„Die Reichen und Mächtigen pissen auf uns und die Medien erzählen uns, dass es regnet.“
Anonym
Von ihrem Platz am Fenster hatte sie eine hervorragende Sicht auf das dichte Schneetreiben.
Seit Tagen wollte es einfach nicht aufhören zu schneien. Die weiße Pracht türmte sich schon meterhoch, verwandelte den Böhmer Wald in eine lauschige Winterlandschaft. Die Tannen bogen sich unter der schweren Last und von den Wiesen rund um ihr Heim war kein Grün mehr zu erkennen. Der gesamte Hügel wirkte wie ein Berg aus Zuckerguss.
Johann hatte alle Hände voll damit zu tun gehabt, das Haus weiterhin zugänglich zu halten. Stunden über Stunden hatte er Schnee geschippt, Holz im Schober gehackt und hinüber in den Wohnbereich getragen. Dabei ließ er Adele nie helfen, obwohl er wusste, dass sie stark genug gewesen wäre, ihn samt der Scheite zu stemmen. Aber sie legte es nicht drauf an. Er hatte schon so viel Verständnis aufgebracht, da wollte sie ihm diese Anwandlung männlichen Stolzes lassen. Wenn er damit glücklich war, war sie es auch.
Adele hatte nur diese eine Lebenszeit mit Johann und sie gedachte nicht, auch nur einen Moment davon mit nichtigen Streitereien zu verschwenden. Genau wegen dieser Art Leben hatte sie ihr altes hinter sich gelassen. Aber erst Jahrhunderte später war sie endlich dem Mann begegnet, der ihr Herz zum Klingen brachte, für den sich plötzlich alles gelohnt hatte. Auch wenn er nicht ihr Gegenstück war.
Adele warf einen Blick über die Schulter zum Bett, wo ihr Ehemann lag und leise schnarchte. Dabei regte sich wie immer tiefe Zuneigung in ihrer Brust. Er wusste nicht alles über sie, aber genug, um sich ein Bild machen zu können. Und trotzdem liebte er Adele, hatte sie geheiratet und zwei wundervolle Kinder mit ihr bekommen. Wie sie diesen Segen, diese beiden Wunder, verdient hatte, war Adele immer noch schleierhaft. Wegen ihr lebten sie in der tiefsten Einöde und Johann beschwerte sich niemals. Nahm alles in Kauf, die harte Arbeit, die wenig einladende Gegend, nur um mit ihr zusammen zu sein. Auch dass er alterte, während sie für immer wie 25 aussehen würde. In Zukunft würden da noch einige Umzüge auf sie zukommen, damit dieser Umstand niemandem auffiel. Adele hielt sich zwar von Menschen fern so gut sie konnte, aber ganz vermeiden ließ sich der Kontakt doch nicht. Deswegen würden sie Böhmen eines Tages hinter sich lassen müssen. Und sogar damit hatte sich Johann abgefunden.
Ja, er war wirklich alles wert gewesen. Die tausend Jahre, in denen sie auf der Flucht gewesen war, sich in den entlegensten Winkeln der Welt versteckt hatte. Und dann hatte er ihr auch noch Kinder geschenkt, die seine Erinnerung für alle Zeit lebendig halten würden, wenn er schon längst von der Erde verschwunden war. Er hatte dafür gesorgt, dass er Adele nie wirklich verlassen würde. Vergessen würde sie ihn sowieso niemals.
Doch so nah sie beide sich auch standen, so wusste Johann dennoch nicht, dass ihre Gabe sich nicht ganz verdrängen ließ. Er nahm an, dass sie die Elevenderfähigkeit nicht benutzte, was auch stimmte. Leider hatte sich nach der Geburt ihrer ersten Tochter heraus gestellt, dass sich Adeles Natur nicht einfach wegsperren lassen wollte. Immer häufiger hatte sich die alt vertraute, übernatürliche Kraft gemeldet. Hatte ihr Bilder eingegeben oder sie in ein plötzliches Gefühlschaos gestürzt. So sehr sie es auch wollte, sie konnte es nicht ganz abschalten.
Das war auch der Grund, warum sie mitten in der Nacht am Fenster stand und in das Schneegestöber hinaus blickte. Sie störte sich nicht daran, dass die Füße langsam aber sicher zu Eisklötzen wurden. Der Holzboden war im Winter sehr unwirtlich, vor allem wenn die Glut im Blechofen nur noch leicht vor sich hin glomm, wie jetzt gerade.
Adele fand keinen Schlaf. Beinahe schon so lange wie es schneite. Es hatte fastzeitgleich begonnen. Der Schnee war wie ein Vorbote gewesen und Adele musste kein Genie sein, um die Botschaft deuten zu können. Sie spürte es selbst. Tief in ihrem Herzen. Dieses Gefühl, das sie nachts wach hielt und ihr sagte, dass bald etwas geschehen würde.
Etwas Schlimmes.
Adele sträubte sich davor, herauszufinden worum es sich handelte. Aber ganz beiseite schieben ließ sich die Vorahnung nicht. Also hielt sie Nachtwache und zählte die Flocken, die am Fenster vorbei segelten. Wünschte sich, die Zukunft wäre so makellos und rein wie die unberührte Winterlandschaft. Obwohl sie es doch eigentlich besser wusste. Oder viel mehr spürte. Und sie irrte sich nie.
Ein Geräusch ließ Adele aufschrecken. Die Tür zum Schlafzimmer knarzte leise, als sie einen Spalt breit aufgeschoben wurde. Eine kleine Nase kam zum Vorschein, winzige nackte Zehen tasteten sich vor. Adele musste unwillkürlich lächeln. Ihre Tochter konnte wohl ebenfalls nicht schlafen. Auch das ging schon so, seit es schneite. Sie vermutete, dass die Kleine die Anspannung ihrer Mutter spürte und deshalb nachts wach wurde.
„Komm‘ rein, mein Spatz. Ich bin hier drüben“, flüsterte Adele in die Dunkelheit. Man konnte den Raum und die Möbel nur schemenhaft erkennen und sie wollte nicht, dass sich die Kleine weh tat. Oder dass Johann geweckt wurde.
Aurelia schlich hinein und tapste hastig zum Fenster hinüber, wo Adele den Wirbelwind auffing. Schmale Arme schlangen sich um ihren Nacken und der kleine Körper zitterte leicht.
„Hast du wieder schlecht geträumt?“, fragte sie leise und strich über das ebenholzbraune Haar, das ihrem eigenen so ähnlich war.
Ihre Tochter nickte stumm und vergrub das Gesicht in Adeles Halsbeuge. Vorsichtig wiegte die die Kleine tröstend hin und her.
„Es war nur ein Traum. Es ist alles in Ordnung. Ich bin ja da.“
Doch genau wie gestern und vorgestern und am Tag davor,wollte sich Aurelia nicht so einfach beruhigen lassen. Sie klammerte sich an ihrer Mutter fest und schien nicht aus dem Alptraum erwachen zu können. Adele spürte die fürchterliche Angst und wie jedes mal wurde ihr Herz ganz weich. Sie stand mit der Vierjährigen in den Armen auf und ging hinüber ins Kinderzimmer. Am besten half noch immer die Realität.
Sie kniete sich vor Ellis Bett und rückte Aurelia auf ihrem Schoß zurecht.
„Schau‘ doch. Eliodora geht es gut. Du hast nur geträumt.“
Aurelia beugte sich vorsichtig über die ein Jahr jüngere Schwester, die selig schlummernd zwischen Daunen und Stroh lag. Leise Atemzüge ertönten in regelmäßigen Abständen, hin und wieder unterbrochen von den Nuckelgeräuschen, die entstanden wenn Elli am Daumen lutschte.
„Heiß?“, hauchte Aurelia und sah zweifelnd zu ihrer Mutter auf.
„Aber nein, Liebes. Hier.“ Adele nahm die zarten Finger der Vierjährigen und führte sie vorsichtig zum Bett hinüber. Ganz sachte berührten sie gemeinsam Eliodoras Wange.
„Und jetzt bei mir.“
Aurelia gehorchte und legte die andere Hand an Adeles Stirn.
„Siehst du? Kein Fieber. Alles in Ordnung.“
Es dauerte noch einen Moment, bis der besorgte Ausdruck aus dem kleinen Gesicht verschwand. Das Mädchen vergewisserte sich noch ein Mal und strich vorsichtig über Ellis Arm. Erst dann probierte sie ein zaghaftes, erleichtertes Lächeln. Bei dem Anblick wollte Adeles Herz überfließen. Natürlich fand sie es nicht gut, dass ihre ältere Tochter an Alpträumen litt. Aber es war schön, dass Aurelia die jüngere Schwester heiß und innig liebte. Hatte sie schon immer.
Daraufhin ließ sich die Vierjährige, genau wie in den vergangenen Nächten, brav ins Bett bringen. Dieses stand auf der anderen Seite des Raumes und nachdem Adele die Kleine hingelegte hatte, blieb sie noch bis auch die zweite Tochter wieder tief und fest schlummerte. Bevor sie das Zimmer verließ, warf sie einen letzten Blick auf die beiden Schätze und schickte ein Dankgebet gen Himmel. Johann hatte all ihre Wünsche wahr werden lassen und sie liebte das Leben hier oben, auch wenn es noch so entbehrungsreich und einsam war. Lieber so, als dass jemals jemand herausfand, wie stark Adeles Gabe tatsächlich war.
Im Vorbeigehen betrachte sie lächelnd ihren Mann, der von all dem keine Ahnung hatte und der den Schlaf der Gerechten schlief. Das hatte er sich auch verdient, dachte sie glücklich.
Doch als sie erneut ihren Wachposten am Fenster einnahm, fiel ihr das zufriedene Grinsen geradezu aus dem Gesicht.
Mitten im eingeschneiten Hof stand eine dunkle Gestalt. Der Größe nach ein Mann, bekleidet mit einem langen Mantel. Absolut reglos verharrte er im Schneegestöber.
Adele erschrak für einen Augenblick. Jedoch nicht, weil sie nicht gewusst hätte, wer da draußen wartete. Bloß hatte sie gehofft, den Kerl nie wieder sehen zu müssen.
Seufzend wandte sie sich um und schlich abermals hinaus aus dem gemeinsamen Schlafzimmer. Im Hauptraum ihres einstöckigen Hauses aus robustem Holz schlüpfte sie in die Fellstiefel und warf sich den dicken Wollumhang über. Draußen war es kälter als erwartet und Adele zog die warmen Schöße enger um sich. Leise schloss sie die Tür und sah sich zu dem ungebetenen Besucher um.
War er es, auf den ihre Gabe seit Tagen aufmerksam machen wollte?
Warum war er wohl gekommen?
Der Wind hatte aufgefrischt, die Flocken kamen nun von der Seite. Über ihren Köpfen schien der Himmel in Bewegung zu geraten und jetzt entstand eine kleine Lücke in der undurchdringlichen Wolkendecke. Ein fahler Mondstrahl schummelte sich hindurch und tauchte den schneebedeckten Hof in schimmerndes Silber.
Das eisige Weiß glitzerte unberührt. Keine Fußspuren waren zur erkennen. Lediglich ein zweites Paar Abrücke neben der Gestalt, deren blondes Haar nun ebenfalls im Licht leuchtete.
Adele trat ein paar Schritte vor.
„Guten Abend, Chronos. Was verschafft mir die Ehre?“
„Anthea“, erwiderte die tiefe Stimme knapp und er neigte den Kopf kaum merklich. Wenig verwunderlich, dass er keine standesgemäße Begrüßung zuwege brachte. Ein Ratsmitglied verbeugte sich selten vor anderen.
„So nennt man mich schon lange nicht mehr. Ich dachte, das wäre dir bekannt.“
„Mitnichten. Bei unserer letzten Begegnung vor 400 Jahren trugst du noch deinen Geburtsnamen.“
„Und ich soll dir glauben, du hättest seitdem nicht nach mir gesehen? Du weißt, dass ich es besser weiß.“ Aber bisher hatte er sich nie gezeigt. Und sie machte sich nichts vor, dazu kannte sie ihn zu gut. Er war nicht hier, weil er ihr einen Besuch aus alter Freundschaft abstatten wollte. Chronos tat nichts, ohne ein bestimmtes Ergebnis zu erwarten.
„Ja“, entgegnete er lediglich. Seine Miene verriet nicht wie er dazu stand, dass Adele ihn durchschaut hatte.
Weil er so unerträglich starr blieb, bewegte sie sich weiter auf ihn zu, bis sie ein paar Meter von ihm entfernt stehen blieb. Seine starren Züge waren ihr nur zu vertraut. Sie hatten sich in den letzten 2000 Jahren kaum mehr verändert. Genauso wie Adeles Gesicht. Und weil sie sich so lange kannten, kam es ihr seltsam vor, ihn auf Abstand zu halten als wären sie zwei Fremde.
„Wie geht es dir, alter Freund?“
„Den Umständen entsprechend.“ Er nickte zum Haus. „Wie ich sehe, hast du eine Familie.“
Adele lächelte glücklich. „Ich bin jeden Tag dankbar dafür und bereue meine Entscheidung nicht.“
„Das kann man sehen.“ Sein Atem bildete kleine Wölkchen und er blickte sie durchdringend an. Trotz der vielen Gelegenheiten, in denen er das schon getan hatte, fühlte es sich an wie beim ersten Mal. Schlichtweg entwaffnend.
Adele schluckte.
„Warum bist du hier, Chronos? Es dürfte dir doch langsam klar sein, dass du mich nicht überzeugen kannst.“
„Und dir dürfte klar sein, dass ich es alle paar Jahrhunderte erneut versuchen muss. Für dich wird es immer einen Platz im Rat geben.“
Adele fauchte leise. Mit einem unwirschen Handstreich wischte sie den Vorschlag vom Tisch. „Ich habe damals Nein gesagt und auch heute bleibt es dabei. Wir sind zu gefährlich. Ich kann nicht verstehen, wie du das ignorieren und weiterhin ein Ratsmitglied sein kannst. Du hast gesehen, was wir mit unseren Kräften verursacht haben, welche Konsequenzen das hatte.“ Sie hatte sich in Rage geredet und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme vorwurfsvoll klang. Das hatte sie nicht beabsichtigt, immerhin hatte er genauso viel verloren wie sie selbst.
Chronos hob die Hand. Die erste Bewegung, die er machte. „Ich habe versprochen, meine Gabe nie wieder einzusetzen und ich halte mich daran. Aber bei dir ist das etwas anderes, Anthea. Deine Fähigkeiten könnten die Welt retten. Die Hegedunen endgültig besiegen.“
Die alte Leier schon wieder. Die kannte sie in- und auswendig. Immer war er mit denselben Argumenten gekommen und sie hatte jedesmal mit ihren Ansichten dagegen gehalten.
„Nein. Wir würden die Welt ins Chaos stürzen. Wir HABEN die Welt ins Chaos gestürzt, erinnerst du dich?"
Ganze Kulturen, Abermillionen Menschen waren einfach verpufft, als hätte es sie nie gegeben. Wegen einer einzigen Fehlentscheidung. Wegen einem einzigen Moment des Hochmutes. Sie hatten wahrhaftig geglaubt, dazu bestimmt zu sein, die Menschheit und den Planeten zu retten. Doch stattdessen waren sie nur drei Wahnsinnige mit Gottkomplex gewesen. Elysios hatte das viel früher verstanden als Adele. Erst sein Verschwinden hatte sie wachgerüttelt.
Chronos dagegen war unbekehrbar. Zwar hatte er sich bereit erklärt, seine Kraft nie wieder zu benutzen, aber er hielt an seiner Machtposition innerhalb der Legion fest. Sie konnte das nachvollziehen, immerhin hatten sie drei die Organisation gegründet. Vorher hatte es einzelne Häufchen Elevender gegeben, die versuchten, gegen die Hegedunen aufzubegehren. Damals war dieser Krieg natürlich wesentlich archaischer gewesen und seitdem hatte sich so vieles verändert. Die Erde hatte ganze Zeitalter unter hegedunischer Herrschaft verbracht, während Adle, damals noch Anthea, Chronos und Elysios eine geheime Vereinigung aufgebaut hatten.
Stets war ihnen bewusst gewesen, welch riesige Macht in ihren Händen gelegen hatte, weswegen sie zunächst nicht in Erwägung gezogen hatten, sie auch einzusetzen. Sie hatten geglaubt, sie würden wiederstehen können.
Heute wusste Adele, wie naiv das gewesen war. Egal wie sehr man sich etwas vornahm, es gab immer den einen Präzedenzfall. Die eine Ausnahme, für die man die Regeln ein einziges Mal lockerte.
Und genau das war auch geschehen.
Obwohl sie drei lediglich versucht hatten, eine Katastrophe zu verhindern, die Adele vorhergesehen hatte, hatten sie alles nur noch schlimmer gemacht. Chronos‘ Gabe war die mächtigste von ihren Dreien und er hatte sie an jenem Tag eingesetzt. Hatte ein Stück der Geschichte aus den Analen getilgt. Nur ein paar Minuten, die später ein schreckliches Unglück verursacht hätten. Doch damit hatte er in den natürlichen Lauf des Universums eingegriffen und plötzlich hatte sich alles verändert. Die Gefahr war ihnen bewusst gewesen, aber sie hatten nicht überschauen können, wie weitreichend die Konsequenzen sein würden.
„Ich erinnere mich“, sagte Chronos tonlos. Ein Schatten glitt über sein Gesicht, als ob ihn die selben Gedanken plagten wie Adele. Auch wenn er es selten zeigte, sie wusste, dass irgendwo eine gute Seele in ihm steckte. Sonst wären sie sicher nicht befreundet gewesen.
„Aber wir sind doch lernfähig. Wir müssen diese Fehler nicht wiederholen, jetzt wissen wir es besser.“
Adele stieß einen höhnischen Laut aus. „Ich stimme dir zu. Und deswegen sollten wir getrennter Wege gehen. Denn ICH habe gelernt, dass die Zukunft nichts Gutes für uns bereit hält, wenn wir diesen Pfad weiter verfolgen. Glaub‘ mir. Außerdem, kreuze ich alle paar Jahrhunderte bei dir auf, um dir klar zu machen, dass du im Rat nichts zu suchen hast?“ Was ihrer Meinung nach der Fall war.
„Leben und leben lassen?“, fragte er mit einer Spur Erheiterung in der Stimme.
„Leben und leben lassen.“
Eine lange Pause entstand, in der Chronos sie ausgiebig musterte.
„Das heißt, wir sehen uns heute zum letzten Mal…“
„Mach‘ mir keine falschen Hoffnungen!“
Sein linker Mundwinkel hob sich einen halben Zentimeter. Das war das Höchste der Gefühle.
„Schön, dich noch ein mal lachen zu sehen“, flüsterte sie in einem Anflug von melancholischer Abschiedsstimmung. Da war es also. Das endgültige Lebe wohl. Das hatte sie gewollt und dennoch machte es sie wehmütig.
„Du wirst bei uns immer willkommen sein. Und deine Familie auch, vergiss‘ das nicht.“
„Danke. Aber… tust du mir einen Gefallen?“
„Welchen?“, erkundigte sich Chronos erstaunt.
„Ich mag dich wie einen Bruder,… aber lass‘ die Finger von meiner Familie, in Ordnung?“ Es klang wie ein Scherz, doch sie wussten beide, wie ernst es Adele damit war.
Sein Erstaunen wich kühler Ernüchterung. „In Ordnung.“
Sie hatte ihn wohl getroffen, aber das war ihr egal. Nichts war wichtiger als die Sicherheit ihrer Familie.
Sie wollte gerade noch einen erklärenden Kommentar nachschieben, als ein lauter Ruf aus dem Haus ertönte.
Alarmiert wandte Adele sich um, hörte Johann noch einmal markerschütternd brüllen. Was in aller Welt…?
Schon befand sie sich im Dauerlauf. Aus reiner Höflichkeit wollte sie noch ein paar Abschiedsworte über die Schulter werfen. Doch ein Blick zurück zeigte, dass Chronos bereits verschwunden war.
Sie hatte keine Zeit, sich über seinen unerwarteten Besuch in St. Magdalena zu wundern, denn im Haus schien irgendwas vorzugehen. Offensichtlich stimmte etwas nicht und Johanns besorgter Tonfall leitete Adele ins Kinderzimmer. Dort angekommen, klopfte ihr Herz bis zum Hals, in der festen Erwartung einer Katastrophe. Sie hatte es doch schon seit Tagen gespürt, es geahnt.
Johann kniete neben Ellis Bett und hielt den kleinen Körper in den Armen. Sachte schüttelte er das Mädchen, redete laut auf sie ein, doch nichts davon schien sie zu wecken. Adele meinte, jemand hätte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, jeden Falls hockte sie im nächsten Moment neben ihrem Ehemann und beugte sich über die gemeinsame Tochter. Mit einer schrecklichen Befürchtung vor Augen legte sie die Hand auf Ellis Stirn, befühlte auch die geröteten Wangen.
Die Kleine glühte förmlich!
Oh mein… Das durfte einfach nicht wahr sein! Das bedeutete doch, dass…
„Schnell, Johann. Bring‘ sie raus in den Schnee! Wir müssen sie abkühlen!“
Klugerweise kam er ihren Anweisungen nach und während sie den beiden nach draußen folgen wollte, sah sie sich besorgt nach Aurelia um.
Die ältere Tochter hatte sich auf der Strohmatratze ganz an die Wand gekauert und die Beine angezogen. Der furchterfüllte, eisblaue Blick war entsetzt auf die entschwindende Schwester gerichtet. Adele stoppte voller Mitleid. Sie kannte die Gefühle genau, die ihrer Tochter ins Gesicht geschrieben standen.Und auch sie selbst bekam es mit der Angst zu tun, nicht nur wegen Elli.
Sie schnappte sich Aurelia und hielt das kleine Mädchen tröstlich umschlungen, wobei sie sich an die Fersen ihres Mannes heftete. Sie schaute in die schon jetzt so klugen Augen ihrer Tochter und versprach sich, dass Aurelia niemals das durchmachen würde, was Adele erlebt hatte.
Oder besser gesagt Anthea.
Ein Keuchen entwich ihren zitternden Lippen. Sogleich biss sie auf die Untere, um sich zum Schweigen zu bringen. ‚Leise, leise!‘, mahnte ein letzter Rest ihres vernünftigen Verstandes. Immerhin waren sie zwar alleine im Zimmer, doch außerhalb dieser vier Wände hielten sich einige andere Bewohner des Bunkers auf.
So schnell der Gedanke gekommen war, so schnell war er wieder vergessen. Die nächsten Laute, die ihr entwichen, waren keine Worte und doch durchbrachen sie die Stille wie ein Donnerschlag. Sie entstammten einem Teil von ihr, den sie nicht kontrollieren konnte, der sich nicht ihrem Willen unterwerfen ließ. Und genau der hatte sie auch in diese Lage gebracht.
Nackt, verschwitzt und mit Gänsehaut am ganzen Körper unter ihrem Gegenstück liegend. Seine starke Brust im Rücken, seine Hüften gegen ihren Po gepresst. Das war der Himmel auf Erden, musste sie unumwunden zugeben und genoss die köstliche Nähe. Nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich.
Diese Verbindung zu ihrem Seelenpartner hatte sie völlig überwältigt und eingenommen. So hatte dieser Mann, den sie nicht kannte, ja, dem sie noch nicht einmal trauen durfte, all ihre Verteidigungsmechanismen niedergerissen. Trotz des Wissens, dass sie mit dem Feuer spielte, hatten sich alle vorherigen Überlegungen in Luft aufgelöst, als seine Lippen die ihren berührt hatten. Und obwohl alles daran so verdammt falsch war, aus den verschiedensten Gründen, würde sie das hier auf keinen Fall unterbrechen. Es fühlte sich einfach viel zu gut an.
Nie hätte sie geglaubt, ihrem Gegenstück einmal zu begegnen, geschweige denn auf diese Weise. Doch jetzt, da sie diese tiefe Innigkeit erlebte, das Gefühl, mit dem Anderen Eins zu werden, konnte sie sich nicht mehr vorstellen, wie ihr Leben ohne ihn ausgesehen hatte.
Dabei kannten sie sich gerade mal wie lange? Zwei Tage?
Gott, es war tatsächlich erst 48 Stunden her, seit sie verletzt und unter anderem von dem Kerl gerettet worden war, der seine Nase gerade in ihre Halsbeuge drückte und erbebte. Die Wellen seiner Leidenschaft drangen ihr durch den Hautkontakt bis tief ins Innerste, wo sie noch kein Mann je zuvor berührt hatte. Seine Finger, die mit den ihren verschränkt waren, fassten fester zu und pressten ihre Hände in die Matratze. Heißer Atem strich über ihren Nacken, die Härchen dort richteten sich sofort auf. Gierig nach mehr reckte sie sich ihm entgegen, wollte ihn zu einem schnelleren Tempo drängen. Doch er wusste, wie hätte er das auch nicht wissen können, dass der langsame, intensive Rhythmus die Spannung nur verstärken und die Erlösung umso wundervoller machen würde. Sie konnte ihn nun nicht nah genug bei sich haben, hob ihr Becken immer ungeduldiger. Er entzog sich eins ums andere Mal, steigerte ihr Verlangen, bis sie leise Flüche stammelte.
Welche, konnte sie beim besten Willen nicht sagen. Im Augenblick sollte sie wohl froh sein, wenn sie sich noch an ihren Namen erinnern konnte. Sie unterließ den Versuch dies zu testen und konzentrierte sich auf den Lavastrom in ihren Adern. Auf die Abermillionen Nervenenden, die vor spannungsgeladener Verheißung kribbelten. Diese Vereinigung war so einzigartig, dass nichts zwischen Himmel und Erde damit vergleichbar war.
Auch wenn diese Erkenntnis ihrem Herzen einen Stich verpasste, so konnte sie doch rein gar nichts daran ändern. Die Anziehung zwischen Gegenstücken schien purer Instinkt, etwas, das sich nicht verleugnen und nicht verbergen ließ, so sehr sie sich das auch gewünscht hatte. Denn ganz gleich wie wundervoll das hier war, wie unvergesslich sich die Empfindungen in ihr Gehirn eingruben, so war und blieb es doch Betrug. An ihren Vorsätzen und an dem Mann, den sie liebte.
Der kleine Muskel in ihrer Brust ächzte bei den widersprüchlichen Emotionen, als könnte er solche Gegensätze nicht gleichzeitig empfinden. Freude und Trauer, Gewinn und Verlust, Zufriedenheit und die Scham dafür. So verrückt es war, aber als der Kerl auf ihr den Kopf senkte und ihren zur Seite drehte, damit er sie küssen konnte, verschmolzen all die verschiedenen Gefühle. Sie wurden zu einer wehmütigen, von süßem Schmerz erfüllten Glückseligkeit, die sie auf eine neue Bewusstseinsebene katapultierte und ihr im selben Moment das Herz zerriss. In diesem Zustand hätte man ihr beide Hände amputieren können, sie hätte verträumt und leicht weggetreten gelächelt.
Natürlich wusste sie in den hintersten Ecken ihres Verstandes, dass sie das alles teuer bezahlen würde. Dass sie Reue und Schuld fühlen würde, wenn diese Nacht vorbei war. Aber nicht jetzt, sagte sie sich und verdrängte die Gedanken an glühende Kohlen auf grauem Grund. Auch wenn es nicht richtig war, sie war schon zu weit gegangen, hatte zu viele Tabus gebrochen, um jetzt auf eine karmische Läuterung hoffen zu können. Also konnte sie es auch genießen.
Endlich gab ihr Gegenstück nach, erhöhte die Geschwindigkeit. Seine Bewegungen wurden stürmischer und die ungezügelte Leidenschaft brachte sie an den Rand des Wahnsinns. Sie war nur noch eine Sekunde davon entfernt, in Flammen aufzugehen und als Funkenregen gen Himmel zu schweben, da verschwand das Gewicht auf ihrem Rücken.
In der Dunkelheit geriet das Zimmer ins Wanken, als er sie auf den Rücken drehte und ihre Beine spreizte. Sie wollte nach seinem Gesicht greifen, um es zu sich zu ziehen. Er spürte es durch ihren Kontakt und kam ihr entgegen. Die Türkis- und Jadetöne in seinen Augen funkelten sogar in dem schwachen Licht, das durch die Milchglasscheibe zum Bad schimmerte, und sie küsste Lippen, die ein zufriedenes, männliches Lächeln trugen. Während er sich erneut in ihr bewegte, sah er sie fest an, schaute nicht bloß in ihre Augen, sondern auch tief in ihre Seele. Wusste, dass ihr Herz nicht nur ihm allein gehörte, und erkannte ebenso, wie untröstlich sie wegen dieser Situation war.
Sein Blick verurteilte sie nicht. Sanftes Verständnis stand darin und die Absicht, sie zu umsorgen, was es auch koste. Er hatte gesagt, dass er sie glücklich sehen wolle. Sie hatte ihm damals geglaubt und tat es immer noch. Er hätte sie sowieso nicht belügen können. Das hätte sie dank ihrer Gegenstückverbindung sofort bemerkt, obwohl sie ihre Gabe verloren hatte, die ihr in solchen Situationen immer den Weg gewiesen hatte. Und angesichts dieses Verlustes schien die Begegnung mit ihrem Seelenpartner wie ein kosmischer Ausgleich. Ein kostbares Gut, das sie gegen das andere getauscht hatte, obwohl beides nicht in Zusammenhang stand. Mit sanften Streicheleinheiten verdrängte ihr Liebhaber die Angst, die sich in ihr festgesetzt hatte, nachdem sie ihre Intuition nicht mehr benutzen konnte. Er bezwang alle Zweifel, indem er an ihrem Hals knabberte und sich dann hinauf zum Kinn küsste. Sie konnte es nicht erwarten, die Hände in das kastanienbraune Haar zu krallen, in das karibische Meer seiner Iriden einzutauchen.
