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Vorwort

 

 

 

 

 

 

 "Wenngleich die geschaffenen Wesen vergänglich sind;

  Niemals werden sie in das Nichts zurücksinken."

 

 

 

 

    Thomas von Aquin

Rosenbett

 

Ich starb in einer Dezembernacht.

Es schneite und ich war den ganzen Abend mit meinen Freundinnen unterwegs. Selbst jetzt kann ich mich noch gut erinnern, wie der Schnee unter meinen hochhackigen Stiefeln knirschte. Kann die Kälte des Windes spüren.

Es war eine jener belanglosen Kneipen-und-dann-Disko-Touren, mit der die Studenten heutzutage ihre Wochenenden füllen. Ich weiß noch, dass ich neidisch auf Liz und Katy war, weil sie ständig von attraktiven Kerlen angesprochen wurden, während ich hauptsächlich mit mir selbst tanzte.

Auf dem Nachhauseweg hörte ich Nelly Furtados „Somebody to love“ rauf und runter, wobei meine melancholische Stimmung immer stärker wurde. Als hätte ich geahnt, was der Abend noch für mich bereit hielt. Doch als ich in dieser Straßenbahn saß und aus dem Fenster in die Dunkelheit starrte, kreisten meine Gedanken nur um mein Gewicht, darum, wieso ich denn bloß keinen Kerl fand, naja, all diese Dinge eben. Rückblickend muss ich mir eingestehen, dass das Leben viel zu kurz für diese Form von Selbstmitleid ist. Und dass das Schicksal einen absolut sadistischen Sinn für Ironie hat.

Denn während ich mich noch sicher in der Bahn zwischen anderen Nachtschwärmern befand und mich verzweifelt nach einem Prinzen auf dem weißen Ross sehnte, ahnte ich noch nicht, dass mein Wunsch auf die schlimmstmögliche Weise erfüllt werden sollte.

Witzig, dass ich mich immer noch an jedes kleinste Detail dieser Nacht erinnere. Ich meine, es muss doch Wichtigeres in meinem Leben gegeben haben und dennoch ist mir gerade diese Zeit unheimlich präsent. Als ich aus der Bahn ausstieg und am Straßenrand auf meinen Anschlussbus wartete, fror ich entsetzlich und ich weiß sogar noch, wie viel Grad Celsius die digitale Anzeige über meinem Kopf zeigte. Vielleicht ist meine Erinnerung daran deshalb so klar, weil ich ihm dort begegnet bin.

Er war ein hübscher Kerl. Großgewachsen, mit schwarzem, welligem Haar. Er trug Lederslipper und eine dunkle Jeans, darüber einen edlen Mantel in Dunkelblau. Dazu Lederhandschuhe. Unsere Blicke trafen sich kurz, als mein Bus einfuhr und zu dem Zeitpunkt fand ich ihn attraktiv. Freute mich, dass wenigstens ein männliches Wesen auf mich aufmerksam geworden war. Nie hätte ich ihn angesprochen oder ähnliches, immerhin hatten mir meine Eltern oft genug eingetrichtert, wie gefährlich es nachts in einer Großstadt war. Aus diesem Grund wartete auch ein Pfefferspray in meiner Manteltasche. Ich wäre jedoch niemals auf die Idee gekommen, wie unnütz es dort war.

Deshalb setzte ich den Weg vertieft in meine Musik und meine Gedanken fort und stieg an der Haltestelle beim Wohnheim gemeinsam mit vielen anderen Studenten aus. Es war nicht allzu spät und ich war wie gesagt bei weitem nicht die Einzige, die zu dieser Stunde nach Hause kam. Die ganze Zeit habe ich mich nicht eine Sekunde unsicher oder gefährdet gefühlt. Um mich herum war Trouble und ich wohnte in einer Sechser-WG in einem vierstöckigen Gebäude voller junger Leute.

