Sand des berühmten Ryoanji-Tempels in Kioto.
Im vorderen Bereich der Kabine gab es eine Hokusai-Welle aus blauem Neon, die dort wie das Hologramm eines Holzschnitts schwebte; auf ihr stand die Botschaft: »Bitte anschnallen. Bitte keine negativen Gedanken. Countdown bis zum Start: 02:32.«
Dankbar sank er in den tiefen Schoß des Sessels und schnallte sich an. Noch drei Stunden, dann würde er in New Narita landen.
Wie es wohl wäre, mit den Japanern, denen er in Neu-Nippon begegnete, zu sprechen? Eines war sicher, er musste sich beim Umgang mit ihnen vorsichtig verhalten. Den Reiseführern nach waren bestimmte Themen tabu. Themen wie das Beben.
»Denken Sie daran, dass Sie Kontokarten austauschen, keine Paradigmen«, hieß es in der Einleitung des Führers für Geschäftsreisende durch Neo-Tokio. Gobi fand ein Exemplar der Broschüre in einer Seitentasche seines Sitzplatzes und blätterte es durch. Ihm fiel auf, dass die Broschüre von der für Satori Airlines zuständigen Handelskammer von Neu-Nippon veröffentlicht worden war.
»Etikette bedeutet nicht länger nur soziale oder kulturelle Rücksichtnahme, sie ist auch wirtschaftlich und psychologisch von Belang«, las Gobi. »Bitte sprechen Sie mit Ihren japanischen Gastgebern nicht über das große Erdbeben von '26, und ebenso wenig mit irgendwelchen japanischen Staatsangehörigen, denen Sie auf Ihrer Reise vielleicht begegnen.«
Was dieser handlich kleine offizielle Reiseführer nicht erwähnte, war der kollektive Gedächtnisverlust, der das Bewusstsein des gesamten japanischen Volkes wie der Aschenregen eines Vulkans heimgesucht hatte.
Westliche Psychologen schrieben diese Reaktion einer allgemeinen Massenhalluzination - einer kollektiven Psychose zu, wie Dr. Henry Bollington von der Harvard Medical School im Journal der Studien über Todesnähe und außersinnliche Traumata erklärte. Gobi hatte sich den Artikel in seine Ray-Bans kopiert. Das war eine interessante Theorie. Aber sicher war er sich dessen nicht.
Diese ganze Theoretisiererei erklärte Gobis Meinung nach herzlich wenig, außer vielleicht, warum das wissenschaftliche Establishment zögerte, eine andere brauchbare Erklärung in Betracht zu ziehen. Und vor allem, wie konnte die moderne Wissenschaft die buchstäblich physikalische Veränderung der japanischen Megalopolis erklären?
Die dreihundert Stockwerke hohen Wolkenkratzer, die bis in die Stratosphäre von Neu-Nippon aufragten, waren tagsüber ferro-keramische Kolosse, doch nachts... Guter Gott! Da gab es keine Spur mehr von ihnen. Sie verschwanden ganz einfach, als seien sie zeitweise vom Rest der stofflichen Welt getrennt. Zwölf Stunden später tauchten sie dann wieder auf, kein bisschen abgenutzt, als wären es Pachinko-Kugeln, die ins Sein hinunterkugelten, wie ein Nichts mit Wertzuwachs, das man für den bescheidenen Preis des Bewusstseins am Ladentisch täglich neu erwerben kann. Jeden Tag wurde das Spiel wiederholt, und der Spieler flippte die Kugeln im Angesicht der finster dreinblickenden Maschine stets aufs Neue durch das Dickicht der Widerstände.
Gobi knipste das Mini-Videodeck auf der Sessellehne an, um den Start der über dem Landefeld schwebenden MLS-400 zu verfolgen. Das Bild der tanzenden Rotoren wirkte wie verrückte Pinselstriche auf Reispapier.
Plötzlich spürte er einen unerwarteten Druck in der Magengrube, als die optische Wiedergabe der Vibrationen seinen Körper erreichte - die Art Gefühl, die man hat, wenn man einen Expresslift zum Dach des Azabu Century City Tower hoch über den Smogbänken des Metroplex von Los Angeles nimmt.
Auf einmal prasselte grauer Regen gegen sein ovales Passagierfenster. Einige Augenblicke lang graue Wellen, die im Regen unten sichtbar wurden, der skelettartige Rumpf eines Mega-Containerschiffs von Hyundai unterwegs nach Long Beach, gefolgt von einem swuuusch! - wie kalter Atem -, das die Halogenbläschen in der Kabine zum Flackern brachte.