Doch als sie die Finger in weiche Wellen schob und seinen Kopf nach oben zog, war es nicht das bekannte Antlitz, in das sie schaute. Plötzlich war da keine türkise Bucht mit kristallklarem Wasser, kein brauner Schopf mit bronze- und goldfarbenen Strähnen.
Das Gesicht ihres Liebsten hatte sich verändert und sie starrte in Augen aus Lapislazuli, knetete golden schimmerndes Haar und näherte sich einem Mund, der ein höhnisches Lachen ausstieß.
Die Angst schoss wie ein Elektroschock durch ihren Körper, als sie begriff, dass das nicht mehr ihr Gegenstück auf und in ihr war. Dieses neue Gesicht war dem seinen so ähnlich und hätte doch nicht verschiedener aussehen können. Denn während das eine von Zuneigung erfüllt gewesen war, leuchtete das andere vor boshafter Besitzgier, vor teuflischem Wahnsinn. Im Bruchteil einer Sekunde löste es eine Welle von grausamen und schmerzhaften Erinnerungen aus, die die Furcht vor diesem Mann nur noch stärker werden ließ. Die Panik öffnete das Verließ mit ihren Urängsten und sie wurde erbarmungslos hineingezogen, konnte sich dem Sog der Vergangenheit und all ihrer Untaten nicht entziehen. Und ein Teil von ihr erkannte, dass das alles hier nicht real sein konnte.
Kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehend, öffnete sie die Lippen zu einem schrillen Schrei.
„Neeeiiiin!“, brüllte Aurelia, als sie aus dem Schlaf in die Senkrechte schnellte. Ihr Herz pochte wie wild und ihr Atem ging so schnell, dass sie kaum Luft bekam. Vage wurde ihr bewusst, dass sie hyperventilierte und schon tauchten am Rand ihres Blickfeldes bunte Punkte auf. Wahrscheinlich hätte sie den Kopf zwischen die Knie stecken sollen, doch es gab nur Eines, das die Panikattacke stoppen konnte. Fahrig tasten ihre Hände nach der Nachttischlampe und endlich konnte sie das Licht anknipsen.
Sie war allein. Keiner der drei Männer aus ihrem Traum hatte es in die Realität geschafft und neben der Erleichterung traf sie der Schmerz des Verlustes erneut wie ein Güterzug. Denn obwohl sie nur eine Nacht mit Dante verbracht hatte und sich danach wirklich mies wegen dem anderen Kerl in ihrem Herzen vorgekommen war, so war doch nichts schlimmer als die Tatsache, dass ihr Seelenverwandter tot war. Benutzt und ermordet durch die Hand seines eigenen Vaters.
Mit diesem allgegenwärtigen Loch in der Brust richtete Aurelia sich auf und schwang die Beine von der Pritsche. Sie konnte kaum glauben, dass die Geschehnisse, die zu Dantes Tod geführt hatten, erst anderthalb Tage zurück lagen. Es fühlte sich an, als seien seither Äonen von Jahren vergangen. Wahrscheinlich, weil sie das Erlebte in ihrem Kopf gewälzt und gewälzt hatte. Versucht hatte, sich all die Ungereimtheiten zu erklären, jetzt da sie wusste, dass sie von Orcus an der Nase herum geführt worden war. Und als wäre der Gedanke, dass Orcus für den Tod ihrer gesamten Familie einschließlich ihres Gegenstückes verantwortlich war, nicht schon schlimm genug, musste sich Aurelia der Tatsache stellen, dass dieser Bastard sie seit Jahrhunderten infiltriert hatte. Leise, heimlich und unbemerkt.
Und die Krönung der Misere: Der Feind saß immer noch in ihr und war dabei quicklebendig. Allein die Vorstellung war schon widerlich. Leider half Kotzen da auch nicht. Gott wusste, sie hatte es probiert.
Kein Wunder also, dass der Rat zu dem Schluss gekommen war, dass sie nicht frei herum laufen durfte. Deshalb hatte man ein Schloss an ihrer Kammer angebracht. Nachdem Aurelia eine Erklärung zu ihrer ungewollten Verstrickung in den Überfall auf den Bunker abgegeben hatte, zuerst vor dem Rat, dann auch vor dem Rest der Legion, war das auch die einzig logische Folge gewesen. Sie selbst hätte ebenso reagiert.
Immerhin hatte der Vater ihres Gegenstücks irgendwie seine böse Saat in Aurelia gepflanzt und sie war in den letzten Wochen zeitweilig oder dauerhaft von ihm kontrolliert worden, ohne es zu bemerken. Dafür hatte er sogar ihre Gabe missbraucht, was einer Schändung gleichkam. Auf diese Weise hatte Orcus sie dazu gebracht, gemeinsam mit ihrem Team dem Geheimnis von sechs kleinen Steinen hinterherzujagen, während er sie nur benutzt hatte, um die Weichen für sein eigentliches Vorhaben zu stellen. Nämlich alle nötigen Werkzeuge für die Umsetzung seines Plans im Bunker zu versammeln.
Viele Stunden hatte sich Aurelia im Nachhinein den Kopf darüber zermartert, wie sich wohl alles zugetragen hatte. Es ließen sich nicht alle offenen Fragen klären; noch nicht; aber sie hatte schon einige pikante Rückschlüsse ziehen können.
Neben ihr selbst war auch Markus, ein Ratsmitglied; in die Sache verwickelt gewesen. Der hatte letztendlich dafür gesorgt, dass sich die Ratsmitglieder und der Venus Orden zu einem Treffen versammelt hatten, ausgerechnet im hiesigen Stützpunkt der Legion. So waren sie zur leichten Beute für Orcus geworden. Zu Aurelias großem Unmut war sie sich nicht sicher, wie viel davon wirklich Markus‘ Schuld gewesen war. Denn einige Erlebnisse auf ihrer Jagd, ließen darauf schließen, dass Orcus nicht nur sie selbst benutzt hatte.
Hegedunen, die sich selbst in die Luft sprengten und wie Markus ums Leben gekommen war. Immerhin hatte der sich nicht freiwillig dafür gemeldet. Und vor allem, was mit Aurelias Gegenstück geschehen war. All das musste bedeuten, dass ihr Erzfeind viele Leute infiziert und kontrolliert hatte, beziehungsweise es noch tat.
Nicht nur ihr war das aufgegangen. Die verbliebenen Ratsmitglieder hatten eine strenge Informationssperre verhängt, weil man nicht wusste, wer noch alles unbewusst zu Orcus‘ Schergen gehörte.
Gott sei Dank hatte man Aurelia die Geschichte geglaubt, da ihr Team bestätigen konnte, was sich zugetragen hatte und die Ratsmitglieder selbst beim großen Showdown dabei gewesen waren. Sonst wäre Aurelia jetzt nicht nur eingesperrt gewesen, dessen war sie sich voll und ganz bewusst. Und einen großen Anteil daran trug Pareios, der sie die ganze Zeit über in Schutz genommen hatte. Trotz seines eigenen Verlustes und ihrer gemeinsamen Geschichte. Schließlich waren sie so etwas wie ein Paar gewesen, als Orcus Aurelias Gegenstück in ihr Leben gebracht hatte. Was die ganze Sache noch verkompliziert hatte.
Im Moment musste sich dieses private Drama jedoch hinten anstellen. Es gab viel Wichtigeres. Denn mit jedem Blinzeln, jedem Atemzug und jedem Gedanken empfand Aurelia noch ein bisschen mehr Hass. Zum einen auf sich selbst, weil sie Orcus‘ Spielchen Jahrhunderte lang nicht durchschaut und sogar ihre Schwester für ihn getötet hatte. Wobei sie heute wusste, dass er sie schon damals durch sein Monster, das Aurelia von ihm eingepflanzt worden war, dazu angestachelt hatte. Aber ihr eigener Anteil war gewesen, dass sie sich überhaupt auf ihn eingelassen hatte, auch wenn sie damals nur ein junges Mädchen gewesen war.
Und obwohl sie irgendwann begriffen und versucht hatte, sich von ihm zu lösen, was ihr schließlich auch gelungen war, hatte er genug Zeit gehabt, Aurelia zu seiner Marionette zu machen. Mit seiner Gabe hatte er einen Teil von sich in sie hinein gestopft, der beizeiten die Führung über ihre Elevenderfähigkeit, ihren Körper und Geist an sich riss. Bei der Schlacht im Bunker hatte Orcus verraten, dass es Aurelia eine ganze Weile lang gelungen war, seine böse Saat zu unterdrücken, ihn sozusagen auszusperren. Auch Dante hatte ihr das bestätigt, bevor er gestorben war, um sie alle zu retten. Aurelia hatte dieses Wissen benutzt, um Orcus erneut auszusperren, indem sie sich abermals gegenüber Emotionen verschloss, so wie sie es vor Pareios getan hatte. Doch Orcus‘ Eingriff auf der Trauerfeier für die toten Ratsmitglieder hatte gezeigt, dass die Sache doch nicht so einfach war.
Offensichtlich hatte sie sich zu weit von der damaligen Aurelia entfernt, die gleichgültig und kalt gegenüber alles und jedem gewesen war, weil sie glaubte, sie habe aufgrund ihrer Schuld ein einsames, trostloses Leben verdient. Das war ihre Form der Selbstgeißelung gewesen. Jetzt jedoch wurde sie nicht mehr von Schuld und Selbsthass getrieben, gut letzteres war noch ein bisschen dabei. Aber vor allem brannte sie vor Hass auf Orcus. Er war der Grund für all ihre Untaten, hatte diese vielleicht sogar selbst verursacht. Nicht sie war es gewesen, weil sie sich als Teenager kopflos in ihn verliebt hatte, weil sie zu blind für die Wahrheit gewesen war, wie sie immer angenommen hatte. Nein, es war alles SEINE Schuld. SEIN Monster. SEIN Plan, zu dem er auch seinen eigenen Sohn missbraucht hatte.
Und er hatte Aurelias Eltern ermorden lassen. Das hatte sie schon vor der Schlacht gewusst. Jedoch nicht, dass ihre Mutter eine starke Hellseherin gewesen war und Orcus nach seinem Auftauchen im Böhmer Wald gebeten hatte, sich von ihrer Tochter fernzuhalten. Weil sie vorhergesehen habe, dass sein Sohn Aurelias Gegenstück werden würde. Auch dessen große Macht hatte sie geahnt. Was Orcus scheinbar erst auf die Idee gebracht hatte, Aurelia zu infiltrieren.
Bizarr, welchen Lauf das Schicksal manchmal nahm. Ihre Mutter hatte sich für dieses Handeln entschieden, um Aurelia zu beschützen. War ihr später sogar gefolgt, um sie zu retten. Doch am Ende hatte der Weg Adele nur ins Verderben geführt.
Aurelia empfand das Selbe, wenn sie an die Jagd nach dem Geheimnis der Steine dachte.
Eine Vision hatte ihr vorher gezeigt, dass Dante eines Tages einen der Steine in Händen halten würde. In dieser Vorahnung hatte sie bereits den Schmerz verspürt, den sein Tod und die damit verbundene Auflösung der Gegenstück-Verbindung verursachen würden. Damals hatte sie jedoch nicht gewusst, wer er war und welche Rolle er in dem Schlamassel spielen würde. Er war nur ein verstörender Fremder gewesen.
Sie hatte alles Menschenmögliche getan, ihr Leben mehrfach auf Spiel gesetzt, um zu verhindern, dass die Vision Realität werden konnte. Und dennoch hatte jede ihrer Handlungen dazu geführt, dass genau das eingetreten war. Wenn auch ungewollt.
Insofern konnte man Aurelias Schicksal durchaus mit dem ihrer Mutter vergleichen. Kosmisches Karma vielleicht?
Wer wusste das schon. Letztlich war es auch nicht wichtig. Wichtig war nur Aurelias Rache. Das war sie Dante, ihrer Familie, ja der ganzen verdammten Welt schuldig. Außerdem nahm sie an, dass sie den Besatzer ihres Verstandes erst dann loswerden würde, wenn er auch wirklich tot war. Ihr fiel keine bessere Möglichkeit ein und leider gab es für solche Fälle kein Nachschlagewerk. Aber selbst wenn es einen anderen Weg gegeben hätte, Aurelia wollte ihren Peiniger leiden und dann sterben sehen. Mit jedem Herzschlag, mit dem sie Dante vermisste - Herr Gott, sie wusste ja noch nicht mal, ob er wirklich so geheißen hatte – gewann der Wunsch an Kraft und Einfluss. Mehr und mehr nahm er ihr ganzes Denken ein, bis es ihr klar wurde.
Sie konnte nur weiterleben, wenn Orcus starb. Vorzugsweise durch ihre eigene Hand. Lang- und grausam. Blutig.
Niemand würde sie davon abhalten können, selbst wenn sie es ganz alleine tun musste, während die Legion sich gegen sie stellte. Dann sei es eben so, dachte sie dabei bitter. Wie sich gezeigt hatte, gehörte sie sowie so nicht zu den „Guten“. Egal was sie auch getan hatte, sie hatte nur Finsternis über die Legion gebracht. Über die Leute, denen sie die Treue geschworen hatte, die ihr wie Brüder und Schwestern zur Seite gestanden waren.
Orcus hatte Aurelia mit einem Fluch belegte, der alles vernichtete, das sie auch nur anfasste. Deshalb war es wahrscheinlich sowieso besser, wenn sie sich solo auf die Suche machte. Umso deutlicher sich dieses Vorhaben in ihrem Kopf abzeichnete, umso dringender wurde das Bedürfnis, so bald wie möglich loszulegen.
Die Frage war nur, wann man sie aus ihrer Kammer herauslassen würde. Alle Elevender des Stützpunktes kümmerten sich gerade um die Evakuierung. Vermutlich war Aurelia das letzte, womit sich der verbliebene Rat gerade befassen wollte.
Als hätte das Universum dieses eine Mal Erbarmen mit ihr, hörte sie Stimmen aus der Ferne. Mehrere Personen lieferten sich ein hitziges Wortgefecht, sodass Aurelia nicht verstehen konnte, worum es ging. Aber die Debatte wurde immer lauter. Die Redner schienen näher zu kommen. Schließlich vernahm sie auch Schritte und alsbald blieben die Leute vor der Tür zu Aurelias kleinem Zimmer stehen.
Eine erzürnte Frauenstimme verschaffte sich Gehör.
„Schluss damit! Ich möchte persönlich mit ihr sprechen. Sofort!“
„Wann wolltest du mir sagen, dass du verreist?“
Christian lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen und musterte die halbgepackte Tasche auf dem Bett. Mit knirschenden Zähnen widmete Xandra sich erneut dem Falten eines Pullovers, bemüht ihren „Freund“ bestmöglich zu ignorieren. Sie hatte gehofft, die Kurve kratzen zu können, bevor er bemerkte, dass sie weg war. Aber nein, Chris hatte in den letzten beiden Tagen eine Art Riecher für das entwickelt, was sie beschäftigte. Nicht, dass sie das nicht zu schätzen gewusst hätte. Seit dem Tod ihres…; nein, sie konnte die beiden Wörter einfach nicht in einem Satz denken; hatte sie sich voll und ganz auf den charismatischen Elevender gestützt. Und wider Erwarten hatte er sich verdammt gut gehalten. War einfach da gewesen, ohne zu drängen. Genau was sie gebraucht hatte.
Doch auf dieser Reise lag die Sache anders. Immerhin hatte Xandra vor, nach Europa zu fliegen und dort würde sie auf Evrill treffen, den sie nur zu gerne vergessen hätte, es aber nicht so ganz hinbekam. Normalerweise hätten sie keine zehn Pferde dazu bringen können, eine Begegnung mit ihm zu riskieren. Schließlich wollte sie um jeden Preis, dass das mit Christian funktionierte.
Jetzt, da ihre Welt einen tiefen Riss bekommen hatte, brauchte sie einen Fixpunkt. Und damit meinte sie nicht ihre verzweifelte Mutter, die sich im Augenblick weigerte mit ihr oder sonst jemandem zu sprechen. Xandra verstand diesen Schutzmechanismus. Sie hätte sich auch gerne zu einem Knäuel zusammen gerollt, die Bettdecke über den Kopf gezogen und sich der Trauer hingegeben. Denn egal wie schwierig das Verhältnis zu ihrem Vater gewesen war, sein… Weggang schien ihr immer noch kaum begreifbar. Ein Teil von ihr glaubte unverwandt, dass er gleich anrufen würde. Dass seine unbeteiligte Stimme aus dem Hörer kommen würde, wenn sie abnahm. Dass er ihr wieder irgendeinen Auftrag erteilen würde, den sie natürlich niemals zu seiner vollen Zufriedenheit erledigen würde können.
Xandra schluckte verkrampft und rang das Gefühl des Verlustes verbissen nieder. Auch die Schuldgefühle, die ihr einflüsterten, dass sie es verhindern hätte können, verdrängte sie konsequent. Nein, sie durfte nicht zerbrechen wie ihre Mutter. Sie musste stark bleiben, die Dinge am Laufen halten. Und diesen hinterhältigen Mord an ihrem… aufklären, während die Legion scheinbar kopflos Notfallmaßnahmen ergriff, um die Überlebenden des Überfalls umzusiedeln und die Sicherheitslücken zu stopfen. Verständlich, dass das Priorität hatte, aber alles in Xandra drängte darauf, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Mörder zur Strecke zu bringen, koste es, was es wolle. Es war das Einzige, das ihr einfiel, damit Chronos‘… Verschwinden nicht so sinnlos, so tragisch wirkte. Zudem hatte sie das Gefühl, auf die Weise das Versäumnis nachzuholen, auf ihren Vater aufzupassen. Bei dieser Aufgabe hatte sie mit Pauken und Trompeten versagt, war sie schließlich an der Organisation jenes verhängnisvollen Treffens beteiligt gewesen. Hatte gewusst, wie gefährlich das Vorhaben ihres Vaters und Markus gewesen war und hatte sich breitschlagen lassen, es geheim zu halten. Natürlich hatte sie diesen Ausgang der Geschichte unmöglich ahnen können. Dennoch war da dieser Gedanke, der stets unter der Oberfläche lauerte und drohte, ihr vor Augen zu führen, dass sie vielleicht doch etwas am Verlauf der Geschehnisse ändern hätte können.
Jedenfalls verstand Christian diese wirren Wahnvorstellungen, ohne dass sie sie aussprechen musste, und dafür war sie dankbar. Doch sie fürchtete, dass Evrills Nähe wie eine brennende Zündschnur für das Pulverfass wirken würde, auf dem sie momentan saß. Und einen weiteren Verlust konnte sie gerade einfach nicht verkraften. Weder des einen noch des anderen Elevenders. Dementsprechend wäre Xandra lieber solo gereist.
Versonnen starrte sie den Pullover in ihren Händen an und vernahm Christians Schritte auf dem luxuriösen Teppichboden des Blackridgezimmers. War ja klar gewesen, dass er sich nicht so einfach ignorieren lassen wollte. Und um eine Antwort würde sie wohl auch nicht herum kommen.
„Hat sich eben erst ergeben. Von den Teleportern kann mich keiner abholen. Sind alle mit der Evakuierung des entlarvten Stützpunktes beschäftigt“, nuschelte sie wenig ambitioniert, weitere Erklärungen abzugeben.
Es nützte nichts. Chris hatte sie auf frischer Tat ertappt und jetzt gab es kein Entkommen mehr.
„Du willst alleine fliegen?“
Sie spürte seine Wärme im Rücken. Hoffte, er würde sie nicht berühren. Sonst bestand die reelle Chance, dass sie einknickte.
Leider bezog sich seine plötzliche Hellsichtigkeit für Xandras Gedanken nicht auf den körperlichen Bereich. Auf dem Parkett war er so zudringlich wie eh und je. Und dieser ehrfurchteinflößenden aber zugleich nonchalanten Schönheit gepaart mit diesem neuen Anflug von Fürsorglichkeit konnte Xandra nur schwer widerstehen. Die Versuchung war zu groß, die Selbstbeherrschung aufzugeben und sich einfach fallen zu lassen. Christian würde sie auffangen, das hatte er bereits bewiesen.
Die These bestätigte sich, als er direkt hinter sie trat. Seine Front berührte leicht ihre Kehrseite und sandte elektrische Stöße durch ihr System. Wohlige Erinnerungen an die vergangene Nacht stiegen auf. Für einen kurzen Moment erwachten die Bilder in ihrem Kopf zum Leben und zeigten einen betörenden Kurzfilm der Stunden, in denen sich Xandra erlaubt hatte, in Christians Armen alles zu vergessen.
Heiße Lippen streiften ihr Ohr. „Wie lautet die erste Einsatzregel für Jäger?“
Xandra stieß ein Fauchen aus und grummelte widerwillig: „Keiner geht allein.“
Wie Nerv tötend, dass der Kerl auch noch schlau genug war, sie mit rhetorischen Fähigkeiten dran zu kriegen.
„Eben. Und wir wissen doch beide, dass du lieber mich als irgendjemand anderes dabei hast.“
Hmpf. Auch das entsprach der Wahrheit, selbst wenn sie es noch so gerne geleugnet hätte. Sie beide waren ein gutes Team, im Einsatz und auch Anderorts. Eigentlich stimmte alles zwischen ihnen. Die körperliche Anziehung, der Humor, die Freundschaft, die gemeinsamen Ziele. Dass Christian ein Weiberheld war, konnte sie auch nicht mehr als Ausrede anführen, denn seit das zwischen ihnen lief hatte er die Füße still gehalten, da war sie sich ziemlich sicher. Dennoch war da etwas, das sie davon abhielt, es zuzulassen. Zuzulassen, dass sie sich verliebte. Sie versuchte es wirklich, aber es wollte einfach nicht klappen. Und bei diesen Anstrengungen war ihr so langsam aufgegangen, dass sie wahrscheinlich noch nie wirklich geliebt hatte. Zumindest nicht so, wie eine Frau einen Mann lieben sollte. Begehren, Sehnsucht, Zuneigung, die Begriffe waren ihr nicht fremd, aber dieses eine Gefühl, nach dem scheinbar jedes denkende Wesen strebte, hatte sie noch nicht erlebt. Das hatte jedoch nicht an den fehlenden Möglichkeiten gelegen.
Sie hatte tief drinnen wohl immer nach etwas anderem gesucht. Nach was genau, konnte sie nicht mal sagen. Und dass das irgendwie mit ihrem Vater zusammenhing, wollte sie sich nun erst recht nicht eingestehen. Schon gar nicht jetzt, da er… weg war.
Nein, sie musste sich nur mehr anstrengen. Dann würde sie es schon irgendwie hinbekommen. Liebe kam mit der Zeit, so hieß es doch.
„Stimmt“, gab sie mit einem irritierenden Gefühl in der Magengegend nach. „Du bist der naheliegendste Kandidat für den Job.“
„Meine Rede. Ich weiß was du brauchst, bevor es dir selbst klar wird.“ Seine Hand legte sich auf ihre Hüfte, wanderte nach vorn, wo sich die Finger besitzergreifend spreizten. Mit sanftem Druck zog er Xandra an sich, die augenblicklich von einer tückischen Hitzewelle überrollt wurde.
„Einer muss doch auf dich aufpassen“, flüsterte er und biss zärtlich in ihr Ohrläppchen.
Das war‘s. Ihr Widerstand zerbröselte zu Staub und die Entschlossenheit, ihre kontrollierte Fassade aufrecht zu erhalten, verwandelte sich in irrsinnige Hysterie. Die zärtlichen Worte rissen ihr den Boden unter den Füßen weg und ihr Inneres wollte sich entleeren, als hätte es nur darauf gewartet, dass Christian ihr die Möglichkeit dazu bot.
Xandras ständige Anspannung bekam tiefe Risse, sie war kurz davor, die Zügel fahren zu lassen. All das heraus zu lassen, was sie dauerhaft in sich vergrub.
Doch dann, so wusste sie, würde sich alles ändern. Dann würde sie der Realität in die Augen schauen müssen und die Dinge sehen, die sie partout ausblenden wollte. Die ihr aus den verschiedensten Gründen eine Heidenangst einjagten. Die drohten, ihre Welt ins Chaos zu stürzen und Xandra damit endgültig die Kontrolle zu entreißen. Es gab so vieles auf Erden, das sie nicht steuern konnte, da wollte sie wenigstens die Herrin ihres eigenen Körpers und Verstandes sein. Und auch die ihrer Gefühle.
Bevor es also zu der gefürchteten, verheerenden Implosion kommen konnte, stürzte sich Xandra in das Begehren, das so einladend brodelte. Das sie schon bald in einen Strudel der Empfindungen ziehen würde, der sie alles andere vergessen ließ.
Schwungvoll drehte sie sich in Christians Armen und packte seine Schultern. Sie registrierte noch den wissenden Ausdruck in den überirdisch blauen Augen, dann presste sie schon die Lippen verzweifelt auf seine. Diese Übersprungshandlung hatte in den letzten Tagen wiederholt funktioniert und half, den größten Druck abzubauen. Zwei Fliegen mit einer Klappe.
Auch dieses Mal gelang es dem attraktiven Elevender, ihre Panik zu zerstreuen. Dieses Gefühl zu verscheuchen, dass sie nur eine Handbreit davon entfernt war, einfach auseinander zu fallen.
Er kam dem stürmischen Kuss entgegen, vergalt ihn mit ungezügelter Leidenschaft. Stellte Dinge mit ihrer Zunge an, die grelle Blitze hinter ihren geschlossenen Lidern aufziehen ließen. Ja, wenn er sie auf diese Weise küsste, sich an sie presste und seine Hände so verführerisch über ihre Haut strichen, dann rückte die Welt da draußen in den Hintergrund. Wurde zu einer nebligen Fata Morgana, die man durch den Schleier des Verlangens kaum noch erkennen konnte. Nicht dass sie das gewollt hätte.
Vor dem Hintergrund der neuerlichen Katastrophen genoss sie in vollen Zügen aber mit einem weinenden Auge, wie die Furcht sich in erotische Energie umwandelte. Weinend deshalb, weil es letztendlich doch falsch war.
Es kam ihr irgendwie… feige vor.
Etwa fünf Stunden später landeten Christian und Xandra am Berliner Flughafen. Mit gefälschten Ausweisen hatten sie die Sicherheitsschleusen problemlos passieren können und abgesehen davon, dass die meisten Menschen sie beide anstarrten, war der Linienflug ohne größere Ereignisse verlaufen. Der blonde Elevender hatte ausnahmsweise mal nicht wie ein Wasserfall geplappert und war scheinbar seinen eigenen Gedanken nachgehangen, ähnlich wie sie selbst.
Jetzt folgte Xandra ihrem Begleiter zur Gepäckabfertigung. Dort mussten sie nicht lange warten, bis die Koffer und Rücksäcke der Passagiere langsam auf dem Fließband heran gezockelt kamen. Chris bückte sich und nahm zuerst seine, dann auch ihre Tasche an sich. Xandra rollte mit den Augen. Bloß weil ihr Vater… fort war, hieß das noch lange nicht, dass sie neuerdings wie eine Invalide behandelt werden musste. Sie wollte schon nicht gerade freundlich protestieren, da bekam sie ihr Gepäck kommentarlos in die Hände gedrückt. Überrascht blinzelte sie kurz, doch Chris hatte sich schon auf den Weg zum Ausgang gemacht. Leicht irritiert gab sie sich schließlich einen Ruck und ging gemessenen Schrittes hinterher.
Beim Durchqueren der großen Eingangshalle drehte sich jede verdammte Frau nach ihnen um, wobei Xandra völlig klar war, dass nicht sie der Grund dafür war. Daran sollte sie sich wohl gewöhnen, dennoch schlug ihr die Jumbopackung weibliche Aufmerksamkeit aufs Gemüt. Noch ein Grund, warum sie lieber alleine geflogen wäre.
Sie ließ sich nichts anmerken und ging stattdessen einen Tick schneller.
Endlich passierten sie die großen Glastüren und atmeten frische Luft. Die Nacht war bereits angebrochen und hier in Deutschland machte sich der Herbst deutlicher bemerkbar, als im fernen Ceiling. Ohne die Sonne war es trotz der Großstadt-Dunstglocke sofort kühl geworden und am klaren Himmel blinkten erste Sterne auf.
Im spärlichen Rest des Tageslichts suchten sie die Reihe der wartenden Autos nach dem Wagen ab, der sie abholen sollte. Schließlich stießen sie auf das passende Kennzeichen und stiegen in einen schwarzen Kleinbus mit getönten Scheiben ein. Xandra schnappte sich ungefragt den Beifahrersitz und stellte sich dem Fahrer vor, der überraschenderweise eindeutig ein Mensch war.
„Hi. Ich bin Xandra und das ist Chris.“
„Amander“, antwortete der Fremde und reichte ihr die Hand, während sich ein breites Lächeln zwischen dem rotbraunen Gekräusel in seinem Gesicht zeigte. Bart und Haar wiesen einzelne graue Strähnen auf, was Xandra ihn auf Anfang Vierzig schätzen ließ.
„Hey, du bist doch Chronos‘ Tochter, oder?“
Sie zuckte zusammen, aber er merkte es gar nicht, weil er gerade den Blinker setzte, um sich in den Verkehr einzufädeln. Sie räusperte sich, obwohl sie gar nicht heiser war. „Ähm, ja. Warum?“
„Naja, dein Verlust tut mir Leid. Echt Mist, was da passiert ist.“
Verdammt, mussten die Leute denn immer wieder davon anfangen? Vor ihr inneres Auge schob sich eine Vision, in der sie Amander kurzer Hand eins überzog und ihm dann seine eigenen Socken in den Mund stopfte. Erneut blinzelte sie und sah wieder die dunkle Fahrerkabine und einen völlig ungeknebelten, quietschfidelen Menschen hinterm Steuer. Fahrig rückte sie die Lederjacke zurecht, bevor sie ein knappes „Danke“ zustande brachte. Dann zwang sie sich, aus dem Fenster zu sehen und keine weiteren Überlegungen darüber anzustellen, wie der eigentlich freundlich wirkende Kerl neben ihr zum Schweigen gebracht werden konnte.
