Ein Blick auf die Uhr. Nun sollten also nur noch fünf Stunden und 37 Minuten vergehen, bis das neue Flaggschiff der Weltraumflotte der Staaten- und Interessensvereinigung vom Stapel lief.
Clover S. Grunstein war, mit dem blick in sein immer leerer werdendes Whiskeyglas, tief in Gedanken versunken. Im Grunde hatte er die Weltraumfahrt nie verstanden. Hätte er zur Pionierzeit gelebt, damals vor hunderten von Jahren, als gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Menschen der Erde zu ihrem Trabanten, dem Mond, aufbrachen, hätte er sich wahrscheinlich nicht den geringsten Deut für Astronomie und Raumforschung interessiert.
Aber jetzt, im Jahr 2469 war es unmöglich, auch nur einen Schritt vor die Wohnungstüre zu setzen, ohne auf Raumschiffe, Ausserirdische oder intergalaktische Telekommunikation zu stossen.
Clover rätselte. Was war es, das die Menschheit gleichwie Zivilisationen ferner Planeten so an den Weiten des Alls faszinierte. Warum musste man etwas erkunden, das Milliarden- und Abermilliarden von Kilometern von Zuhause entfernt war, während man oft nicht einmal wusste, was sich in seiner Heimatstadt zwei Strassen weiter verbarg? Was war von so bedeutsamer Wichtigkeit in der Nachbargalaxie, dass man Unsummen an staatlichem Forschungsbudget und menschlicher Arbeitskraft in deren Auskundschaftung investierte? Es war einfach vergebene Liebesmüh. Mehr noch - es war vollkommen überflüssig.
Er bestellte noch einen Drink. Ein weiterer Blick auf die Uhr. Nur noch etwas mehr als fünf Stunden. Die Menge an Whiskey, die er an diesem Abend in sich geschüttet hatte, nebelte seinen Verstand merkbar ein.
Aber er konnte nicht anders. Es war ihm zuwider, dass die interstellare Staaten- und Interessensvereinigung Sinnlosprojekte wie den Start der Oddyssee (welch bezeichnender Name) guthiess. Er mochte keine Weltraumforschung, er mochte keine Raumschiffe und er mochte keine Astronauten. Wieder hatte er sein Glas geleert.
Clover hob gerade die rechte Hand, um dem Barkeeper zu signalisieren, noch einen Whiskey einzuschenken, als er bemerkte, dass ein weiterer Gast die Bar betrat. Um diese Uhrzeit? Clover drehte sich herum.
Er sah eine grosse Gestalt in dunkler Uniform. Ihr Körper wirkte durchtrainiert, das Gesicht kantig mit harten Zügen. Der Bürstenhaarschnitt unterstrich das gesamte militärische Auftreten. Ein Astronaut.
"Was wollen sie hier?", grummelte Clover und wandte sich wieder der Theke und dem dahinter Gläser reinigenden Barkeeper zu.
Der Astronaut plusterte sich auf und ging langsamen Schrittes auf Clover zu.
"Verschwinde hier, verdammt noch mal!", lallte der merklich Betrunkene am Tresen, ohne von seinem Glas aufzublicken.
Der Typ in Uniform stand jetzt direkt hinter ihm. Ganz langsam legte er Clover eine Hand auf die Schulter.
"Was soll das?" Clover wirkte angewidert.
Der Astronaut beugte sich etwas nach vor und zog seine Mundwinkel zu einem sanften Lächeln hoch: "Sie müssen mit mir mitkommen! Das Schiff startet in fünf Stunden und wir brauchen sie, Captain Grunstein."
Clover murmelte irgend etwas vor sich hin, zuckte mit den Schultern, trank seinen Drink aus, knallte dem Barkeeper einen Geldschein auf den Tresen und versuchte, sich von seinem Hocker zu erheben. Ein Unterfangen, das ihm leider nicht einhundertprozentig gelang: Seine Beine gaben nach, ein knackiges Krachen durchzuckte den Raum und Captain Grunstein fand sich rücklings auf dem Boden liegend.
Sein freundlicher, gut gebauter Untergebener kam ihm spontan zu Hilfe, indem er sich über den Vorgesetzten beugte und ihm, mit dem gleichen sanften Lächeln wie zuvor, die Hand reichte.
