Tochter des Sturms
Written by
F.G.W. Hirschmann
Mit Tränen in den Augen wachte Mara auf. Es war noch nicht einmal Mitternacht. „Ein Alptraum?“, dachte Mara während sie etwas Holz in ein kleines Feuer legte.
Sie war die letzte Überlebende des Massakers an ihren geliebten Clan, den Corin. So etwas hatte es zu ihren Lebzeiten nicht gegeben. Siebzehn Sommer voller Glück und Zufriedenheit, und nun das…
In Maras Kopf spielten sich die grausamen Szenen immer und immer wieder ab. Ihr Vater Valnar, Oberhaupt der Corin und einer der angesehensten Männern der Ebene von Ramathin, war gerade mit der Herdwache, seiner persönlichen Leibgarde, von der täglichen Jagd zurückgekehrt. Mehrere erlegte Hirsche wurden in den geschäftigen Treld gebracht. Man war gerade damit beschäftigt, die Beute zu zerlegen, als das Geräusch von aufeinander schlagenden Klingen das gesamte Lager in Aufruhr versetzte. Völlig unvorbereitet, versuchten die Männer ihre Ausrüstung anzulegen. Nur die Herdwache war im Besitz ihrer vollen Bewaffnung. Doch der Schnelligkeit und der Präzision der gegnerischen Bogenschützen konnten sie nichts entgegensetzen. Einer nach dem Anderen ging zu Boden. Schließlich standen nur noch Valnar und sein Wertain mit blutverschmierten Häuptern und versuchten verzweifelt, ihre Familien zu beschützen. Als Valnars Kopf auf dem Boden aufschlug, wollte sich sein Sohn und Wertain – Coren – ergeben, aber der Gegner kannte keine Gnade. Auch er wurde hingerichtet. Niemand wurde verschont. Die gefallenen Verteidiger wurden kurzerhand gekreuzigt. Die geschändeten Leichen der Frauen warfen die Mörder auf einen Haufen und verbrannten sie.
Mara war gerade auf der Suche nach frischen Kräutern, als sie in der Ferne den Rauch bemerkte. Sie wusste, dass in dieser Richtung ihre Heimat lag. Ungewollt erschallte ihre Stimme die im ganzen Tal zu hören war. „Oh Nein!“ schrie sie mit tränenden Augen. Sie ließ alles stehen und liegen und rannte nach Hause. Endlich war sie wieder im Treld. Was sie dort sah, konnte Mara nicht glauben. Kein Einziger hatte überlebt, nicht einmal ihr Vater. Als sie sich doch überwunden hatte, begrub sie ihre Familie in der Gruft ihrer Vorfahren. Sie musste von hier weg – so weit wie möglich. Leicht bepackt und in den Klamotten ihres Bruders, die um einiges bequemer als ihre eigenen, machte Mara sich auf den Weg ins Ungewisse.
Ihre zerrissenen Klamotten waren immer noch nicht vom letzten Fußmarsch in der Sommersonne getrocknet. Sie suchte die letzen Reste ihres Proviants zusammen – einen halben Laib Brot, etwas Käse und einen Beutel Wasser und steckte ihren Dolch in den Stiefel. Als die junge Frau ihre Vorbereitungen abgeschlossen hatte, zwang sie sich trotz den unerträglichen Schmerzen in ihrem verletzten Bein zum Weiterlaufen. Jeder Schritt war eine Qual.
Als Mara sich etwas an die Schmerzen gewöhnt hatte, wurde ihr bewusst, dass ihr Wasservorrat nicht ewig halten würde. Sie musste einen Flusslauf oder zumindest eine Wasserstelle finden – so bald wie möglich. Nach ein paar Stunden im sengenden Tal der Steppe konnte Mara erste Ausläufer des Donnerzahngebirges erspähen. Dieses war durch den gespaltenen Berg in der Mitte nach leicht von den übrigen Gebirgsketten auseinanderzuhalten.
Dieser anmutige, starke Berg war einst Schauplatz einer gewaltigen Schlacht der Urväter der Klane um Land, Macht und Einfluss. Als schließlich deren Allvater durch seinen Zorn den Berg mit einen einzigen Hieb seiner Schwertschneide in zwei schlug um den Krieg zu beenden. Von nun an war dieses Urgestein des Landes als Donnerzahn bekannt.