„Wie läuft eigentlich die Umsiedlungsaktion?“, fiel Christian von hinten ein, als hätte er Xandras Stimmung gerochen und wollte das Schlimmste verhindern.
„Ganz gut. Wir sind fast fertig.“ Amander grinste breit. „Und weil nur noch so wenige Bewohner da sind, wurde ich zum Jäger berufen.“ Offensichtich war er sehr stolz auf diese Ernennung, wahrscheinlich weil nicht viele Menschen in der Legion im Außendienst eingesetzt wurden. Dazu brauchte man spezielle Fähigkeiten.
Christian nahm es schließlich auf sich, mit ihrem Fahrer über Taktiken für die Jagd zu fachsimpeln und Xandra dachte über die Ausnahmerolle nach, die Amander somit innehatte.
Es gab durchaus Menschen in der Legion, aber leider war die Zahl verschwindend gering. Der Großteil dieser Gattung wollte nicht wahrhaben, dass sie nur Sklaven in der Maschinerie der Hegedunen waren. Stattdessen nahmen sie an, ein normales Leben zu leben. Ein Leben, das aus Arbeit und holen Beschäftigungen für die knappe Freizeit bestand. Und der Slogan „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ zog sie alle an, so wie Mücken von Schweiß gelockt wurden. Die Hegedunen hatten ganze Arbeit geleistet. Seit die Menschheit unter ihrer geheimen Herrschaft litt, hatten sie den mündigen und denkenden Bürger über Jahrhunderte hinweg umerzogen. Sie hatten ihm falsche Werte und neue Glaubensrichtungen aufgezwungen, ohne dass die Opfer es bemerkt hätten.
Geld, Reichtum und Macht waren heute die großen Religionen der Welt. Waren das, was die Menschen antrieb. Jedem wurde im hegedunischen Herrschaftssystem in Aussicht gestellt, es irgendwann zu etwas zu bringen zu können, wenn man nur hart genug arbeitete. Was natürlich eine schamlose Lüge war. Die Hegedunen hatten ihr dunkles Machtgespinst über Jahrhunderte hinweg aufgebaut, hatten menschliche Regierungen, übergeordnete politische Gremien, Medien und globale Konzerne der wichtigsten Industriezweige übernommen, ohne dass der Weltbevölkerung aufgefallen war, dass die Leute, die tatsächlich die Strippen zogen, eben nur wie Menschen aussahen. Die Kontrolle des Finanzsystems und die Einführung des Zinseszinses hatten schließlich dafür gesorgt, dass sich die Bevölkerung für immer in einem Hamsterrand abstrampeln würde. Getrieben von ihrem Streben nach Reichtum, verführt von der kleinen Chance, irgendwann einmal mehr zu haben als der Nachbar, arbeiteten die Menschen freiwillig zu den miserabelsten Bedingungen und für einen lächerlichen Stundenlohn. Niemand von ihnen fand es mehr verwerflich, dass Geld und Eigentum plötzlich mehr wert war, als das Leben an sich. Und unterdessen wunderten sie sich noch nicht einmal mehr, dass sie sich immer weniger und weniger leisten konnten, obwohl sie doch so viel arbeiteten. Denn anstatt sich mit Problemen zu beschäftigen, wollte der moderne Homo sapiens seinen Feierabend lieber mit Konsumieren und Fernsehen füllen. Das Leben war schließlich zu kurz, um sich ständig Sorgen zu machen. Und wer wollte denn heutzutage noch für seine Überzeugungen sterben? Das war ganz schön aus der Mode geraten.
Die Umerziehung durch die Hegedunen hatte so gut funktioniert, dass die menschliche Weltbevölkerung gar nicht mehr frei sein wollte. Sie weigerten sich, die Gitterstäbe ihres Gefängnisses zu sehen, obwohl es sie von allen Seiten umgab. Fast so, als ahnten sie die ausweglose Situation und wägten sich lieber in vorgeschützter Unwissenheit. Sie belogen sich selbst, damit sie es nicht wahrhaben mussten.
Doch der Mann, der Christian und Xandra jetzt zum Stützpunkt in Deutschland brachte, schien eben nicht zum durchschnittlichen Volk zu gehören. Er repräsentierte die kleine Minderheit an Menschen, die aufgeklärt waren und in irgendeiner Form Widerstand leisten wollten. Es war wichtig, dass diese Leute innerhalb der Legion, also unter den Elevendern, Platz fanden. Je mehr, desto besser. Deshalb hatte sie auch so hartnäckig für den Kontakt zum Venus Orden gekämpft.
Wenigstens hatte Amander für etwas Ablenkung gesorgt, sodass Xandra schließlich ganz erstaunt war, als sie an einem verlassen wirkenden, kleinen Industriegelände mitten im Nirgendwo hielten. Das Auto wurde in einem Hangar geparkt, wo viele andere Karossen und auch ein Hubschrauber untergestellt worden waren. Nachdem sie alle ausgestiegen waren und das Gepäck geschultert hatten, verständigte Amander den Bunker über ihre Ankunft und führte sie dann hinaus auf das Gelände. Der große Zeiger auf Xandras Uhr näherte sich der Zwölf und draußen war es inzwischen stockfinster. Sie hatte das Ding noch im Auto auf die neue Zeit umgestellt und fragte sich jetzt, wann wohl der Jetlag einsetzen würde. Nicht, dass sie sich darauf gefreut hätte.
Der Fahrer dirigierte sie hinüber zum angrenzenden Nadelwald und scheuchte sie dann über Stock und Stein. Xandra musste sich schon sehr auf den weichen Waldboden konzentrieren, damit sie im Dunkeln nicht von einer verirrten Wurzel zu Fall gebracht wurde. Wieder einmal war sie wahnsinnig froh, dass der Stützpunkt in Ceiling nicht derart im Verborgenen liegen musste. Ihr normaler Heimweg war nicht annähernd so mühsam, Ferroc sei Dank.
Etwa fünf Minuten Fußmarsch später erreichte die kleine Gruppe eine Lichtung mit einer mannshohen Felsformation, zu deren Füßen es durch eine versteckte Falltür ins Erdreich hinab ging. Sie hatten den Bunker erreicht.
Am Ende der steilen Treppe wurden sie bereits von einem Empfangskomitee erwartet. Einer von ihnen war Laelius, das jetzt älteste Ratsmitglied und Bewohner des Bunkers. Klar, dass er anwesend war, um die Tochter seines ehemaligen Kollegen zu begrüßen. Den zweiten Kerl, ein Hüne mit kurzrasiertem Haar und hohen Wangenknochen, kannte Xandra nicht, aber der letzte war…
Evrill.
Ihre Blicke trafen sich. Die silbernen Augen musterten sie auf erwartungsvolle Weise und eine Braue hob sich ganz kurz. Es wirkte irgendwie anzüglich. Xandra schluckte.
Die ganze Sache musste jetzt sofort bereinigt werden, wurde ihr plötzlich klar. Und zwar bevor das Kartenhaus durch irgendeine blöde Bemerkung zum Einsturz gebracht wurde. Christian sollte auf keinen Fall mitbekommen, wie sie auf den alten Freund reagierte. Oder dass da mal was gelaufen war,… mit einer erst kürzlich wieder begrabenen Aussicht auf Fortsetzung.
Während Amander also voran ging und die Wartenden begrüßte, ergriff sie reflexartig Christians Hand. Im selben Moment wurde ihr klar, wie bescheuert das rüberkommen musste, doch leider ließ es sich jetzt nicht mehr rückgängig machen. Um den Mist zu kaschieren, den sie da gerade fabrizierte; oder um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, das konnte sie hinterher nicht mehr genau sagen; zog sie ihren Begleiter geradewegs hinüber zu Evrill. Dessen Gesicht verschloss sich zusehends, während sie näher kamen und er schaute begreifend zwischen ihr und Christian hin und her. Oh Mann, was machte sie hier eigentlich?
Bevor sie sich die Frage beantworten konnte, hatte sie das Ziel erreicht und jetzt musste sie wohl oder übel irgendetwas sagen. Schei…benkleister.
„Hallo…“, brachte sie stoßartig hervor, doch dann wusste sie nicht weiter. Eine gefühlte Ewigkeit sagte keiner etwas; vielleicht waren es auch nur Sekundenbruchteile, aber Xandra kam es so vor. Jedenfalls wurde es langsam verdammt peinlich. Bekam sie etwa auch noch Gehirnverstopfung?
Da ihr die Worte fehlten, hob sie einfach die Hand zu einem High Five, das von Evrill äußerst irritiert erwidert wurde.
Herr Gott, sie musste sich jetzt wirklich in den Griff kriegen und den Karren aus dem Dreck ziehen! Sofern das überhaupt noch möglich war. Sie verpasste sich einen mentalen Arschtritt und endlich öffnete sich ihr Mund und produzierte verständliche Sätze.
„Ev, das ist Chris. Chris, das ist Evrill. Unsere Eltern sind befreundet, wir kennen uns sozusagen aus dem Sandkasten.“
„Genau“, meinte der nur reserviert und streckte die Hand aus.
Sie wurde sogleich lässig von Christian ergriffen, der dem ganzen Theater zum Trotz eine unbedarfte Miene machte. „Ich wette, unsere gute X war schon damals sehr eigensinnig. Ich brenne auf pikante Geschichten, Kumpel.“
Evrills Mundwinkel zuckten, ob nach oben oder nach unten, war nicht zu klassifizieren. „Bei Zeiten werde ich welche zum Besten geben,… Kumpel.“
„Ja. Ein andermal“, fiel Xandra vorsorglich ein und zerrte Christian hastig weiter. Ablenkung, sie brauchte dringend eine Ablenkung… „Laelius, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen? Darf ich dir meinen Kollegen vorstellen?“
Nach der allgemeinen Begrüßung und den obligatorischen Beileidsbekundungen, Xandra hätte sich dabei nur zu gerne die Ohren zugehalten, verlegte man die Besprechung in einen Konferenzraum. Der Bunker war wie ausgestorben und schien in fast allen Belangen genau das Gegenteil vom Anwesen in Ceiling zu sein. Nirgends gab es Tageslicht, die Wände und Böden waren aus kahlem Beton, kein weicher Teppich oder bunte Tapeten weit und breit. Archaisch wirkende Glühbirnen baumelten von den Decken und jeder trostlose Korridor glich dem nächsten. Im Konferenzraum angekommen, fragte sich Xandra, ob sie überhaupt alleine wieder zurück finden würde.
Sie war immer noch unsicher im Umgang mit Evrill und Christian im Doppelpack. Die beiden hatten sich dagegen auf ein professionelles, aber distanziertes Miteinander verständigt. Es wurden keine unnötigen Worte gewechselt, doch es lag auch keine Spannung in der Luft. Diesbezüglich konnte Xandra folglich aufatmen. Das war gut so, denn es war Zeit, sich um ihr eigentliches Anliegen zu kümmern. Die Jagd nach einer Truppe von Mördern.
„Also, wie genau ist es diesem Orcus gelungen, Aurelia und Markus zu kontrollieren?“, erkundigte sie sich unumwunden, nachdem alle Platz genommen hatten.
„Hör zu, Xandra.“ Laelius machte ein mitleidiges Gesicht. „Jeder kann nachvollziehen, wie es dir im Augenblick geht und dass du Antworten möchtest. Du verdienst sie auch, deshalb habe ich diesem Treffen zu gestimmt. Aber glaube nicht eine Sekunde, dass ich nicht wüsste, was du vorhast. Immerhin bist du die Tochter deines Vaters.“ Er musterte sie durchdringend, was offenbar etwas war, das man als Ratsmitglied irgendwann perfektioniert hatte. Den klugen Augen in einem warmen Karamell-Ton entging nichts. „Ich werde nicht unterstützen, dass du dich zu einem Kreuzzug aufmachst. Die Legion muss sich jetzt darauf konzentrieren, die entstandenen Lücken in unseren Reihen zu schließen und solange wir nicht wissen, wem wir trauen können, müssen wir extrem vorsichtig sein. Vor diesem Hintergrund und nicht zuletzt wegen deiner persönlichen Verstrickung verstehst du sicher, dass es nicht in Frage kommt, dir die Jagd nach den Schuldigen anzuvertrauen.“
Damit hatte sie gerechnet. „Eins nach dem anderen. Könntest du bitte einfach meine Frage….“
„Außerdem gibt es einen weiteren Grund, warum es äußerst unpraktisch wäre, dir jetzt diese Aufgabe zu geben. Schließlich wartet eine andere auf dich.“
Überrascht stockte Xandra. „Wie bitte?“
„Wir möchten, dass du dich für einen Sitz im Rat zur Wahl stellst.“
Ok…. Und damit hatte sie jetzt überhaupt nicht gerechnet. Sie stieß ein missbilligendes Schnauben aus. „Das soll wohl ein Scherz sein.“ Vorsichtshalber schaute sie auch zu Evrill und dem Kerl, der ihr als Pareios vorgestellt worden war, hinüber, doch die verzogen keine Miene. Christian schien unterdessen genauso überrumpelt wie sie selbst.
„Ganz und gar nicht“, entgegnete Laelius. „Wie du sicher weißt, sind zurzeit einige Stellen vakant. Was sagst du dazu?“
Sie überlegte noch, ob sie sich nicht geehrt fühlen sollte, als ihr ein Licht aufging. „Euch ist es so wichtig, dass ich die Sache nicht verfolge, dass ihr mich sogar in den Rat aufnehmen wollt?! Wieso? Was ist hier eigentlich los?“ So langsam bekam sie das Gefühl, dass es um mehr ging, als um die Verfolgung der Angreifer.
„Das ist eine rein rationale Entscheidung. Du kennst dich mit Politik und der Vorgehensweise der Legion aus. Du warst sehr lange Zeit die rechte Hand deines Vaters, du wärst eine geeignete Nachfolgerin. Und als Ratsmitglied kannst du dich doch trotzdem um die Ergreifung der Täter kümmern. Nur eben nicht persönlich.“
„Oh, bitte. Genug gesülzt. Jetzt rück‘ schon raus mit der Sprache.“
Wieder sah er sie nur an. Im Raum war es totenstill, alle schienen auf eine Erklärung zu warten. Schließlich gab Laelius nach und seufzte.
„Also gut.“ Er holte tief Luft. „Wie man es dreht und wendet, Markus hat Verrat begangen. Falls er dazu gezwungen wurde, bedeutet das, dass auch der Rest des Rates betroffen sein könnte, falls nicht, naja, das kannst du dir ja denken. In jedem Fall hat das Vertrauen der Legion in den Rat darunter gelitten. Viele unserer Mitglieder zweifeln an unserer Führung, dabei müssen wir jetzt mehr denn je Einigkeit demonstrieren. Um ehrlich zu sein, fürchten wir, dass die Legion in verschiedene Lager zerfallen könnte.“
Bestürzt riss Xandra die Augen auf. Sie wusste, dass es deswegen Probleme gegeben hatte, aber sie hatte nicht geahnt, um welche Größenordnung von Problemen es ging.
„Du bist eine allgemeine Respektsperson und bisher offensichtlich nicht in den Vorfall verwickelt. Viele kennen deinen Namen und deine Herkunft und halten dich für vertrauenswürdig. Die Lage ist heikel, Xandra, wir könnten deine Hilfe gut gebrauchen.“
Ha, wenn der wüsste, war ihr erster Gedanke, doch der zweite war: wow. Wenn Laelius sogar offen eine Bitte vorbrachte, musste wirklich Not am Mann sein. Die Argumente klangen plausibel und Xandras Pflichtgefühl meldete sich lautstark. Der Vorschlag hätte ihrem alten Herren sicher gefallen, dennoch….
Sie wollte rigoros ablehnen, aber dann kam ihr eine Idee.
„Gut. Ich gebe euch, was ihr wollt. Aber im Tausch will ich die Verantwortung für die Jagd nach den Leuten, die meinen Vater…., die das getan haben. Danach könnt ihr mich meinetwegen zu jeder Wahl aufstellen, die euch in den Sinn kommt. Ich muss das tun, verstehst du?“ Es war ihr völlig gleichgültig, wie abgedreht das klingen musste.
Laelius bohrte seine Augen in ihre und schüttelte dann resigniert den Kopf. „Warum habe ich das dumpfe Gefühl, dass ich dich schon einkerkern müsste, um dich davon abzuhalten?“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und setzte ein siegessicheres Lächeln auf. „Wahrscheinlich weil deine Annahme der Wahrheit entspricht.“
„Also gut. Bitte schön. Aber wehe, du gehst dabei drauf.“
„Habe ich nicht vor.“ Nein, wirklich nicht.
„Das höre ich gerne. Dich da bliebe noch eine letzte Sache zu besprechen.“
„Und die wäre?“
„Es gibst noch andere Leute unter uns, die Orcus und seine Leute liebend gerne dran kriegen würden.“ Laelius deutete auf die beiden Elevender neben sich. „Ich glaube, auch die werden sich das nicht ausreden lassen. Du wirst für sie wohl oder übel Platz in deinem Team schaffen müssen.“
Xandra warf Evrill einen raschen Blick zu, aber der stierte nur stur geradeaus. Der Kerl mit dem dunklen Stoppelhaar und den attraktiven Wangenknochen schaute ihr dagegen mit einem entschlossenen Ausdruck direkt in die Augen. Wahrscheinlich waren beide brauchbares Jägermaterial und immerhin hatten sie den Überfall miterlebt, hatten schon vorher Orcus‘ Spur verfolgt und waren von Anfang an dabei gewesen. Ihre Erfahrung mit dem Gegner war zweifellos ein Gewinn für die Operation. Die Bedingung war folge dessen leicht zu erfüllen. Schmunzelnd fragte sie sich, was wohl Evrills Mutter dazu sagen würde. Xandra würde es ihr auf jeden Fall nicht stecken, da hätte sie auch gleich Suizid begehen können, immerhin war jetzt sie quasi seine Komplizin.
Nachdem sie zugestimmt hatte, bat sie erneut um einen detaillierten Bericht.
Und bekam endlich, worum sie so hart gefochten hatte.
Pareios übernahm es, sie auf den neusten Stand zu bringen. „Die ganze Geschichte fing schon merkwürdig an. Markus beauftragte unser Team damit, in einer Nacht und Nebel Aktion in einem Labor einzubrechen und sechs kleine Steine zu stehlen. Damals wussten wir nicht, wozu die Dinger gut sein sollten, aber wir ahnten, dass sie gefährlich waren. Eine Vision von Aurelia, sie ist in gewisser Weise hellsichtig, und auch unser Wissenschaftler Syrus bestätigten uns das. Zu dem Zeitpunkt wussten wir nur, dass die Steine rein physikalisch gesehen wie kleine Kraftwerke waren. Sie produzierten Energie und verstärkten solche, die von außen zugeführte wurde. Indessen gab Markus uns den Auftrag, herauszufinden, wozu die Hegedunen die Steine gebaut hatten, und wir machten uns an die Arbeit.
Doch von Anfang an lief alles schief. Beim Versuch an Informationen zu gelangen, tappten wir in eine Falle und eine Kollegin und ich wurden von den Hegedunen gefangen genommen. Dem Team gelang es zwar, uns zu befreien, aber es ging so weiter. Immer schien uns der Gegner einen Schritt voraus zu sein. Stets fanden wir nur das, was wir finden sollten. Und so sehr wir auch versuchten, den Spieß umzudrehen, es gelang uns nicht. Dazu muss man wissen, dass wir uns von Aurelias Gabe haben leiten lassen. Im Einsatz weist sie uns den Weg. Sie ist der Grund, warum wir so gut sind, ähm…, ich meine waren. Bis zum Beginn dieser Jagd hat Aurelia noch nie falsch gelegen. Nicht solange ich sie kenne.“
Xandra hatte gespannt gelauscht und begann zu verstehen. Außerdem konnte man gar nicht übersehen, dass da irgendetwas mit Pareios‘ Gesicht geschah, wenn er über diese Jägerin sprach. „Inwiefern ist das wichtig?“
Pareios verschränkte die Hände und legte sie auf dem Tisch ab. „Weil Orcus eben diese Gabe missbraucht hat, um uns in die Irre zu führen. Besser kann ich es nicht erklären.“
„Ich glaube, ich kann dir folgen. Aber du sagst, ihr habt dennoch etwas gefunden?“
Er nickte düster. „Alles wies darauf hin, dass die Steine irgendwie in eine klinische Studie verwickelt waren. Wir dachten, es ginge darum, Menschen mit Hilfe dieser Dinger die Energie zu entziehen. Die Probanden mussten wahrscheinlich Höllenqualen durchstehen. Es war wirklich verdammt gruselig.
Kurze Zeit später landeten wir erneut in einer Falle und wären beinahe alle draufgegangen, wenn wir nicht auf zwei Gefangene der Hegedunen getroffen wären, die uns bei der Flucht halfen. Mit ihnen gelang es uns auch, einen Wissenschaftler der Gegenseite zu entführen, von dem wir uns mehr Informationen erhofften. Aurelia war jedoch schwer verletzt und wir waren gezwungen, zum Bunker zurück zu kehren. Der Wissenschaftler rettete ihr sogar noch das Leben.“
Xandra machte eine verständnislose Miene, aber Pareios wirkte, als ob er sie gleich aufklären wollte.
„Damit taten wir genau das, was Orcus von Aurelia wollte. Einer der Gefangenen war Dante, so haben wir ihn zumindest genannt. Er behauptete, er habe sein Gedächtnis verloren und wisse nur, dass er Aurelias Gegenstück sei. Was wohl auch stimmte. Jedoch war er außerdem Orcus‘ Sohn und die Waffe, die sein Vater auf uns und den Rat richtete. Dante, der entführte Wissenschaftler und Meggan, die andere Gefangene, die wir befreit hatten, ließen weitere Hegedunen in den Bunker ein, als Markus den Rat und den Venus Orden versammelte, um seine eigenen Pläne zu Verwendung der Steine vorzustellen. Aber ich glaube, davon weißt du bereits.“
Seine Stimme hatte einen vorwurfsvollen Unterton angenommen und Xandra begriff, dass Evrill seine Kollegen informiert haben musste. Darüber, dass sie von dem Plan, eine Waffe zu bauen, gewusst hatte. Und es für sich behalten hatte. Sofort war da wieder dieses Druckgefühl in der Brust und sie hätte sich gerne entschuldigt, doch der andere Elevender ließ sie nicht zu Wort kommen. Während er weitersprach, schob sich unter dem Tisch etwas auf ihren Schenkel und übte tröstlichen Druck aus. Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, dass es Christians Hand war.
„Dante war es auch, der die Gabe besaß, Elevenderfähigkeiten zu stehlen. Das schien ihn aber jedes Mal fast das Leben zu kosten, weswegen Orcus die Steine schaffen ließ. Sie sollten die Kräfte seines Sohnes bis ins Unermessliche steigern. Somit hatten wir alle Werkzeuge im Bunker versammelt, die Orcus für die Durchführung seines Planes brauchte. Er wollte die Gaben des Rates.“
Xandra sah rot.
Dieser Scheißkerl hatte es mit voller Absicht auf ihren Vater und dessen Kollegen abgesehen. Wenn sich je die Gelegenheit bot, würde Xandra die Ratte in der Luft zerfetzen. Während sie in Rachegedanken schwelgte, bewahrte Christian zum Glück einen kühlen Kopf. Seine Hand blieb ruhig und kam ihr wie ein Anker vor. Er betrachtete die ganze Sache logisch.
„Wie konnte Orcus Aurelia überhaupt kontrollieren? Wie macht er das?“
„Wir wissen es nicht genau, aber Aurelia glaubt, dass er einen Teil von sich in andere verpflanzt. Und dass er dafür Nähe und Zeit benötigt“, antwortete diesmal Evrill, allerdings sah er nur Christian dabei an.
Pareios sprang erklärend ein. „Sie hatten was, als Aurelia noch sehr jung war. Sie hat für ihn gekämpft, aber nach ein paar Jahren hat sie dann die Seiten gewechselt. Wahrscheinlich hat Orcus diese Zeit benutz, um sie zu infiltrieren. Außerdem wusste er von Aurelias Mutter, dass sein Sohn eines Tages Aurelias Gegenstück sein würde, wodurch sie sich perfekt als Schläferin eignete. Wahrscheinlich wollte er sogar, dass sie zu uns überläuft, was bedeutet, dass er diesen Plan schon seit Jahrhunderten vorbereitet hat. Und als endlich alle Spielfiguren auf dem richtigen Feld standen, hat er den Überraschungsangriff gestartet.
Wir hatten keine Chance. Wir konnten nur das Schlimmste verhindern. Orcus hatte nicht bedacht, dass die Gegenstückverbindung vielleicht stärker sein könnte, als seine Kontrolle über seinen Sohn. Aurelia hat Dante dazu gebracht uns zu retten, wofür er sich selbst jedoch opfern musste.“
„Herzzerreißend“, kommentierte Christian trocken und Xandra rammte ihm die Hacke ins Schienbein.
„Banause“, zischte sie leise in seine Richtung und auch Evrill kniff die Augen zusammen.
Pareios schien es aber gar nicht mitbekommen zu haben. Er wollte den Bericht wohl einfach hinter sich bringen und wirkte mittlerweile ziemlich aufgewühlt.
Sein Team hatte viel mitmachen müssen und Xandra empfand Mitgefühl für den Elevender auf der anderen Seite des Tisches.
„Wenn Orcus euch so übel mitgespielt hat, wieso willst du ihm dann auch noch hinterherlaufen?“ Christian war an Feinfühligkeit mal wieder nicht zu übertreffen.
Pareios lächelte nur sarkastisch. „Wir haben noch eine Rechnung offen. Außerdem ist mein Bruder verschwunden und wenn er nicht zusammen mit Dante ….“, er schluckte vernehmlich, „.. pulverisiert wurde, dann hat Orcus ihn jetzt.“
„Ach so“, meinte Christian daraufhin ziemlich kleinlaut.
Ja, ach so.
Wie auch immer, es wurde Zeit, den wichtigsten Grund für ihre Reise aufzuwerfen.
„Ich möchte mit Aurelia sprechen.“ Denn wenn sie bei der Jägerin nur das kleinste Anzeichen dafür sah, dass die Frau vom Feind gesteuert wurde, hieß das auch, dass sie ihren Vater wirklich wieder einmal enttäuscht hatte. Nein, nicht nur das. Gerade als er sie am dringendsten gebraucht hätte, hatte sie sich von ihm bevormunden lassen, wie ein kleines Kind. Manchmal musste man einfach seine Frau stehen, aber wie es aussah, war sie in diesem Punkt vielleicht nie erwachsen geworden…
Nein, das durfte einfach nicht wahr sein. Sie musste sich das Gegenteil beweisen, damit ihr Weltbild nicht noch mehr in Schieflage geriet. Ein Gespräch mit Aurelia war die einzige Chance auf Erlösung.
„Das ist keine gute Idee“, fiel Laelius mit einem endgültigen Tonfall ein. „Wir wissen nicht, wie diese Verbindung mit Orcus aussieht. Er könnte uns über Aurelia ausspionieren, oder sie dazu benutzen, dir etwas anzutun. Das Risiko ist zu groß.“
Doch Pareios war aufgestanden. „Ich bringe dich zu ihr.“
Na also. Sie erhob sich ebenso und lief dem eilig davon sprintenden Elevender hinterher. Der Rest der Versammlung folgte, während Laelius und Evrill weiter auf sie einredeten, um sie davon abzubringen. Schließlich blieb Pareios vor einer Tür stehen, die man offenbar mit Schlössern und Balken verriegelt und verrammelt hatte. Inzwischen bluteten Xandras Ohren vom Protest der beiden Männer und da platzte ihr der Kragen.
„Schluss damit! Ich möchte persönlich mit ihr sprechen. Sofort!“
Nichts und niemand würde sie aufhalten.
Mehrere Klicklaute verkündeten, dass die Tür entriegelt wurde. Vorsorglich setzte Aurelia sich auf und legte die Hände gut sichtbar auf die Knie. Wenn sie so schnell wie möglich aus ihrem Kerker raus wollte, war es wahrscheinlich besser, sich so kooperativ wie möglich zu verhalten… und harmlos zu wirken. Aber wie zum Teufel stellte man das an?
Eine blonde Frau, schön wie die Morgenröte, steckte den Kopf herein. Als sie Aurelia entdeckte, hob sie erstaunt die Augenbrauen, als hätte sie etwas anderes erwartet. Daraufhin trat sie ein und schloss die Türe hinter sich. Lange Beine trugen sie ein paar Schritte vorwärts, wodurch sie alsbald am gegenüberliegenden Ende des Zimmers angelangte. Aurelias Kammer war eben nicht sonderlich groß.
„Wie fühlst du dich?“, fragte die Fremde mit einer angenehmen Stimme, nachdem sie sich dort an die Wand gelehnt hatte.
Für einen kurzen Moment war Aurelia erstaunt, aber dann verstand sie. „Du meinst, ob ich mich besessen fühle?“
Stille. Ein durchdringender Blick aus saphirblauen Augen.
„Und? Bist du es?“
Aurelia entfuhr ein freudloses Lachen, indessen tanzten Ausschnitte des Traums durch ihren Kopf. Etwas regte sich unter der Oberfläche und jagte ihr eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Hilflos sah sie zur Decke.
„Schätze schon.“ Es fühlte sich echt scheiße an, es laut auszusprechen. „Aber ich kann ihn unterdrücken.“ Zumindest war es ihr schon einmal gelungen und sie würde alles daran setzen, es wieder zu tun.
Erneut wurde sie prüfend gemustert. Die andere wollte scheinbar jedes ihrer Moleküle unter die Lupe nehmen.
„Hat der Rat dich geschickt?“
„Nein, nicht wirklich“, gab die Fremde mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck zurück. Wieder vergingen Minuten, in denen sie beide nur starrten. Und so langsam war Aurelia wirklich verwirrt. Sie hatte damit gerechnet, dass man irgendwann jemanden auf sie ansetzen würde. Aber in ihrer Vorstellung glich dieses Zusammentreffen eher einem Verhör. Jetzt jedoch kam sie sich wie eine exotische Amphibie in einem Terrarium im Zoo vor.