Es überraschte mich auch nicht, dass unsere Wohnungstür offen war, als ich ankam. Innen gab es einen Knauf, mit dem man den Schließbolzen vordrehen konnte, sodass die Tür nicht ins Schloss fiel. Zwei meiner bulgarischen Mitbewohner hatten Freunde weiter oben im Haus und nutzten diese Methode oft, um keinen Schlüssel mitnehmen zu müssen, wenn sie sie besuchten.

Ich nahm an, sie hätten es nur vergessen und verrammelte alles sorgfältig, nachdem ich drinnen war. Mein Zimmer lag ganz hinten im Flur und ich blieb beim Schuhregal stehen, um aus meinen hübschen aber unbequemen Stiefeln zu schlüpfen. Immer noch fühle ich genau, wie wieder Blut in meine blauen, eisigen Zehen floss. Eine simple Erleichterung, die mich innehalten ließ, bevor ich mich nach Nummer eins auch dem zweiten Fuß zuwandte.

Wäre ich nur nicht so zimperlich gewesen oder hätte andere Schuhe für diesen Abend gewählt, wäre ich vielleicht schon in meinem Zimmer gewesen und hätte das Klopfen nie gehört.

Ich weiß, es klingt total naiv, aber als ich mit einem Fuß im Stiefel, den anderen nur noch mit einer Socke bekleidet, nach vorn humpelte, machte ich mir keine Sorgen. Ich verschwendete nicht den geringsten Gedanken daran, dass man nachts keine Wohnungstüren öffnete, ohne vorher nachzusehen, wer denn auf der Matte stand. Ich nahm stattdessen an, dass ich einen meiner Mitbewohner ausgesperrt hatte und fragte nicht nach, bevor ich die Schlösser entriegelte.

Erst als die Tür weit offen war und ich schon eine Entschuldigung murmeln wollte, erkannte ich, dass ein Fremder auf der anderen Seite wartete.

Wobei, nicht ganz fremd. Es war der Kerl von der Bushaltestelle.

Heute wundere ich mich darüber, dass ich keine Panik bekam. Ich war überrascht und auch ein wenig beunruhigt, das schon. Aber das einzig Richtige, nämlich, die Wohnung umgehend zu verbarrikadieren, tat ich nicht. Ich kann immer noch nicht sagen, warum. Vielleicht war es Eitelkeit, weil ein Teil von mir befriedigt darüber war, dass mir jemand seine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Oder aber, weil mein Mörder gar nicht bedrohlich wirkte. Er hatte ungefähr mein Alter, war gepflegt und gut gekleidet. Zudem gab er sich schüchtern und erzählte, dass er eine Busstation vor meiner hätte aussteigen müssen, es aber nicht über sich gebracht habe, weil er mich unbedingt kennenlernen wolle. Und er schaffte es sogar, charmant zu erscheinen, als er fragte, ob ich noch einen Kaffee mit ihm trinken wolle.

Ich fürchtete mich nicht davor, ihn entschieden zurück zu weisen. Immerhin war ich soweit bei Verstand, es doch merkwürdig zu finden, dass mir jemand mitten in der Nacht bis nach Hause gefolgt war, um eine Tasse Kaffee mit mir zu trinken. Schließlich hätte er mich schon im Bus ansprechen können und ich dachte verwundert, dass er doch wissen müsse, dass sein Verhalten unheimlich wirkte. Aber ich fühlte mich mit all den anderen Studenten im Gebäude sicher. Da war keine Furcht.

Die kam erst, als ich die Tür schließen wollte und ein brauner Lederslipper mit Salzrändern meinen Versuch vereitelte.

Endlich geriet ich in Panik. Sie durchdrang mich innerhalb eines Herzschlages von Kopf bis Fuß und dies war der einprägsamste Moment jener Nacht. Wäre ich noch am Leben, würde ich diesen Augenblick jedesmal erneut durchmachen, sobald ich die Augen schlösse. Dieses Gefühl, wenn einem plötzlich klar wird, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Dass man mit einem Mal die Kontrolle verliert und sich etwas völlig Harmloses in eine lebensbedrohliche Gefahr verwandelt.