Eingelullt von den Vibrationen des Shuttles, wechselte Gobi in eine besinnliche Trance über und konzentrierte sich auf die diamantene Spur eines Regentropfens, der gegen das Fenster geprallt war. So lange war es noch gar nicht her. Aber andererseits behauptete man das auch von der Ewigkeit...
Wolkenhände
Im Dojo von Berkeley war das Licht ein sanft gebrochenes, nahezu gleichmäßiges Weiß.
Gerade beendeten die Schüler ihre Vai-chi-Übungen, die Bewegungen trotz der Behinderung durch die Brillen und V-Bänder an den Armen anmutig und geschmeidig. Meister Yang überwachte jeden Schüler einzeln. Er schätzte ihre Form ein, als sie ihre geschmeidigen Bewegungen vollzogen. Gobi beschrieb Wolkenhände.
»Bewege dich langsamer, atme mit der sanften Brise, verschmelze mit der Natur zu einem heilenden Rhythmus«, hörte er Meister Yangs Ermutigung. »Kopf, Schulter, Arme, Rumpf, Beine und Füße bewegen sich als Einheit, beständig, ruhig und friedlich, als würdest du in einem neuen, allumfassenden Element schwimmen, zu einer anderen Zeit, in einem anderen Raum...«
Gobi befand sich auf dem Anwesen der Familie Yang in Shanghai mit den karmesinroten Säulen und Dachschiefern, und während die Drachen der Kinder hoch oben am Himmel zuckten und dahinstoben, strahlte die Sonne auf ihn herab. Meister Yang trat vor, um ihn zu korrigieren. Es fühlte sich an, als habe der Sifu ihn tatsächlich berührt. Er korrigierte den Winkel von Gobis Armen und Händen, während er die Wolkenreise vor seinem Hals und dem Bereich zwischen Magen und Unterleib beschrieb.
»Schon viel besser, mein Sohn«, sagte Meister Yang und lächelte durch den kargen weißen Bart hindurch, während er in seinem schwarzen, hauchdünnen Seidengewand wieder zurücktrat. »Du machst große Fortschritte.«
Gobi schloss die letzten Bewegungen ab und spähte nach der Zeit im unteren Feld seines linken Brillenglases. 13:58. Nach virtueller Zeit nahte die Stunde des Tigers. Sie befanden sich im Shanghai des Jahres 1932, in den letzten Lebensjahren des legendären Tai-Chi-Meisters Yang Chen-fu. Nie hatte es einen größeren Lehrer gegeben.
Der Unterricht war jetzt vorbei. Mit an die Brust gepressten Fäusten verbeugte sich Gobi vor dem VR-Bild des Sifu, dann zog er sich die Brille vom Kopf, ehe die Produktionsdaten über den Abspann flimmerten.
Auch die anderen Schüler legten ihre Brillen ab, und auf einmal wurde die Gruppe von Shanghai nach Berkeley ins Vai-chi-Dojo des Jahres 2027 versetzt. Gobi blinzelte noch, als er den kleinen, rundlichen Mann mit dem weiß durchwobenen braunen Bart erkannte, der schwerfällig auf ihn zukam. Das war Hans Ulbricht, einer seiner Freunde, der neue Physiker im Lawrence-Livermore-Labor.
»Ah, Frank, wie geht's?«, fragte der Wissenschaftler munter. »Ich fürchte, ich kriege diese Wolken immer noch nicht richtig hin. Vom Goldenen Hahn auf einem Bein ganz zu schweigen! Ich werd's nie schaffen, auf einem Bein zu stehen. Hast du schon zu Mittag gegessen? Ehrlich gesagt, ich verhungere! Melissa hat mich wieder auf Diät gesetzt. Hättest du Lust, mir bei einem Dim-sum Gesellschaft zu leisten? Ich weiß, es ist schon spät, aber bis zum nächsten Seminar habe ich noch etwas Zeit.«
Frank Gobi lächelte. Er mochte Hans. Er mochte seinen derben Humor und seine Gabe, das große Ganze zu sehen, sogar dann noch, wenn es über ihm zusammenzubrechen drohte. Hans glaubte an Veränderungen, und wenn die Veränderung auf sich warten ließ, nun ja, dann half er in seinem Labor eben etwas nach. Er hatte die meisten seiner Mitwissenschaftler hinter sich gelassen, die noch immer neue Fraktale ins Leben riefen, mit denen sie die Post-Fadentheorie der Materie beschrieben. Hans war entschieden ein Mensch, bei dem der Geist einen höheren Stellenwert als das Atom einnahm.