Irgendwann verlor sie die Geduld und durchbrach die ohrenbetäubende Stille. „Wer bist du dann?“
„Hältst du es für klug, wenn ich dir das verrate?“
Aurelia zuckte mit den Schultern. „Dein Gesicht kenne ich ja bereits. Also ist der Zug sowieso schon abgefahren. Dann kannst du mir auch deinen Namen verraten. Das wäre nur fair. Immerhin weißt du genau wer ich bin."
„Tja, du wirst kaum jemanden in der Legion finden, der das nicht weiß.“
Nun, das stimmte natürlich. „Eine fragwürdige Berühmtheit.“ Jetzt würden die Leute ihren Namen für immer mit diesem Massaker in Verbindung bringen.
„Xandra“, sagte die andere da unvermittelt. „Ich heiße Xandra.“
Aurelia ging ein Licht auf. „Du bist Evrills Freundin und…“ Chronos‘ Tochter.
„Ja.“ Die blonde Elevenderin blickte kurz zu der Kamera hinauf, die man im oberen Eck der kleinen Kammer angebracht hatte. „Ev ist ein alter Freund.“
Aurelia sog die Luft tief ein. Für Sekundenbruchteile sah sie erneut, wie Chronos an jenem Tag gefallen war. Eines der vielen Leben, die Dante genommen hatte. Unsanft wurde sie aus diesem verhängnisvollen Gedanken gerissen.
„Ich bin gekommen, um dich etwas zu fragen.“
„Ich weiß.“
Xandra schmunzelte. „Natürlich.“
„Nein, das meine ich nicht… Du willst wissen, wie er gestorben ist.“ Aurelia beobachtete die Wirkung des Gesagten. Das perfekte Antlitz gegenüber verrutschte kein bisschen, doch eines der Saphiraugen zuckte und der perfekte Teint wurde mit einem Mal blass. „Aber die Geschichte hätte dir auch jemand anderes erzählen können. Wieso willst du sie ausgerechnet von mir hören?“
Xandra stieß sich von der Wand ab und ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen. Nachdem sie die Beine überschlagen hatte, suchte sie Aurelias Blick.
„Ich will dir in die Augen sehen, während du es erzählst. Dann werde ich es wissen.“
„Was wissen?“
„Ob du es genossen hast. Ob du eine von denen bist… Ob ich es Markus hätte ansehen können.“
Die Ehrlichkeit überraschte Aurelia und sie stockte, während die andere weitersprach.
„Du und ich, wir haben etwas gemeinsam. Der… Verlust… ist… unermesslich.“ Sie schien sich die Worte geradezu abzuringen.
Das Brennen in Aurelias Adern bestätigten die traurigen Sätze der Blondine. Seit Dante gegangen war, gab es keinen wachen Moment, in dem sie es nicht spürte. In dem es nicht wehtat. Und da ging ihr auf, worauf ihre Gesprächspartnerin hinaus wollte. Sie fühlten sich beide in gewisser Weise schuldig, weil es keiner von ihnen gelungen war, das Geschehene zu verhindern. Und da sie sich in diesem Punkt glichen, bekam Aurelia von der Fremden eine Chance eingeräumt. Denn sie wollten wohl beide dasselbe. Man konnte es Xandra ansehen. Den Wunsch nach Rache.
Aurelia sprach nicht aus, dass ihr das mit Chronos Leid tat. Umgekehrt hätte sie es auch nicht hören wollen. Stattdessen nickte sie nur schlicht… und begann zu erzählen.
Sie ließ nicht das kleinste Detail aus und wenn es noch so grausam war. Beschrieb genau, wie Xandras Vater gequält worden war, bevor man ihm die Gabe gestohlen und ihn dann getötet hatte. Wie sein blondes Haar plötzlich schlohweiß geworden war. Die Tochter saß währenddessen einfach nur versteinert da, lauschte dem Bericht aufmerksam. Ihre Züge blieben sachlich und ausdruckslos.
Nachdem Aurelia den Monolog beendet hatte, wartete sie ängstlich auf das Urteil. „Und?“
Die große Elevenderin schien äußerst unzufrieden, beinahe zornig. „Keine Ahnung. Ich bin mir nicht sicher. Ich hatte mir mehr erhofft.“
Mist. Das klang nicht danach, als würde sich Aurelias Gefangenschaft bald dem Ende neigen. Dabei hatte sie schon fast angenommen, dass Xandra ihr Ticket in die Freiheit war.
„Ich wollte nicht, dass das geschieht“, flüsterte sie in Ermangelung einer besseren Erklärung. „Ich habe wirklich alles getan, um es zu verhindern.“
„Ich glaube dir.“
Aurelia sah erstaunt auf.
„Das, was passiert ist, kannst du nicht gewollt haben. So masochistisch ist keiner… Hast du nicht gesagt, du könntest Orcus unterdrücken? Wie machst du das?“
„Ich weiß nicht genau, aber es hat mit Gefühlen zu tun. So, als ob er die für seine Zwecke nutzt. Der einzige Weg, ihn daran zu hindern, ist, gleichgültig und kalt zu sein. Nur mit dem Kopf zu agieren.“
„Und du glaubst, dass du das hinkriegst?“ Xandra hatte wohl ebenfalls kapiert, worauf Aurelia eigentlich aus war.
„Ich gebe zu, dass ich persönliche Hintergedanken habe“, räumte sie ein. „Aber in diesem Fall könnte das sogar von Vorteil sein. Ich meine, wenn ich jemals wieder frei sein will, muss ich ihn kriegen. Für mich heißt es, entweder finde ich Orcus und töte ihn, oder ich sterbe bei dem Versuch.“
Die Intensität ihrer Stimme beeindruckte die andere Elevenderin wohl, denn sie bekam einen anerkennenden Blick zugeworfen. Erst jetzt fiel Aurelia auf, dass ihre Finger sich tief in die Oberschenkel gegraben hatten. Mühsam löste sie einen nach dem anderen und begutachtete die Abdrücke, die entstanden waren. Auch das entging der fremden Jägerin nicht.
„An Motivation wird es dir auf jeden Fall nicht fehlen. Darauf habe ich gebaut.“
Diese Frau war offenbar voller Überraschungen. „Wirklich?“
„Ja. Und ich habe auf noch etwas gesetzt.“ Xandra beugte sich vor und die lange Mähne floss elegant über ihre Schultern. „Dieser Orcus hat eine Verbindung zu dir, nicht wahr?“
„Ähm, ja...“ Das hatte sie doch jetzt lang und breit dargelegt.
„Hast du schon mal versucht, diese Verbindung von deiner Seite aus zu nutzen?“
Oh, mein…. Daran hatte sie tatsächlich noch nie gedacht. „Nein.“
„Glaubst du, es könnte funktionieren?“, hakte Xandra aufgeregt nach.
Und selbst wenn nicht, Aurelia würde alles tun, alles behaupten. „Ich denke, dass ich es vielleicht hinkriegen könnte. Ich meine, es ist keine Brücke oder so, die man ganz leicht von beiden Seiten aus begehen kann. Aber wenn es einen Weg gibt, dann finde ich ihn.“ Sie hatte jeden Funken Zuversicht, den sie besaß, in den Schwur gelegt und diesmal hatte sie die Andere anscheinend zufriedengestellt.
„Gut. Du wirst mich begleiten.“
Während Aurelias Herz vor Erleichterung auf und ab hüpfte, hörten sie lautes Stimmengewirr von draußen und ihre beiden Köpfe schnellten in Richtung Tür. Offenbar hatte die Gruppe, mit der Xandra gekommen war, das Gespräch mitbekommen. Die Blondine winkte jedoch nur genervt ab, als sie Aurelias besorgte Miene entdeckte.
„Keine Sorge, ich kriege dich hier schon raus. Aber vorher brauchen wir einen viel versprechenden Ansatzpunkt. Wir brauchen überzeugende Argumente. Erzähl mir noch mal die ganze Geschichte von Anfang an. Alles, was dir einfällt.“
In diesem Augenblick erinnerte die große Elevenderin Aurelia sehr stark an Viktor. Wehmütig dachte sie an ihn. Er hätte jetzt dasselbe gesagt, hätte ein Brainstorming angeleitet und ihr geholfen, wichtige Details herauszuarbeiten, die vorher im Wust der Ereignisse untergegangen waren. Ob Xandra diesbezüglich ein guter Ersatz war und ob man ihr uneingeschränkt vertrauen konnte, würde sich erst noch zeigen. Vorerst begrub Aurelia den Plan noch nicht, Notfalls alleine loszuziehen, auch wenn diese unerwartete Allianz noch so verführerisch erscheinen mochte.
Also gehorchte sie den Anweisungen zunächst und rekapitulierte die Operation ganz von vorn. Sie ließ nichts aus. Mittlerweile war sie es schon gewöhnt, ihr Privatleben vor Gott und der Welt auszubreiten. Doch die Fehler aufzuzählen, die sie gemacht hatte, rief ihr noch einmal alles ins Gedächtnis, was sie verloren hatte.
Als sie in ihrer Erzählung bei der Studie angekommen war, auf deren Spuren sie sich bei besagter Jagd befunden hatten, war Aurelia schon ziemlich fertig mit sich und der Welt und musste eine Pause einlegen. Xandra wurde aber schon bald ungeduldig.
„Diese Studie hat Pareios auch schon erwähnt. Er sagte, ihr dachtet, dass dabei erforscht wurde, wie man Menschen die Energie entzieht.“
„Und dass man sie erst schwächen musste, damit das klappen konnte“, ergänzte Aurelia. „Ein Teilnehmer der Studie starb in meinen Armen. Er war in einem sehr schlechten Zustand, hatte Narben am ganzen Körper und zeigte deutliche Alterserscheinungen, weswegen wir ihn eben für einen Menschen hielten. Aber wie sich später herausstellte, hatten wir einen Denkfehler gemacht. Der Kerl war kein Mensch gewesen, zumindest nicht von Geburt an.“
Xandra fuhr vom Stuhl in die Höhe und war offenbar plötzlich geschockt. Sie fasste sich an den Kopf und begann, unruhig auf und ab zu laufen. „Lass mich raten“, flüsterte sie aufgeregt. „Er war ein Elevender. Orcus hat an diesen Probanden geübt. Sie waren alle Elevender, nicht wahr?“
„Wahrscheinlich.“ Aurelia nickte bestätigend.
„Hör zu“, Xandras Worte überschlugen sich beinahe und ein fiebriger Ausdruck huschte über das hübsche Antlitz. „In den USA ist dem Freund einer Freundin von mir etwas Ähnliches passiert. Er wurde entführt und über vier Jahre gefangen gehalten. Als er entkam, haben zwei Hegedunen nach ihm gesucht und ihn beseitigt. Wir konnten nicht klären, ob er ein Mensch oder ein Elevender gewesen war, für beides gab es einige Indizien. Er machte merkwürdige Andeutungen, dass er begabt sei, aber auch er hatte viele Narben, war ausgezehrt und starb letztlich an einem Sturz aus etwa sechs Metern Höhe. Wäre er da noch ein Elevender gewesen, hätte er den Fall überlebt. Könnte er ebenfalls eins von Orcus‘ Opfern gewesen sein?“
Auch Aurelia spitzte jetzt die Ohren. „Möglich wäre es natürlich schon. Habt ihr euch den Ort, an dem er gefangen gehalten wurde, genauer angesehen?“
„Das hatten wir vor, aber als unsere Leute das Gebäude betreten wollten, ist es quasi vor deren Nase in die Luft geflogen.“
Etwas in Aurelia schrie ganz laut. So durchdringend, dass sie meinte, es müsse auch außerhalb ihres Kopfes zu hören sein. Da war sie. Die Spur, die sie gebraucht hatte. Der Wegweiser, mit dem sie die Suche beginnen konnte. Und jede ihrer Zellen bäumte sich auf, wollte ohne Zögern losstürzen. Nur mit Mühe und Not konnte sie sich zur Ruhe zwingen, sich Geduld einschärfen. Bald, versprach sie sich.
„Das klingt ganz nach Orcus“, knurrte sie schließlich und ballte die Hände zu Fäusten.
Wenig später war Aurelia wieder alleine, doch sie wiederstand dem Drang, es ihrer Besucherin gleich zu tun und in der kleinen Kammer vor Aufregung auf und ab zu laufen. Sie betete, flehte, dass Xandra einflussreich genug war, um sie aus der Gefangenschaft zu befreien. Die Frau brauchte Aurelia, ja ganz sicher. An diesem Gedanken hielt sie sich fest, während sie wartete und wartete.
Dann endlich öffnete sich die Tür erneut. Pareios erschien im Rahmen und sein Gesichtsausdruck ließ Aurelia aufatmen.
„Du bist frei.“
Sie hörte die drei Worte wie aus weiter Ferne und es dauerte, bis die Info ganz eingesunken war. Verstohlen wischte sie sich über die Wangen, jedoch war dort nichts Feuchtes. Dabei hatte sie damit gerechnet, dass die Erleichterung ihr die Tränen in die Augen treiben würde. Aber nein, sie hatte nur einen Gedanken. Die Türe zog sie förmlich an, am liebsten wäre sie einfach aufgesprungen und hindurchgestürzt. Doch auch dieses Mal riss sie sich am Riemen.
Statt los zu rennen, ging Aurelia mit steifen Knien zum Spint hinüber und begann ihre Tasche zu packen, was natürlich nicht lange dauerte. Als sie den Reißverschluss zu zog, war nichts mehr im kleinen Schränkchen übrig geblieben und sie dachte voller Nostalgie, dass das auch gut so war. Wahrscheinlich würde sie ohnehin nie wieder hier her zurückkehren. Abgesehen davon, dass der Stützpunkt entlarvt worden war, schien es mehr als fraglich, ob sie die bevorstehende Suche überleben würde. Aber wie sagte man so schön, wo gehobelt wurde, da fielen auch Späne.
Pareios war nicht gegangen und lehnte jetzt am Schreibtisch, als sie den Spint zum letzten Mal in ihrem Leben zuklappte. Da fiel ihr auf, dass er ebenfalls Gepäck dabei hatte.
„Du kommst mit?“
„Was sollte ich sonst tun?“, fragte er im Gegenzug.
Ein Bild von Viktor erschien vor ihrem inneren Auge und sie begriff. Wenn es nur die geringste Chance gab, dass Viktor überlebt hatte, dann befand er sich jetzt in Orcus‘ Gewalt. Und Pareios war scheinbar bereit, bis ans Ende der Welt zu gehen, um seinen Bruder zu finden. Früher hätte Aurelia ebenfalls nichts anderes im Kopf gehabt. Bevor diese Odyssee begonnen hatte, war Viktor ihr bester Freund gewesen. Der einzige, dem sie sich anvertraut hatte. Und unabhängig davon, dass sich ihre Beziehung auseinander entwickelt hatte, hätte auch sie nichts unversucht lassen dürfen, ihn zu finden. Immerhin waren sie über viele Jahrhunderte Kameraden im Kampf gewesen, so etwas schweißte zusammen, ob man wollte oder nicht.
Doch Orcus hatte alles verändert. Hatte Aurelia verändert. Es gab nur noch diesen endlosen Schmerz und die Sehnsucht nach Rache.
Außerdem musste sie davon ausgehen, dass sie; egal was sie Xandra erzählt hatte; durchaus gefährlich für ihre verbliebenen Freunde werden könnte. Und wenn Orcus Viktor tatsächlich hatte, dann dürfte es dem mittlerweile genauso ergangen sein. Schließlich wusste Aurelia, dass ihr Erzfeind nicht nur sie infiltriert hatte. So gesehen war ihr Ziel vielleicht sowieso der einzige Weg, Pareios‘ Bruder zu retten, sollte er denn noch leben.
Das bedeutete auch, dass sie sich vom Team trennen würde müssen, sollte sich abzeichnen, dass sie Orcus nicht unterdrücken konnte. Noch mehr Leute mit in den Abgrund zu ziehen, wollte sie nun wirklich nicht verantworten. Doch als sie jetzt zu Pareios hinüber schielte, wurde ihr bewusst, dass diese Entscheidung möglicherweise nicht nur bei ihr lag.
Er bemerkte ihren Blick und erwiderte ihn. Auch er hatte sich verändert. Früher war er der Inbegriff der Lebendigkeit gewesen, hatte vor Leidenschaft und Freude am Leben gesprüht. Eigenschaften, die Aurelia mit der Zeit immer mehr angezogen hatten. Jetzt jedoch war das Leuchten verschwunden, als hätten die letzten Tage es ausgelöscht. Entschlossenheit war an seine Stelle getreten. Pareios so zu sehen tat weh, denn auf irgendeine Weise würde sie ihn immer lieben und egal, was zwischen ihnen vorgefallen war, ihre Freundschaft hatte den Sturm überdauert. Dementsprechend fiel es Pareios nicht schwer, ihre Pläne zu durchschauen.
„Du willst dich absetzen, stimmt’s?“
Aurelia zögerte. „Falls es nötig wird.“
„Ich werde dich nicht verraten. Aber nur, wenn du mich mitnimmst, wenn es so weit ist.“
Was, zum…? „Du erpresst mich???“
Pareios wich ihrem Blick aus und sah auf seine Hände hinab. Sie zitterten kaum merklich und er stopfte sie zügig in die Hosentaschen. „Die Sache ist die… Ich bin mir nicht mehr sicher, ob du mich auch so gebeten hättest, dich zu begleiten.“
Sicher, sie waren Freunde, aber da war immer noch dieser Berg an ungeklärten Fragen und widersprüchlichen Emotionen. Dass Aurelia jetzt keinen Kopf dafür hatte, hieß nicht, dass er nicht existierte. Zudem hatte Pareios Recht. Eventuell hätte sie ihn zurückgelassen und obwohl sie das einzig zu seinem Schutz durchgezogen hätte, kam sie sich mehr denn je wie eine Verräterin vor.
Darauf wusste sie nichts zu erwidern. Doch wahrscheinlich sprach ihre Mimik Bände, denn Pareios nickte nur nüchtern. „Dachte ich mir.“
„Das hat nichts mit dir zu tun. Es ist MEIN Schatten. ICH muss ihn loswerden.“
„Alles hatte mit mir zu tun“, entgegnete er ruhig. „Und das Problem mit deinem Schatten ist, dass er dir überallhin folgt… außer in die Dunkelheit.“
Er stieß sich vom Tisch ab und wandte sich zum Gehen. Für ihn war das Gespräch wohl beendet.
Vor langer Zeit hätte sie ihn aufgehalten, hätte ihn nicht auf diese Weise gehen lassen. Jetzt nicht mehr. Es war besser so. Im Augenblick konnte sie sich nicht vorstellen, sich jemals wieder einem Mann zuzuwenden. Das Loch in ihrem Herzen ließ sie mit jedem Atemzug an Dante denken, auch wenn sie nur wenig Zeit zusammen gehabt hatten. Und trotz der Tatsache, dass er wahrscheinlich nie ganz er selbst gewesen war.
Außerdem, wenn sie schon zu Beginn dieser vertrackten Geschichte geglaubt hatte, einem Partner nichts bieten zu können, dann hatte sie auf dieser Skala mittlerweile den Minusbereich erreicht. Auf dem Gebiet war sie eine verdammte Katastrophe.
Also ließ sie Pareios gehen und beschränkte sich darauf, seiner großen Gestalt hinterherzuschauen.
Dabei fühlte sie… Garnichts. Sie durfte nichts fühlen.
Oh, Mann. Gott sei Dank, hatte sie nicht viel gefrühstückt, dachte Blaise, als sie einen heftigen Tritt in den Solar Plexus einsteckte. Mit einem Keuchen entwich ihr die Luft und die Beine gaben unvermittelt nach. Die blauen Matratzen, mit denen die Turnhalle ausgelegt war, bewahrten ihre Knie vor dem harten Aufprall. Unten angekommen, hielt sie sich den Bauch und musste sich schwer atmend auf eine Hand aufstützen, um den plötzlichen Sauerstoffmangel auszugleichen. Vor Schmerz war ihr ganz schlecht, nur mühsam konnte sie ihren Mageninhalt dazu überreden, an Ort und Stelle zu bleiben.
Eine erschrockene Miene tauchte in ihrem Gesichtsfeld auf. Trotz der verschwommenen Sicht erkannte sie die Sorge in den leuchtend grünen Augen.
„Tut mir sooo Leid!“, beteuerte Cat inbrünstig. „Geht’s?“
Blaise konnte nur nicken, sie brauchte ihren Mund zum Luft schnappen.
„Ehrlich, ich dachte nicht, dass das klappt…“
Da hätte sie mal vorher besser Blaise gefragt. Denn der war völlig klar, dass Cat einfach begabter in diesen Dingen war. Obwohl sie beide erst vor ein paar Tagen mit dem Training begonnen hatten, hatte die andere Elevenderin seither wesentlich größere Fortschritte gemacht. Treten, Boxen und Rangeln. All das lag Blaise einfach nicht. Leute zu verletzen stand auf der Liste der Dinge, mit denen sie ihre Zeit verbringen wollte, ziemlich weit unten.
Kein Wunder also, dass Cat mit dem waghalsigen und ungenauen Tritt tatsächlich ihre Deckung durchbrochen hatte. Wahrscheinlich hätte sie noch nicht mal einen Schmetterling abwehren können, wenn es darauf angekommen wäre. Leider musste sie das lernen, wenn sie irgendwann wieder einen Einsatz machen wollte. Obwohl sie sich im Moment gar nicht mehr so sicher war, ob sie das wirklich immer noch anvisieren sollte. Neben den offensichtlichen Schwächen im physischen Bereich, hatte Blaise keinerlei Erfahrung mit Taktieren oder mit den Hegedunen im Allgemeinen.
Wer hatte sie eigentlich auf diese dämliche Idee gebracht?
Ach ja, richtig... Xandra.
Aber sie war nicht der Grund gewesen, warum Blaise zugestimmt hatte.
Nein! Wie immer, und zu ihrer großen Scham, hatte die Entscheidung einzig und allein mit Vincent Slater zu tun. Denn wenn sie ins Jägerteam ihrer besten Freundin aufgenommen werden würde, würde sie bei jedem Einsatz mit dem Objekt ihrer Begierde zusammenarbeiten müssen. Oder besser gesagt, dürfen. Zumindest galt das aus ihrer Sicht. Slater hätte ihr in diesem Punkt gewiss widersprochen.
Seit jenem Tag, als er sie geholt hatte, damit sie Cat anhand ihres Geruches finden und vor ihrem Entführer retten konnte, war er Blaise aus dem Weg gegangen. Beide Nächte hatte sie in der Küche auf ihn gewartet, doch das hatte ihr bloß Augenringe und eine ordentliche Portion Schlafmangel eingebrockt. So gesehen ließ Slater ihr gar keine andere Wahl, als seine Nähe auf diese Weise zu suchen.
Endlich hatte sie sich wieder einigermaßen gefangen und rappelte sich auf. Sofort griffen zwei Hände nach ihren Armen und halfen ihr auf die Beine. Sie brauchte einen Ausfallschritt, um sich davor zu bewahren, erneut zu Boden zu gehen.
„Bist du sicher, dass du weitermachen willst?“, fragte Cat mit mitfühlendem Tonfall. „Du bist irgendwie grün um die Nase.“
Ach ne. „Schon gut. Das geht bestimmt vorbei. Ich bin es nur nicht gewohnt, vermöbelt zu werden.“ Das würde sich allerdings noch ändern. „Bitte sag mir, dass du Zusatzstunden bei Dareon genommen hast.“ Dann wäre die Niederlage nicht ganz so schmachvoll gewesen.
„Meinst du Zusatzstunden…. oder Zusatzstunden?“ Cats Augenbrauen hüpften auf und ab und ihr Lächeln leuchtete förmlich.
„Jetzt willst du aber angeben.“
Die zierliche Frau war ihr wohl nicht nur im Kampfsport meilenweit voraus. Und das war wirklich das letzte, was sie gerade hören wollte. Nicht, dass sie irgendwie eifersüchtig gewesen wäre. Niemaaals….
„Gar nicht! Ich bin einfach so glücklich. Zum ersten Mal seit… ich weiß nicht wann.“
Was kaum zu übersehen war. Dieses fröhliche Strahlen und die ständigen Lachfältchen um die Augen bewiesen das nur allzu deutlich. Und Blaise freute sich aufrichtig für ihre Freundin, dennoch konnte sie nicht ignorieren, dass sie förmlich in der Sehnsucht nach so einer Verbindung ertrank. Dabei musste es noch nicht mal ein Gegenstück sein. Ein ganz bestimmter Kerl hätte ihr schon gereicht. Allerdings schien der manchmal noch unerreichbarer als ein etwaiger Seelenverwandter. Mühsam schüttelte sie den Gedanken ab. Der würde sie ja doch nirgends hin führen.
„Es tut wirklich gut, zu sehen, dass es bei euch so hervorragend läuft.“ Immerhin war das die Wahrheit. Das Pärchen verbreitete Hoffnung auf dem Anwesen. Bei Blaise und allen anderen, die wie sie auf eine Zukunft hofften, in der nicht nur die politischen Probleme beseitigt und die Menschheit endgültig befreit war, sondern in der auch persönliches Glück auf jeden von ihnen wartete. „Ihr inspiriert die Bewohner von Blackridge.“
„Ganz bestimmt. Fragt sich nur zu was…“, kicherte Cat und kehrte zu ihrer Ausgangsposition auf der anderen Seite der Matte zurück.
Die Turnhalle war ansonsten leer. Die meisten Bewohner waren beim Mittagessen oder unterwegs und sie hatten den Raum ganz für sich alleine. So konnte Blaise ein wenig üben, ohne sich vor den anderen lächerlich zu machen. Wobei sich immer mehr herauskristallisierte, dass sie noch einige solcher privater Trainingseinheiten brauchen würde, bevor sie an Dareons offiziellen Gruppenunterricht auch nur denken konnte.
„Also los. Weiter“, sagte sie deshalb und ging in Stellung. „Aber dieses mal keine Tritte. Lass uns einfach den Arm-Drill üben, den du mir gezeigt hast.“
Cat nickte und sie begannen die Unterarme zu kreuzen. Es dauerte zwar eine Weile, doch irgendwann gewann Blaise an Sicherheit und sie steigerte die Geschwindigkeit. Noch ein wenig später und sie konnte sich sogar währenddessen unterhalten.
„Hattet ihr schon Zeit, mit deinem Vater über diesen mysteriösen Geschäftspartner zu sprechen?“
Die Erkundigung schien Cat kurz aus dem Takt zu bringen. „Wir haben es erst vor zwei Tagen herausgefunden. Dräng‘ mich nicht!“ Dann fügte sie grummelnd an: „Das hat Dareon sich schon vorgenommen.“
„Er hat doch recht. Willst du denn gar nicht herausfinden, was mit deinem Freund Jayce passiert ist?“
„Schon… Aber mit meinen Eltern ist es immer noch irgendwie komisch. Sie wirken so anders und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.“
Blaise beobachtete die Dunkelhaarige und bemerkte den Schatten, der über die kämpferische Miene huschte. Sie konnte nachvollziehen, dass Cat dem plötzlichen Frieden misstraute, denn sie hatte seit ihrer Pubertät geglaubt, von ihren Eltern verstoßen worden zu sein. Erst als sie vor 48 Stunden dazu gezwungen gewesen war, erneut Kontakt aufzunehmen, hatte sich gezeigt, dass Robert und Patricia Campbell ihre Tochter lediglich vor gefährlichen Geschäftspartnern beschützen hatten wollen. Die waren es nämlich, die Jayce und einige andere Elevender entführt und wer wusste schon was mit ihnen angestellt hatten. Als Cats Eltern damals dann herausgefunden hatten, dass ihr eigenes Kind auch eine Elevenderin war und es somit ebenfalls ins Visier dieser Leute geraten würde, hatten sie Cat in eine Irrenanstalt verfrachtet und den Kontakt abgebrochen. Das Schicksal hatte jedoch anderes mit der Familie vorgehabt.
„Willst du meinen Rat?“, erkundigte Blaise sich vorsichtig. In dieser Sache wollte sie auf keinen Fall mit der Tür ins Haus fallen.
„Klar, wieso nicht…“
„Sei‘ offen. Vergebung hat nichts damit zu tun, ob jemand sie verdient hat. Und letztlich schadest du dir selbst mehr, als deinen Eltern.“
Cats Blick schweifte in die Ferne und sie wirkte nachdenklich. Umso erstaunlicher, dass ihre Arme ohne Unterbrechung mit dem Drill fortfuhren. Blaise meinte sogar, dass die Bewegungen einen Tick härter geworden waren. Bald schon geriet sie aus der Puste.
„Sag‘ mal, trainierst du nebenbei im Geräteraum?“
Mit jedem Mal, wenn die Streckseiten von Cats Unterarmen auf die ihren trafen, fühlte es sich mehr an, als seien die Knochen der zierlichen Frau aus Beton. Während Blaises Fleisch immer weicher wurde. Verdammt, das gab bestimmt blaue Flecken. Doch da musste sie durch, wenn sie eine Jägerin werden wollte. Außerdem verheilten solche Verletzungen bei Elevender sehr schnell. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, den Schmerz zu ignorieren.
„Was?... Ähm, nein…“, gab die Andere zerstreut zurück.
„Wieso bist du dann….“ Da ging es ihr auf.
Cat war eine Verbindung mit ihrem Seelenverwandten eingegangen. Und wenn das geschah, verstärkten die Partner die Kräfte des jeweils anderen. Das Volk der Elevender nannte diesen Prozess Elevation.
„Hm? Wieso bin ich was?“ Cat hatte offenbar nur mit halbem Ohr zugehört.
Blaise erklärte es und zauberte damit wieder ein Lächeln auf das Puppengesicht mit den vielen Sommersprossen. Die ganzen Piercings konnten die Verletzlichkeit in den zarten Zügen nicht mehr verbergen.