Clover war etwas benommen. Er musste sich zuerst ein wenig orientieren, blickte sich verstört, mit dem Gesicht Richtung Decke, in der Bar um. Aus den Boxen der Musikanlage hörte er eine Kampagne des interstellaren Gesundheitsministers, der vor den Gefahren übermässigen Alkoholkonsums und Autofahren warnte.
"Bringen Sie mich zu meinem Schiff, Soldat", lallte er gerade noch so verständlich. "In ein paar Stunden muss ich den Zündschlüssel drehen..."
Nur zwanzig Minuten nach diesen Ereignissen in der verrauchten Spelunke, dockte die Transportfähre mit Captain Grunstein und seinem Adjutanten an der Oddyssee an. Mr. Trager, so der Name des jungen Offiziers, stützte seinen Kommandanten und geleitete ihn zum schiffsinternen Speed-Transporter, der die beiden unglaublich schnell, aber trotzdem äusserst sanft in die Krankenstation katapultierte.
Grosin K ́tau, der Bordarzt, der vom etwa 200 Lichtjahre entfernten Planeten Piktao stammte, nahm den lädierten Kapitän der Oddyssee in der Krankenstation auf. Der Doktor, der piktatotentypisch nicht grösser als 170 Komi-Einheiten (was umgerechnet etwa 90 Zentimeter bedeutet) war, wirkte besorgt.
"Captain", kreischte er (weil Piktatoten immer kreischen, sobald sie ihren Mund öffnen), "wie sehen sie bloss aus? Was haben sie?"
"Durst", würgte Clover S. Grunstein hervor, bevor er auf eines der Krankenbetten niedersackte, sich zur Seite drehte und sich auf die teuren, hochtechnologisierten medizinischen Geräte übergab.
Grosin wusste, was in solchen Fällen zu tun war. Gefasst und ohne die Mine zu verziehen, kramte er seinen portablen, medizinischen Computer aus der Tasche, der kabellos mit der zentralen Rechenstation des Schiffes verbunden war. Da der Taschencomputer jedoch von Menschen für Menschen gebaut wurde, hatte der Piktatot aufgrund seines zwergenhaften Wuchses gröbere Probleme, das hochtechnologisierte Gerät gleichermassen zu umfassen wie zu bedienen. Da aber immer ein Weg wo auch ein Wille, überwand der Bordarzt die Tücke des Objekts und schloss seine Eingaben ab. Ein Druck auf den Button "übermitteln" und schon begann das vollautomatische Labor damit, rettende Medizin für den beduselten Captain zu mixen.
Jetzt brauchte Grosin den Feinsprühinjektor nur noch zu nehmen und ihn seinem Kommandant in dessen Nabelgegend anzusetzen. Also watschelte der Piktatot zum Ausgabeschacht für medizinischen Bedarf. Dort angekommen, sah er sich dem nächsten schier unlösbaren Problem gegenüber: Er war zu klein, nein, besser gesagt zu kurz, um an den Auswurfknopf heranzureichen. Er konnte sich recken und strecken, wie er wollte,seine drei Finger reichten nicht nah genug an den Schalter.
Grosin begann zu fluchen; auf piktatonisch selbstverständlich, kreischend, weil sich das um Längen ungehaltener anhörte, als dieser menschliche Vereinigungseinheitsbrei.
Von der allgemeinen Unruhe auf der Krankenstation in seiner komatösen Ruhe gestört, richtete sich Captain Grunstein etwas auf. Der sich in die Länge streckende, giftig auf und ab wippende Schiffsarzt, der partout nicht den Schalter für den Auswurf des Ausgabeschachts nicht errreichen konnte, war ein Bild für Götter. Die bizarre Szenerie hatte gleichermassen Tragikomisches, wie auch zutiefst lächerliches. Bevor Grunstein jedoch Zeit fand, sich über die sich ihm offenbarende Darbietung zu amüsieren, kippte er auf die andere Seite, wo er auch den Rest der medizinischen Einrichtung mit Erbrochenem übergoss.
Inzwischen hatte der Schiffsarzt das Handtuch geworfen. Im Wissen, dass er den Injektor niemals im Leben allein würde aus seinem Gefängnis befreien können, fasste er den Entschluss, seine ihn unterstützende Krankenschwester mit dieser würdevollen Aufgabe zu betreuen. Ob seiner eigenen Gefinkeltheit entzückt, hoppste Grosin ans andere Ende des Raumes, um seine Assistentin Miranda per Schiffskommunikator zu sich zu beordern. Er war stolz auf seine Gewieftheit und hätte just in diesem Moment mit seiner Zunge geschnalzt, wenn diese den Piktatoten nicht fix an die Unterlippe gewachsen wäre.
