Hoch auf einem Hügel in einem verzauberten Garten, umgeben von hohen Mauern und geschützt durch starke Magie, sprudelte der Brunnen des waren Glücks.
Einmal im Jahr, am längsten Tag, zwischen der Stunde des Sonnenaufgangs und der des Sonnenuntergangs, bekam ein einziger Unglücklicher die Möglichkeit, sich bis zu dem Brunnen durchzukämpfen, in seinem Wasser zu baden und für immer wahres Glück zu empfangen.
Am festgesetzten Tag reisten Hunderte von Menschen aus dem ganzen Königreich herbei, um noch von der Morgendämmerung zu den Mauern des Gartens zu gelangen. Männer und Frauen, Reich und Arm, Jung und Alt, mit magischer Kraft und ohne, alle versammelten sich in der Dunkelheit, ein jeder in der Hoffnung, derjenige zu sein, dem Zugang zum Garten gewährt werde.
Drei Hexen, von denen jede ihr kummervolle Bürde zu tragen hatte, begegnete sich am Rand des Gedränges und erzählten einander von ihrem Leid, während sie auf den Sonnenaufgang warteten.
Die erste, mit Namen Asha, litt an einer Krankheit, der kein Heiler abhelfen konnte. Sie hoffte, dass der Brunnen sie von ihren Beschwerden befreien und ihr ein langes und glückliches Leben bescheren werde.
Der zweite, mit Namen Altheda, hatte ein böser Zauberer ihr Haus, ihr Gold und ihren Zauberstab geraubt. Sie hoffte, dass der Brunnen sie von ihrer Ohnmacht und ihrer Armut erlösen werde.
Die dritte, mit Namen Amata, war von einem Mann verlassen worden, den sie innigst liebte, und glaubte, ihr Herz wäre auf ewig gebrochen. Sie hoffte, dass der Brunnen sie von ihrem Kummer und ihrer Sehnsucht erlösen werde.
Die drei Frauen bedauerten einander und vereinbarten, dass sie sich, sollte ihnen das Glück widerfahren, zusammentun und versuchen würden, den Brunnen gemeinsam zu erreichen.
Der erste Sonnenstrahl riss den Himmel auf und in der Mauer öffnete sich ein Spalt. Die Menschenmasse schob sich vorwärts, und jeder Einzelne bekundete mit lautem Geschrei seinen Anspruch auf den Segen des Brunnens. Aus dem Garten hinter der Mauer krochen Schlingpflanzen durch die andrängende Menge und wanden sich um die erste Hexe, Asha. Sie packte die zweite Hexe, Altheda, am Handgelenk, die sich ihrerseits fest an den Umhang der dritten Hexe klammerte, Amata.
Und Amata verfing sich in der Rüstung eines Ritters, der trostlos aussah und auf einem knochendüren Pferd saß.
Die Schlingpflanzen zerrten die drei Hexen durch den Spalt in der Mauer, und der Ritter wurde von seinem Ross und hinter ihnen hergezogen.
Die wütenden Schrei der enttäuschten Menge stiegen in die Morgenluft empor und verstummten schließlich, als die Gartenmauern sich wieder versiegelten.
Asha und Altheda zürnten mit Amata, die versehentlich den Ritter mitgebracht hatte.
„Nur eine kann in dem Brunnen baden! Es wird schwer genug sein, zu entscheiden, welche von uns das sein soll, da brauchen wir nicht noch einen!“
Sir Luckless, wie der Ritter in dem Land draußen vor den Mauern genannt wurde, bemerkte nun, dass dies Hexen waren, und weil er weder magische Kräfte besaß noch sonderlich großes Talent im Lanzenstechen oder im Schwertkampf noch sonst irgendetwas, das den nichtmagischen Mann auszeichnete, war er sich sicher, dass für ihn keine Hoffnung bestand, die drei Frauen auf dem Weg zum Brunnen zu überflügeln. Er erklärte deshalb, dass er sich wieder nach draußen vor die Mauern zurückziehen wolle.
Da wurde auch Amata zornig.
„Feigling!“, schalt sie ihn. „Zieht Euer Schwert, Ritter, und helft uns, unser Ziel zu erreichen!“
Und so wagten sich die drei Hexen und der traurige Ritter in den verzauberten Garten hinein, wo zu beiden Seiten der sonnenbeschienenen Wege seltene Kräuter, Früchte und Blumen in Hülle und Fülle wuchsen. Sie begegneten keinem Hindernis, bis sie den Rand des Hügels erreichten, auf dem der Brunnen stand.
Dort jedoch, um den Fuß des Hügels geschlungen, befand sich ein riesiger weißer Wurm, aufgebläht und blind. Als sie sich näherten, wandte er ihnen sein abscheuliches Gesicht zu und sprach sie Folgenden Worte
„Gebt mir den Beweis eures Leids
Sir Luckless zog sein Schwert und versuchte das Ungeheuer zu töten, doch seine Klinge zerbrach. Darauf bewarf Altheda den Wurm mit Steinen, während Asha und Amata jeden Zauber ausprobierten, der ihn gefügig machen oder in einen tiefen Schlaf versetzen könnte, doch die Macht ihrer Zauberstäbe bewirkte nicht mehr als die Steine ihrer Freundin oder der Strahl des Ritters: Der Wurm ließ sie nicht vorbei.
Die Sonne stieg immer höher am Firmament, und in ihrer Verzweiflung begann Asha zu weinen.
Da legte der große Wurm sein Gesicht auf ihres und trank die Tränen von ihren Wangen. Als sein Durst gestillt war, glitt der Wurm beiseite und verschwand in einem Loch in der Erde.