„Siehst du?! Du brauchst dich nicht vor dem Gespräch mit deinen Eltern zu fürchten. Du bist jetzt stark, hast Rückhalt. Nicht nur von Dareon. Xandra und ich begleiten euch, wenn du möchtest.“
Cat grinste breit. „Blaise, ich kann dich von Sekunde zu Sekunde mehr leiden, weißt du das?!“
„Ja, das hab‘ ich drauf“, lachte sie ebenso. „Ganz im Gegensatz zu…“ Doch sie kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn Cats Hand kam erneut durch ihre Deckung und traf sie an der linken Brust.
„Au! Verdammt…“
Auf dem Weg zurück zum Hauptgebäude des Anwesens pochte ihr Busen immer noch. Am liebsten hätte sie über die Stelle gerieben, aber das war ihr dann doch zu öffentlich. Während sie über die Wiese zwischen den Häusern schlenderten, redete Cat ununterbrochen von Dareon und Blaise schmunzelte hin und wieder. In Gedanken war sie jedoch bei Xandra.
Wie wohl die Reise nach Europa lief? Ob die Freundin fand, was sie suchte?
… Und ob sie mit Christian zurechtkam?
Die beiden waren ein Duo infernale. Sie forderten sich gegenseitig heraus und brachten einander dazu, die Welt aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Gerade deswegen passten sie auch so gut zusammen. Trotzdem wurde Blaise das Gefühl nicht los, dass Xandra von irgendetwas zurück gehalten wurde. Vielleicht lag es daran, dass sie eben nicht gern die Kontrolle abgab. Wahrscheinlich ein Erbe ihres Vaters, selbst wenn sie das nie und nimmer zugegeben hätte.
Nachdem Cat und Blaise sich durch die Tische auf der Terrasse geschlängelt und durch den Hintereingang, bestehend aus breiten Glastüren, die Bar des ehemaligen Hotels betretenen hatten, kam ihnen Dareon entgegen. Er wirkte aufgeregt und seine Mimik zeigte, dass ihm etwas über die Leber gelaufen war.
„Ich habe dich schon überall gesucht“, raunte er und zog sein Gegenstück an sich. „Christian hat angerufen.“
Blaise hatte den Blick gesenkt, um die Privatsphäre der beiden zu waren. Jetzt sah sie neugierig auf. „Neuigkeiten aus Deutschland?“
Er nickte bestätigend und wandte sich wieder Cat zu. „Sie glauben, dass Jayce vielleicht ebenfalls ein Opfer von diesem Hegedunen gewesen sein könnte, der den Bunker überfallen hat. Und das bedeutet, dass dein Vater…“ Er stockte und sah zu Blaise hinüber.
Cat schüttelte nur den Kopf. „Sprich weiter. Sie weiß es schon.“
Außerdem hatte Blaise bereits kombiniert und zog scharf die Luft durch die Zähne.
„Wahnsinn…“
„Wem sagst du das… Cat, dein Vater könnte uns vielleicht dabei helfen, Orcus‘ Spur zu finden.“
Die riss die Augen auf. „Du meinst, Orcus könnte der Geschäftspartner sein, vor dem sie mich damals in Sicherheit bringen wollten?“
Erneut neigte ihr Gegenstück ernst das Haupt. „Wir müssen deine Familie endlich treffen und nochmal mit ihnen sprechen. Jetzt gleich. Xandra und Chris sind mit anderen Jägern auf dem Rückweg aus Europa und wenn sie ankommen, will ich ihnen nicht mit leeren Händen gegenüber treten.“
Das war nachvollziehbar. Jeder von ihnen wusste, wie wichtig Xandra die Suche nach den Schuldigen am Tod ihres Vaters war.
Cat versteifte sich sichtbar, aber dann willigte sie ein. Mit hochgezogenen Schultern stapfte sie wortlos von dannen und Dareon folgte kurze Zeit später. Nicht jedoch, ohne Blaise einen entschuldigenden Blick zuzuwerfen. Die blieb zurück und konnte nur hoffen, dass ihre Freundinnen nicht ein weiteres Mal enttäuscht wurden. Auf die eine oder die andere Weise. Im Augenblick konnte sie nichts tun, um zu helfen, was ihr absolut nicht behagte, und in Ermangelung einer besseren Beschäftigung beschloss sie doch noch Mittagessen zu gehen. Da würde sie wenigsten nicht mit den vielen Sorgen allein sein, die ihr durch den Kopf schwirrten. Hinterher vielleicht ein wenig Backen, das würde sie schon ablenken.
Die Entscheidung war gefallen und sie machte sich zum Speisesaal auf. Dort hatten sich die Tische bereits weitestgehend geleert und Blaise sonnte sich in der heimeligen Atmosphäre, die der lichte Raum mit der Fensterfront schuf. So komisch es klingen mochte, die benutzten Teller und die dreckigen Tischdecken ließen bei ihr ein Gefühl von Vertrautheit aufsteigen. Von Sicherheit. Ja, das hier war ihr Revier. Nicht das Schlachtfeld oder die Jagd. Leider befürchtete sie, dass sie aus dieser Komfortzone ausbrechen musste, wenn sie das bekommen wollte, wonach es sie verlangte.
Sie würde ihr Ziel nicht aus den Augen lassen, doch nach den Sternen zu greifen hieß nicht, dass man seine Wurzeln kappen musste. Erwartungsvoll trat sie ein und genoss das Gemurmel der Speisenden, das Klappern von Besteck auf Porzellan und nicht zuletzt… die Gerüche.
Blaise sog sie tief ein und schloss die Augen, spürte den vollmundigen Geschmack im Rachen. Ihre Gabe durchdrang den zähen Dunst des Mittagessens und erkannte einzelne Nuancen. Zuerst bemerkte sie die dominanteren Noten. Balsamico, Honig sowie kräftige Wildkräuter prickelten auf ihren Geschmackknospen. Dann kamen die feineren Anteile zur Geltung. Kürbis und Basmatireis vermischten sich zu einer samtigen Vollkommenheit, die nur noch von der zarten Vanilleprise getoppt werden konnte, die ganz zum Schluss in ihrer Nase kitzelte.
Ein vernehmliches Magenknurren riss Blaise aus dem geistigen Exkurs. Das Ganze war eben eine alte Angewohnheit, die sie sich schon von Berufswegen vor langer Zeit angeeignet hatte. Als Köchin benutzte sie ihre Gabe regelmäßig. Das Kombinieren von Nahrungsmitteln und Gewürzen zu komplexen Geschmackserlebnissen bereitete ihr große Freude. Doch seit kurzem musste sie die Elevenderfähigkeit nicht nur deswegen trainieren. Als Jägerin würde sie sie auch zum Aufspüren von Personen und so weiter benötigen. Je mehr sie also übte, desto besser.
An einem großen Tisch am Fenster entdeckte sie Ferroc, der heute anscheinend den Babysitter für Romans Zwillinge spielte. Er schnitt gerade Leahs Kürbis klein, während Leon wie ein kleiner Blitz aus bunten Farben um den Tisch herum rannte. Erst als der Fünfjährige Halt machte, um etwas zu schwingen, das aussah wie ein Spielzeug-Tomahawk, erkannte Blaise, dass die verschiedenen Farbtöne zu einem prächtigen Indianerkopfschmuck gehörten. In dem pausbackigen Gesicht prangten rote Streifen, offensichtlich eine Art Kriegsbemalung. Bei genauerem Hinsehen wurde klar, dass die beiden Kinder verkleiden spielten. Denn Leah trug einen ellenlangen Fetzen aus schwarzer Seide, der definitiv aus dem Schrank ihrer Mutter stammen musste.
Blaise kicherte, als sie am Tisch der Drei stehen blieb und Leon die Gelegenheit sofort nutzte, seine Kreise jetzt um ihre Beine zu ziehen. Sie ließ ihn gewähren und begrüßte alle.
„Leah, Liebes, weiß deine Mom, dass du dieses Kleid genommen hast?“, fügte sie dann neckend an. Das Ding sah totschick und ziemlich wertvoll aus.
Die Kleine stopfte sich ein riesiges Stück Kürbis in den Mund und grinste frech. Damit entblößte sie eine verwegene Lücke zwischen den Schneidezähnen. „Mommy hat’s mir gegeben.“
„Wirklich?“ Verdutzt checkte sie Ferrocs Züge und sah dort nichts, was dem Gesagten widersprochen hätte. „Dann ist sie aber sehr großzügig.“
Leah nickte eifrig, der vorwitzige Pferdeschwanz aus schwarzem Haar wippte auf und ab. Blaises Hand hob sich automatisch, um an den glatten Strähnen zu ziehen.
„Niiich, Tante Blaise…“, krähte das Mädchen und versuchte auszuweichen. „Du machst meine Frisur kapuhuutt.“
„So klein und schon so eitel!“ Sie schaffte es gerade noch, Leah ein bisschen zu kitzeln, bevor die sich unter den Tisch gleiten ließ und entwischte. Kreischend krabbelte sie auf der anderen Seite hervor und leistete dann ihrem Bruder Gesellschaft. Jetzt wurde eben sie umkreist.
„Wo sind Roman und Yumi?“, erkundigte Blaise sich bei Ferroc, während sie den beiden Kindern beim Spielen zusahen.
„Was Roman betrifft, wüsste ich das auch gerne. Yumi ist oben und hat sich ein wenig zurückgezogen.“
„Bei denen hängt immer noch der Haussegen schief?“
Der Leiter von Blackridge wirkte betrübt, wie er die Kleinen beobachtete. „Sieht fast so aus.“
„Hast du mit Roman gesprochen?“
„Hab’s versucht. Er blockt total ab.“ Und an seiner Stimme hörte sie, dass er sich ernsthaft Sorgen machte. Das ging nun schon seit ein paar Wochen so. Roman, der puerto-ricanische Elevender mit den telepathischen Fähigkeiten und eins von Xandras Teammitgliedern, nutzte jede Gelegenheit, um das Anwesen zu verlassen, während Frau und Kinder die meiste Zeit hier verbrachten.
Dieses Verhalten war schwer zu verstehen. Wahrscheinlich hätten die meisten Bewohner von Blackridge liebend gerne mit dem Familienvater getauscht. Jedem Elevender wurde irgendwann irgendwo auf der Welt ein Gegenstück geboren, leider war es nicht allen vergönnt, sich auch zu finden. Manche scheiterten an der räumlichen Entfernung, manche starben, bevor der andere überhaupt zur Welt kam. Und dann gab es da noch die wirklich verzwickten Geschichten.
Zudem konnten Elevender sich beinahe ausschließlich mit ihren Gegenstücken fortpflanzen. Nur ein kleiner Prozentsatz der Kinder stammte aus normalen Elevenderverbindungen und noch weniger entsprangen aus der Kreuzung mit Menschen oder wurden von rein menschlichen Paaren hervorgebracht. Deshalb war Nachwuchs für Ihresgleichen etwas ganz Besonderes.
Romans Los war ein unglaublicher Segen, weshalb rannte er bloß davor weg?
„Hast du eine Vermutung, was vorgefallen ist?“
Der große Maori mit dem langen schwarzen Haar und den Tätowierungen am ganzen Körper verneinte. Offenbar war er ratlos.
Entschlossen stand Blaise auf. „Ich wollte sowieso mal mit Yumi sprechen. Sie kann Unterstützung jetzt vielleicht gut gebrauchen.“
Und das tat sie dann auch.
Nach einer kurzen Verabschiedung schnappte sie sich ein Tablett und belud es mit zwei Tellern des Mittagsgerichts, anschließend fuhr sie mit dem Aufzug in den dritten Stock. Dort befanden sich die Appartements, in denen die Familien untergebracht wurden, die auf dem Stützpunkt bei Ceiling lebten.
Sie klopfte ein paar Mal laut an der Tür des Penthouses, doch es meldete sich keiner. Schließlich gewann die Sorge die Oberhand und Blaise probierte den Türknauf. Er ließ sich ohne Probleme drehen, es war nicht abgeschlossen. Drinnen erwartete sie das typische Interieur, mit dem die Zimmer des Hotels ausgestattet worden waren, nur dass es in den Appartements mehrere Räume, eine kleine Küchenzeile mit Kühlschrank und auch eine Sofalandschaft gab. Hier und da hatten die Bewohner der Einrichtung ihre eigene Note verliehen. Da war eine Spielecke für die Kinder und an den Wänden hingen sagenhafte Kunstwerke. Yumi pflegte ihre Sammlung, wann immer sie konnte.
Blaise tapste vorsichtig hinein, dann rief sie nach der Hausherrin. Es kam keine Antwort, weshalb sie sich weiter vorwagte. Die Tür zum Schlafzimmer war nur angelehnt und Blaise schob sie ganz leise noch ein Stück weiter auf.
Yumi lag auf dem Bett und schlief. Ihr schwarzes Haar war wie ein seidiger Vorhang über die Kissen ausgebreitet. Überall um sie herum befanden sich zusammengeknüllte Tempotaschentücher, die mit verlaufener Wimperntusche befleckt waren. Offenbar hatte sich die japanisch stämmige Elevenderin die Augen aus dem Kopf geheult.
Voller Mitgefühl wollte Blaise schon den Rückzug antreten, da bemerkte sie noch etwas unter den Häufchen gebrauchter Zellulose. Da lag ein kleines Bildchen in Schwarz und Weiß, die Konturen schienen irgendwie verpixelt.
Es war ein… Moment, konnte das wirklich sein?
Sie beugte sich vor und ihr Blut gefror zu Eis.
Nein, sie hatte sich nicht getäuscht.
Es war ein Ultraschallbild.
Er ging hinter Xandra, als sie die riesige Garage durchquerten und dann einen Durchgang nahmen, der wohl in das herrschaftliche Anwesen hinüber führen sollte. Schon von außen hatte das Gebäude eindrucksvoll gewirkt, mit seinem klassischen Vorbau und dem gigantischen Seitenschiff aus futuristischem Glas. Auch die Garage selbst war schon groß genug, um einen ganzen Fuhrpark zu fassen. Es gab die verschiedensten Autos, aber das auffälligste von ihnen war ein kirschroter Camaro gewesen, der zwar alt aussah, jedoch in neuem Glanz erstrahlte.
So viel Prunk hatte er noch auf keinem der Stützpunkte der Legion gesehen und er hatte durch seinen Vater schon einige besucht.
Kein Wunder, dass Xandra Blackridge nicht verlassen wollte. Obwohl er sich so viel Mühe gegeben hatte. Gut, er hatte es nie direkt angesprochen und sich lange nicht bei ihr gemeldet, aber die Leute, die ihn kannten, hätten auf jeden Fall bemerkt, dass er sich gegenüber Xandra anders verhalten hatte als gegenüber anderen Frauen.
Außerdem war all das Teil seines Planes gewesen. Er hatte immer geglaubt, das Ganze wäre eine Art Langzeitprojekt und dass die blonde Elevenderin es schon irgendwann begreifen würde. Eine solche Frau war nun mal nicht leicht zu erobern und bei all seiner Hitzköpfigkeit und Sturheit, seine Mutter hätte bei dem Eingeständnis gefällig applaudiert, dumm war er nie gewesen.
Doch wie es jetzt aussah, hatte er sich da gründlich verkalkuliert. Er hatte nie einen Gedanken an Konkurrenz verschwendet. Vielleicht war es eitel, aber er kannte seine Vorzüge und wusste sie auch einzusetzen. Allerdings hatte er erst recht nicht damit gerechnet, dass sie irgendwann einen Typen anschleppen würde, dem wahrscheinlich jede verfluchte Frau auf diesem Planeten verfallen wäre. Gegen den mussten sogar Götter erblassen. Und dann schien er noch nicht mal ein schlechter Kerl zu sein.
Fuck. Das war gar nicht gut.
Was, wenn er zu spät kam?
Auf dem Weg durch den Flur bemühte er sich wirklich, den Blick von Xandras Hintern abzuwenden. Aber der war so perfekt, dagegen konnte die pompöseste Innenausstattung nicht anstinken. Die langen schlanken Beine lenkten seine Augen geradezu auf die herzförmige Rundung, die bei jedem anmutigen Schritt hin und her schwang. Er wünschte sich, er könnte immer noch sauer auf sie sein, weil sie ihm trotz ihres Deals nicht rechtzeitig von der großen Versammlung im Bunker erzählt hatte. Dann hätte er sich vielleicht von diesem prachtvollen Anblick abwenden können. Leider bekam er weder das eine noch das andere so richtig hin.
Zum Glück erreichten sie endlich eine Art Empfangshalle und die Schönheit des Raumes lenkte ihn dann doch ab. Schräg gegenüber führte eine prachtvoll geschwungene Freitreppe in den ersten Stock. Sie war aus edlem dunklen Holz gefertigt worden, links und rechts davon befanden sich die stählernen Türen der Aufzüge. Die Böden im Erdgeschoss waren mit rotem Samtteppich bedeckt und über ihren Köpfen in etwa vier Metern Höhe leuchtete ein riesiges kreisrundes Oberlicht aus Glas, das jede Menge Sonnenstrahlen einließ und eine malerische Atmosphäre schuf. Geradeaus ging es durch eine große Tür in einen Raum, der wie ein Speisesaal wirkte und links davon ragte ein großes Holzportal empor, offensichtlich der Haupteingang, den sie schon von draußen gesehen hatten.
Evrill blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken. Sein zu Hause war auch nicht von schlechten Eltern, aber gegen das hier glich das große Landhaus seiner Familie einem Schuhkarton. Er konnte nicht umhin, den Kronleuchter zu bewundern, der weiter vorn im Raum hing und auch die vielen zierlichen Stuckarbeiten fielen ihm auf. Ja, dieses Heim war Xandra würdig, dachte er unwillkürlich, auch wenn ihm das einen kleinen Stich versetzte. Jetzt musste er sich fragen, wie er zulassen hatte können, dass die Entfernung sie beide trennte. Es war ihm schließlich nie wichtig gewesen, wo er lebte.
Da bemerkte er einen Berg von einem Mann, der die Treppe herunter schritt und direkt auf die kleine Gruppe zusteuerte. Der Kerl musste so viel wiegen wie ein halbes Rind, wobei gut zwei Drittel dieses Gewichtes auf die mächtigen Schultern und die muskelbepackten Arme entfiel. Sein Teint war dunkel, die Haut über und über mit seltsamen Tätowierungen überzogen, die ihn eigentlich gefährlich hätten wirken lassen müssen. Wenn da nicht dieser gutmütige Gesichtsausdruck gewesen wäre.
Der Kerl begrüßte alle mit einem tiefen Bariton und stellte sich vor. Sein Name war Ferroc und offenbar war er für die Leitung des Stützpunktes zuständig. Der sympathische Tonfall passte ebenso wenig zu seinem Äußeren, wie das freundliche Lächeln.
In den USA war es mitten am Nachmittag und die anderen Bewohner, die es in Anbetracht der Größe des Anwesens mit Sicherheit gab, schienen ihren Aufgaben nachzugehen. Außer der Truppe um Evrill herum war die Eingangshalle leer.
Schließlich wies Ferroc Christian an, die Gäste zu den Zimmern zu bringen, die sie bekommen sollten, während der Riese Xandra beiseite nahm und leise mit ihr sprach. Evrill entging die Besorgnis in ihrem Blick nicht, als der ihn kurz im Vorbeigehen streifte.
Er wartete immer noch auf irgendein Zeichen von ihr. Obwohl sie wahrscheinlich mehr als deutlich gewesen war, mit dieser Fingerakrobatik-Attacke. Dennoch hoffte er, wenn er ihren Blick nur lange genug halten konnte, dann würde sich etwas ändern.
Nichts dergleichen geschah. Evrill folgte stattdessen ihrem Freund, und wenn dieses Wort mal nicht ein Tritt in die Eier war. Schließlich verlor er sie aus den Augen, als sich die Aufzugtüren mit einem leisen Zischen schlossen. Der ziehende Schmerz wollte allerdings nicht so schnell vergehen.
Trotz der schieren Größe der silbernen Kabine, musste sich die Gruppe zusammen quetschen. Obwohl er nur knapp zehn Tage mit diesen Leuten, ausgenommen Christian, verbracht hatte, fühlte er sich wie ein Teil des Teams. Vielleicht lag das auch an dem, was sie alles zusammen erlebt hatten. Sie hatten sich gemeinsam aus Situationen gekämpft, in denen man die anderen zwangsläufig kennenlernen musste. Jetzt waren ihm die ernsten Gesichter vertraut und auch dieses nagende Gefühl, das ihn nie vergessen ließ, dass nicht alle Kameraden die neuerlichen Katastrophen überstanden hatten.
Pareios und Aurelia standen beieinander, aber es schien sich mittlerweile eine undurchdringliche Wand zwischen ihnen zu befinden, auch wenn die nicht direkt sichtbar war. Eine ganze Zeit lang hatte es so ausgesehen, als ob die beiden sich zusammenraufen könnten, doch dann war Dante aufgetaucht und hatte das Spielfeld verwüstet, wie ein Dreijähriger mit Wutanfall.
An Pareios‘ grimmiger Miene erkannte Evrill, wie sehr ihm sein Bruder abging und Rowenas verschlossenes Gesicht machte die Sache auch nicht besser. Sie wirkte abgekämpft, hatte tiefe Ringe unter den Augen, dennoch kniff sie die Brauen zusammen und spannte die Wangenmuskulatur an, als ob ihre Kiefer ständig malten. Hätte er die Veränderung nicht selbst mitbekommen, hätte er nicht geglaubt, dass die Row vor Aidens Tod und die, die sie nun danach war, ein und dieselbe Person waren. Der Verstorbene war ebenfalls ein Teammitglied und mit Row liiert gewesen, dennoch sprach keiner über ihn. Sie wussten alle, mit jedem Wort hätte man der jungen Jägerin mit der wilden blonden Mähne nur noch mehr Schmerz zugefügt.
Aurelia konnte sich diesen Luxus nicht leisten. Sie war aufgrund der Umstände gezwungen, ausführlich mit jedem, der es wissen wollte, über den Verlust ihres Gegenstücks zu sprechen. Ziemlich mies. Evrill wusste nicht, ob er so viel Kraft besessen hätte. So oder so war klar, dass beide Frauen den Feind am Galgen baumeln sehen wollten. Row hatte sich der Gruppe ungefragt kurz vor dem Aufbruch angeschlossen und keiner hatte sich getraut, es ihr zu verweigern. Nicht mal Xandra hatte irgendetwas gesagt, nachdem er ihr Rowenas Beweggründe erläutert hatte. Er war einfach automatisch für seine Kollegin eingetreten, fiel ihm jetzt verwundert auf.
Obwohl so viel passiert war, seit er in diese Gruppe aufgenommen worden war, fühlte es sich trotzdem richtig an, hier zu sein. Ein Teil von ihnen. Als ob sie wirklich etwas bewegen konnten. Das hatte er sich sein ganzes Leben lang gewünscht, zum großen Unmut seines Vaters. Das ehemalige Ratsmitglied war aus den Geschäften der Legion ausgestiegen, damit seine Frau nachts ruhig schlafen konnte und die acht gemeinsamen Sprösslinge nicht irgendwann doch ihren Vater verlieren würden. Und wie sich gezeigt hatte, war die Angst seiner Mutter nicht unbegründet gewesen. Wäre Ezekiel vor zwei Tagen noch ein Ratsmitglied gewesen, wäre er vielleicht jetzt ebenso tot.
Evrill schüttelte sich diskret. Der Gedanke verursachte auch bei ihm Bauchschmerzen. Letztlich war er besser aus der Geschichte herausgegangen als die meisten anderen. Er hatte Glück gehabt. Wahrscheinlich fühlte er sich deswegen irgendwie verpflichtet, seine Teamkameraden zu unterstützen. Nicht, dass ihm nicht klar gewesen wäre, in welche Gefahr er sich begab, aber die hatte ihn noch nie abgeschreckt. Oh Mann, und er machte sich hier Gedanken um Xandra, dabei gab es so viel Wichtigeres.
Der Aufzug spuckte sie im zweiten Obergeschoss wieder aus und Christian verteilte alle nacheinander auf angrenzende Zimmer. Auch hier war die Einrichtung luxuriös und verschwenderisch, ein krasser Kontrast zum Bunker in Deutschland. Evrill sah zu, wie seine drei Kollegen in ihren jeweiligen Räumen verschwanden, bis nur noch er und Christian übrig blieben. Und irgendwas sagte ihm, dass das kein Zufall war.
Der blonde Elevender mit dem Babyface stieß die letzte Tür am Ende des Flurs auf und wies mit einer präsentierenden Geste hinein. „Da wären wir. La casa de Ev.“
Evrill nickte dem anderen zu ohne ihm dabei in die Augen zu sehen, was schon ein Kunststück für sich war, und schob sich an den austrainierten Schultern vorbei. Wahnsinn, musste der Typ eitel sein. Für so einen Brustkorb reichten ein paar Einheiten mit den Hanteln hier und da garantiert nicht. Und dann auch noch dieses schwule goldene Haar, das zu einer geschleimten Frisur drapiert worden war. Doch das Schlimmste an diesem Hollywoodgesicht war zweifelsfrei die Lippen und die Augen. Bei ihrem ersten Treffen hatte Evrill schon zweimal hinschauen müssen, um sicher zu gehen, dass der Kerl keinen Lipgloss oder so trug und die Augen hätten sogar Männer hypnotisiert. Er war also besser beraten, nicht so genau hinzusehen.
Deshalb ging er mit gesenktem Kopf zum Bett und stellte dort seine Tasche ab. Unterdessen hoffte er inständig, dass die Tür endlich ins Schloss fallen würde.
Das tat sie dann auch, aber als er sich umwandte, musste er erkennen, dass das nicht bedeutete, dass er diesen Hermaphrodit losgeworden war.
„Kann ich noch irgendetwas für dich tun, Christian?“, fragte er und rang sich einen sachlichen Tonfall ab.
Der Kerl grinste doch tatsächlich und kam weiter in den Raum hinein. Mit verschränkten Armen lehnte er sich dann an die Kommode und überkreuzte lässig die Knöchel.
„Meine Freunde nennen mich übrigens Chris.“
„Tun sie das?“, entgegnete er wenig begeistert und wandte sich seinem Gepäck zu. Anscheinend hatte der Typ nicht vor, allzu bald wieder zu verschwinden. Na, großartig!
Chris überging die rhetorische Frage kulant. „Du warst dabei, als Chronos gestorben ist, oder?“
Und wenn das kein versteckter Vorwurf war. „An Händen und Füßen gefesselt zwar, aber ja, ich war dabei.“
„Hat er noch irgendwas über Xandra gesagt?“
Evrill blickte sich überrascht um und musterte das Elevendermodel ausgiebig. „Nein. Wieso?“
„Weil sie es gebrauchen könnte, so etwas zu hören.“
Chris schien nachdenklich in die Ferne zu sehen und Evrill ging auf, dass der Kerl wahrscheinlich Recht hatte. Doch so wie er Xandra kannte, schätzte sie es nicht belogen zu werden, egal worum es sich handelte.
„Mag sein. Aber das ist nun mal nicht passiert.“
„Sicher nicht? Bestimmt fällt dir was ein, wenn du noch mal genauer darüber nachdenkst.“
Evrill begegnete einer doppeldeutigen Miene.
„Du willst, dass ich lüge?“ Er hatte geradezu bildlich vor Augen, wie diese Sache enden würde. Er würde als Lügner dastehen und Christian hatte dann freie Bahn bei Xandra. Wenn das dessen Absicht gewesen war, war es ein erschreckend teuflischer Plan und auch noch durch Mitgefühl getarnt. Ziemlich gerissen. Und niederträchtig.
Vielleicht stammte diese Interpretation allerdings auch nur von Evrills eigenem Konkurrenzdenken. Mach‘ mal halblang, redete er sich selbst gut zu. Immerhin wusste er bisher noch nicht mal, ob der andere Elevender überhaupt über ihn und Xandra im Bilde war. Sein bisheriges Verhalten hatte jedenfalls nicht dazu gepasst.
„Eine winzige Notlüge“, versetzte Chris abwiegelnd. „Nur damit es ihr ein bisschen besser geht. Wenn ich die Macht dazu hätte, würde ich es ohne zu zögern tun. Leider bist du derjenige von uns beiden, der das in der Hand hat.“
Und zum ersten Mal tauchte unter der freundlichen und aalglatten Oberfläche noch etwas anderes auf. Doch Evrill konnte es nicht ganz fassen. Er begriff nur, dass es von der Linie abwich, die Mr. Zu-schön-für-diese-Welt bisher gefahren hatte.
„Es wäre nicht die Wahrheit. Und wahrscheinlich nur ein kurzer Trost. Langfristig müsste sie trotzdem lernen, mit dem Schmerz klarzukommen.“
„Vielleicht. Aber langfristig gibt es andere Stützen, die ihr dabei helfen werden. Wenn Orcus und die anderen Schuldigen tot sind oder einsitzen. Im Augenblick kannst das nur du. Du kennst sie schon lange, von dir wird sie es annehmen. Und sie braucht es dringend.“
In der bildschönen Visage stand wilde Entschlossenheit und Evrill erkannte jetzt erst, wie viel Christian wirklich für Xandra zu empfinden schien. Fast hätte er ein schlechtes Gewissen gehabt, dass er sie ebenfalls begehrte. Ach verdammt, was für ein Schlamassel.
„Wenn das rauskommt, wird sie mir das nie verzeihen.“
„Sollte es tatsächlich jemals herauskommen, werde ich die Verantwortung übernehmen, wie klingt das?“ Chris‘ Stimme war eindringlich. Er wollte offenbar nicht lockerlassen.
„Wieso tust du das?“
Der Kerl machte ein Gesicht, als ob Evrill das doch wissen müsste. Und der verstand plötzlich die volle Tragweite dieses merkwürdigen Gesprächs.
„Weil ich alles für sie tun würde. Ich würde jede Lüge erzählen, jeden bekämpfen und sogar töten, wenn es sein müsste.“ Während dieser Worte war Christians sonst so sorgloses Gesicht bitter ernst geworden. „Also, tu‘ mir den Gefallen und denk‘ nochmal darüber nach.“
Bevor Evrill sich aus seiner Starre lösen und etwas erwidern konnte, wandte der andere sich um und steuerte in Richtung Tür. Dort angekommen blieb er jedoch noch mal stehen und warf einen Blick zurück. Die leuchtend blauen Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Ev?“
„Hm?“
„Muss ich auch gegen dich kämpfen?“
Wenn er das bloß selbst so genau gewusst hätte.