Vorher hätte ich steif und fest behauptet, in einer solchen Situation richtig zu reagieren, überhaupt reagieren zu können. Aber das war nicht der Fall. Die Angst lähmte mich, raubte mir den Atem. Ich konnte nicht verhindern, dass mein Mörder mich in die Wohnung hineinstieß und überwältigte. Schaffte es weder, um Hilfe zu schreien, noch mich zu befreien. Am Boden unter dem Fremden gefangen, schoss mir noch durch den Kopf, dass seine braunen Augen doch so nett wirkten, gar nicht wie die eines Wahnsinnigen.

Das Bisschen instinktive Gegenwehr, das ich aufbrachte, war nutzlos. Es zwang den Mann nur dazu, mich bewusstlos zu schlagen, was im Nachhinein wahrscheinlich gar nicht so übel war. So bekam ich von den fünf Stunden, in denen ich noch lebte, nichts mehr mit. Ich habe keine Erinnerung daran, was er mit mir gemacht oder wie genau er mich getötet hat, aber heute kann ich mir denken, was passiert sein muss.

Denn ich war nur seine Erste.

 

Man fand mich zwei Tage später in einem kleinen Waldstück am Stadtrand. Mein Anblick gab ein denkwürdiges Foto für die Zeitungen ab. „Ewige Ruhe im Rosenbett“ titelten die Klatschblätter und überall wurden die Bilder davon veröffentlicht. Der cremefarbene Mantel, den ich erst vor ein paar Wochen gekauft hatte, passte zum blütenreinen Schnee im Hintergrund. Beides bildete einen hübschen Kontrast zu den Rosen, auf die mein Mörder mich gebettet hatte. Ihr Rot war dunkler als sonst, da sie durch die Kälte gefroren waren. Nur eins störte das makabre Kunstwerk: Ein Stiefel fehlte.

Alles in allem würde ich sagen, dass ich keine abstoßende Leiche war. Ich wies keine äußerlichen Verletzungen auf. Mein Gesicht sah beinahe entspannt aus und meine Augen wirkten, als blickten sie schlicht in den Himmel hinauf, anstatt für immer ins Leere zu starren. Wie ich später erfuhr, hatte mein Mörder Kaliumchlorid verwendet. Nichts, was auffällige Spuren hinterließ. Er hatte es aus dem Krankenhaus gestohlen, wo er als Medizinstudent ungehinderten Zugang gehabt hatte.

So machte er es auch mit Lisa. Bei ihr sah ich zum ersten Mal zu und war gelinde gesagt froh, dass ich das Ganze quasi verschlafen hatte. Auch sie machte er bewusstlos, bevor er sie vergewaltigte und dann tötete. Bei dem nächsten Mädchen, Sophia, reichte ihm das nicht mehr aus.

Ich beobachtete ihn seit meinem Tod und bald wurde mir klar, dass er ein kranker Psychopath war. Einer dieser stillen, freundlichen Kerle, die sich nie etwas trauten und jeder Auseinandersetzung aus dem Weg gingen. Wenn er dann endlich genug Mut aufbrachte, ein Mädchen anzusprechen, tat er dies auf die merkwürdigste und ungünstigste Weise, weswegen er jedes Mal abgewiesen wurde. Dann rächte er sich, indem er die jungen Frauen in seine Wohnung brachte, sich ihnen aufzwang und sie letztlich ermordete. Er hatte nicht gelogen. Er wohnte tatsächlich nur eine Busstation von meinem Wohnheim entfernt.

Beim Töten genoss er das Gefühl, die Kontrolle zu haben, endlich einmal der zu sein, der entschied. Der, der die Macht hatte, sogar über Leben und Tod. Dennoch hielt er uns alle auch in den Armen und weinte in unsere Haare, schien eine Beziehung zu jeder von uns aufzubauen. Er behandelte uns zum Teil, als wären wir seine Freundinnen, die ihn verlassen wollten, wo er uns doch liebte. Ein krankes Spiel, das er von Mädchen zu Mädchen weiterentwickelte. Während Lisa, und ich wahrscheinlich auch, bewusstlos gewesen waren, hatten andere nicht so viel Glück. Sie mussten im wachen Zustand mitspielen. Wie lange ihnen das gelang, entschied über ihren Todeszeitpunkt.

