In meinen Augen bist du immer noch der, der du früher einmal warst. Ein normaler Junge, freundlich, aufgeschlossen. Verliebt. Ohne ein Herz aus Stein, mit einem echten Lächeln auf dem Lippen. So wunderschön, dass man dich für eine Einbildung hält, wenn man dich das erste Mal sieht.
Und während sich die anderen schon lange von dir abgewandt und dich vergessen haben, denke ich noch oft an dich, an die gemeinsame Zeit, die wir hatten, bevor du zu dem wurdest, was du jetzt vorgibst zu sein: Ein Mörder, der anderen Menschen ohne Skrupel das Leben raubt, sie so lange quält, bis sie um den Tod bitten. Denn ich weiß, dass du anders bist und dass du keine Wahl hattest, dass du das alles nur getan hast, um mich zu beschützen.
Ich habe diese Meinung bis heute nicht geändert, bis jetzt nicht, wo du mit einem Messer ein paar Meter vor mir entfernt stehst. Über uns leuchtet das echte Licht der Sterne, unter uns das künstliche Licht der Stadt. Wir befinden uns an der Grenze zur kalten Wirklichkeit und hoffnungsloser Träumerei, aber das bemerkst du nicht, weil du nur auf mich fixiert bist.
In der Klinge deines Messer spiegelt sich der Vollmond. Wunderschön und magisch. Er wird heute der einzige Zuschauer sein, der Einzige, der sehen wird, wie du mir die Klinge immer und immer wieder in meinen Körper rammst, bis das Leben aus mir herausgeflossen ist und ich rücklings über die Brüstung des Hochhauses in die kalte Wirklichkeit kippe.
Ich will dir das alles so gerne sagen, aber über meine Lippen kommt kein Wort. Vielleicht ist es besser jetzt zu schweigen und die Stille zu genießen. Ein letztes Mal, einen letzten Moment mit dir.
Und danach der Tod.
Du kommst immer näher, die Spitze der Klinge ist direkt auf mein Herz gerichtet. Und immer noch bist du für mich kein Mörder. Denn da sind immer noch deine Augen, in ihnen dieser verzweifelte Ausdruck, der sagt, dass ich dir helfen soll, denn du kannst nicht anders. Du wirst mich töten, auch wenn du es nicht willst. Ich weiß das.
Und ich werde es dir leichter machen. Weil du für mich noch immer der Selbe bist.
Es spielt keine Rolle, warum und wen du tötest. Ich werde dich immer lieben, auch wenn du mein Verderben bist. Ich mache einen Schritt zurück. Obwohl du wusstest, dass ich das machen würde, formen sich deine Lippen zu einem Schrei, als ich wie eine Puppe über die Brüstung kippe und in die kalte Wirklichkeit zurück falle, die mir leise Zuflüstert das ich gleich tot sein werde.
Der Aufprall kommt schnell.
Kaum, dass ein letztes Lächeln im Wind verschwunden ist, lande ich hart in dem Frontfenster eines Autos. In mir zieht sich alles zusammen, der Schmerz, der mich durchzuckt, ist so mächtig, dass ich allmählich den Hang zur Wirklichkeit verliere. Das Leben rinnt aus mir heraus, genauso wie du es wolltest. Meine Augen verlieren ihr Licht, nur ein letzter Blick wird mir noch gewährt.
Ein letzter Blick, den ich dir schenke, wie du über der Brüstung hängst und nach unten starrst, deine Haare wehen im Wind. Ich schließe die Augen und gebe mich meinen letzen Gedanken hin.
Ein letzter Satz streicht mir über die Lippen, acht letzte Worte, die sich in der kalten Nachtluft verlieren.
Ich wusste doch, dass du kein Mörder bist...
Tag der Veröffentlichung: 30.03.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme diese Geschichte jedem, der sich angesprochen fühlt.
Alle Rechte liegen bei der Autorin.
Also bei mir.