Er würde es wohl herausfinden müssen, doch für den Moment blieb er die Antwort schuldig.
Aurelia packte nicht aus. Sie hatte so ein unstetes Gefühl, das ihr vermittelte, dass sie sowieso nicht lange auf diesem prächtigen Anwesen bleiben würde. Vielleicht war das aber auch der drängenden Unruhe geschuldet, die sie verspürte, seit sie von dem Hinweis auf Orcus erfahren hatte. Xandra hatte ihr versichert, dass bereits zwei ihrer Teammitglieder an der Sache arbeiteten und sie nur warten müssten, bis es Neuigkeiten von den beiden gab.
Aber genau da lag das Problem. Warten schien Aurelia im Augenblick beinahe unmöglich. Etwas drängte sie unaufhörlich, es war fast eine Art Zwang. Wie eine Ahnung, dass sie zu spät kommen würde, wenn sie nur ein paar Minuten länger wartete. Doch selbst wenn sie auf dieses Gefühl gehört hätte, was hätte sie schon tun können?
Xandra hatte nicht verraten, wie genau diese ominöse Spur aussah und außerdem war es gut möglich, dass diese quälende Unruhe von Aurelias Intuition stammte, die von Orcus benutzt werden konnte, um sie zu manipulieren.
Was, wenn er sie nur in eine Falle locken wollte? Wusste er bereits, wo sie sich gerade befand? Denn das war ihm auch in der Vergangenheit gelungen, wenn er ihr all das antun hatte können, so war ihr klar geworden.
Doch auch dieser Einwand hatte Xandra völlig kalt gelassen. „Soll er nur kommen. Dann wüssten wir wenigstens wo er sich aufhält“, hatte sie gesagt und Aurelia dann erklärt, dass nichts und niemand durch den Schutzschild des Leiters des Anwesens dringen konnte. Die war sich da nicht ganz so sicher. Ihr fielen einige Wege ein, wie Orcus trotzdem hineingelangen konnte. Er könnte Aurelia erneut als trojanisches Pferd benutzen und sie auf den freundlichen Ferroc ansetzen. Nicht auszudenken, wenn sie im nächsten Traum den gutmütigen Maori abmurkste.
Diese verfluchten Gedanken plagten sie und zeigten nur noch einmal, dass diese Jagd wirklich knifflig werden würde. Vielleicht sogar unmöglich. Zumindest für Aurelia.
Sie musste klug handeln, wenn sie auch nur die geringste Chance haben wollte, ihren Erzfeind zu besiegen. Aber wie sollte sie das anstellen, wo er doch in jeder Sekunde in ihren Kopf schauen und sie zur Marionette machen konnte, ohne dass sie es überhaupt bemerkte?
Sie hatte gegenüber Xandra behauptet, dass sie dieses Arschloch aussperren konnte, wenn sie wollte. Die Wahrheit sah anders aus. Sicher war es ihr auf diese Weise schon einmal gelungen, aber offensichtlich war die Methode nicht zu hundert Prozent zuverlässig. So sehr sie sich auch bemühte, eiskalt zu sein, sie hatte es irgendwie verlernt.
Zum Beispiel vorhin im Flugzeug, als sie diesen merkwürdigen Seitenblick von Pareios aufgefangen hatte, da hatte sie etwas gefühlt. Oder auch, als Evrill im Aufzug fragend zwischen ihr und Pareios hin und her geschaut hatte. Und wenn sie sagte gefühlt, dann meinte sie nicht diese drängende Unruhe oder so etwas Lapidares wie „Ich hab’s im Gefühl, es wird regnen“. Diese Sorte Emotionen war offensichtlich ungefährlich. Das was sie in den anderen beiden Situation erlebt hatte, war es jedoch nicht.
Wie sollte sie Pareios auf diese Suche mitnehmen, wenn schon kleinste Gesten von ihm genügten, um etwas in ihr auszulösen?
Fragen über Fragen, auf die sie keine Antwort wusste.
Schließlich beschloss sie, dass sie nun lange genug auf diesem kuschligen Bett gelegen, an die edel marmorierte Decke gestarrt und sich in ihren Gedanken um sich selbst gedreht hatte. Sie gab dem Drängen nach und schwang die Beine über den Rand der Matratze. Am Fußende warteten die Kampfstiefel auf ihren Einsatz. Aurelia zog sie an und fühlte sich schon ein bisschen mehr wie sie selbst. Endlich trug sie wieder die Jägeruniform, etwas, wovon sie geglaubt hatte, es für immer verloren zu haben.
Die Unruhe verlieh ihr einen gewaltigen Energieschub und so ging sie beschwingt aus dem Zimmer. Draußen folgte sie dem Weg, den sie vorhin gekommen waren und plötzlich wusste sie genau, wo Xandra zu finden sein würde.
Der Aufzug brachte sie in den ersten Stock, wo eine ganz bestimmte mit Stuck verzierte Tür ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie blieb davor stehen und legte das Ohr ans blank polierte Holz, nur um Zeugin einer hitzigen Diskussion zu werden.
„Sie haben angeboten zu helfen. Was hätte ich deiner Meinung nach sagen sollen?“ Die zornige Frage war eindeutig von Xandras Stimme vorgebracht worden und der tiefe Bariton, der daraufhin ertönte, konnte nur dem riesigen Maori gehören.
„Nein, natürlich. Wenn wir diesem Monster nicht gewachsen sind, wie sollten es dann einfache Menschen sein?!“
„Wir WAREN ihm nicht gewachsen. Außerdem, höre ich da etwa eine Doppelmoral?! Wir behaupten doch immer, dass Menschen und Elevender gleich sind. Dann sollten wir beiden Spezies auch das gleiche zutrauen. Aber insgeheim machen wir alle doch Unterschiede, was?“
Uh, das hatte gesessen.
„Komm‘ mir nicht mit diesem Schwachsinn! Du weißt, dass ich genau wie du der Meinung bin, dass wir alle die gleichen Rechte verdienen. Aber wir sind nun mal nicht gleich. Nicht in letzter Konsequenz. Elevender können eben mehr aushalten. Das mag ungerecht sein, aber das ist unser Schicksal. Unsere Verantwortung. Rechte sind das eine, Pflichten jedoch etwas ganz anderes.“
„Siehst du?! Und genau in diesem Punkt stimme ich nicht mit dir über ein. Ich maße mir nicht an, den Leuten die Entscheidung abzunehmen, wie viel sie für eine bestimmte Sache zu opfern bereit sind. Das bedeutet gleich sein. Eine freie Wahl zu haben.“
Ferroc schnaubte verdrießlich. So laut, dass Aurelia es sogar durch die Türe hindurch vernehmen konnte. „Selbst wenn das zuträfe, ist diese Entscheidung im Moment einfach unklug. Evrill hat doch gesagt, dass der Orden versucht, zu expandieren. Sie sind zahlenmäßig noch nicht so stark, aber sie haben unter den gegebenen Umständen viel Zulauf. Darin steckt großes Potential, sie könnten irgendwann ein mächtiger Partner im Kampf werden. Wenn wir sie jetzt in die Schlacht führen, enden sie doch nur als Kanonenfutter.“
Da begriff Aurelia, dass sich das Gespräch um den Venus Orden drehte, eine Gruppierung von aufgeklärten Menschen. Solche, die wussten, dass Elevender existierten und ein gigantisches Mächteringen um die Freiheit der Menschheit veranstalteten. Diejenigen, die sich nicht mehr dieses Gefängnis unter dem Deckmantel eines normalen Nullachtfünfzehn-Lebens vorgaukeln ließen und beschlossen, ihre Sklaventreiber zu bekämpfen.
„Ich glaube, sie können sich auch jetzt schon behaupten. Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe. Als ich… als ich Syns Wunde heilen wollte, hat es nicht geklappt. So etwas ist mir vorher nie passiert.“
Aurelia zog scharf die Luft ein, als sie den Sinn dieser Worte verstanden hatte. Auch Ferroc machte einen erstaunten Laut. Xandra fuhr ungerührt fort.
„Ich will damit nur sagen, dass wir den Orden nicht unterschätzen dürfen. Sie haben mich immer wieder überrascht und ich traue ihnen Einiges zu. Was, wenn sie das Zünglein an der Waage sind? Dann werden wir uns dafür ohrfeigen, sie nicht einbezogen zu haben.“
Es folgte ein langer Moment der Stille und schließlich nutze Aurelia die Gelegenheit, um zu klopfen.
Eine ganze Weile kam kein Mucks, dann dröhnte Ferroc: „Herein!“
Xandra saß inzwischen in entspannter Pose auf einer mächtigen Ledercouch und der Stützpunkt-Leiter hatte hinter einem Koloss von Schreibtisch Platz genommen. Mit einer freundlichen Geste wies er Aurelia an einzutreten und die Türe hinter sich zu schließen. Sie gehorchte der sanften Aufforderung und setzte sich dann auf die andere Seite der Sofaecke, gegenüber von der blonden Elevenderin mit den ellenlangen Beinen, die sie jetzt wieder graziös über einander schlug.
„Entschuldigt die Störung“, begann Aurelia vorsichtig. „Ich wollte eigentlich nur fragen, ob es schon etwas Neues über Orcus gibt, aber dann…“ Sie zögerte.
„Dann hast du unser Gespräch gehört“, vollendete Ferroc ihren Satz.
Aurelia nickte langsam. „Ich bin Xandras Meinung. Natürlich ist Orcus‘ Stärke ein Gegenargument, aber gleichzeitig auch ein Argument dafür. Wenn wir nicht alles einsetzen, was wir haben, wird er entwischen. Und dann wird er nicht mehr nur unser Problem sein.“
Xandra nickte müde und grinste schief. So richtig fröhlich sah sie nicht aus, was bei dem Thema aber auch kein Wunder war. „Bähm! Zwei zu eins, Ferroc! Und ich finde bestimmt noch mehr Befürworter für meine Vorgehensweise.“
Der große Kerl hob abwehrend die Hände. „Fein. Ich weiß sowieso nicht, warum ich mich immer wieder mit dir anlege, X. Wir werden schon sehen, was dabei herauskommt. Wir alle, hoffe ich.“
„Wir haben diskutiert“, verbesserte die große Frau versöhnlich und warf einen Luftkuss in Richtung Ferroc.
„Du bist so charmant, wenn du diskutierst.“
„Ich weiß. Samthandschuhe waren noch nie mein Ding.“
„Amen…“
Xandra schmunzelte schicksalsergeben.
Das Geplänkel bedeutete anscheinend, dass die Unstimmigkeiten beigelegt waren und Aurelia lenkte das Gespräch wieder zu dem Thema zurück, weswegen sie gekommen war.
„Was ist nun mit dieser Spur?“
„Ich habe noch nichts von Cat und Dareon gehört. Aber sie werden sich darum kümmern, sie sind absolut zuverlässig.“
Oh, wie wunderbar. Diese Versicherung kam ihr vor, als wollte jemand eine Enthauptung mit einem Heftpflaster kurieren. Eine derartige Antwort half Aurelia ganz und gar nicht in ihrer aktuellen Situation. Sie war immer noch ganz kribbelig und konnte sich kaum ruhig auf dem Sofa halten. Das Drängen hatte keinen Deut nachgelassen, trotz der zeitweiligen Ablenkung. Sie brauchte dringend irgendein Ventil. Falls sie nicht so schnell wie möglich eines fand, würde sie womöglich noch platzen. Und das würde unschön ausgehen, nicht nur für das schicke Mobiliar.
„Gibt es hier irgendwo einen Ort zum Trainieren?“
Xandra bejahte und beschrieb ihr den Weg. „Brauchst du eine Sparingspartnerin?“
„Besser nicht“, gab sie knapp zurück, ohne den Grund dafür genauer zu erörtern. Sie wurde auch nicht danach gefragt, als sie sich verabschiedete und das riesige Büro verließ, was sie als ehrlich gemeinte Wohltat aufnahm. Es verstand sich von selbst, dass man ihr Bescheid geben würde, sobald sich etwas in Bezug auf Orcus tat.
Die Wanderung zur Turnhalle zog sich, denn das Areal war weitläufig und es gab einiges zu sehen. Moderne Skulpturen waren entlang der Flure aufgestellt worden, später durchquerte sie eine elegante Bar, in deren Ecke sogar ein riesiger schwarzer Flügel stand. Dann kam eine ausladende Terrasse mit vielen Tischen und bequemen Liegestühlen, kurz darauf wartete eine saftig grüne Wiese, die dem aufziehenden Herbst tapfer trotzte. Das Licht wirkte irgendwie gedämpft, aber Aurelia erklärte es sich anhand der unterschiedlichen Breitengrade.
Langsam schritt sie durch das leicht feuchte Gras und sah sich um. Etwa hundert Meter weiter befand sich eine weitere Gruppe von Häusern und nur eins davon war groß genug, um eine Halle zu beherbergen. Dort angekommen, riss sie ungeduldig beide Schwingtüren auf und stürmte hinein.
Leider war sie nicht allein.
Der große Raum war etwa vier Meter hoch und dreißig Meter lang. Große Teile des Gummibodens wurden von blauen Matten verdeckt, an den Wänden und Decken hingen Netze und Seile zum Klettern. In den vier Ecken befanden sich Übungsstationen für Pfeil und Bogen sowie andere Waffen und Wurfgeschosse, es gab sogar diverse Boxsäcke und weitere Trainingsgeräte.
Ein Schlaraffenland für Aurelia, auch wenn die Halle voller Leute war. Doch es schien sie niemand zu bemerken, alle trainierten in kleinen Gruppen ohne ein bestimmtes Konzept. Es waren wahrscheinlich Jäger in der Ausbildung. Xandra hatte Aurelia erklärt, dass Blackridge vor allem ein Ausbildungszentrum für neue Mitglieder der Legion war und die meisten Anwohner nur ein paar Monate hier verbrachten. Fremde Gesichter waren also nichts Ungewöhnliches.
Sie zog den Kopf ein und suchte sich einen freien Boxsack. Den bearbeitete sie dann nach Herzenslust, bis ihr der Schweiß auf der Stirn stand. Ihr Körper reagierte mit Endorphinen auf die Anstrengung, doch nichts davon schien die Unruhe vertreiben zu können. Dennoch, sie wusste, wenn wirklich ihre Intuition für das Gefühl verantwortlich war, konnte sie es bezwingen, wenn sich nur genug quälte. Irgendwann würde die physische Erschöpfung über das geistige Chaos siegen. Also machte sie weiter. So lange, bis die Laute um sie herum leiser wurden und nur noch wenige Elevender andere Stationen besetzten.
Aurelia wollte noch ein paar Sets an der Holzpuppe machen, als eine helle Stimme ihre Konzentration störte.
„Bist du Aurelia?“
Sie sah sich aufgebracht nach dem Störenfried um, doch ihre unwirsche Antwort wollte nicht so recht über die Lippen kommen, als sie entdeckte, wer sie unterbrochen hatte.
Auf den ersten Blick war die winzige Frau unscheinbar. Krauses, kirschholzbraunes Haar, das ihr bis zu den Schultern reichte, eine zierliche Taille und ein Vorbau, der für Zwei gereicht hätte. Gut, für Männer war sie wahrscheinlich alles andere als unscheinbar. Und auch Aurelia war erstaunt, als der zweite Blick eingesunken war.
Alles an der Elevenderin wirkte weich und herzlich, grundgut und ehrlich. Man konnte sie nur mögen, selbst wenn man noch kein Wort mit ihr gewechselt hatte. Das ging selbst Aurelia so, die ganz und gar nicht gesellig war und einen Großteil ihres Lebens in selbstgewählter Isolation verbrachte, in die sie nur Viktor hin und wieder eingelassen hatte. Und später auch Pareios. Dann ihr Gegenstück. Das hatte dazu geführt, dass sie eben nicht mehr die verschlossene Einzelgängerin von damals war.
Aurelia schüttelte den Kopf, um sich zu konzentrieren. „Ja, die bin ich.“
„Hi, ich heiße Blaise. Xandra hat mich gebeten, nach dir zu sehen und dich auf dem Laufenden zu halten. Leider warten wir immer noch auf eine Nachricht von Cat und Dareon… Tut mir Leid“, fügte sie an, als sie Aurelias enttäuschte Miene entdeckte. „Ich wünschte ich hätte eine fröhlichere Botschaft überbringen können.“ Und die kleine Frau wirkte, als hätte auch sie gute Nachrichten gebrauchen können.
Aurelia zuckte mit den Schultern. „Ist ja nicht deine Schuld.“
„Nein, aber heute ist so ein Tag, verstehst du?“
Nicht genau, aber sie konnte es sich vorstellen. Ein Tag, an dem irgendwie alles nicht so lief, wie man sich das vorgestellt hatte. Damit kannte sie sich aus.
„Und was ist mit dir? Ich kann riechen, dass dir etwas auf dem Herzen liegt.“
„Was willst du denn damit sagen?“
Blaise kicherte betreten und tippte sich verlegen auf die Nase. „Das sollte jetzt nicht abartig klingen. Ich rede von meiner Gabe. Ich kann nämlich hervorragend riechen und schmecken und die meisten Leute duften ein bisschen säuerlich, wenn sie Sorgen haben.“
„Tatsächlich?!“
„Mhm. Und eisig, wenn sie etwas verbergen. Du riechst wie ein Wintermorgen.“
Einfach reizend. Aber immerhin hatte Aurelia gute Gründe sich zu verstellen. Damit schützte sie jeden in ihrer Umgebung, nicht zuletzt diese kleine Spürnase, die trotz aller Herzlichkeit gerade in Aurelias Privatsphäre einbrach.
„Hör zu, ich weiß du willst mir nur helfen, aber das kannst du nicht, ok?!“
„Schon klar“, beschwichtigte die andere hastig. „Xandra hat mir erzählt, was du tun musst, um Orcus auszusperren.“
Das wurde ja immer noch schöner. Nicht nur, dass in Europa jeder über sie Bescheid wusste, kaum vier Stunden nach ihrer Ankunft in den USA war es hier schon genau so weit. Wahrscheinlich durfte sie den Mitgliedern der Legion nicht verdenken, dass sie sich für die Person interessierten, die ihre Geschicke so kolossal in den Sand gesetzt hatte.
„Und weiter?“, fragte sie bissiger als beabsichtigt. Anscheinend wirkte Blaise auf den animalischen Teil in ihr schwach, wodurch der die kleine Elevenderin zum Mülleimer für Aurelias schlechte Laune auserkor. Das hatte diese Frau natürlich in keinster Weise verdient.
Doch die schien ein dickes Fell zu haben und schaute Aurelia nur mitleidig an, dann räusperte sie sich.
„Ähm, naja. Ich kenne nur eine Person, die auch so riecht und die ist hervorragend darin, Gefühle auszuschalten. Also, falls du ein paar Tipps brauchst…“
Oh, ja! Was für eine hinreißende Idee! Dabei hatte sie so etwas gar nicht geplant gehabt, es war ihr erst im Verlauf des Gesprächs eingefallen. Jetzt hatte sie einen Grund, sogar noch früher und völlig unangekündigt bei Slater aufzutauchen.
Was er wohl gerade trieb?
Oh Gott, hoffentlich war er überhaupt zu Hause. Nicht auszudenken, wenn sie Aurelia extra durch den Wald schleppte, um dann vor einer verlassenen Hütte zu stehen. Aber sie hatte ja blöderweise keine Telefonnummer, die sie anrufen konnte, um das zu prüfen. Und selbst wenn, glaubte sie nicht, dass er abgenommen hätte. Beides waren Umstände, die sie wirklich tierisch nervten.
Andererseits war so etwas Herkömmliches wie ein Telefonnummernaustausch fast schon zu banal für Vincent Slater. Vielleicht verdarb sie den Zauber der ganzen Geschichte mit solchen Nebensächlichkeiten, schließlich wusste sie wo Slater lebte. Sie wusste nur nicht, wo er sich gerade befand. Und das war völlig normal so, versuchte sie sich klar zu machen.
Blaises Herz schlug immer schneller, während sie über den weichen Waldboden stapfte und Vincents zu Hause Meter für Meter näher kam. Dort angelangt, klopfte das vermaledeite Ding bis zum Hals und schimpfte ihre aufgesetzte Gelassenheit Lügen.
Zu ihrer großen Erleichterung schenkte ihr die reservierte Frau mit den eisblauen Augen nur wenig Beachtung. Sie war genauso zugeknöpft, wie vor zwanzig Minuten und schien einzig und allein darauf fixiert, das hier zügig zu erledigen. Als hätte sie heute noch etwas Wichtigeres vor.
Als Blaise jetzt vor ihrem Ziel Halt machte, blieb auch Aurelia stehen und musterte den einfachen kleinen Schuppen aus blanken Holzpanelen kritisch.
„Hier wohnt der Typ?“, fragte sie skeptisch und fuhr sich zerstreut durch die ebenholzbraunen Locken.
Blaise schaffte es nur kurz zu nicken, dann starrte sie wie hypnotisiert auf die Lichter, die durch die einfachen Fenster ins Freie drangen. Die Sonne war bereits untergegangen und so wirkten die beiden Quadrate wie mystische Leuchtfeuer, die ihr den Weg in der Dunkelheit wiesen. Mittlerweile schwankte der kleine Muskel in Blaises Brust zwischen rasantem Galopp und absolutem Stillstand. Diese Kombination erwies sich als äußerst ungünstig, denn schon nach ein paar Sekunden wurde ihr heiß und kalt, kühler Schweiß trat auf ihre Haut und irgendwie wurde ihr übel. Wieso reagierte sie bloß so heftig? Vielleicht, weil sie wusste, dass dieser Schuss auch kräftig nach hinten losgehen konnte?
Blaise ignorierte diesen verhängnisvollen Gedanken geflissentlich und trat vor, um an der einzigen Türe zu klopfen. Ihr Arm hob sich langsam. Wie in Zeitlupe sah sie dabei zu, wie er zögerlich nach vorn wanderte. Wie sich die Hand zur Faust ballte. Wie sie mit kleinen Rucken auf die raue Oberfläche schlug, sodass zwei dumpfe Geräusche entstanden. Völlig betäubt wiederholte sie den Vorgang gleich noch einmal. In ihren Ohren rauschte es bedenklich.
Minuten schienen zu verstreichen, aber niemand antwortete.
Die Spannung in Blaise machte die Wartezeit zur echten Zerreißprobe für ihre Nerven und das, obwohl sie sich sonst als sehr ausgeglichenen und geduldigen Menschen beschrieben hätte.
„Er ist wohl nicht da“, murrte Aurelia irgendwann knapp, doch Blaise war noch nicht bereit aufzugeben.
„Die Lichter sind an. Er muss da sein.“ Und mit diesen Worten griff sie nach der verrosteten Türklinke. Entgegen jedem unguten Gefühl in der Magengegend und gegen all ihre Erfahrungen mit Slater drückte sie das Metall-Ding nach unten.
Die Türe schwang mit einem vernehmlichen Knarzen weit auf. In der Ruhe des Waldes wirkte der Laut wie ein Donnerschlag und Blaise zog unwillkürlich den Kopf ein.
Mist, was tat sie hier eigentlich? Sollte sie das wirklich durchziehen? Plötzlich war sie sich gar nicht mehr so sicher.
Bevor sie zu einem Ergebnis kommen konnte, nahm Aurelia ihr die Entscheidung ab. Der drahtige Körper der mittelgroßen Elevenderin schob sich an ihr vorbei und betrat einfach so die kleine Hütte.
Blaise wich schockiert zurück und hielt die Luft an.
Das war’s. Ihr Herz hatte soeben endgültig den Geist aufgegeben.
Doch nichts geschah. Es blieb mucksmäuschenstill.
Nach kurzem Zögern beugte sie sich vorsichtig vor, um an ihrer Begleiterin vorbei in den Raum zu spähen. Zu ihrer großen Überraschung prasselte ein Kaminfeuer an der gegenüber liegenden Wand. Rechts befanden sich ein kleines Waschbecken und eine altertümliche Badewanne mit Krallen aus Messing. Blaise konnte nicht verhindern, dass sie sich unwillkürlich vorstellte, wie Slater das Ding benutzte. In dieser Vision hätte sie sich verlieren können. Stattdessen wanderten ihre Augen nach links, wo eine schmale Pritsche auf den einsamen Bewohner wartete. Ein kleiner Tisch und ein Stuhl im Zentrum des Raumes vervollständigten die karge Einrichtung. Slater selbst war nirgends zu sehen.
Ja, so in etwa hatte sie sich seine Behausung ausgemalt. Hier und da war sie rustikaler als in ihren Träumen. Dafür gab es auch Gegenstände, die verrieten, dass er nicht nur der ungehobelte grobe Rüpel war, als der er sich stets ausgab.
Aurelia, ganz die mutige Jägerin, wagte sich weiter vor und Blaise heftete sich an ihre Fersen.
Mitten im Raum blieben sie stehen und sahen sich erneut um. Es gab keine Verstecke. Die Truhe hinter der Tür war wohl kaum groß genug, um einen ausgewachsenen Mann zu beherbergen.
Ratlos ließ Blaise den Blick über die blanken Wände gleiten und blieb am Kamin hängen.
Wenn Vincent die Hütte verlassen hatte, wieso brannte dann noch das…
Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr, aber plötzlich geriet alles rasend schnell außer Kontrolle. Sie konnte den Geschehnissen gar nicht so schnell folgen, wie sie passierten.
Ein Schatten schwang sich behände von der Decke herab und stürzte sich auf die andere Jägerin.
Was immer Blaise auch über Aurelia gehört hatte, die toppte den Klatsch locker, indem sie ganz gelassen einen Schritt zur Seite wich und so dem ersten Angriff entging.
Als der Schatten elegant auf dem Holzboden landete, erkannte Blaise entsetzt, dass es sich um Slater handelte.
„Vincent…!“, rief sie unwillkürlich, doch der stand offensichtlich auf Kriegsfuß mit der Fremden. Sofort hatte er sich gefangen und trieb Aurelia mit schnellen Schlägen auf die Wand zu. Die wich zwar bravourös aus, allerdings würde sie bald keinen Ausweg mehr haben.
Dann war es soweit und jetzt gab es kein Entkommen mehr. Die Jägerin stellte sich dem Kampf, blockte jeden Hieb und Tritt, als könnte sie ihn vorhersehen. Der ausbleibende Erfolg schien Slater nur noch aggressiver zu machen und er legte noch einen Zahn zu. Schließlich erwischte er Aurelia irgendwie. Sie flog gegen die Holzwand, es rumste ohrenbetäubend, Bretter knackten und bekamen Risse. Doch im Nu war die Frau wieder bei ihrem Gegner, sprang ihn an und riss ihn um.
Die beiden krachten auf den kleinen Tisch, der postwendend zerbarst. Holzsplitter schossen in alle Richtungen, auch Blaise bekam ein Paar ab.
Und dann war es plötzlich vorbei.
Aurelia hatte Slater mit einer eleganten Bewegung umgedreht, ihn bäuchlings unter sich festgenagelt und seine Arme auf dem Rücken fixiert. So hielt sie seinen vor Zorn zuckenden Körper fest, die ganze Zeit über blieb ihre Miene teilnahmslos, als wäre das hier ein simples Training.
Blaise brauchte einen Augenblick, um sich aus ihrer Schockstarre zu lösen, dann wurde ihr bewusst, was die da angerichtet hatte.
„Oh, mein Gott…! Slater! Es tut mir so leid!“, flüsterte sie.
„Das ist der Typ?“, fragte Aurelia und parkte ihr Knie zwischen seinen Schulterblättern. „Dachte schon, er wäre ein Einbrecher oder so. Auf diese Weise begrüßt du also Gäste? Ich hätte dich auch umbringen können, ist dir das eigentlich klar?“
Obwohl die Frau einen gleichgültigen Ton anschlug, blitzte der Zorn zwischen den Worten hindurch.
„Ihr seid die Einbrecher!“, knurrte Slater und kämpfte gegen das Gewicht auf seinem Rücken.
Aurelia schüttelte ihn im Gegenzug. „Ich glaube, ich höre nicht richtig!“
„Nein, Stopp! Warte! Das… das ist alles meine Schuld!“, unterbrach Blaise mit zittriger Stimme. „Bitte, lass ihn los, ok? Du machst es nur schlimmer.“
Denn je länger Vincent gefangen war, desto verzweifelter schien er sich zu wehren. Bisher war noch niemand verletzt worden, zumindest nicht richtig, aber wenn das so weiterging, würde das nicht so bleiben.
Aurelia sprang gekonnt auf und brachte sich außer Reichweite, wo sie mit verschränkten Armen Stellung bezog. Der Mann am Boden kam genauso schnell auf die Beine und ging sofort wieder in Angriffsposition, allerdings verharrte er vorerst in dieser Pose und ersparte ihnen eine Wiederholung der Misere. Blaise hatte sein Gesicht noch nie so wutverzerrt gesehen. Seine Züge hatten jetzt scharfe Kanten und der Abgrund in seinem schwarzen Auge – das andere war stets von einer Haarsträhne verdeckt - wirkte tiefer und bedrohlicher denn je.
Sein Augenmerk richtete sich natürlich sofort auf Blaise, die den Todesblick volle Breitseite abbekam.
Das tat weh.
Es wäre sicher ein Fehler gewesen, das, was sie mit Slater hatte, als Freundschaft oder gar als Beziehung zu bezeichnen. Schon das Wort Bekanntschaft schien ihr zu hoch gegriffen. Aber was immer es war, es starb in diesem Moment.
Blaises Herz rutschte in den Magen, was schon eine beachtliche Leistung war, wenn man bedachte, dass das Organ irgendwo zwischen ihren Knien baumelte. Sie hatte gar nicht gewusst, dass so etwas überhaupt möglich war.
