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Abalord leerte sein neuntes Glas Braunwurzelschnaps an diesem Abend. Er wusste, er trank zu viel. Viel zu viel, um ganz ehrlich zu sein. Er wusste auch, dass dieses Verhalten eines anmutigen Wesens wie einem Elf nicht gebührend war. Aber er konnte sich nicht helfen, er wusste keinen anderen Rat. Er trank sich den Kummer von der Seele.

„He seht mal da drüben!“, schallte es von einem Tisch in der dunkelsten Ecke der Bar. „Der sieht ja aus wie Legolas aus Herr der Ringe – nur hässlicher!“

Abalord hielt jäh inne. Als er diese Worte vernahm, durchzuckte es ihn wie ein Blitz. So oft hatte er sie in seinem Leben bereits gehört, dass sie ihn mittlerweile in sekundenschnelle in blinde Rage versetzen konnten. Er rutschte vom Hocker, wandte sich in Richtung der dunklen Ecke der Bar, richtete den Finger auf den lautstarken Rädelsführer und zischte: „We...aaa..allalaaaa..glglglglglglllllll“. Dann kippte er um und fand sich rücklings auf dem Boden liegend.

Schallendes Gelächter brach aus. „He, der ist ja stockbesoffen!“, gellte es von der dunklen Ecke.
„Wir haben Legolas unter den Tisch gesoffen“, brüllten andere von irgendwo anders im Raum.

Der zu Boden gegangene Elf indes wünschte sich ein Loch, in das er versinken konnte. Er war es leid, ständig die selben Phrasen zu hören. Niemand musste ihm sagen, dass er aussah wie Legolas. Das wusste er. Es lag auch auf der Hand, dass er aussah wie Legolas – immerhin war er sein Zwillingsbruder.
Ja, so war es. Legolas hatte einen Zwillingsbruder und dessen Name war Abalord. Er selbst war blutsverwandt mit dem wohl berühmtesten Elf des abendländischen Kulturkreises. Und – um das Kind beim Namen zu nennen – das war ungleich mehr ein Fluch denn ein Segen.

Ohne unbescheiden sein zu wollen, war es unbestrittenerweise Abalord, dem das glorreiche Talent für die Schauspielerei gleichsam in die Wiege gelegt wurde. Zuhause in der Region Marafel, das am südlichsten Zipfel des sagenumwobenen Feen- und Elfenreiches gelegen war, kannte man Legolas etwas älteren Bruder dafür, seit dem zartesten Kindesalter an gefeierten Bühnenstücken teilgenommen zu haben.
Er hätte den heroischen Elf in Peter Jacksons „Herr der Ringe“ darstellen sollen. Nicht sein verzogenes, trittbrettfahrendes Brüderchen Legolas. Er, Abalord, war der unbestritten größere Künstler, der eindeutig perfektere Schauspieler der beiden.

Nun lag der größere Künstler jedoch unbestritten und perfekt betrunken auf dem Boden der schmierigsten Spelunke im verkommensten Winkel Hollywoods. Der Barkeeper reichte ihm die Hand und zog ihn wieder auf die Beine.
Abalord warf zwanzig Dollar auf den Tresen und wankte, begleitet vom dreckigen Gelächter der restlichen Kundschaft, zur Tür hinaus.
Im Glas, das in den inneren Schwingflügel eingefasst war, konnte er sein Gesicht sehen. Er hasste es. Er sah seinem Bruder wirklich sehr ähnlich; oder besser gesagt, sein Bruder ihm. Aber Abalord war hässlicher. Unschöner. Legolas war eine reine, herrliche Erscheinung, all das, was man sich unter einem Elf vorstellte. Abalord hingegen wirkte verrucht, dreckig und – unschöner eben.
Das war auch der Grund dafür, dass der jüngere der beiden Brüder die vielversprechende Rolle in „Herr der Ringe“ einstreifen konnte. Nicht, weil er der größere Künstler, der perfektere Schauspieler war, sondern einfach seiner reineren, schöneren, heroischeren Ausstrahlung wegen.
Da stand er nun, Abalord, mit seinen kantigen Gesichtszügen, seiner unreinen, grünlichen, schuppigen Haut, seiner leicht gebückten Haltung und seinem weißen, schütteren Haar. Er hasste diesen Anblick.

