Cover

statt eines Vorwortes






Prolog

Gebote braucht der Mensch wohl um zu überleben,

Also schafft er ständig Neue sie zu übergeben,

An die Welt, die nach ihm sein wird, und an seine Erben,

Denn es läßt sich mit Geboten wirklich leichter sterben.

Lernte ich doch in der Schule: niemand solle lügen

Und so war ich völlig sicher: keiner wird betrügen

Doch im Lauf von dreißig Jahren lernte ich verstehen

Das Gebot kreiert man ja nur, um es zu umgehen

Wasserpredigt, Weingelage, so stehen die Gesetze,

Und wer heut Moral noch fordert,

Ruft schon auf zur Hetze.

Darum sah ich mich gezwungen, eigene mir zu schaffen

Zehn Gebote für mein Leben

Als die letzten Waffen:

Aufrecht stehen, wenn andere sitzen

Wind zu sein wenn, andere schwitzen

Lauter schreien, wenn andere schweigen

Beim Versteckspiel sich zu zeigen,

Nie als anderer zu erscheinen,

Bei Verletzung nicht mehr weinen,

Hoffnung haben beim Ertrinken,

Nicht im Wohlstand zu versinken,

Einen Feind zum Feinde machen,

Solidarität mit Schwachen.

Und ich hab` sie nie gebrochen bis auf ein Gebot:

Bei Verletzung wein` ich manchmal,

Was ich mir verbot

Bettina Wegner

Erklärung
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind gewollt : wie man mehrere Holzstücke zu einem stabilen Brett zusammenleimt, habe ich das Leben von mehreren Menschen zu einer Person verschmolzen. Um mich vor strafrechtlichen Maßnahmen zu schützen, habe ich die Wirklichkeit nicht einfach kopiert.

manchmal ist es schwer immer wieder neu aufzustehen




Erleichtert hört Paul aus der Ferne den stechenden Schritt, der sich mit dem Klappen des Spions von Zellentür zu Zellentür tastend nähert.5,30 Uhr.Endlich! Gegen Mitternacht hatte er entdeckt, daß sein Melanom unter dem Arm blutete. Seine bescheidenen Laienkenntnisse verdichteten sich in der stillen Dunkelheit zu der Gewißheit: Hautkrebs.

Wie einen Film hatte er sein Leben Revue passieren lassen. Nicht, daß er nicht gerne lebte , aber er akzeptierte, daß seine Zeit reif ist, vielleicht auch deshalb, weil er weder das Gefühl hatte, etwas Wichtiges versäumt zu haben, noch fiel ihm etwas ein, was er noch dringend erledigt haben wollte. Die Angst vor Schmerzen wich der Entschlossenheit, für die Zeit der Hilflosigkeit vorzusorgen, solange er noch im Besitz seiner Kräfte war. Der Tod war für ihn schon seit frühester Jugend kein Schreckgespenst.Quasi als Lebensversicherung -falls die Lebensverhältnisse so unerträglich sind- hatte er sich für das Aufschneiden der Pulsadern entschieden, wegen der orgastischen Müdigkeit beim Auslaufen des Blutes. Diese Vorstellung war sein Rettungsanker.

Paul weiß, daß Hautkrebs eine Heilungschance von annähernd 90 Prozent hat. Aber da ist er sich sicher: diese Statistik wurde nicht im Knast gemacht. Und sein Melanom ist so nah an den Lympfknoten! Will er sich von der Schulmedizin behandeln lassen? Er hat seinem Körper beigebracht sich selber zu helfen.Deshalb ist er nie ernsthaft krank gewesen. Er lehnt nicht kategorisch die Gerätemedizin ab, aber sein Verhältnis zu Ärzten entspricht dem zu Versicherungsvertretern: er versucht erst ihr Eigeninteresse herauszubekommen, bevor er ihnen vertraut.

Die Erinnerungen an Elke kommen hoch-sie ist vor einem Jahr an Brustkebs gestorben. Vor Fünf Jahren, nach der Diagnose, hatte er von ihr verlangt, daß sie ausbricht aus den Strukturen, die sie krank gemacht haben, daß sie alle Sicherheiten hinter sich läßt und einen neuen Lebens-anfang wagt. Sie fühlte sich von ihm verbal bedroht und flüchtete nach Stuttgart zu ihrer Mutter.Heute tut es ihm weh, weil er sie nicht in den Arm nahm, sondern mit den Worten aus Berlin verabschiedete:"ein gefangenes Tier hat zwei Möglichkeiten: sich entweder das Bein abzubeißen, an dem die Schlinge befestigt ist, oder sich zusammenzurollen, um zu sterben!".