Oh, Gott. Hatte sie wirklich alles kaputt gemacht, bevor sie überhaupt eine Chance gehabt hatte? Wie war sie bloß auf so einen Mist gekommen?
Was für eine idiotische Idee!
Gleich würde jemand sterben, so viel stand fest.
Keiner brach in sein Heim ein und kam ungeschoren davon. So lauteten die Regeln und er machte keine Ausnahmen. Niemals. Sie waren das Einzige, das ihn an Leben erhielt, das ihn von einem fürchterlichen Schicksal trennte. Für diese Erkenntnis war er durch eine harte Schule gegangen.
Das berechnende Tier in seinem Kopf, dieses Geschöpf ohne Gewissen, nahm sofort Blaise ins Visier, weil es wusste, dass sie das leichtere Opfer war. In seinem grenzenlosen Zorn brauchte er einen Augenblick, bis er begriff, dass er gerade ernsthaft den Tod der kleinen, weichen Elevenderin plante, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Er war so aufgebracht, dass die Raserei alles andere überdeckte. Sogar die Gefühle der anderen Anwesenden im Raum, die er sonst dank seiner Gabe jede Minute mit ihnen teilte, so lange sie sich in seiner Nähe befanden.
Plötzlich drang eine helle Stimme durch den Rausch des Adrenalins.
„Slater? Slater! Es tut mir leid, hörst du? Ich habe nicht gewollt, dass das passiert, ich wollte nur…“
Diese lächerlichen Entschuldigungen. Sie bedeuteten rein Garnichts. Leere Worte, die seine Wut nur weiter anfachten. Er atmete heftig, spürte die Hitze in seinen Adern, stand kurz vor der Explosion. Er wusste, diese zarten Knochen würden leicht brechen. Zu leicht. Und etwas in ihm zauderte. Aber nur für eine Zehntelsekunde. Er fühlte sich wie in einem Vakuum, fühlte sich mehr gefangen, als es die fremde Elevenderin vorhin geschafft hatte.
Dann brach etwas in seine Finsternis ein. Ein gleißender Lichtstrahl, der ihn blendete. Slater blinzelte verdutzt und erkannte, dass Blaise ihre Hand auf seinen zitternden Unterarm gelegt hatte. Mit einem Mal wurde er mit ihren Emotionen geflutet. Wie ein verdammter Tsunami brachen ihre Gefühle über ihn herein und spülten alles andere hinfort. Der Zorn, der Schreck ja sogar der Durst nach Blut verschwanden so schnell wie sie aufzogen waren und machten Platz für Blaises Schuldgefühle, ihre Verlustangst und… ihre Zuneigung.
Diese Wärme versöhnte ihn ein bisschen, obwohl er das nie und nimmer laut zugegeben hätte. Er wälzte sich quasi in ihrer Akzeptanz und während er noch erstaunt auf diese Hand hinunter schaute, bemerkte er ebenso alles, was die fremde Jägerin empfand. Ihr emotionales Gerüst schien deutlich reduziert, vor allem wenn er es mit der bunten, leuchtenden Farbenwelt von Blaise verglich. Dennoch erkannte er auch die Nuancen, die sie zu unterdrücken versuchte.
Da war genauso Wut, aber auch eine ganze Menge Bedauern, darunter lag Hass. Ein endloses Meer davon. Als das klebrige Zeug in ihn hineinschlüpfen wollte, wurde ihm bewusst, dass Blaise mit dieser einen Berührung all seine Schutzmechanismen nieder gerissen hatte, mit denen er sich sonst vor den Gefühlen anderer bewahrte. Er brauchte seinen eisigen Panzer aus Gleichgültigkeit, damit die vielen Eindrücke ihn nicht kontrollierten, ihn nicht wahnsinnig machten und er wie ein tollwütiger Hund um sich biss.
Dass die kleine Frau eine derartige Macht über ihn besaß, jagte ihm immer noch eine Heidenangst ein, aber er hatte ja schon vor der heutigen Nacht gewusst, dass er sie nicht abblocken konnte. Was auch der Grund war, warum er ihr aus dem Weg ging. Doch offenbar, konnte man dieser Frau nicht entkommen, was man auch anstellte. Sie griff anscheinend auch zu unlauteren Mitteln, wie einem Überfall auf sein Wohnzimmer. Schlafzimmer. Und das Bad. Er hatte sie eindeutig unterschätzt.
Diese Elevenderin war noch viel gefährlicher, als er zunächst angenommen hatte.
Nicht nur weil die Reinheit ihrer Gefühle ihn irgendwie süchtig zu machen schien.
Das eigentliche Problem war, dass sie ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte, so sehr er sich auch anstrengte. Was umso erstaunlicher war, da er sonst nicht über das nachdachte, was er von anderen empfing. Auf diese Weise hätten die Emotionen eine Gelegenheit bekommen, ihn zu übermannen. Daher lautete seine Taktik: da rein, da raus, wenn er es mal wirklich nicht mit seiner Eismauer abschirmen konnte. Doch bei Blaise war das anders.
Mit ihr gab es Momente, in denen er sich nicht abschotten wollte.
Und das konnte nur in einer heillosen Katastrophe enden.
Er hatte früh begriffen, dass Eigennutz und Niedertracht Eigenschaften waren, die Menschen wie Elevender gemein hatten. Wenn in der Vergangenheit irgendjemand Interesse an Slater gezeigt hatte, dann nur aus diesen beiden Gründen. Entweder war er im Weg gewesen, oder man hatte ihn zu einem bestimmten Zweck gebraucht. Letztlich war das mit der Legion genauso, obwohl dieser Ort hier so viel besser war, als alle, an denen er sich zuvor aufgehalten hatte. Er wusste, dass die Mitglieder der Legion für ein höheres Ziel fochten und die meisten waren keine schlechten Leute, aber selbst der Freundlichste von ihnen hatte hin und wieder Gefühle, die nicht zu der höflichen Fassade passten. Das war ein weiterer Grund, all das auszuschließen. Jeder hatte Slater irgendwann sein wahres Gesicht gezeigt, ob er es sehen wollte oder nicht, und er war nicht so naiv zu glauben, dass sich das jetzt geändert hätte.
Bloß weil diese impertinente Person so furchtbar nett und aufdringlich war.
„Slater? Slater!“ Blaise brüllte inzwischen und wedelte mit der anderen Hand vor seiner Nase herum. Er zuckte zusammen und machte sich eilig los.
Die Verbindung brach ab, aber ihre Gefühle blieben. Natürlich auch die der Jägerin. Kein Wunder, schließlich musste er die Leute nicht berühren, um in ihre Seelen zu schauen. Er konnte das noch auf vierzig Meter gegen den Wind, was wohl auch seine Wohnsituation hinreichend erklärte. Immerhin lebte er alleine mitten im Wald, der an das Anwesen grenzte. Und jetzt hatte er noch nicht mal mehr hier seine Ruhe.
Ärgerlich zog er seinen Eisschild hoch. Erst da wurde ihm bewusst, dass Blaise ihn aus der Raserei zurückgeholt hatte, wie ein Rettungsring den Ertrinkenden aus einer reißenden Strömung zog. Beinahe hätte dieser Urinstinkt, der wohl aus seiner Kindheit stammte, die Führung übernommen und zum Selbstschutz alles niedergemetzelt, was sich in Reichweite befand. Dieser Trieb kannte nur eine Wahrheit: Töte, oder werde getötet.
Doch Blaise hatte den Automatismus einfach unterbrochen, auf Leerlauf geschaltet.
Verblüffend.
Er war so baff, dass er ganz vergaß wütend auf sie zu sein, weil sie einfach ungebeten in sein Heim eingedrungen war. Stattdessen starrte er sie nur an, bemerkte die rosigen Wangen, zwei vor Schreck weit aufgerissene Augen und schmale Nasenflügel, die durch ihren Wortschwall unentwegt zitterten. Das Wedeln ihrer Hand zog seine Aufmerksamkeit auf sich und er folgte der Bewegung kurz.
Dann fiel sein Blick auf Aurelia und er erinnerte sich auch wieder daran, dass nicht nur Blaise in sein zu Hause eingebrochen war. Sondern ebenso eine Fremde, die Slaters Einrichtung zerlegt und ihn obendrein lächerlich gemacht hatte. Mit Scham hielt er sich normalerweise nicht auf, aber einmal geweckt, wollte sie sich nicht mehr wegsperren lassen. Sie stieg unaufhaltsam in ihm auf und seine Ohren begannen zu kochen.
Das brachte ihn endlich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
Blaise war ein Störenfried und die andere Tussi auch.
Und wenn er schon niemanden umbringen konnte - auch wenn das die Niederlage kaum wettgemacht hätte, was geschehen war, war geschehen – er würde den beiden garantiert keine Gelegenheit geben, in seiner Gegenwart über ihn zu lachen. Außerdem, drei Leute in seiner Bude waren zwei zu viel. Jeder außer Slater stellte eine unkontrollierbare Variable dar.
„Raus.“ Seine Stimme klirrte vor Kälte. Ein Zeichen dafür, dass sein Panzer wieder an Ort und Stelle war und jede Regung in stoisches Eis verwandelte.
Blaise zuckte zurück, die Hand hörte auf zu wedeln und wanderte an ihren Hals. Bestürzt klappte sie den Mund auf.
„Slater, ich…“
„Raus!“
„Aber…“
Er packte ihren Oberarm und zerrte sie Richtung Tür. Die Jägerin war ein härterer Brocken. Mit ihr konnte er das natürlich nicht machen, wenn er seinen Stolz behalten wollte. Aber er hoffte, sie würde einfach folgen, wenn Blaise draußen war.
Er stieß die kleine Elevenderin über die Schwelle hinaus. Dass sie strauchelte kümmerte ihn nur noch wenig. Stattdessen sah er sich zu der anderen Frau um. Die hatte sich jedoch nicht gerührt und blickte ihm ausdruckslos entgegen.
„Raus“, wiederholte er noch einmal wie eine kaputte Schallplatte. Ihm fiel einfach kein besserer Plan ein, um sie los zu werden.
„Ich will doch nur ganz kurz mit dir reden. Blaise hat bloß versucht mir zu helfen. Ich heiße übrigens Aurelia.“
Und wen sollte das noch mal interessieren? „Raus!“
Da sie sich immer noch keinen Zentimeter vom Fleck bewegte, schnaubte Slater verdrießlich. Er sah erneut zu der derangierten Blaise hinaus, sah die kleinen Schnitte an ihren Armen und das fassungslose Gesicht, dann knallte er die Türe ohne viel Federlesen ins Schloss. Diesen kleinen Sieg würde er sich nicht verwehren lassen.
Ärgerlich begutachtete er das entstandene Chaos, wobei er diese Klette in Menschengestalt so gut es eben ging ignorierte. Die beiden Frauen hatten ganze Arbeit geleistet. Mit dem Tisch und dem Stuhl war die Hälfte seiner Einrichtung flöten gegangen. Elende Banditen.
Voller Entschlossenheit zeigte er Aurelia die kalte Schulter und holte einen Besen unter der Pritsche hervor. Wenn er die Elevenderin nur lange genug abkanzelte, würde sie schon irgendwann die Geduld verlieren und endlich abdampfen. Er fegte die Holzsplitter zu einem großen Haufen zusammen, dann stapelte er die handlicheren Überreste von Tisch und Stuhl in einer Ecke. Wenigstens taugte der Kram noch als Brennmaterial.
Als er diese Aufgabe beendete, war Aurelia allerdings immer noch zugegen. Mehr noch, sie stand genauso da, wie vor fünf Minuten. Dank seines Eises nahm er nicht viel von ihr wahr, aber sie schien ihre Emotionen ohnehin verbergen zu wollen und darin war sie ziemlich gut. Fast so gut wie er.
Hätte sie ihm nicht eben erst gezeigt, wo der Hammer hängt, hätte er ihr vielleicht gegönnt, beeindruckt zu sein. So jedoch ließ er es bleiben und nahm sich ein Buch aus der Truhe. Daraufhin setzte er sich auf die Pritsche und begann zu lesen.
Stunden vergingen, er las und las. Zwischen durch musste er dem Feuer zweimal neue Nahrung geben, was kein Problem darstellte. Der Tisch hatte bereits neue Verwendung gefunden.
Und Aurelia war immer noch da.
Er hätte sie nie und nimmer vergessen können, aber ihre Anwesenheit war nicht so unangenehm, wie er es von den meisten Leuten kannte. Und obwohl sie ihm körperlich sicher gefährlich werden konnte, auf emotionaler Ebene war damit eher nicht zu rechnen.
Kurz vor Mitternacht wurde es ihm zu bunt. Mit dem Gaskocher erhitzte er ein wenig Teewasser und beobachtete das durchsichtige Zeug im Metalltopf, bis die glatte Oberfläche von kleinen Luftblasen aufgerissen wurde.
Dann nahm er zwei Tassen aus der Truhe.
Xandra fand nicht wirklich ins Reich der Träume. Immer wenn sie weg döste, schoss ihr ein neuer bedrohlicher Gedanke durch den Kopf. Sie wusste jetzt, dass sie Markus nicht ansehen hätte können, dass er vom Feind benutzt worden war, um ihren Vater, sie selbst und so viele weitere zu täuschen. Keiner, der mit dem Ratsmitglied oder Aurelia in Kontakt gekommen war, hatte bemerkt, dass etwas mit den beiden nicht stimmte.
Klar, sie hätte die geheime Scharade nicht vorhersehen können, aber sie hätte trotzdem auf ihren Vater aufpassen müssen. Auch wenn Markus ein perfekter Schauspieler und Lügner gewesen war, die Idee aus den Steinen eine Waffe zu machen und zu deren Erbauung auch noch den Venus Orden einzuspannen, war doch sehr gewagt gewesen. Das hätte Xandra stutzig machen müssen. Stutzig genug, damit sie ihre gesamte Energie darauf aufwendete, ihren Vater zu überzeugen, dass er diesen Plan nicht unterstützen durfte.
Aber das hatte sie nicht.
Sie war selbst gierig danach gewesen, endlich eine echte Chance gegen die Hegedunen zu bekommen. Immerhin hatte Markus von der Waffe versprochen, dass sie Dank der Steine nur Elevender verletzen würde, Menschen jedoch verschonte. Dieses falsche Versprechen hatte Xandra glauben gemacht, dass es richtig war, die ganze Angelegenheit nicht heraus zu posaunen. Denn für einen Überraschungsangriff auf die Hegedunen war es von großer Bedeutung, dass ganz sicher keine Informationen durchsickerten. Je mehr Leute davon gewusst hätten, desto größer wäre das Risiko geworden.
Doch nun, da Xandra die ganze Wahrheit kannte, die ihr zwar einen Teil der Last von den Schultern genommen hatte, wurde sie mit noch dramatischeren Befürchtungen konfrontiert. Gedanken von der Sorte, die einen wach hielten und einem ständig eine Gänsehaut über den Rücken jagten.
Seit geraumer Zeit wälzte sie sich von einer Seite zur anderen und versuchte, irgendeine Position zu finden, in der sie entspannen konnte. Erfolglos. Schließlich rollte sie sich seufzend auf den Rücken und versuchte sich aus der Bettdecke frei zu strampeln, die sich bei dem Manöver um ihren Körper gewickelt hatte wie eine Boa Konstriktor. Genau wie ihre Sorgen weigerte sich das Ding loszulassen und sie gab es auf, versank wieder in den düsteren Vorahnungen.
Orcus‘ Macht war angsteinflößend. Nicht nur, dass er Leute kontrollieren konnte, ohne dass die es überhaupt registrierten. Er hatte seinen Plan über Jahrhunderte entwickelt und wer wusste schon wie weit die dunklen Machenschaften dieses bösen Monsters tatsächlich reichten. Da sie jetzt die ganze Geschichte bis ins Detail kannte, hatte auch sie das Gefühl jederzeit von einer neuen Katastrophe überrascht werden zu können. Einer Katastrophe aus Orcus‘ Zauberküche der Schrecken. Die schien einen unendlichen Vorrat davon zu besitzen.
Und als wollte das Universum ihren unspezifischen Ängsten Recht geben, klingelte in diesem Moment das Telefon.
Gleich nachdem sie mit unsicheren Fingern abgenommen hatte, ergoss sich Dareons Stimme aus dem Hörer ihres Smartphones und was diese zu berichten hatte, bewirkte, dass Xandra sich erschrocken im Bett aufsetzte.
„Bitte, sag‘ mir, dass das nicht wahr ist.“
„Wenn ich könnte, würde ich“, beteuerte Dareon am anderen Ende der Leitung. „Glaub mir, das ganze Gebäude ist in die Luft geflogen. Ich spüre hier gerade die Hitze des Feuers auf dem Gesicht. Es lässt sich nicht leugnen.“ Sirenen im Hintergrund bestätigten die Aussage und kündeten von der Ankunft der menschlichen Feuerwehr. Es mussten mehrere Fahrzeuge sein und sie hörte das Brüllen einiger Leute, obwohl heutzutage nur noch ein Mann benötigt wurde, um einen ganzen mit Technik vollgestopften Löschzug zu bedienen.
„Was ist mit Cats Eltern?“
„Als wir vorhin geklingelt haben, waren sie nicht da. Zum Glück haben wir noch eine kleine Runde gedreht und dann vor der Villa gewartet. Kurz nachdem die Bediensteten Feierabend gemacht haben und nach Hause gegangen sind, gab es dann einen lauten Knall gefolgt von einer heftigen Druckwelle.“
„Das heißt die Campbells leben?“ Xandra hatte eben erst einen herben Verlust erlitten und sie hoffte inständig, dass ihrer Freundin nicht dasselbe Schicksal blühte. Vor allem da sie schon so manchen Tiefschlag wegstecken hatte müssen.
„Hier sind sie jedenfalls nicht. Aber es besteht die Möglichkeit, dass sie verschleppt wurden, damit sie endgültig zum Schweigen gebracht werden. Vielleicht sind sie auch nur auf einem Kurzurlaub auf Maui. Wir werden sicher nicht die Beine hochlegen und darauf warten, dass sie irgendwann wieder auftauchen.“
„Klar“, murmelte Xandra gedankenverloren. Gerade war ihre Spur von hautnah auf Kilometer weit entfernt gerückt und sie ärgerte sich einen Wolf. „Ein Vorschlag, wie wir’s anpacken?“
„Cat weiß, wo die Angestellten wohnen. Ein Besuch kann bestimmt nicht schaden. Wir machen uns gleich dran, aber es ginge schneller, wenn ihr welche übernehmt.“
„Hast du die Adressen?“, erkundigte sich Xandra nur und wollte aufspringen, verfing sich aber in der bescheuerten Bettdecke und ging unsanft zu Boden. Es rumpelte vernehmlich.
„Alles ok bei dir?“
„Klar“, stieß sie zwischen zwei abgehackten Flüchen hervor. „Also, die Adressen? Schieß los.“
Dareon gab die Daten zügig durch und sie legte mit einem Gruß an Cat auf. Nach deren Befinden zu fragen, hatte sich Xandra lieber gespart. Sie konnte es sich ohnehin sehr gut vorstellen und sie glaubte nicht, dass die andere im Augenblick darüber reden wollte.
Xandra wählte sogleich die nächste Nummer und klingelte Ferroc aus dem Bett. Er meldete sich verschlafen.
„Wir haben einen Notfall. Das Haus von Cats Eltern wurde gesprengt und die Campbells sind verschwunden. Laut Aurelia klingt diese Vorgehensweise ganz nach Orcus.“
Ihr alter Freund schaltete sofort auf Betriebsmodus und seine Stimme hörte sich sogleich hellwach an. „Ich trommle unsere Leute zusammen, du suchst die Neuankömmlinge. Die wollen bestimmt dabei sein.“
Das ließ sie sich nicht zweimal sagen, beendete auch dieses Gespräch und schälte sich aus der Daunen-Zwangsjacke. Während sie sich anzog, dachte sie voller Ironie, dass sie es doch geahnt hatte. Diese neuen Ereignisse rochen verdammt noch mal nach Orcus und wieder hatte er es geschafft, sie völlig unerwartet zu treffen.
Woher hatte er überhaupt davon erfahren? Von Aurelia auf keinen Fall, denn die hatte gar nicht gewusst, wie diese Spur genau ausgesehen hatte.
Eilig machte Xandra sich auf den Weg. Um diese Uhrzeit befanden sich die Gäste aus Europa bereits auf ihren Zimmern und so waren sie leicht aufzuspüren. Nur Aurelias Domizil war dunkel und leer. Verflucht, wo konnte sie bloß stecken?
Turnhalle, da hatte Xandra die Jägerin selbst hingeschickt.
Während die anderen sich zum Aufbruch fertig machten, nahm sie erneut den Aufzug, um wieder ins Erdgeschoss zu fahren. Sie hatte gerade die halbe Eingangshalle durchquert, als das große Hauptportal aufging.
Eine völlig neben sich stehende Blaise stolperte herein. Man konnte ihr deutlich ansehen, wie aufgewühlt sie war. Xandra blieb automatisch stehen.
„Was ist passiert?“
Die kleine Elevenderin machte große Augen. „Du würdest es mir nicht glauben, wenn ich es dir erzählte.“
„Wieso das denn?“ Sie wollte es wirklich wissen, aber die Pflicht war gerade wichtiger. „Nein, entschuldige bitte, das muss jetzt warten. Eigentlich bin ich auf dem Sprung. Und hast du zufällig Aurelia gesehen? Ich muss sie dringen finden.“
Blaises Blick wurde traurig und sie brummelte irgendetwas.
„Könntest du das noch mal klar und deutlich sagen?“
„Si.. i.. ei..ater…“
„Dann geh‘ sie bitte ho… Was???“ Xandra hatte sich garantiert verhört.
„Oh Mann! Sie ist bei Slater. Willst du das Messer auch noch in der Wunde drehen???“
„Nein… ich… was???“ Slater und Kontakt zu anderen Menschen? Das war schon bei Blaise ungewöhnlich, bei Fremden war es… wie das achte Weltwunder. Der Kerl schottete sich permanent von seinen Kollegen und Mitstreitern ab, keiner kannte ihn richtig und auch Xandra wusste nur das über ihn, was sie in ihrer Funktion als Teamkameradin wissen musste. „Ich kann’s einfach nicht glauben.“ Vor allem weil es bereits ein gutes Stück nach Mitternacht war.
„Was sagst du mir das“, entgegnete Blaise trübsinnig und blies sich eine Strähne des krausen Haares aus der Stirn, aber das Ding fiel sofort wieder dahin zurück, von wo es eben erst vertrieben worden war. Unglücklich schielte Blaise nach dem Übeltäter. Offensichtlich lief es für sie gerade nicht so gut.
„Aber das ist doch gar nicht schlecht. So kannst du einfach da auftauchen und sagen, dass ich dich geschickt habe. Du willst ihn doch sehen.“
Blaise erbleichte. Die sonst so warmen braunen Augen wurden noch größer, sodass man sie leicht mit Untertassen verwechseln konnte, und die Dinger starrten Xandra böse an. Auch der Mund stand sperrangelweit offen.
„Hab‘ ich was Falsches gesagt?“
„Ich gehe da nicht noch mal hin.“
„Noch mal? Warte, was….“ Da fiel ihr wieder der Anruf ein. „Himmel, Blaise! Ich hab‘ jetzt wirklich keine Zeit für sowas. Lass uns später darüber reden, dann bin ich gerne für dich da, aber jetzt muss ich Aurelia holen.“
Sie umarmte die steife Freundin noch mal kurz und hoffte, sie so noch ein wenig vertrösten zu können, dann lief sie wieder los. Sie wusste wo Slater lebte, aber nur, weil sie jeden Winkel des Blackridge-Anwesens kannte. Nicht weil sie mal das Bedürfnis verspürt hätte, auf ein Käffchen vorbeizuschauen.
Xandra sprintete durch den Wald und knallte dann irgendwann wie ein Torpedo gegen den Eingang der Hütte. Gut, sie klopfte nur energisch, aber die Holzbretter federten beachtlich durch die rohe Elevender-Kraft, die sie abbekamen.
„Aurelia? Wir haben ein Problem und müssen sofort los!“, rief sie ohne darauf zu warten, dass jemand öffnete.
Da ging die Tür auf und Slater, ausdruckslos und kalt wie immer, erschien im Rahmen. Er trug die schwarze Lederuniform der Jäger, die Haltung seines drahtigen Körpers verriet stetige Wachsamkeit. In der Hand hatte er eine Teetasse. Hinter ihm entdeckte sie Aurelia am Kamin, auch die hielt einen angeschlagenen Keramikbecher, über dessen Rand der Faden eines Teebeutels baumelte. Ein wenig überrascht nahm Xandra zur Kenntnis, dass die beiden zurechtzukommen schienen, doch dann bemerkte sie einen penibel zusammengefegten Haufen Holzsplitter zu ihren Füßen. Abrücke im abgewetzten Teppich bewiesen, dass in der Mitte des Raumes einmal ein Tisch oder ähnliches gestanden haben musste. Unwillkürlich fragte sie sich, was hier wohl vorgefallen war. Und was Blaise so aus der Bahn geworfen hatte. Offenbar war es etwas gewesen, das die Einrichtung in Mitleidenschaft gezogen hatte.
Oh weia. Und sie hatte Blaise einfach so stehen lassen müssen. Das nagte sofort an ihrem Gewissen. Xandra nahm sich vor, noch mal bei der Freundin anzurufen und ihr gut zuzureden, sobald sie im Auto sitzen würde. Doch jetzt gab es Dringlicheres.
„Dareon hat angerufen. Wir dachten Cats Vater könnte eventuell ein Geschäftspartner von Orcus sein, aber als die beiden ihn heute besuchen wollten, wurde dessen Heim in die Luft gesprengt. Jetzt sind Cats Vater und Mutter verschwunden.“ Sie erklärte auch gleich wie sie die vermissten Campbells wiederfinden wollten. „Ich dachte, du willst bestimmt dabei sein.“
Aurelia nickte nur schlicht, dann setzte sie sich in Bewegung und reichte Slater im Vorbeigehen den Becher.
„Danke“, raunte sie, ohne anzuhalten und stiefelte zielstrebig los. Xandra wollte folgen, hielt jedoch inne und wandte sich zu Slater um.
„Du solltest auch mitkommen, ich habe unser gesamtes Team zusammen getrommelt. Und was auch immer hier gerade passiert ist, du wirst das bei Blaise in Ordnung bringen, kapiert?!“
Slater rührte sich nicht, zuckte noch nicht einmal mit der Wimper. Er blickte ihr nur entgegen, als wäre die Bedeutung ihrer Worte völlig an ihm vorbei gezogen. Xandra wusste allerdings, dass er sie ganz genau verstanden hatte. Er war nicht dumm oder unaufmerksam, sondern einfach nur unerreichbar distanziert und kühl.
Als sie sich dann ebenso auf den Rückweg machte, hörte sie wie Slater hinter ihr die Tür seiner Hütte verschloss und ihr mit leichtfüßigen Schritten folgte. Obwohl es mitten in der Nacht und stockdunkel war, schafften sie die Hälfte der Strecke in Rekordzeit, wobei sie Aurelia aber nicht einholen konnten. Plötzlich vernahm Xandra ein Räuspern.
„Und wie soll ich das machen?“
Erstaunt stoppte sie die schnellen Schritte und drehte sich zu Slater um. Der war ebenfalls stehen geblieben und schien irgendetwas Hochinteressantes zwischen den Tannennadeln am Waldboden entdeckt zu haben.
„Was machen?“
„Es in Ordnung bringen…“, brummelte seine Stimme ohne Höhen und Tiefen.
Xandra begriff und hob die Augenbrauen. So langsam brannte sie wirklich darauf zu erfahren, was vor ihrem Auftauchen in der Hütte passiert war. Sie würde später Blaise ausquetschen, wenn sich die Gelegenheit bot. So hatte sie Slater jedenfalls noch nie erlebt. Nicht nur, dass er neuerdings offenbar Gäste bewirtete und freiwillig mit Xandra sprach, sondern auch noch über dieses heikle Thema.
Sie betrachtete den mittelgroßen Mann aufmerksam und fragte sich, ob Blaise es doch tatsächlich geschafft hatte, irgendwie zu dem Kerl durchzudringen. Etwas an ihm hatte sich verändert, neben dem Offensichtlichen auch ein Teil, den sie nicht genau beschreiben hätte können.
Trotzdem, in ihren Augen war Slater noch lange nicht so weit, dass er Xandras Freundin würdig gewesen wäre. Deshalb beschloss sie, dass er sich schon anstrengen musste, wenn er das wieder gut machen wollte, obwohl sie ganz genau wusste, dass die gutmütige Blaise ihm auch so verziehen hätte. Das Mädel war einfach Hals über Kopf in den Kerl verschossen und nichts was Xandra gesagt hatte, hatte daran rütteln können.
Wenn sie Blaises Gefühle schon nicht ändern konnte, konnte sie dem Objekt ihrer Begierde wenigstens einen Schubs in die richtige Richtung geben. Zudem hatte sie immer noch ein schlechtes Gewissen, weil sie vorhin so kurz angebunden gewesen war, jetzt konnte sie einen Teil davon wieder gut machen.
„Willst du das denn überhaupt wirklich? Oder nur, weil ich es von dir verlangt habe?“ Er würde schon Farbe bekennen müssen, so leicht würde er nicht davon kommen.
Er brummelte nur etwas Unverständliches und starrte weiter auf einen Punkt vor seinen Schuhspitzen. Mann, da unten musste ein ganzer Ameisenzirkus vorbeiziehen, so intensiv waren Slaters Augen mit dem Boden beschäftigt. Sie musste unwillkürlich über die Reaktion des wortkargen Jägers schmunzeln, ähnelte sie doch sehr Blaises Versuch im Foyer, Xandras Fragen auszuweichen. Die beiden hatten anscheinend doch mehr gemeinsam, als sie zunächst angenommen hatte.
„Wie war das? Ich hab‘ dich leider nicht verstanden…“
Endlich hob Slater der Blick. Sein schwarzes Auge bohrte sich durchdringend in die ihren und sie fragte sich, was wohl gerade in ihm vorging. Seine Miene verriet es nicht, die blieb versteinert und bar jeder Regung.