Hocherfreut über das Verschwinden des Wurms begannen die drei Hexen und der Ritter den Hügel zu erklimmen, davon überzeugt, dass sie den Brunnen vor dem Mittag erreichen würden. Auf halbem Weg den steilen Abhang hinauf stießen sie jedoch auf eine Inschrift, die in die Erde von ihren eingefurcht war.
„ Gebt mir die Früchte eurer Mühen.“
Sir Luckless zog seine einzige Münze hervor und legte sie auf den grasigen Hügel, aber sie kullerte davon und war verloren. Die drei Hexen und der Ritter setzten ihren Aufstig fort, doch obwohl sie noch stundenlang weiter gingen, kamen sie keinen Schritt voran; der Gipfel rückte nicht näher, und die Inschrift lag immer noch in der Erde vor ihnen.
Alle hatten den Mut verloren, als die Sonne über ihre Köpfe stieg und gegen den fernen Horizont zu sinken begann, doch Altheda schritt schneller und kräftiger aus als die anderen und ermahnte sie, ihrem Beispiel zu folgen, obgleich sie keinen Schritt weiter den verzauberten Hügel hinaufgelangte.
„ Nur Mut, Freunde, und gebt nicht aucf!“, rief sie und wischte sich den Schweiß bon der Stirn.
Als die Tropfen glitzernd zur Erde Fielen, verschwand die Inschrift, die ihren Weg versperrte, und sie sahen, dass sie weiter hinaufkletterten konnten.
Voll Freude darüber, dass dieses zweite Hindernis beseitigt war, eilten sie, so schnell sie konnten, aucf den Gipfel zu, bis sie endlich den Brunnen erblickten, der wie ein Kristall an einem idyllischen Platz zwischen Blimen und Bäumen glitzerte.
Ehe sie zu ihm gelangen konnte, kamen sie jedoch an einen Bach, der um die Hügelkuppe herum floss und sie am Weitergehen hinderte. In den Tiefen des klaren Wassers lag ein glatter Stein, auf dem die Worte standen:
„Gebt mir den Schatz eurer Vergangenheit.“
Sir Luckless wollte den Bach auf seinem Schild überqueren, doch der ging unter. Die drei Hexen zogen ihn aus dem Wasser, dann versuchten sie selbst über das Flüsschen zu springen, doch es wollte sie nicht hinüberlassen, und währenddessen sank die Sonne immer tiefer am Himmel.
So fingen sie an, über die Bedeutung der steinernen Botschaft nachzugrübeln, und Amata war die Erste, die sie verstand. Sie nahm ihren Zauberstab, zog alle Erinnerungen an glückliche Zeiten aus ihrem Kopf, die sie mit ihrem verschwundenen Liebhaber verbracht hatte, und warf sie in die reißende Strömung. Der Bach spülte sie davon, Trittsteine tauchten aus, und die drei Hexen und der Ritter konnten enlich zum Gipfel des Hügels weitergehen.
Der Brunnen schimmerte vor ihnen, inmitten von Kräutern und Blumen, die seltener und schöner waren als alle, die sie je gesehen hatten. Der Himmel brannte rubinrot, und es war an der Zeit, zu entscheiden, wer von ihnen das Bad nehmen sollte.
Ehe sie jedoch ihre Entscheidung treffen konnte, stürzte die zarte Asha zu Boden. Erschöpft von ihrem mühseligen Weg hinauf zum Gipfel, war sie dem Sterben nahe.
Ihre drei Gefährten wollten sie schon zum Brunnen tragen, doch Asha litt Todesqualen und flehte, sie sollten sie nicht anrühren.
Da machte sich Altheda eilends daran, alle Kräuter zu pflücken, die ihr besonders viel versprechend erschienen, mischte sie in Sir Luckless´ Wassergurde und flößte Asha den Trank ein.
Sogleich konnte Asha sich erheben. Und mhr noch, alle Anzeichen ihrer furchtbaren Krankheit waren verschwunden.
„Ich bin geheilt!“, rief sie. „Ich brauche den Brunnen nicht – lasst Altheda baden!“
„Wenn ich diese Krankheit heilen kann, dann werde ich reichlich Gold verdienen! Lasst Amata baden!“
Sir Luckless verneigt sich und winkte Amata zum Brunnen, doch sie schüttelte den Kopf. Der Bach hatte allen Schmerz über ihren Liebsten fortgeschwemmt, und sie sah jetzt, dass er grausam und treulos gewesen war und dass es nur glück war, ihn los zu sein.
„Guter Herr, Ihr müsst baden, als Lohn für all Eure Ritterlichkeit!“, sprach sie zu Sir Luckless.
Also trat der Ritter in den letzten Strahen der untergehenden Sonne klirrend vor und badete im Brunnen des wahren Glücks, erstaunt darüber, dass er der Auserwählte aus Hunderten war, und schwindelig ob seines unfassbaren Geschicks.
Als die Sonne am Horizont versank, stieg Sir Luckless im Glanz seines Triumphes aus dem Wasser und warf sich in seiner rostigen Rüstung Amata zu Füßen, der liebsten und schönsten Frau, die er je erblickt hatte. Erhitzt von seinem Erfolg, bat er um ihre Hand und ihr Herz, und Amata, nicht weniger entzückt, erkannte, dass sie einen Mann gefunden hatte, der ihrer würdig war.
Die drei Hexen und der Ritter machten sich, Arm in Arm, gemeinsam auf den Weg den Hügel hinab, und alle viel lebten lang und glücklich, und keiner von ihnen erfuhr oder argwöhnte jemals, dass auf den Wassern des Brunnens gar kein Zauber lag.
Tag der Veröffentlichung: 14.06.2011
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