So hat jeder seine Gitter vor seinem eigenen Fenster. "Lieber die Gitter aus Eisen",denkt Paul und betrachtet das einst von Menschen erdachte Monstrum: hinter den dicken Eisengittern ,befindet sich ein engmaschiger Draht und dahinter eine dicke Metallplatte mit lauter kleinen Löchern, so daß ein Blick in den Hof unmöglich ist. Die Glasscheibe hat eine milchige Form angenommen, da sie nicht zu putzen ist. "Aber gegen diese Gitter werde ich anrennen!", verspricht sich Paul und denkt dabei an Elke.

Er faßt den Entschluß über seinen letzten Lebensabschnitt ein Buch zu machen. Er verspricht sich davon, seine Gedanken zu ordnen und zu verarbeiten, der Einsamkeit und der Ohnmacht etwas entgegen zu setzen, und dadurch der Krankheit einen Sinn geben. Der Schließer erreicht seine Zelle. Er schaltet das Scheinwerferlicht über der Stahltür ein und sieht durch den Spion. Paul bewegt sich, erfüllt damit die Lebendkontrolle und erspart sich das Bummern des Schließers an die panzerschrankähnliche Tür.

Ist es irgendwo nicht folgerichtig, daß er krank geworden ist?. Ihm fällt das Lied von Robert Long ein: "Was hat das Kämpfen noch für einen Sinn, wenn man das Gefühl hat, daß man nichts mehr ändern kann." Früher hatte er noch die Vision einer menschlichen Gesellschaft, seit zehn Jahren hat er nur noch das Gefühl, sich verhalten zu müssen, seine ganze Körperkraft gegen diese Walze zu stellen, diese Walze nicht stoppen, allenfalls ein wenig aufhalten zu können, und wenn seine eigene Körperkraft nachläßt ,wird er von der Walze überrollt oder spätestens von den Menschenmassen, die hinter der Walze lauern, niedergetrampelt. Das ist der Lauf der Dinge! Er hat immer auf der Verliererseite gekämpft, aber diese Seite hat er sich ausgesucht, das ist seine Seite!

"Cäsar 2 Freistunde" hört Paul den Schrei eines Schließers durch die Verließmauern. Sein müder Blick prüft durch die Gitter das Wetter: Schneematch, kalt und ungemütlich. Das so ersehnte Klackern des Aufschließens der Zelle drängt ihn zu einer Entscheidung. Am liebsten würde er sich unter die Decke verkriechen. Aber nachher würde er sich ärgern, 24 stunden allein auf der Zelle , ohne diese eine Freistunde. Paul schnappt sich ein paar Socken als Handschuhe, streift die anstaltseigene Jacke über und bummert mit dieser von Tag zu Tag zunehmenden Wut eines Verzweifelten, dem wieder einmal sein Recht aberkannt wird, gegen die panzerschrankähnliche wieder geschlossene Tür. "Sie müssen zum Hofgang bereit stehen", belehrt der Schließer Paul und entläßt ihn zu den 50 gefangenen Menschen, die aus ihren Zellen gekrochen sind. Die Gefangenenrunde ist eröffnet: beim sturen Laufen im Kreis kann man reden und hören, ohne das eine Blume vertrocknet. Paul erinnert sich an einen Auspruch von Marianne Herzog:"würden wir auch ohne Freistunde überleben, bekämen wir keine!" Und doch tut es immer wieder weh:an die 23 Stunden Alleinsein hat er sich so gewöhnt, daß er nicht mehr das Bedürfnis verspürt zu reden. Erst die Freistunde legt den Finger auf die Wunde und macht ihm klar, was er vermißt.

Schon die letzten Male schlich Paul Runde für Runde über den Hof. Über Banalitäten zu reden hatte er keinen Nerv. Die fünf Jahre, die er sich eingefangen hat ,schmerzen ihn und jedes weitere Jahr, was er abmacht, fällt ihm zusehends schwerer. Doch zum Problem für ihn ist die Zeit danach. Er kann seinen Beruf als Einbrecher nicht mehr ausüben mit seinen Mitte vierzig Jahren, zumal ihn ein dienstbeflissener Beamter anschossen hat - Trümmerbruch - seitdem zieht er das Bein nach.

Er hat nichts anderes gelernt als diesen Beruf, der sein Leben, seine Passion war. Er liebte die Freiheit den zu beklauen, dem es nicht weh tat. Aber er litt auch darunter, die Freude über einen außergewöhnlichen Coup nicht teilen zu können, und er trug mit Würde den Preis: 10 Jahre Knast, mit Unterbrechungen. Eine Zeit dachte er, daß

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 03.03.2012
ISBN: 978-3-86479-358-5

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Nazim Hikmet:"Knast heißt nicht tod sein, sondern leben auf einer anderen Ebene!"

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