Am Kommunikator angekommen, fand die uneingeschränkte Heiterkeit des Doktors jedoch schnell ihr Ende - Grosin hatte nicht damit gerechnet, dass auch der Kommunikator mittels Schalter zu bedienen war...
Die Blöße, erneut wie ein Zirkuszwerg herum zu hampeln, gab er sich jetzt aber nicht mehr. Nachdem er zuerst den Architekten des Schiffs, der bei der Planung seines Objektes ganz offensichtlich zu allerletzt an die Anwesenheit eines Piktatoten gedacht hatte, die Pest an den Hals gewünscht hatte, begab er sich zum Energietor der Krankenstation. Er positionierte sich einen Schritt ausserhalb, holte tief Luft und kreischte: "MIIIIRRAAANNNNDAAAA!" Klein kann man ja sein, aber zu helfen muss man sich wissen.
Zufrieden mit sich selbst ging er in das Zimmer zurück, begab sich zu seinem Captain, platzierte sich neben dessen Liegestatt und las die Instrumente ab.
"Sie haben mich gerufen, Doktor K ́tau?", hörte er alsbald eine zart klingende, weibliche Stimme hinter sich.
"Miranda?" Der Arzt blickte nicht auf, als er seiner Assistentin gewahr wurde.
"Wie kann ich ihnen behilflich sein, Doktor?"
"Bitte nehmen sie für mich den Injektor, den ich für Capatin Grunstein vorbereitet habe, aus dem Ausgabeschacht." Grosin kritzelte ein paar Notizen auf einen Zettel, den er aus der Brusttasche seines Kittels zog.
"Ich...kann...nicht...", stammelte Miranda kurze zeit später.
"Was können sie nicht?", wollte der Doktor beiläufig wissen.
"Ich kann...den Schacht nicht öffnen", wirkte die Schwester verzweifelt.
Grosin verdrehte genervt die Augen, ohne von seiner Kritzelei auf dem Zettel aus der Brusttasche seines Kittels abzulassen: "Weshalb können sie den Schacht nicht öffnen?"
"Der Schalter..." Mirandas Stimme war zittrig.
"Ja. Der Schalter. Den sollten sie betätigen, dann geht der Schacht auf. Ein Wunder der Technik."
"Ich kann den Schalter nicht betätigen."
"Weshalb nicht?" Doktor K ́tau wurde langsam zornig.
"Weil...Doktor...ich bin ein Geistwesen. Reine Konzentration. Kein Körper."
Grosin fuhr in sich zusammen. Daran hatte er gar nicht gedacht. Miranda war eine Araki, ein Wesen aus konzentrierter Energie, reiner Geist. Sie konnte den Schalter genau so wenig bedienen wie er selbst, weil ihr der Körper fehlte.
"So eine verfluchte Sch...", kreischte der Arzt.
"Aber Doktor!", fuhr ihm Miranda ins Wort.
"Scheisse", lallte Grunstein, der aufgrund des Lautstärkepegels erneut aufgewacht war, sich aufrichtete, sich dieses mal vornüber übergab, wieder umkippte und weiterschlief.
"Welcher hirnlose Stümper stellt ein Geistwesen als medizinische Assistentin ein?"
Aussergewöhnliche Situationen erforden naturgemäss aussergewöhnliche Massnahmen. Wenn dieser gottverdammte Injektor ums Verrecken nicht aus dem vermaledeiten Ausgabeschacht kommen wollte, dann musste der Arzt eben improvisieren. Wofür, um alles im Universum, war er schliesslich Mediziner?
Also stemmte er sich auf das Bett, in dem Clover S. Grunstein lag, krabbelte hoch und stellte sich breitbeinig über die Brust des leitenden Offiziers. Grosin schloss die Augen, als würde er sich stark konzentrieren, atmete tief ein, hob den rechten Arm in die höhe - und versetzte dem Captain einen knallenden Schlag ins Gesicht.
Grunstein schreckte mit weit aufgerissenen Augen derartig energisch in die Höhe, dass der Arzt in hohem Bogen auf den Fussboden katapultiert wurde.