In der Mitte bildete sich im Laufe der Jahrhunderte ein riesiger See. Dessen war sich Mara bewusst. Mit neu gewonnener Kraft machte sie sich auf den Weg. Sie wollte unbedingt vor Anbruch der Dunkelheit ihr Lager Aufgeschlagen haben. Dies war jedoch nur möglich, wenn das Mädchen abseits der sicheren Wege und ohne Pause laufen würde.
Nach schier endlosen Stunden hatte sie endlich den Fuß des Donnerzahns erreicht. Sie wäre früher da gewesen, wäre Mara sich nicht bei den kleinsten Geräusch stehen geblieben, um sicher zu gehen, dass sie nicht verfolgt wurde. An einer kleinen Wasserstelle, die vom letzen Niederschlag noch erhalten war, konnte Mara ihr Nachtlager aufschlagen; sie würde am nächsten Morgen den Berg erklimmen…
Unsanft wurde Mara vom Heulen einiger Wölfe geweckt. „Wieder dieser schreckliche Traum“, flüsterte sie in sich hinein, „Wie lange wird es wohl noch dauern, bis ich endlich wieder ruhig schlafen kann?“ Müde machte sich Mara auf den Weg zum See.
Zwischen bewaldeten Abhängen schlängelte sich ein kleiner Trampelpfad bis nach oben. Es schien natürlich leichter, als Mara angenommen hatte. Die Schmerzen wurden unerträglicher je näher sie dem See kam. Urplötzlich und ohne Vorwarnung sprang ein Junger Wolf auf sie zu. Mara reagierte instinktiv. Sie zog ihren Dolch und traf den Wolf in der Brust, der regungslos zu Boden fiel. Sie musste Schutz suchen, da das Rudel wahrscheinlich in der Nähe war. Aber zu ihrem großen Erstaunen stellte sie fest, dass dieser hier wohl von seinem Rudel getrennt worden war. Sie nahm ihren Mut zusammen und ging weiter.
Nach einer Weile wurde Mara gedankenlos und somit ein leichtes Ziel für Raubtiere. „Hilf mir!“, ertönte eine fremdartige Stimme in ihren Kopf. Zuerst ignorierte Mara dies. Dann noch einmal: „Bitte, hilf mir! Ich brauche deine Hilfe!“ Mara war wie versteinert. „Das kann keine Einbildung sein.“ Dachte sie. „Nein, das ich bin keine Einbildung, ich stecke in einem Schlammloch unweit deines Aufenthaltsortes fest und hier sind überall Wölfe, bitte hilf mir!“
Mara fasste all ihren Mut zusammen und folgte der Stimme. Sie sah ein riesiges schwarzes Pferd, das verzweifelt versuchte, aus seiner Falle zu entkommen. Überall waren Wölfe, die versuchen an ihre Beute heran zu kommen. „Na los, verschwindet!“ schrie Mara wie eine wild gewordene Furie. Doch das konnte das Rudel nicht von seinem eigentlichen Ziel abbringen. Ihre Hand glitt wie von selbst an den Griff ihrer Waffe. Sie stürmte auf einen der Wölfe los. Das Tier bemerkte es zu spät; schon fiel der Angreifer mit lautem Geheul zu Boden. Doch diese Tat weckte das Interesse des restlichen Rudels. Nun musste Mara zur gleichen Zeit auf sich und das Pferd aufpassen. „Los, verteidige dich! Ich kann auf mich selbst aufpassen!“ ertönte wieder diese seltsame Stimme. „Wie du willst, aber pass auf dich auf.“ dachte Mara, der inzwischen klar wurde das die Stimme, die sie ständig hörte, von diesem anmutigen schwarzen Pferd kam.
Dann wurde es Mara klar. Der weiße Blitz an der rechten Schulter des Tieres war ein eindeutiges Zeichen für den Stammbaum der Mehârî. Diese Tiere sind die Nachkommen des legendären Mehâr.
Mehâr war der Begleiter von Ragnar, dem Kriegshelden des ersten Zeitalters. Damals verteidigten sie die Ebene von Ramathin vor den Turischen Invasoren. Nach einer lang andauernden Schlacht zog sich Ragnar mit seiner Gattin ins Exil zurück. Ihre Söhne verteilten sich über die gesamte Ebene und gründeten die heute bekannten Clans. Rangar musste nach Jahren des Friedens das Ableben seiner geliebten Frau mit ansehen, da er nicht alterte. Nun hatte er nur noch Mehâr, seinen ältesten und besten Freund. Er war schon von Natur aus sehr intelligent und weise. Doch Ragnar war dem Schweigen leid, und so nutzte er seine magischen Kräfte, um Mehâr die Künste der sprachlosen Kommunikation – auch bekannt als Telepathie – zu lehren. Ragnar hatte endlich wieder Gesellschaft.