»Ich werde zaghaft mitknuspern, nur um dir Gesellschaft zu leisten«, grinste Gobi, als sie in einen gemeinsamen Schritt verfielen.
»Gut, gut«, stimmte Hans barsch zu. »Alles in Butter? Und Trevor, wie geht's dem Jungen?«
»Prima«, erwiderte Gobi. »Uns geht es so gut wie möglich. Das ist schon eine irre Welt.«
»Ja«, brummte Hans. »Ist es. Wer weiß schon, wie man aus alledem Sinn machen soll?« Er schüttelte den Kopf. »Je mehr wir über sie herausfinden, desto verwirrter werden wir, nicht klüger.«
Schweigend gingen sie vom Dojo auf dem Campus zur Telegraph Avenue. Gobi schob sein Fahrrad neben sich her, bis sie das Great-Shanghai-Iron-&-Steelworks-Restaurant erreichten, in dem vegetarische Dim-sums serviert wurden. Es war ein Stammlokal der Studenten.
»Tja«, sagte Hans, während er Gobi einen Jasmintee einschenkte. »Erst die Sache mit Neo-Tokio und jetzt das.«
Er nickte in Richtung Wandwürfel, der die neuesten Nachrichten über den Sender-Emmanuel-Zwischenfall zusammenfasste, den man inzwischen auch als der Welt erste Virtuelle-Realität-Katastrophe online bezeichnete.
Gobi warf einen kurzen Blick zum Würfel. Er hatte die Clips schon gestern Abend gesehen und heute Morgen noch einmal und hatte darüber gebrütet. Er sah das mittlerweile vertraute Gesicht von Patrick Bruce mit seinen glänzenden blonden Dread-Troden, der ein Rasta-Navaho-Gebet aufsagte, während er seine Jünger in den Jordan führte. Viele hielten Patrick Bruce für den Papst der VR, ein Titel, den ihm die Zeitschrift Popular Karma verliehen hatte. Geschätzte 80.000 Trodenköpfe waren ihm zum Tele-Tunken nach Zion gefolgt, mit der höchsten Einschaltquote aller Zeiten. Es war eine Massenimmersionstaufe des Wahren Lichts.
»Hinter mir ist alles schön, vor mir ist alles schön, unter mir ist alles schön, über mir ist alles schön, um mich herum ist alles schön, denn Ich-und-Ich haben sich gefunden und alles ist schön«, hatte Bruce am vorigen Abend zur Eröffnung der VR-Online-Taufe gesungen.
Gegen Ende der Nacht waren im ganzen Land einhundertdreiundneunzig Menschen durch außergewöhnliche Unfälle ums Leben gekommen. Einige waren an Stromschlag gestorben, während andere sich die Troden um den Hals geschlungen und sich im Begeisterungstaumel erdrosselt hatten. Darüber hinaus waren siebenundachtzig Gehirntote zu verzeichnen gewesen, deren Systeme die Verbindung zum Sender Emmanuel verloren hatten und deren Bewusstseine irgendwo in der Datenflut von Großrechnern in Salt Lake City, Minneapolis und Albuquerque verlorengegangen waren.
Nachdem das Engel-Gabriel-Suchprogramm der Sekte die verschollenen Bewusstseine an keinem der bekannten Netzknoten mehr hatte auffinden können, hatte Patrick Bruce erklärt, dass Jah sie zu sich genommen habe und sie jetzt an Marleys Busen ruhten.
Hans schüttelte traurig den Kopf. »Was für eine Tragödie! Und dennoch«, er seufzte, »so ein Unfall war vorauszusehen. Aber das ist nichts im Vergleich mit Neo-Tokio. Die Lage dort, mein Freund, ist gefährlicher als alles, was du dir überhaupt vorstellen kannst.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Gobi, während Hans von einem in Sojasauce getunkten Pilz-Shu-mai abbiss.
»Stadtentmaterialisierung, altes Haus, ist das definitive Phänomen unserer Zeit. Was Sender Emmanuel angeht, so ist das eine bedauerliche Verirrung. Fehlgeleitete Neurotechnologie. Aber eine ganze Stadt, die Woche für Woche einmal am Tag für zwölf Stunden verschwindet?«
»Was, glaubst du, geschieht da drüben, Hans?«, fragte Gobi ruhig und legte seine Stäbchen zur Seite. Er kämpfte gegen ein Gefühl der Hilflosigkeit an. Wenn er nicht aufpasste, konnte das leicht zu Depressionen führen. Das griff inzwischen ganz schön um sich. Den Neo-Tokio-Schnupfen nannten es die Medien. Vielleicht wurde es ja allmählich Zeit für eine Wiederholungsimpfung.