"Mum, ich hatte meine Hände doch auf der Bettdecke...", brüllte Clover hastig. Gleich darauf hielt er inne. "Wo bin ich hier?", ächzte er.
Doktor K ́tau rappelte sich hoch: "Sie sind auf der Krankenstation der Oddyssee, Captain."
Grunstein sah sich verdutzt um. Sein Bordarzt war so klein, dass er nicht über die obere Kante des Bettes reichte und der Kommandant ihn nicht sah.
"So ́n Scheiss. Ich höre Stimmen..." Clover raufte sich das Haar.
"Nein, ich bin es.", kreischte Grosin in Richtung Krankenlager.
"Wer ist ich?", kreischte der Captain zurück. Schliesslich hämmerte er gegen seinen Kopf:
"Geh raus aus meinem Schädel, du Stimme! Raus! Raus! Raus!"
"Ich bin es, Doktor K ́tau - der Schiffsarzt!", kreischte der Mediziner erneut.
Grunstein kniff die Augen zusammen. "Das trifft sich gut", murmelte er halblaut, "ich glaub, ich brauch ihre Hilfe, ich kann sie nicht sehen." Mit diesen Worten setzte er sich so auf sein Bett, dass die Füsse zu Boden hingen.
"Nein, das hat seine Richtigkeit. Ich bin hier."
"Wo?"
"Hier. Unter ihrem rechten Fuss. Sie sind mir soeben auf den Kopf gestiegen."
Der Kapitän spreizte seine Beine, aus deren Mitte ihm nun der kleine Schiffsarzt entgegen entegengrinste.
"Ach...ein Piktatot. Das erkärt einiges." Grunstein wirkte erleichtert. "Sagen sie mal...wie war noch ihr Name?"
"K ́tau. Grosin K ́tau."
"Doktor K ́tau...sagen sie mal, haben sie mir etwa eine verpasst?" Clover spielte mit seinem Unterkiefer.
"Ähm...nein...hab ich nicht.", antwortete Grosin verlegen.
"Seltsam. Ich hab das Gefühl, als hätte ich volle Breitseite bekommen."
"Sicher eine Nebenwirkung des Medikaments, Sir."
"Doktor?", meldete sich nun Miranda zu Wort, "Brauchen Sie mich noch oder darf ich mich wieder auf mein Quartier begeben?"
Der Captain sah sich erneut um: "K ́tau...jetzt höre ich wirklich Stimmen."
"Nein, Captain. Das ist meine Assistentin, Schwester Miranda. Sie ist eine Araki. Ein Geistwesen."
Grunstein nickte geistesabwesend. "Aha, ok. Verstehe. Verdammt noch mal, das ist ein Zoo hier.", murmelte er vor sich hin.
"Bitte, was sagten sie?", hakte K ́tau ein.
"Äh, nichts. Ich sagte mir nur: Schön, dass so viele verschiedene Kulturen auf der Oddyssee vertreten sind." Der Kommandant redete sich etwas unbeholfen aus der Situation.
"So, Captain. Ich entlasse sie hiermit offiziell. Sie werden auf der Brücke gebraucht. In wenigen Minuten erfolgt der Start des Schiffs.", beschwichtigte der Mediziner seinen Vorgesetzten.
Dieser rappelte sich langsam hoch und stand für eine kurze Weile mit wackligen Beinen neben dem Bett.
"Sagen sie, Doc", fragte er, "und sie haben mir sicher keine reingehauen?"
"Nein." Grosin antwortete mit einer derartigen Bestimmtheit, dass er sich beinahe selbst geglaubt hätte. "Und jetzt nichts wie hurtig ab auf die Brücke. Wir haben eine lange Reise vor uns." Der Arzt schob ihn förmlich aus der Krankenstation hinaus.
"Ich hätte mir nie gedacht, dass so ein kleines Männchen so ein Ding schwingen kann", war Grunstein immer noch erstaunt.
"Ich hab sie nicht geschlagen. Wirklich nicht. Ich bin Arzt, kein Boxer." K ́tau wollte den Captain jetzt wirklich langsam aus seinem Dunstkreis wissen.
Clover verharrte einige Momente regungslos in der Tür zum Krankenzimmer, warf noch einmal einen kurzen Blick hinein und entfernte sich dann langsam.
"Und machen sie gefälligst hier sauber, Doktor", meckerte er im Abgehen. "Hier siehts ja aus wie bei den Wilden. Wer kotzt denn hier die halbe Station voll?"