Schnell schlug er die Tür hinter sich zu. Es war an der Zeit, Geld zu verdienen. Für einen Elf, der ohne Mittel und mit nichts Anderem als einer vagen Hoffnung, an die er sich zeitlebens verzweifelt klammerte, aus Marafel nach Hollywood auswanderte, eröffnete sich nicht gerade eine breite Palette an möglichen, einträglichen Beschäftigungen. Noch dazu, wenn dieser Elf, außer eines unbestreitbaren Talents in Sachen Schauspiel, keine weitere Qualifikation mit sich bringen konnte.
Wer glaubt, Elfen beherrschten von Kindesbeinen an die Kunst des Bogenschießens, waren unfehlbare Fährtenleser oder zu Pferde besser unterwegs als zu Fuße, der irrt gewaltig. Diese Klischees verdankt die Welt der Menschen den verzweifelt-erotischen Träumen unbefriedigter Ehefrauen, die sich wünschten, es gäbe in einem weit entfernten Utopia auch Männer abseits der angeheirateten Machorealität. Nichts davon ist allerdings wahr. Maskuline Elfenwesen tranken, betrogen, schlugen und pflegten sich und ihre Umgebung in keinem Maße mehr, beziehungsweise weniger als dies Menschenmänner taten. Da war keine Spur von Erhabenheit oder Reinheit.

Um sich also das Dach über seinen Kopf leisten und ab und an auch seinen Magen füllen zu können, nahm Abalord immer wieder kleinere bis mittelgroße Rollen in Hardcore-Erotik-Filmchen aus der zweiten Reihe an. Stets in der Hoffnung natürlich, durch diese Tätigkeit auf die eine oder andere Weise für das richtig große, das echte Hollywood entdeckt zu werden.
Denn, ob man es glauben wollte oder nicht, der (nicht fingierte) intime Kontakt mit Menschenfrauen verlangte Abalord allergrößtes schauspielerisches Geschick ab. In Wahrheit verhielt es sich nämlich so, dass Elfenmänner Menschenfrauen – gelinde ausgedrückt – als wenig attraktiv empfanden. Abalord war sich sicher: Seine darbieterische Leistung in irgendeinem dieser zweideutigen Filmchen übertraf das mehr als durchschnittliche Schauspiel seines Bruders in der Herr der Ringe-Trilogie um Lichtjahre.

Scheinbar interessierten sich die großen Namen der amerikanischen „Traumfabrik“ aber nicht für kopulierende Elfen in schmutzigen Filmchen, die Titel wie „Elf – Doing it for himself“ trugen. Gut möglich, dass der schöne Legolas für das Mitwirken in einem solchen Streifen auch noch den Oskar verliehen bekommen hätte, aber ein hässlicher Abklatsch des heldenhaften Gefährten von Ringträger Frodo lockte ganz offensichtlich Niemanden hinter dem Ofen hervor.

In diese und ähnliche Gedanken versunken, wankte das gefallene Fabelwesen unglücklich den Walk of Fame in Richtung des Main Chinese Theatre entlang. Der Alkohol, den er in so kurzer Zeit vernichtet hatte, machte sich noch deutlich bemerkbar. Also beschloss Abalord sich auszurasten und ließ seine schweren Glieder krachend zu Boden sacken.
Da saß er also. Der Elf. Das Sinnbild für Vollkommenheit und Reinheit – befleckt, betrunken und besudelt im Sud der touristenverseuchten Hollywoodgosse. Ein Menschenkind, das Abalord – wie sollte es anders sein – für dessen Zwillingsbruder Legolas hielt, schenkte ihm Pfeil und Bogen, die ihm seine, von der heruntergekommenen Kreatur auf dem Boden angeekelten, Eltern wohl in einem der vielen Spielzeugläden gekauft haben mussten.
So sollte kein Elf enden: Mitten auf dem Walk of Fame, in der Gosse der Traumfabrik Hollywood. Ruiniert vom Alkohol, gezeichnet von unzähligen und kaum aussprechbaren Geschlechtskrankheiten und zerfressen vom destruktiven Hass auf seinen Bruder. Der zerfurchende Gram auf den Zwillingsbruder Legolas, der nicht nur alles hatte, was er, Abalord, sich je zu wünschen gewagt hatte, sondern es sich zudem zu keiner Gelegenheit nehmen ließ, Mitleid für seinen weitaus begabteren aber gnadenlos verkannten Verwandten zu heucheln.
Er könnte ihn besuchen. Einfach in den nächsten Bus oder in irgendein Taxi steigen und rauf nach Beverly Hills fahren. Zu dieser ekelhaften Villa, unweit des Rodeo Drives, in welcher der so vollkommene Elf Legolas residierte und im Angesicht seines schillernden Erfolges und des Mitgefühls für seinen gefallenen Bruder kaum noch von seinem hohen Ross herab steigen wollte.