»Frag mich bloß nicht, wohin sich Neo-Tokio verkrümelt hat, okay?« Er gestikulierte. »Zum Einkaufen gegangen. Ins Kino. Es macht Urlaub. Ich habe keinen Schimmer. Ist mir auch egal. Tatsache ist, dass es von sieben Uhr nachmittags bis ungefähr sieben Uhr früh verschwindet. Was gibt's sonst schon Neues?« Er zuckte mit den Achseln.
»Wie kannst du sicher sein, dass Neo-Tokio wirklich irgendwohin verschwindet?« Gobi übte Druck aus. Da, er war das lastende Gefühl auf seiner Brust los. »Was ist, wenn wir und nicht sie den Verschwindibus machen?«
»Frank, Frank.« Hans tätschelte sachte Gobis Hand, ein Stück Tomales-Bay-Pilz zwischen den Zähnen. »Spiel nicht den
Stammtischschamanen, okay? Hör einfach auf die Fakten. Hier ist nicht bloß physikalischer Raum betroffen, das ist offensichtlich, Es geht auch um Zeit, Keine unserer Infrarotsonden kann Neo-Tokio zur Zauberstunde durchdringen. Aber wir konnten den exakten Augenblick - die präzise Nano-Nanosekunde - messen, in dem die Stadt sich auflöst und in dem sie zwölf Stunden später erneut auftaucht.«
»Was heißt das nun wieder?«
Hans sammelte seine Gedanken und fuhr dann fort: »Unsere supertollen, affenscharfen Instrumente am Himmel über Neu-Nippon können uns nur eines mit einem bestimmten Grad an Sicherheit sagen, nämlich dass es eine allmähliche Transduktion der Frequenzsignale gibt, die vom niedrigsten bis zum höchsten Potential reicht,»
»Und was heißt das genau? Bitte in Glückskekssprache,»
Hans blinzelte Gobi kurz an. »Es heißt genau das.« Er runzelte die Stirn. »Den Daten nach, die wir empfangen, scheint Neo-Tokio sich auf atomarer und subzellularer Ebene im Fluss zu befinden, vielleicht durch das Erdbeben ausgelöst. Den Grund dafür kennen wir nicht. Das ist das große Geheimnis, okay? Man könnte den Zustand, in dem sich die Stadt befindet, als einen der beschleunigten Umwandlung in eine andere Energiematrix bezeichnen. Zieht man das Pribram-Modell zu Rate...«
»Karl Pribram? Das Gehirn als Hologramm?«
Hans beugte sich vor und kniff Gobi liebevoll in die Wange. »Du hast ja doch noch einen Funken Wahrnehmungsvermögen übrig. Ja, Karl Pribram, ein simpler Neurochirurg aus Stanford, der dort weitergemacht hat, wo die Einstein'sche Relativität endete.«
Hans räusperte sich und fing an zu zitieren: »Unser Gehirn erschafft auf mathematischem Weg konkrete Realität, indem es Frequenzen aus einer anderen Dimension interpretiert...«
»...einem Reich der bedeutungsvollen, ursprünglichen Realitätsstruktur, die Raum und Zeit transzendiert«, unterbrach Gobi Hans und beendete das berühmte Theorem, das jeder schon in der Schule lernte.
»Berühmte letzte Worte, stimmt's?« Hans lachte. »Besonders wenn man an unsere heutigen Vorstellungen von Realität denkt, hm? Schau nur, wohin sie uns gebracht haben. Tarowurzel gefällig?«
»Das Gehirn ist ein Hologramm, das ein holographisches Universum ausdeutet«, dachte Gobi laut nach.
»War er nicht ein Genie? Ist doch genial«, sagte Hans zustimmend und wischte sich mit einem kleinen Tuch übers breite, gerötete Gesicht.
»Und wo kommt da die Zeit ins Spiel?«, forderte Gobi seinen Freund heraus.
»Genau. Wo kommt die Zeit ins Spiel«, erwiderte Hans, während er sein Zeiteisen aus der Westentasche zog und draufschaute. »Also, ich muss in zwanzig Minuten ein Seminar abhalten. Wie steht's mit dir?«
Gobi seufzte. Beide Männer spürten, dass dem Gespräch etwas Seltsames anhaftete. Sie teilten den Augenblick, und so war ihnen bewusst, dass dieses Seltsame durchaus dazugehörte. Es wurde langsam zum Status quo, dass das Unbekannte in ihrem Leben zu etwas Vertrautem wurde.