Grosin quittierte den letzten Satz des Captains mit einem kaum hörbaren Seufzen.
"Saustall...", murrte Grunstein, als er in den Turbolift richtung Brücke einstieg.
Der erste Offizier hatte auf dem Kapitänsstuhl Platz genommen und verfolgte gebannt das Treiben auf dem riesigen Bildschirm an der Vorderseite der Brücke. Einige Meter vor ihm, zentral vor dem Screen, saß der Steuermann, der seinerseits das Geschehen auf dem Monitor ebenfalls nicht aus den Augen liess.
Der Navigator bediente seine Computerkonsole und der Kommunikationsoffizier, drehte an einigen Knöpfen. Zwei Sicherheitsmänner flankierten regungslos die Eingangstür.
Das Licht war gedämpft. Auf dem Schirm flitzten unzählige kleine Raumschiffe hektisch umher, feuerten bunte Lasergeschosse aus ihren Rümpfen und zerstörten einander in grellen Explosionen. Die akustische Untermalung der Szenerie war schier ohrenbetäubend. Zischen, Krachen, Donnern - ein Teppich an markerschütternden Geräuschen durchflutete den Raum.
Captain Grunstein war plötzlich hellwach. Er wusste, nun war sein unschätzbares Talent zum Führen seiner Untergebenen, seine nicht in Worte zu fassende Coolness in besonders heiklen Situationen gefragt. Er strich sich mit seiner Rechten lässig durch das Haar, um seinen Scheitel zu richten, setzte sein süfffisantestes Lächeln auf, holte Luft und schritt mit geschwellter Brust so lasziv wie möglich in die Mitte des Raumes. Nicht nur in der Funktion, die er nun ausüben durfte, sondern auch rein optisch fühlte sich Clover jetzt wie Captain James T. Kirk aus Star Trek. Sein absolutes Vorbild.
"Was ist das für ein Angriff?", warf er mit bestimmten Ton in die Menge.
Der Steuermann antwortete ruhig: "Das ist der Angriff der Rebellen auf den..."
"Verdammt!", fuhr ihn der Kommandant scharf aber kontrolliert an. "Wer um alles in der Welt hat ihnen überhaupt gestattet, ohne meine ausdrückliche Erlaubnis zu starten."
"Niemand.", warf der erste Offizier ein.
"Warum, um alles in der Welt, fliegen wir dann? Befinden uns mitten in einer fast ausweglosen Schlacht? Können sie mir das sagen?" Grunstein stand neben dem ersten Offizier und hatte sich leicht über ihn gebeugt, als er ihm diese Frage stellte.
"Tun wir nicht, Captain.", antwortete ihm sein Gegenüber etwas verwundert.
"Was? Wieso?" Der Captain wusste nicht, worauf sein Untergebener hinaus wollte.
"Wir fliegen noch nicht. Wir liegen immer noch im Space-Dock. Was sie da sehen ist Star Wars. Teil eins. Das ist der Angriff der Rebellen auf den Todesstern."
"Star Wars?"
"Ja. Das gehört zum Standard-Unterhaltungsprogramm für Auf-den-Start-Wartende Astronauten der Weltraumflotte der interstellaren Staatengemeinschaft."
"Und die Rebellen?"
"Nur im Film. Real gibt es keine Rebellen. Unser Universum und unsere Forschung sind zu 100 Prozent friedlicher Natur."
"Friedlich?"
"Jawohl, friedlich."
"Ja, aber worin liegt dann der Sinn der ganzen Raumfahrt?"
Grunstein war etwas verwirrt. Friedliche Weltraumforschung? Das hatte er sich bislang noch gar nicht so richtig auf der Zunge zergehen lassen. Nicht, dass er besonderen Wert auf gewaltvolle Auseinandersetzungen legte, aber war es nicht immer und überall so, dass jeder strahlende Held einen abgrundtief bösen, feindseligen und streitsüchtigen Konterpart benötigte, gegen den er einen niemals endenden Kampf um das Gleichgewicht im Universum ausficht? Bücher wurden mit diesem Stoff gefüllt, Filme und Computerspiele bedienten sich der Problematik. Noch nie, zu keiner Zeit der Menschheitsgeschichte, hat friedliche Exploration die Gemüter der Allgemeinheit erregt oder deren Bedürfnisse befriedigt.