Der Mörder bettete unsere Leichen auf langstieligen Rosen. Er suchte nur die Makellosesten dafür aus, als wäre allein das Beste gut genug für unsere letzten Ruhestätten. Er arrangierte alles akkurat und behandelte das Ergebnis wie einen heiligen Schrein. Am Schluss hielt er eine Art Zeremonie ab und verabschiedete sich mit einem Kuss auf die Stirn.

Jedes Mal war ich dabei und mit jedem Mal wurden es mehr Zuschauerinnen. Jahr um Jahr kamen Mädchen dazu, hielten still Wache für die Seelen ihrer Schwestern. Wir hätten unterschiedlicher nicht sein können, von blond bis schwarzhaarig, blaue oder braune Augen, groß sowie klein, alles war dabei. Uns verband lediglich die eine Tatsache, dass wir durch dieselbe Hand gestorben waren und seither unseren Mörder beobachteten.

Wir wachten und warteten, denn wir wussten, irgendwann würde auch er seinen Meister finden.

 

Und heute ist es endlich soweit. Vom Schicksal gerufen, versammeln wir uns und folgen unserem Henker. Wir alle sollen bezeugen, wie er gerichtet wird, damit auch wir endlich die gerechte Ruhe finden können. Gebunden an sein Leben, gezwungen immer wieder zuzusehen, sind wir schließlich der Erlösung nahe. Ich kann sie schon beinahe schmecken. Es befriedigt mich irgendwie, dass unsere Befreiung seine Verdammnis sein wird, doch die Erleichterung ist stärker. Unsere Gruppe wird nur noch ein neues Mitglied bekommen, dann wird es vorbei sein.   

Wir sind vollzählig und begleiten Sahra auf ihrem Weg. Ein letztes Mal erleben wir alles mit und ich muss an die Nacht meines Todes denken. Daran, wie hervorragend ich mich an sie erinnern kann und wie wenig an mein Leben, an alles, was ich zurück gelassen habe. Auch frage ich mich, was mich jetzt erwartet, ob es wohl so etwas wie einen Himmel gibt, oder Wiedergeburt oder Walhalla oder was auch immer. Angst habe ich keine, immerhin bin ich schon tot und wie sich zeigte, war das auch nur eine Transformation.

Jetzt wartet die nächste auf mich. Und während ich zusehe, wie unser Mörder Sahra auf langstielige Rosen bettet, ihr einen Abschiedskuss gibt, weiß ich, dass alles gut werden wird. Ein Wissen, so tief verwurzelt, wie die Kenntnis meiner Muttersprache oder meines eigenen Bewusstseins. Felsenfest.

Es ist wieder Winter. Der frische Schnee bildet einen Zuckerguss über dem Waldboden rund um Sahras Schrein. Ein kahler Baum steht direkt daneben, ebenfalls vom zarten Weiß überzogen. Es ist bitterkalt, nicht dass ich es spüren würde. Doch unserem Mörder wird es zum Verhängnis werden. Noch tritt er fröstelnd von einem Bein aufs andere, denkt, er könne immer so weiter machen. Weiß nicht, dass er gleich bekommen wird, was er uns angetan hat.

Er wirft einen abschließenden Blick auf Sarahs Leiche und will sich umdrehen, um davon zu gehen. Er kommt nicht weit.

Eine Sekunde später rutscht er auf dem vereisten Untergrund aus und stürzt. Beim Fallen macht er einen erschrockenen Laut. Dann verstummt er für immer, als er mit dem Kopf unglücklich gegen den Baumstamm knallt und neben Sahra zusammenbricht. Nun gesellt sich das Rot seines Blutes zum Rot der edlen Blumen und unser Mörder stirbt Seite an Seite mit seinem letzten Opfer.

Von uns allen umringt findet er ein passendes Ende im Rosenbett.

 

 

 

- Ende -

 

 

Impressum

Texte: Aven Miles
Bildmaterialien: deviantart.com
Tag der Veröffentlichung: 20.10.2014

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