„Wie ist Das möglich?“, fragte Mara, „Ich dachte, eure Rasse sei längst verschwunden.“ „Dafür ist jetzt keine Zeit! Achte lieber auf die Wölfe!“ Die hatte Mara in ihrer Verwunderung total vergessen. „Verschwindet!“ rief sie noch einmal, als sie ihre Gedanken gesammelt hatte, „Na los! Haut ab!“ Plötzlich spürte Mara, wie ihr wärmer wurde. Ein unheimliches blaues Flimmern durchfuhr ihren Körper. Sie war vollkommen von dieser Energie eingehüllt. Langsam glitt das Licht in die Klinge des Dolches, wessen Mara noch in ihrer Hand hielt. Das Licht formte sich zu einer Art Schwertschneide. Zu Maras Erstaunen wog die Waffe nicht mehr als zuvor. „Was geschieht hier?“ „Hab keine Angst, es wird dir nichts tun. Benutze diese Macht gegen unsere Jäger!“ Sie stürmte mit blindem Vertrauen auf den am nächsten stehenden Wolf zu und durchbohrte seinen Körper. Sofort verbrannte der Wolf in denselben Flammen, die auch Mara eben umgaben. Mara schreckte einen Schritt zurück. „Wirf deinen Dolch!“ befahl das Mehârî. Die junge Frau folgte aufs Wort. Mit beiden Händen schleuderte sie den Dolch in Richtung des verbliebenen Angreifers. Der Wolf verschwand in einem Meer aus blauen Flammen, als der Dolch in traf. Als das Feuer erloschen war, wurde Mara schwarz vor Augen. Sie verlor das Bewusstsein.
„Wach auf, bitte!“, sprach das Mehârî in Maras Kopf, „Könntest du mir hier raus helfen?“ Mara bekam langsam einemklaren Blick, doch ihr Kopf schmerzte wie nach einer ausgelassenen Feier. „War das ein Traum?“ fragte sie sich. „Nein, ich stecke immer noch im Schlamm fest! Bitte hilf mir!“ Als Mara klar wurde, dass sie nur ohnmächtig war, suchte sie eine Möglichkeit, das Pferd zu befreien. Glücklicherweise war das Tier nicht allzu weit vom Ufer entfernt. Mara suchte das Ufer nach einem langen Stock ab, mit den sie das Mehârî herausziehen würde. Sie fand einen frischen Buchenast. „Dieser hier muss genügen.“ „Das hoffe ich.“ Antwortete es. Mara hielt dem schwarzen Pferd den Ast entgegen. Als sich es im Ast festgebissen hatte, zog Mara mit viel Kraft und zugleich vorsichtig an, um das Tier nicht zu verletzen. Doch es konnte sich trotz ihrer Hilfe noch nicht bewegen. Mara schlug vor: „ich werde versuchen, den Schlamm von deinen Läufen zu entfernen.“ Das Mehârî antwortete mit einem kurzen wiehern. Mit dem abgebrochenen Ast grub Mara eine Schneiße in den Schlamm, um die Beine zu erreichen. Als sie einen großen Teil des Schlamms auf die Seite geschoben hatte, kam der bis eben noch im Schlamm versteckte Bauch des Pferdes zum Vorschein. „Es tut mir leid, ich hätte es dir sagen sollen. Ich wollte dich nicht noch mehr verunsichern.“ „Schon in Ordnung. Zunächst müssen wir zusehen, dass du aus dieser Falle entkommst.“, antwortete Mara, „Halte dich noch einmal am Ast fest, ich versuche dich heraus zu ziehen.“ Gesagt, getan. Mit den letzten Reserven konnte sich das Mehârî mit ihrer Hilfe befreien.
„Ich danke dir, Mara. Ich bin dir heilfroh, dass du mich aus dieser Todesfalle gerettet hast. Ich bin übrigens Tarja.“ „Woher weißt du meinen Namen?“ fragte Mara erstaunt. „Ich weiß vieles über dich. Du bist wie ich ein Wesen magischer Abstammung. Ich habe es gespürt, als du dich den Wölfen entgegengestellt hast.“
Tag der Veröffentlichung: 20.01.2015
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