Der erste Offizier schien auch in Erklärungsnöten. "Ohm...pfff....Besiedelung von fernen Planeten...Rohstoffabbau...und...so", stammelte er.
Mit einer derartigen Aussage hatte der Captain gerechnet - und er hielt sie für unsinnig. Ferne Planeten besiedeln und Rohstoffe abbauen kann man auch heimlich, still und leise. Das braucht man nicht derartig an die grosse Glocke zu hängen. Schon gar nicht braucht man ein so riesiges, teures und - vor allem - schlachttaugliches Raumschiff wie die Oddyssee. Die bemannte Raumfahrt war im 25. Jahrhundert ja kein Novum mehr, sie lockte niemanden mehr hinter dem Ofen hervor. Und wozu - bitte wozu - baut man ein Schiff und bestückt es mit durchschlagkräftigen Waffen wie Photonentorpedos oder der neuesten Laserwaffentechnologie, wenn man in den unendlichen Weiten des Universums nicht einmal einen einzigen Feind zu befürchten hatte?
„Schon gut“, winkte Grunstein in Richtung seines Gegenübers ab, „bohren Sie ruhig weiter in der Nase.“
Mit diesen Worten begab sich der Captain zur Kommunikationszentrale der Brücke. Er betätigte den Übertragungsknopf und sprach ins Mikrofon: „Captain an Maschinenraum, Captain an Maschinenraum. Können sie mich hören?“
„Ausgezeichnet ich höre sie, Captain.“, ertönte es nach kurzer Wartezeit aus dem Lautsprecher.
„Sehr schön.“, zeigte sich Grunstein zufrieden. „Spreche ich mit dem Chefingenieur?“
„Karam Lafara, hier ist. Ist Chefingenieur ist der Raumschiff Oddyssee.“, hallte es blechern aus der Box.
„Und sie kommen allem Anschein nach nicht vom Planeten Erde...“, stellte Clover fast schon resignierend fest.
„Nein, Oxa-Tolale Planet Karam Lafara von kommt.“, erhielt ersterer als Antwort.
„Naja...gut...dann kommen sie mal bitte auf die Brücke, Mr. Lafara. Wir müssen die üblichen Start-Checks durchgehen.“
„Ist Karam unterwegs Lafara schon bin ich!“
Es schien immer schlimmer zu werden mit diesen Aliens. Nicht nur, dass sie die allgemeingültige Sprache der interstellaren Planeten- und Interessensgemeinschaft scheinbar nicht lernen wollten – und das sollte doch die Minimalvoraussetzung für die Arbeit auf einem Schiff dieser Grössenkategorie darstellen – nein, sie störten Clover S. Grunstein alleine schon der Tatsache wegen, dass sie eben Aliens waren. Er mochte keine Aliens. Am liebsten würde er sie...naja, das vielleicht nicht. Aber zumindest würde er sie alle zusammen sperren, in ein Transportschiff zwängen und sie in die Tiefen des Universums feuern. Wenn er nur an ihre dämlichen Gesichter, mit den abartigen Rüsseln oder den lächerlichen Fühlern dachte. An ihre dicken Bäuche oder ihre kurzen Beine. Oder ihre langen Beine und die eingefallenen Bäuche. Entweder waren sie dumm wie eine Türschnalle oder – was noch viel schlimmer war – intelligent wie fünf aneinandergekoppelte Einsteins. Entweder waren sie zu klein oder sie...
Die Tür zur Brücke öffnete sich zischend. Ein überdimensionaler Kopf ragte in den Raum, gefolgt von einem viel zu lang geratenen Oberkörper. Beides zwängte sich ächzend und keuchend in die Mitte der Brücke und zog ein einziges, riesiges Bein hinter sich her. Als sich dies alles einigermassen entfaltet hatte, richtete sich der eigenartige Körper halb auf und blieb gebückt stehen. Insgesamt war die Kreatur etwa doppelt so gross, wie der Raum hoch war.
„Was is ́n das?“, entfuhr es Clover, während er zweifelnden Blicks Augenkontakt mit den anwesenden Offizieren suchte.
Diese ihrerseits beäugten das übergrosse Wesen gleichfalls mit äusserster Skepsis und offenen Mündern.
„Lafara ich Karam bin. Der bin Chefingenieur Odyssee.“, meldete der eben erst Angekommene in militärischem Tonfall.