Ja, er würde einfach das nächste vorbeifahrende Taxi rufen und zum Anwesen der strahlenden Elfenlegende fahren. Dann würde er sich heimlich an das Küchenfenster schleichen, einen günstigen Moment abwarten und – in bester Snipermanier – den Bogen spannen und einen Spielzeugpfeil auf dieses jämmerliche Männlein Legolas abfeuern. Mit etwas Glück würde sich der verhasste Bruder am Saugnapf des Geschosses verschlucken und daran ersticken.


Als er vor der riesigen Eingangstüre der Nobelvilla in Beverly Hills stand, zögerte Abalord aufgeregt einen kurzen Moment, ehe seine Hand gegen das Eichenholz hämmerte. Er rechnete eigentlich damit, dass ihm der Butler des Hauses öffnen und ihm mitteilen würde, dass sein Bruder wegen eines wichtigen Termins leider momentan unabkömmlich wäre.
Zu seiner Verwunderung aber war dem nicht so: Legolas höchstpersönlich trat ihm beinahe freudig lächelnd gegenüber, nachdem sich der schwere Torflügel geöffnet hatte. Abalord stand direkt vor ihm, wagte kaum, ihm in die Augen zu sehen. Sein Zwillingsbruder widerte ihn an. Jedes Mal, wenn die beiden einander begegneten, schien Legolas noch ein ganzes Stück perfekter geworden zu sein; noch grösser, noch gerader, noch heller, noch reiner, noch unschuldiger. Wie er ihn hasste!

Legolas bat seinen Bruder ins Haus. Der schöne Elf schien äußerst gut gelaunt zu sein. Sichtlich freute er sich über den – offenbar – seltenen Besuch. Wie ein Wasserfall plapperte er auf Abalord ein, erzählte von neuen Drehbüchern, Autogrammstunden, der Zeit im Auenland mit Peter Jackson und dem Filmteam und davon, dass er kurz davon geträumt hatte, als Pirat einem karibischen Fluch zu entkommen.
Abalord hörte seinem Bruder nicht zu. Er fühlte den kalten Schweiß auf seiner Stirn und wie das Herz in seiner Brust zerspringen wollte. Innerlich bebend schritt er seinem aufgeregt wirkenden Zwilling hinterher, bis beide im Studierzimmer angekommen waren.

Legolas bat den Besucher, Platz zu nehmen, während er selbst zwei Gläser und eine Flaschen besten Scotchs aus der Minibar holte und für beide einschenkte.

„Was, lieber Bruder, was führt dich heute zu mir?“, wollte er wissen.

„Ähm...weißt du...lieber Bruder...“. Abalords Kehle schnürte sich zu, als er diese Worte von sich gab. „Weißt du...es ist...mir peinlich...“

„Du brauchst Geld?“, fragte Legolas mit besorgtem Unterton.

„Ähm...ja.“, antwortete Abalord, und es wurde ihm beinahe übel dabei.

„Das ist kein Problem, Bruder. Das braucht dir nicht peinlich zu sein. Du weißt, ich möchte für dich da sein. Du kannst auch gerne bei mir....“

„Wärst du damit einverstanden, mir...ähm...2.000 vorzuschießen?“

„Gerne. Ich gebe dir sogar 5.000, weil wir uns schon so lange nicht mehr gesehen haben. Ich hole das Geld nur schnell aus dem Safe. Du entschuldigst mich einstweilen?“

„Selbstverständlich.“

„Ich renne, als ob die Peitschen meiner Herren hinter mir wären.“

Zwinkernd verließ Legolas mit diesem Zitat aus „Herr der Ringe“ das Studierzimmer. Abalord wartete einen Moment, bis die Schrittgeräusche seines Bruders im Gang verhallt waren. Er räusperte sich und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Langsam, fast heimlich, richtete er seinen Oberkörper auf und musterte prüfend die Zimmertüre. Legolas war weg. Ganz sicher.
Schnell zog Abalord ein kleines Papiertütchen aus der Innentasche seiner Jeansjacke und kramte mit zittrigen Fingern eine Medikamentenkapsel daraus hervor. Diese brach er in der Mitte entzwei und entleerte das darin enthaltene Pulver in das noch volle Whiskeyglas seines Bruders. Danach ließ er sich wieder in den weichen Ledersessel fallen und wartete angespannt.