»Seltsam«, sprach Gobi es laut aus, während Hans seine Gedanken las und grinste. Er nickte begeistert.
»Ja, Zeit ist nur eine weitere Illusion, mein Freund. Wusstest du, dass es in Papua-Neuguinea einen primitiven Stamm gibt sie haben gerade erst die Credit Chips entdeckt -, der glaubt, dass das Universum schon vor Millionen von Jahren geendet
hat? All dies«, Hans deutete vage im Raum umher, »ist bloß der Fallout, der Staub, der sich nach der Apokalypse setzt.«
Er beugte sich verschwörerisch zu Gobi vor. »Sag mir eines, Frank. Du kannst ehrlich zu mir sein. Du bist doch ein Top-Experte in Traumzeit-Technologie. Vielleicht gibt es die Zeit ja gar nicht - oder aber es gibt sie und sie existiert gleichzeitig, das heißt: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind alle parallel zueinander auf getrennten Spuren untergebracht. Dann springt Neo-Tokio vielleicht nur von Spur 1 zu Spur 100 oder an einen Ort, von dem wir bloß nichts wissen...«
Gobi fragte seinen Freund sanft: »Was willst du damit sagen, Hans?«
Hans blinzelte ihm pfiffig zu. »Glaubst du an Wiedergeburt? Sei ehrlich.«
Gobi wich der Frage aus. »Keine Ahnung. Aber an geistige Fehlgeburten glaube ich ganz entschieden. Du bist das beste Beispiel!« Er lachte.
»Arbeitest du zurzeit nicht darüber - über Wiedergeburt, Reinkarnation? Eh?«
Frank Gobi sah auf, ohne zu antworten.
»Es spricht sich manches herum, Frank«, sagte Hans, zerknüllte die Serviette auf dem Tisch und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Ich bin mir nicht sicher, worauf du abzielst«, erwiderte Gobi vorsichtig.
»Schon okay, wenn du nicht darüber reden willst.« Wieder grinste Hans ihn an. »Melissa meint, du verbringst viel Zeit im Arboretum.«
Gobis Augenlider zuckten kaum merklich, aber seine Miene blieb ausdruckslos.
»Jetzt kipp nicht gleich aus den Latschen«, piesackte Hans ihn. »Melissa ist im Vorstand. Sie ist meine Frau, Frank, sie vertraut mir.«
Plötzlich rötete sich Hans' Gesicht vor Verlegenheit. »Ach, tut mir leid. Ich wollte dir nicht nachspionieren. Ich hätte es besser wissen müssen. Du darfst ja nicht über deine Arbeit reden. Schon klar. Vergiss, dass ich es jemals erwähnt habe, okay?«
»Keine Sorge, Hans, da gibt's gar nichts zu bereden.« Gobi schüttelte den Kopf. »Ehrlich. Und das kannst du auch Melissa sagen.«
»Ja«, meinte Hans und erhob sich. »Klar, ich sag's ihr.«
Draußen in der Telegraph Avenue, wo Hans und Gobi sich trennten, wuselten Uni-Studenten wie Kaulquappen über die Gehwege, und die Vögel auf den grün belaubten Bäumen waren ungewöhnlich still.
Gobi sah sich das eine Weile an. Er spürte dieses Seltsame noch immer. Er eilte die Straße hinunter zu Moes Buchladen, wo er sein Fahrrad angekettet hatte. Das Gefühl verfolgte ihn wie ein unsichtbarer Schatten.
Fahrrad-Karma
Gobi spürte den Wind in den Haaren, als er über den Campus radelte und dabei vorsichtig Studenten auswich, die auf dem Gehweg umher mäanderten. Sender Emmanuel, Neo-Tokio, ganz gleich, wohin mich die nächste Spiraldrehung auch führt... mit der Welt wird es weitergehen. Wenigstens war es auf die eine oder andere Weise immer so. Oder nicht?
Das Sonnenlicht hatte inzwischen einen warmen, schläfrigen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Alexander Besher/Apex-Verlag/Published by arrangement with Waterside Productions Inc., Cardiff-By-The-Sea, CA 92007 USA/Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Zasu Menil.
Übersetzung: Michael Nagula (OT: Rim).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 18.12.2016
ISBN: 978-3-7396-8929-6
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