„Aha.“ Clover schien ein wenig geistesabwesend. „Ähm...ja. Also sie sind...sie sind der Chefingenieur?“
„Ja. Captain wieso drein schauen überrascht so?“, wollte Karam Lafar wissen.
„Sie...sie sind so gross.“, entgegnete ihm der Captain immer noch ein wenig konfus. „Nein. Klein für ich Spezies bin meine.“ Das Alien schien zu lachen.
„Ach.“ Clover Grunstein räusperte sich kurz. „Aber wie können sie ihre Arbeit in den engen und verwinkelten Tunneln und Nischen des Maschinenraums verrichten? Denken sie nicht sie sind...fehlplatziert?“
„Nein.“, versetzte ihm der Chefingenieur. „Ich klein gehe alles geht versuche wenn geht alles ich Werkzeug nehme Mitarbeiter gehen geht alles Tunnel wenn klein versuche dann bin alles geht und Kollegen mir meine dann Arbeit geht gehen geht geht.“
Ach darum. Was wollte dieses Riesenbaby Clover mitteilen? Die Situation war dermassen skurill, dass niemand der Anwesenden sich auch nur daran zu denken wagte, irgendeinen Laut von sich zu geben, bevor dies ihr Captain getan hatte. Dieser allerdings war – und das war ihm während seiner gesamten Laufbahn erst einmal passiert, als sich die Rektorin seiner Offiziersakademie vor ihm unaufgefordert ihrer Hüllen entledigt hatte – sprachlos.
Die Stille währte lange. Kaum hörte man das Atmen der Menschen und Aliens auf der Brücke.
Schliesslich entschied sich Captain Grunstein, einfach so zu tun, als wäre nichts geschehen: „Ok, Mr. Lafara. Ich stelle ihnen ab sofort nur noch fragen, die sich nur mit Ja oder Nein beantworten können. Haben sie verstanden?“
„Ja.“
Der Kommandant war beruhigt. Auf dieser Ebene konnte man miteinander arbeiten. Zumindest ansatzweise. Langsam und bedächtig (und wieder in bester Jim Kirk-Manier) schritt er zu seinem zentral auf der Brücke gelegenen Stuhl, aus dem sich der erste Offizier schon vor einiger Zeit erhoben hatte. Was hatte der überhaupt dort zu suchen? Egal. Es war nicht an der Zeit, sich jetzt gerade mit derartigem Beiwerk herum zu schlagen.
Grunstein liess sich in seinen Sessel fallen und sank alsbald in eine heroische Denkerpose. Ja, so liess es sich arbeiten. Vor ihm der unendliche Weltraum, über ihm die Oddyssee, der Stolz der interplanetaren Staaten- und Interessensgemeinschaft und rund um ihn ein (mehr oder weniger) gestandener Haufen ihm Untergebener, die nur darauf warteten, seine Befehle in Empfang zu nehmen. Die Mission konnte eigentlich anlaufen. Was ihn jetzt noch von seiner wohl prestigeträchtigsten Kommandantur entfernte, war allgemeine Routine, die möglichst schnell abgehandelt werden sollte.
Also machte sich der Captain daran, mit seinem Chefingenieur die Start-Checks durchzugehen, was aufgrund der Tatsache, dass Lafara nur Antworten in Binärform zu entgegnen brauchte, überraschend schnell von statten ging.
Als Grunstein etwas mehr als die Liste abgearbeitet hatte, gellte ein ohrenbetäubendes Pfeifen durch den Raum. Das Geräusch währte für einige Sekunden und verstummte schliesslich wieder.
„Was war das?“, fragte der Kapitän beunruhigt.
„Dapffwar nur der dapff Pffignal für eine eingehende Nachricht.“, entgegnet ihm eine Stimme aus dem hinteren Teil der Brücke.
Wer war das? Grunstein sah sich um. Ein Humanoid menschlichen Aussehens, etwa 180cm gross mit dunklem Haar und einem aufgesetzten Headset saß an einigen Drehreglern und Schaltern. Der Captain sprach ihn an: „Wer sind sie?“
„Ich bin Lieutenant Pffimon Pff. Pffampffaram, ihr Kommunikationpffoffizier.“
Na, also. Pffimon Pff Pffampffaram – auch der Kommunikationsoffizier war ein Ausserirdischer. Menschliches Leben schien an Bord der Oddyssee deutlich unterbesetzt zu sein.