Als Legolas das Zimmer betrat, trug er einen weißen Umschlag in seiner rechten Hand. Lächelnd ging er auf seinen Bruder zu.

„Hier. Nimm. Du brauchst es mir nicht zurück zu geben.“ Er überreichte Abalord den Umschlag. Danach ging er zum freien Ledersessel, der seinem Besucher gegenüberstand, setzte sich, nahm sein Glas (in das Abalord das Pulver geleert hatte) und atmete tief durch.

„Cheers, Bruderherz!“, hob Legolas sein Glas etwas an.

„Cheers“, antwortete Abalord und versuchte, seine Nervosität so gut wie möglich unter Kontrolle zu halten.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich so bald wieder Seite an Seite mit einem Elfen Whiskey trinke.“, stammelte der hässlichere der beiden Sagengestalten aufgeregt.

„Wie wäre es Seite an Seite mit einem Freund?“, lächelte Legolas.

„Ja, da hätte ich nichts dagegen.“, erwiderte Abalord.

Die beiden Elfen leerten ihre Gläser in einem Zug. Kurz darauf verdrehte Legolas verstört die Augen. Panisch griff er sich an die Kehle, als würde keine Luft mehr durch seinen Hals strömen. Er röchelte, keuchte, spuckte. Ging zu Boden, sackte in sich zusammen. Schaum quoll aus den Mundwinkeln, während der Rest des einst erhabenen Körpers verzweifelt versuchte, in Richtung der Tür zu robben.

Der einst so schöne, reine Elf sah im Augenblick seiner Agonie gar nicht mehr so ansehnlich aus. In der Tat war sein Anblick widerwärtiger und furchterregender, als es jener Abalords jemals hätte sein können. Der Brudermörder fühlte ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit und Erleichterung in seiner Brust. Er genoss es, den Todeskampf des verhassten Widersachers bis zuletzt mitanzusehen.
Als Legolas schließlich reglos liegenblieb und sichtlich aufgehört hatte zu atmen, stieß Abalord einen zufriedenen Seufzer aus. Er blieb neben den schmerzverkrümmten, toten Körper seines Bruders noch lange Zeit sitzen. Musterte ihn wortlos. Schließlich stand er auf, reinigte Flasche und Gläser, nahm den Umschlag an sich und verließ so unauffällig wie möglich das Haus.

Abalord war überrascht und heimtückisch zufrieden zugleich, als er einige Tage später den Lokalteil der Zeitung aufschlug.

„Allseits beliebter Filmelf ermordet!“, prangte dort in fetten, schwarzen Lettern. Abalord las weiter. Er verschlang den gesamten Artikel gierig bis zum letzten Buchstaben – und konnte sich schließlich eines hämischen Grinsens nicht erwehren.
Das Blatt schrieb davon, wie der Butler des Hauses die Leiche Legolas aufgefunden und die Polizei verständigt hatte. Wie die Ermittler versuchten, die Spur nach dem Täter aufzunehmen. Und wie der heimtückische Mörder schließlich nur kurze Zeit später gefasst werden konnte.
Nachbarn hatten nämlich etwa zum Zeitpunkt der Tat eine verdächtige Person das Haus des Herr-der-Ringe-Elfen verlassen sehen. Es wäre eine gebückte Gestalt gewesen. Mit schuppiger, grüner Haut, schütterem, weißem Haar und gehüllt in einen verlausten Mantel.
Aufgrund dieser Aussagen, so schloss der Bericht in der Zeitung, wurde nur wenige Stunden nach der Tat der außerirdische Jedi-Meister Yoda wegen Mordes an seinem Kollegen Legolas festgenommen. Abalord war zum ersten Mal seit unglaublich langer Zeit wieder glücklich.

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Tag der Veröffentlichung: 12.10.2011

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