„Von wo kommen sie, Lt. Pffampffaram?“, wollte Grunstein wissen.
„Aupff Florida, Pffir. Und mein Name ipfft Pffampffaram und nicht Pffampffaram, Pffir.“, antwortete der Offizier.
Ein Erdenbürger? Und nicht nur das, dieser Mensch war auch lokal betrachtet so etwas wie ein Nachbar, stammte Clover selbst doch aus Atlanta.
„Ich leide leider pffeit Kindheit unter eine Pffrachpfförung. Ich habe einen Pff-Fehler.“, verstetzte Samsaram zusätzlich.
Ach. Ein Sprachfehler also. Grunsteins Gehirn arbeitete wieder auf Hochtouren. Wie weit würde er ins All vorstossen können? Wie lange würde die Reise ins Ungewisse mit seiner Crew reibungslos verlaufen?
Er rekapitulierte: Er selbst, der Captain des wichtigsten und grössten Raumschiffes der renommiertesten interstellaren Vereinigung war ein Trinker und Zyniker, der sich oft und gerne mit einer fiktiven Heldenfigur aus dem TV des 20 Jahrhunderts verglich. An Bord tat ein Schiffsarzt Dienst, der ob seines Zwergenwuchses kaum in der Lage war, sein medizinisches Gerät zu bedienen, der erste Offizier war eine uncharismatische, nichtssagende Schnarchnase, die gerne Star Wars Filme auf überdimensionalen Bildschirmen konsumierte, beim Chefingenieur handelte es sich um ein anatomisches Fehlgebilde, das erstens zu gross für seinen Arbeitsbereich und zweitens nicht in der Lage war, einen verständlichen Satz zu formulieren und zu allem Überfluss konnte sich auch der Kommunikationsoffizier aufgrund eines Sprachfehlers nur schwer verständigen. Beste Voraussetzungen also für einen jahrzehntelangen Erkundungsflug in die Ungewissheit, oder?
Grunstein warf einen Blick auf die Digitalanzeige über dem riesigen Monitor im Frontbereich der Brücke. Der Countdown war auf 5 Minuten bis zum Start fortgeschritten. Mannschaft und Schiff waren bereit, auszulaufen. Das Raumdock, in dem die Oddyssee lag, war gespenstisch leer. Alle Beteiligten hatten sich auf ihre jeweiligen Positionen begeben.
Plötzlich wieder dieses lange, schrille Pfeifen, das eine eingehende Nachricht signalisierte. Wahrscheinlich verlangte die Bodenstation auf der Erde um ein Gespräch mit dem Kapitän des Schiffes. Die Kommandozentrale würde der Oddyssee nun die Genehmigung zum Start erteilen und den Raumkreuzer abdocken lassen. Grunstein bat, den Einsatzleiter in Bild und Ton auf den Monitor zu legen.
„Hier ist Clover S. Grunstein, Kommandant des Raumschiffes Oddyssee. Wir bitten um Instruktionen!“, begrüsste Grunstein seinen Vorgesetzten.
„Kommandozentrale an Oddyssee. Können sie uns verstehen?“, so das Gesicht auf dem riesigen Bildschirm.
„Ja, wir verstehen sie.“
„Wir setzen sie davon in Kenntnis, dass der Countdown des Schiffes mit sofortiger Wirkung abgebrochen wird. Die Mission ist nicht nur abgebrochen, sondern ersatzlos gestrichen. Eingehende und intensive Studien, deren Ergebnisse uns soeben erreicht haben, haben ergeben, dass unsere planetenübergreifende Multi-Kultur nirgendwo im Universum Feinde zu befürchten hat. Niemand will uns angreifen und keiner bedroht uns. Ihre Mission wäre von rein explorativer Natur. Wie Meinungsforschungen ergeben haben, hegt die insterstellare Öffentlichkeit kein Interesse an friedlicher Erforschung des Weltalls. Ihre Mission wäre damit reine Verschwendung von Zeit und Ressourcen und wird aufgrund dessen ersatzlos aus der Agenda der Interessensvereinigung gestrichen. Bitte begeben sie sich auf schnellstem Wege in die Transportkapseln, die sie zurück zur Erde bringen werden. Die Oddyssee zerstört sich in einer Stunde von selbst.“
Texte: © Manfred Riegler
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2011
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