„… will es wirklich…“, presste der mittelgroße Mann mit dem kaffeebraunen Haar zwischen den Zähnen hindurch. Nur dass er die weißen Beißerchen nicht auseinanderbrachte, verriet wie viel es ihn kostete die Worte laut auszusprechen.
Xandra neigte den Kopf als Zeichen des Respekts, doch auch den nächsten Schritt würde sie ihm nicht zu einfach machen. „Du wirst deine Knieschoner auspacken müssen, mein Freund. Und dann damit zu Kreuze kriechen.“
Im Foyer stießen sie zum Rest der Gruppe, auch Aurelia war schon da, was Dank des unerwarteten Intermezzos im Wald aber auch nicht verwunderlich war.
Xandra begutachtete ihr Team, das mittlerweile auf beinahe doppelte Größe angewachsen war und die hiesigen Jäger Chris, Slater, Roman, den im Augenblick abwesenden Dareon und auch Quentin, ein Kerl mit buntgefärbter Haarpracht sowie stets traurigen Augen, umfasste. Neu dazu gestoßen waren Evrill, Aurelia, Pareios und eine Jägerin Namens Rowena, die im Kampf gegen Orcus ebenfalls so viel verloren hatte. Sobald Blaise und Cat ihre Ausbildung abgeschlossen hatten, würden auch sie sich anschließen.
Auf Blackridge gab es noch andere Jäger, aber sie glaubte nicht, dass sie mit denen so ein effektives Team hätte zusammenstellen können. Jeder einzelne der Kämpfer, die ihr jetzt erwartungsvoll entgegen sahen und auf ihre Anweisungen warteten, hatte herausragende Fähigkeiten. Sie hatte sich inzwischen mit den Neuzugängen über die jeweiligen Gaben der Mitglieder der einzelnen Teams unterhalten, schließlich musste jeder von ihnen wissen, wie der andere aufgestellt war. Und was Xandra erfahren hatte, ließ sie hoffen. Diese starke Truppe würde tatsächlich eine Chance haben, endlich Gerechtigkeit walten zu lassen, daran glaubte sie ganz fest.
Sie erhob ihre Stimme und brachte alle auf den neusten Stand.
Dareon hatte drei Adressen durchgegeben, weshalb sie die Gruppe in Dreierteams aufteilte, nachdem sie den Plan besprochen hatten. Sie wollte gemeinsam mit Chris und Aurelia losziehen und hatte Evrill absichtlich mit Pareios und Roman zusammengesteckt. Zwar hatte er sich seit ihrer merkwürdigen und für Xandra äußerst peinlichen Begrüßung zurückgehalten und nicht versucht, mit ihr zu sprechen. Aber die Seitenblicke, die er ihr hin und wieder zuwarf, wenn er glaubte sie schaute gerade nicht hin, waren ihr nicht entgangen. Halb rechnete sie damit, dass er sich gegen die Gruppeneinteilung wehren würde, doch es war Pareios, der dagegen aufbegehrte.
Er weigerte sich strikt, von Aurelias Seite zu weichen und ließ darüber nicht mit sich diskutieren. Die europäischen Jäger warfen einander wissende Blicke zu und ein andermal hätte Xandra bestimmt nachgehakt. Jetzt hatten sie Bedeutenderes zu tun und sie stimmte zu, bevor die Debatte sie noch mehr Zeit kosten konnte.
Alle machten sich auf den Weg in die Garage und plötzlich fand sich Xandra neben Evrill am Ende der Prozession. Erschrocken zog sie den Kopf ein und senkte die Augen, in der Hoffnung sie würden einfach schweigsam neben einander her laufen. Doch den Gefallen tat er ihr nicht.
„Du bist jetzt also in einer Beziehung?“, raunte er so leise, dass nur sie es hören konnte. Xandra schielte vorsichtshalber nach vorn zu Christian, doch der war bereits in der Garage verschwunden.
„Irgendwie schon…“, flüsterte sie schließlich stockend zurück. Sie brachte es kaum über die Lippen, immerhin bedeutete ihr der Kerl neben ihr etwas.
„Irgendwie? Wie kann man denn irgendwie in einer Beziehung sein?“
Xandra ignorierte den spöttischen Tonfall so gut sie konnte. „Wir haben noch nicht genau darüber geredet, aber wir sind wohl irgendwie zusammen.“
„Also ist es noch ganz frisch… und du klingst nicht wirklich überzeugt…“ Als lauerte er nur darauf, dass sie sich uneins war. Oh, oh, das war nicht gut.
„Ich bin vollkommen überzeugt“, gab sie schnippisch zum Besten. So überzeugt wie man es nach ein paar Tagen, in denen außerdem so viel geschehen war, eben sein konnte.
„Du hörst dich trotzdem an, als müsstest du vor allem dich selbst dazu überreden.“
Ach, verflucht. Wie so oft konnte sie Evrill nichts vormachen. Er hatte sie schon immer leicht durchschaut und jetzt inspizierte er sie mit seinen silbergrauen Augen von der Seite. Obwohl sie es eilig hatten, blieb Xandra empört stehen.
„Du hast ja nicht sonderlich interessiert gewirkt, als du dich zwei Jahre lang nicht gemeldet hast. Mein Leben musste weiter gehen.“
„Das klang bei unserem Telefonat vor ein paar Wochen aber noch ganz anders“, zischte er erzürnt, wobei er ebenfalls anhielt. „Und du wolltest von Anfang an, dass es zwischen uns bei einer Affäre bleibt. Du wolltest nicht, dass unsere Familien von uns erfahren und du wolltest unbedingt in die USA zurück. Was hätte ich denn bitteschön denken sollen?“
Xandra riss entrüstet die Augen auf. Zum zweiten Mal in dieser Nacht musste sie sich wohl verhört haben. Sie war hier diejenige, die auf ihn gewartet hatte und das über zwei Jahre. Sie war auch diejenige, die jetzt in jedem Moment des Zusammenseins mit ihm auf ihr Herz aufpassen musste, damit es sich nicht wieder öffnete und ihn einließ.
Allerdings stimmte das mit der Geheimhaltung. Sie hatte sich davor gesträubt Chronos und ihrer Mutter von der Liebelei im gemeinsamen Sommerurlaub auf dem Grundstück ihrer Eltern bei Warschau zu erzählen. Jetzt musste sie sich fragen, ob sie so gehandelt hatte, weil sie nie wirklich vorgehabt hatte, etwas Ernstes aus der Sache zu machen, obwohl ihr die kurze Liebschaft gefallen und sie sich eigentlich nach so etwas gesehnt hatte. Ihre Psyche war wirklich total verkorkst. Hatte sie in Wahrheit nur mit Evrill gespielt?
Trotzdem. Sie war ganz sicher nicht allein an dem Ergebnis der Geschehnisse schuld. Und sie würde sich hier garantiert nicht rechtfertigen, zumal ihr Freund im Auto auf sie wartete. Immerhin hatte Evrill nie angedeutet, dass er ein alleiniges Zugangsrecht haben wollte.
„Ich verstehe dein Problem nicht. Wenn du wirklich eine Zukunft mit mir gewollt hättest, hättest du es sagen müssen. Du hattest deine Chance und du hast sie nicht genutzt.“ Und Xandra wollte einen Mann, der für sie kämpfte. Der alles für sie riskierte, wenn es nötig war. Nicht jemanden, der schwankte und nicht wusste was er eigentlich wollte. Diese Rolle hatte sie schon für sich gepachtet.
„Dann hättest du mir aber auch sagen müssen, dass ich überhaupt eine Chance gehabt hätte!“ Evrill hatte sich wütend nach vorn geneigt und stand jetzt nur noch auf den Zehenspitzen.
Sie wollte schon ebenso erbost zurück fauchen, als die Geräusche von ins Schloss fallenden Autotüren daran erinnerten, dass sie los mussten. Mühsam zügelte sie ihr Temperament, um wieder einmal die Vernünftige zu sein. „Hör zu, Ev. Offensichtlich ist diese seltsame Geschichte zwischen uns beiden völlig verfahren. Irgendwie haben wir es geschafft, sie von Anfang an in den Sand zu setzten. Wir haben es einfach beide gründlich verbockt. Also belassen wir es doch dabei und erhalten uns den Rest Freundschaft, der uns noch bleibt. Wir waren über zwei Jahrhunderte nur Freunde, können wir nicht dahin zurück?“
Er hielt ihren Blick nur einen Moment länger, dann wandte er sich kopfschüttelnd ab.
„Du bist vollkommen schief gewickelt, wenn du glaubst, dass das jemals eine Option für uns gewesen wäre.“
Damit zog er von dannen.
Evrill grummelte immer noch, als er sich auf den Beifahrersitz neben Roman fallen ließ, ein Jäger aus Ceiling, eine der drei Hauptstädte der USA nach den Territorialkriegen Mitte des 21. Jahrhunderts. Der Kerl mit dem südländischen Teint sah ihn nur kurz an, dann startete er den Motor. Da Pareios unbedingt bei Aurelia bleiben wollte, mussten sie auf niemanden warten.
Sie fuhren los und Ev war so vertieft in seine finsteren Gedanken, dass er gar nicht mit bekam, wo sie entlang brausten. Die Auseinandersetzung mit Xandra ging ihm wieder und wieder durch den Kopf, bis er seinem Frust am liebsten am Armaturenbrett Luft gemacht hätte. Aber das schnieke Teil konnte ja auch nichts dafür.
„Weiber“, entfuhr ihm der unwillkürliche Fluch, bevor er sich stoppen konnte.
Der Elevender neben ihm nickte nur zustimmend. „Ganz meine Meinung.“
Evrill hob verwundert den Kopf und schaute hinüber. Rome, wie sie ihn alle nannten, hatte die Stirn in sorgenvolle Falten gelegt und rümpfte seine Nase ausgiebig, während die vorbeiziehenden Straßenlaternen in regelmäßigen Abständen Lichter über sein Gesicht huschen ließen.
„Welche von denen macht dir denn Probleme?“, erkundigte er sich wie nebenbei und sah wieder aus dem Fenster des SUVs hinaus in die Dunkelheit. Er wartete lange auf eine Antwort und unterdessen zogen immer mehr Häuser an ihnen vorbei, von denen nur noch wenige erleuchtet waren. Schließlich vernahm er ein Seufzen.
„Mein Gegenstück.“
„Hm…“
„Genau. Aber letztlich sind sie alle gleich. Sie erzählen das eine und erwarten von dir dann genau das Gegenteil. Und wehe, wenn du mal ein bisschen mit dir selbst beschäftigt bist.“ Romes Zähne knirschten während dieses Statements wiederholt und seine Finger griffen fester um das Lenkrad. Das feine Leder ächzte leise unter dem Druck.
Ruhig Brauner, dachte Evrill, aber er konnte den anderen Elevender verstehen. Dessen Worte beschrieben genau das, was er eben über Xandra gedacht hatte.
Sie hatte damals bestimmt, dass die Urlaubs-Affäre genau das bleiben würde, eine Affäre. Und er hatte ihr nicht wiedersprechen wollen. Zum einen, weil man Frauen in gewissen Situationen nun mal nicht widersprach, zum anderen, weil er geglaubt hatte, dass sie bereits Gefühle entwickelt hatte und ihn sowieso nicht vergessen würde können. Bei ihm war das ja auch nicht anders gewesen. Er hatte geglaubt, er müsse Xandra die Freiheit geben selbst herauszufinden, was sie wollte. Sie besaß eine eigensinnige und sture Persönlichkeit und reagierte auf Druck äußerst gereizt. Also war er das Risiko eingegangen und hatte auf Konfuzius, diesen alten zauseligen Schwachmaten, gesetzt. Der Typ hatte doch behauptet: Was du liebst, lass frei. Kommt es zurück, gehört es dir - für immer.
Jetzt kam er sich wie ein absoluter Volltrottel vor. Denn diese blöde Weisheit hatte ein offensichtliches Hintertürchen, für das er in seiner damaligen Verliebtheit vollkommen blind gewesen war. Dieses dicke, fette „Falls“, das in dem Spruch mitschwang, obwohl es mit keinem Wort erwähnt wurde. Wie hatte er nur glauben können, dass eine einzige leidenschaftliche Woche und ein bisschen heißes Bettgeflüster ausreichten, um eine Frau an ihn zu binden? Besonders eine so anspruchsvolle Frau wie Xandra.
Er war wirklich ein vermessener, selbstgefälliger, ignoranter Idiot gewesen. Sie hatte verdammt nochmal Recht, ihm den Laufpass zu geben. Er hätte sich damals mehr um sie bemühen müssen, hätte seine Absichten klar formulieren und ihr richtig den Hof machen müssen. Denn nicht weniger hatte sie verdient. Und was hatte er stattdessen getan?
Er hatte sich wie ein Besengter in lebensgefährliche Abenteuer gestürzt, weil er gegen seine Mutter rebellieren wollte. Hatte seinen Kopf mit Grübeln über die Hegedunen und den Venus Orden beschäftigt und war sich wichtig vorgekommen, weil er eine Verbindung zu einer mächtigen Vereinigung von aufgeklärten Menschen aufgebaut hatte. Er war so versessen darauf gewesen, endlich richtig in den Kampf zu ziehen und sich als Krieger und tapferer Sohn eines ehemaligen Ratsmitglieds zu beweisen.
Alles hohle Ziele, die er nun erreicht hatte, die ihn aber in keinster Weise so glücklich oder zufrieden machten, wie er gehofft hatte. Im Gegenteil. Er fühlte sich leer und um seine Zukunft beraubt. Und das Verrückteste an der Sache war: er selbst war der Dieb.
Er hatte sich selbst um eine Zukunft mit Xandra gebracht und nun bekam er die Quittung dafür. Jetzt hatte sie einen anderen Mann gefunden, der ihr all die Gesten und Worte zukommen ließ, die Evrill ihr damals vor zwei Jahren hätte schenken müssen.
Wenn er nur eine zweite Chance bekäme, dachte er und schaute nach oben zum gleißend hellen Vollmond, der sich zwischen ein paar zarten Wolken über den Nachthimmel schob. Er starrte so intensiv, als ob dieses Himmelgestirn allà Deus ex macchina in sein Leben eingreifen und alles zum Guten wenden könnte.
Aber dafür schien es jetzt zu spät, nicht wahr?
Sie existierte nicht, diese magische Rückspultaste, die ihn an den Anfang der Geschichte zurück versetzte, damit er diesmal alles richtig machen konnte. Und auch der verfluchte Mond konnte ihm bei seinen Problemen nicht helfen, das konnte er nur selbst, wurde ihm da klar.
Roman riss ihn mit einem Schnauben aus seinen Gedanken. Der Elevender hatte die ganze Zeit über geschwiegen, aber jetzt schien er auf eine Antwort zu warten.
„Äh, wie bitte?“
„Und welche Frau macht dir Probleme?“, wiederholte der andere amüsiert, was seine finstere Miene ein wenig erhellte.
„Ach, nicht der Rede wert.“
Das war wohl kaum ein Thema, das Evrill mit irgendjemandem hier erörtern sollte, wenn er seine Hoffnungen in Bezug auf Xandra nicht endgültig begraben wollte. Wenn er sie für sich gewinnen würde, dann offen und ehrlich. Nicht, indem er aus der Versenkung heraus ihre Beziehung torpedierte, damit sie sich dann bei ihm ausheulen kam. Die Idee schien zwar für einen kurzen Moment verlockend, aber er wusste, irgendwann würde sie es herausfinden und ihm übelnehmen. Dann würde es alles zerstören, was er eventuell hatte aufbauen können.
Das Gleiche galt auch für die Bitte, die Christian an ihn heran getragen hatte. Egal ob der Kerl ihn aus aufrichtiger Sorge um Xandra oder aus niederträchtigem Konkurrenzdenken gefragt hatte, oder ob es Xandra gut getan hätte, etwaige letzte, versöhnende Worte von ihrem Vater zu hören, so etwas durfte er einfach nicht vorspiegeln. Er hatte bereits vor ein paar Stunden gewusst, dass er sie für immer verlieren würde, sollte sie je davon Wind bekommen. Auf nimmer Wiedersehen.
Tja, wie es aussah würde er den blonden Schönling also nicht nur abblitzen lassen, er würde ihm auch die Kampfansage machen müssen, die er vorhin noch verweigert hatte. Und Ev war kein Mann, der leicht aufgab, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Wie Xandra wohl darauf reagieren würde?
„So schlimm, was?“, unterbrach ihn Roman erneut beim Pläne schmieden.
Evrill nickte. Sollte der andere doch glauben, was er wollte. „Kann kaum schlimmer sein, als bei dir – so wie du aussiehst.“
Der gebürtige Puerto Ricaner sah wieder grimmig auf die Straße. „Mhm. Bist nicht der erste, der etwas in der Art zu mir sagt.“
„Dann muss wohl was dran sein.“
Erst jetzt fiel Evrill auf, dass die ausgeprägten Falten in Romes eigentlich jungem Gesicht bewiesen, wie tief der Schmerz tatsächlich reichte. Und wie hoffnungslos er selbst im Vergleich zu Ev wirkte. „Glaubst du nicht, du kriegst das wieder hin?“
Rome zog die Schultern hoch, als hätte Evrill ihm mit der freundlichen Erkundigung Eins übergebraten. Dann entkam dem Kerl ein Laut. Eine Mischung aus Machtlosigkeit und Verzweiflung. „Das ist es ja. Ich kann das nicht wieder hin kriegen. Es ist… es scheint nicht in meinen Händen zu liegen. Ich meine, ich könnte es grundsätzlich, aber manche Dinge lassen sich letztendlich nicht erzwingen, verstehst du?“
Nur Bahnhof. Aber das war eigentlich auch egal. Deshalb brummte Evrill bloß zustimmend. Aus eigener Erfahrung wusste er jetzt, wie wichtig Beistand manchmal war. Er hätte beizeiten auch etwas davon nötig gehabt. Nun hatte er die Gelegenheit zu verhindern, dass es einem anderen so erging wie ihm. Er hätte damals vor allem einen bestimmten Rat hören müssen.
„Rede mit ihr. Ich bin sicher, dann wird alles schon wieder in Ordnung kommen. Du wirst sehen. Und selbst wenn nicht, weißt du dann wenigstens woran du bist.“
„Hmpf“, machte Roman. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das überhaupt herausfinden will.“
Das klang wirklich düster und so sehr Evrill sich auch bemühte, er konnte sich keine Situation ausmalen, die einen Elevender mit Gegenstück so niederschmettern konnte.
Er beließ es dabei. Der Mann auf dem Fahrersitz würde sich schon melden, wenn er noch etwas loswerden wollte. Evrill hatte genug Ratschläge für heute erteilt, von denen er noch nicht mal wusste, ob sie überhaupt zur Situation passten. Immerhin sprach sein Gegenüber in kryptischen Gleichnissen, die nur er selbst verstand. Und mal ehrlich, Evrill war aus offensichtlichen Gründen nun wirklich kein Beziehungsratgeber. Bei dem Versuch würde er sich ja doch bloß lächerlich machen.
Folglich hielt er für den Rest der Fahrt den Mund und Roman schien vorerst genug zu haben. Er konzentrierte sich voll und ganz auf die Fahrbahn und lotste den Wagen zielsicher zu der Adresse, die Xandra ihnen genannt hatte.
Sie befand sich in einer Hochhaussiedlung am Rande der Stadt. Überall nichts als Platte und Beton, jedes Gebäude glich dem nächsten. Eine graue Vorstadtwüste mit zerklüfteten Canyons, deren steile Wände mit abertausend Höhlen gespickt waren, nur dass die Steinbalkone mit Satellitenschüsseln übersät waren. In den Fenstern brannten kaum Lichter, aber damit war um beinahe halb zwei Uhr nachts auch nicht zu rechnen gewesen.
Rome hatte den Wagen vor einem besonders heruntergekommenen Ungetüm zum Stehen gebracht, die Scheinwerfer hatte er schon vor einer Weile ausgeschaltet und so saßen sie im Dunkeln und beobachteten den Eingang des achtstöckigen Plattenbaus eine Weile.
Nachdem sich nichts und niemand rührte, stiegen sie aus und schlossen die Fahrzeugtüren leise.
Beide wussten sie, wie vorsichtig sie bei diesem Auftrag sein mussten. Jede Spur zu Orcus -und sei sie noch so winzig und unscheinbar - konnte einem jederzeit um die Ohren fliegen, wie der böse Bastard und Mörder schon so oft bewiesen hatte. Trotzdem mussten sie das Verhör jetzt zeitnah hinter sich bringen, für Cats Eltern ging es vielleicht um Leben und Tod. Wenn die Angestellten, die in dem Gebäude vor seinen Augen lebten, etwas wussten, dann würde er es aus ihnen heraus kriegen. Oft verriet schon der erste Eindruck eine Menge.
Evrill legte die paar Meter bis zu der altertümlichen Eingangstür zurück, deren Glaseinsatz bereits von einem milchigen Schleier überzogen wurde. Dort angekommen suchte er das richtige Namensschildchen aus einer langen Reihe heraus und presste seinen Daumen auf die Klingel daneben.
Es dauerte beinahe zwei Minuten, bis sich endlich eine verschlafene Frauenstimme meldete.
„Ha… Hallo?“
„Guten Abend, M’am“, sagte er in die Sprechanlage und benutzte den höflichsten Tonfall, den er auf Lager hatte. „Verzeihen sie die späte Störung, aber wir haben leider schlechte Nachrichten.“
„Was???“, entfuhr es der Frau schrill und sie schien plötzlich hellwach. „Sind sie etwa von der Polizei? Ist etwas mit meiner Tochter??? Oh Gott! Oh mein Gott! Ich wusste, ich hätte sie heute nicht alleine losziehen lassen dürfen, aber welcher Teenager gehorcht heutzutage noch einer Mutter? Was ist mit ihr? Um Himmels Willen, so sagen sie es doch endlich…. Mein armes Kind, mein armes…“
Na also. Und schon hatte er die erste Antwort. Die Frau war zumindest nicht in den Bombenanschlag auf das Anwesen der Campbells verwickelt gewesen, sonst hätte sie mit Sicherheit anders reagiert. Und eine derartige Panik war nur schwer vorzuschützen.
Er unterbrach die hysterische Dame oben in der Wohnung. „Keine Sorge, M’am, wir sind nicht von der Polizei und mit ihrer Tochter ist alles in Ordnung. Wir sind hier, um mit ihnen über das Bombenattentat zu sprechen, das vor wenigen Stunden auf das Grundstück der Campbell-Familie verübt wurde. Wir gehören zu dem Sondereinsatzkommando, das dieses Verbrechen aufklären soll.“
„Oh, mein… Ein Attentat???“
Der Summer bestätigte lautstark, dass die Tür jetzt geöffnet werden konnte.
Xandra war auf den Rücksitz verbannt worden, weil sie als letzte zum Team gestoßen war, während die anderen sich schon im Wagen verteilt hatten. Chris hatte als Ortskundiger die Rolle des Chauffeurs übernommen, Pareios hockte grimmig daneben und Aurelia leistete ihr auf der Rückbank Gesellschaft.
Xandra verdrängte das aufwühlende Gespräch mit Evrill, dafür hatte sie jetzt wirklich keine Kapazitäten übrig. Trotzdem oder gerade deshalb blieb ein widerwärtiger Nachgeschmack im Mund zurück. Sie fühlte sich mies.
Der dunkelhaarige Jäger aus Europa schaute immer wieder in den Rückspiegel, als erwartete er, dass sie jeden Augenblick von einer Horde Feinde überrannt wurden. Oder dass gar Aurelia selbst ihm ein Messer in den Rücken rammte, begriff Xandra.
Wenn sogar Aurelias größter Befürworter ihr so vorsichtig begegnete, dann war die Lage vielleicht doch komplizierter, als Xandra zunächst gedacht hatte. Dennoch gab sie die Zuversicht nicht auf. Die Jägerin hatte ein Versprechen gegeben und sie wirkte nicht wie jemand, der das leichtfertig tat.
Außerdem: Aurelia war wichtig, sonst hätte sich Orcus nicht so um sie gerissen. Er würde wieder Kontakt zu ihr aufnehmen und dem Team auf diese Weise verraten, wo er sich aufhielt. Darauf hoffte Xandra zumindest und war bereit den Preis zu bezahlen, im Gegenzug ein wenig von diesem Fiesling bespitzelt zu werden, falls es der drahtigen Elevenderin aus irgendeinem Grund doch nicht gelingen sollte, ihn auszusperren. Immerhin wusste Xandra von der laufenden und atmenden „Wanze“ und konnte sie so zu ihrem Vorteil nutzen. Aber zuerst brauchte sie einen Anfang, mit dem sie arbeiten konnte.
Eine mit gespanntem Schweigen gefüllte halbe Stunde später parkte Christian den Wagen vor einem Spielcasino in einem Kiez im Westen von Ceiling. Die Wohnung, die sie suchten, befand sich genau darüber. In der ganzen Straße gab es einige Nacht- und Nacktbars, deren Leuchtreklameschilder die Häuserfassaden und den grauen Asphalt in ein schrilles Farbenmeer tauchten. In den düsteren Schatten dazwischen lauerten fragwürdige Gestalten. Hier und dort glimmte eine Zigarettenspitze in der Dunkelheit, an der nächsten Kreuzung zog eine Frau im knappen pinken Mini ihre Bahnen am Straßenrand. Sie ging offenbar dem horizontalen Gewerbe nach.
Aurelia war als erste zur Tür hinaus und starrte wie hypnotisiert zu den dunklen Fenstern des Appartements hinauf. Dann setzte sie sich ohne Kommentar in Bewegung. Xandra und die beiden Männer folgten eilig, während sie sich immer wieder wachsam umsahen. Pareios hingegen verschwendete keine Zeit mit dem Ausspähen der Gegend, sondern heftete sich furchtlos an die Fersen seiner Kollegin.
Xandra hastete hinterher, um zu ihm aufzuholen.
„So läuft das also bei euch? Sie stürmt los und alle vertrauen darauf, dass nichts schief gehen wird?“
„So in etwa“, gab er kurz angebunden zurück, dann hatte er sie anscheinend schon wieder vergessen und konzentrierte sich auf die Sturmspitze, die gerade die Tür des Casinos aufschob und darin verschwand. Auch die anderen drei betraten kurz darauf den Amüsierbetrieb.
Drinnen schlug ihnen irgendeine Dudelmusik entgegen, die sich mit den bizarren Geräuschen einer langen Reihe von Spielautomaten mischte. Schrille „Piep Piep“- und „La Lü Lü Scht“-Laute gefolgt von kreischendem Klingeln ertönten aus jeder Ecke, sodass man sein eigenes Wort kaum verstehen konnte. An einzelnen Maschinen saßen verwahrloste Menschen und verzockten ihr sauerverdientes Geld an den einarmigen Banditen, die kleine Bar zur Linken war dagegen wir leer gefegt.
Aurelia hatte bereits das andere Ende des Raumes erreicht und sie beeilten sich zu ihr aufzuschließen. Die kleine Elevendergruppe wurde zwar von allen Seiten kritisch beäugt, besonders der Barmann folgte ihnen mit zusammen gekniffenen Augen, aber keiner wagte sie zu behelligen oder ihnen in den Weg zu treten.
Am Fuße einer Hintertreppe zum ersten Stock holten sie Aurelia ein und Xandra packte die Hellseherin am Arm.
„Warte, wir müssen vorsichtig sein. Vielleicht ist das eine Falle.“
„Da wäre ich jetzt nie und nimmer drauf gekommen“, gab Aurelia trocken zurück. „Vertrau‘ mir, ich weiß was ich tue.“ Damit zog sie eine Glock aus dem Holster an ihrer Hüfte und erklomm die ersten Stufen.
Christian hob die Augenbrauen und warf Xandra einen zweifelnden Blick zu, doch die konnte auch nur unschlüssig mit den Schultern zucken.
Dann traf sie die Entscheidung, folgte leise fluchend und befreite ihre Waffe ebenfalls aus dem Ledergurt. Die beiden Männer schlossen sich an. Wie vier Flundern pressten sie sich an die Wand, während sie sich Treppenabsatz für Treppenabsatz vorwärts schoben. Trotzdem brauchten sie für den Aufstieg nur wenige Sekunden.
Oben angekommen bogen sie um eine Ecke, bis Aurelia unvermittelt vor einer Tür auf der rechten Seite stehen blieb. Sie zögerte und schloss die Augen, dann stopfte sie sich irgendetwas in die Ohren. Ein… so etwas wie Ohrhörer eines Musik-Players?
Erstaunt starrte Xandra die Frau an. Was sollte denn das jetzt? Zuerst machte sie hier die Pferde scheu, nur um dann eine Pause zum Meditier….
„Fuck!“, stieß die Elevendrin mit den langen Locken hervor. „Der Kerl hinterm Tresen hat ihn gewarnt!“
Xandra kapierte nicht die Bohne, was hier gerade abging, aber bevor sie auch nur einen Mucks rausbrachte, hatte die andere Jägerin sich nach vorn geworfen und die unscheinbare Wohnungstür mit einem mächtigen Tritt aus den Angeln befördert. Einen Moment später stürmten sie und Pareios die Behausung des Campbell-Angestellten in einer geübten Zweierformation. Es wirkte wie ein besonders raffinierter Tanz, wie die beiden Rücken an Rücken schnell und effizient den ersten Raum checkten.
Ein Geräusch aus der Wohnung riss Xandra aus ihrer Starre. Das Klirren von Glas!
Sofort rannte sie hinter Christian in das Appartement, auch sie beide deckten einander beim Vorrücken. Die beiden europäischen Jäger wandten sich nach Links, weshalb Chris und sie selbst die rechte Seite übernahmen. Geschwind durchsuchten sie erst diesen Teil des Flurs, dann das Bad und wollten gerade die Küche betreten, als ein Ruf aus dem hinteren Abschnitt der Wohnung ertönte.
„Er haut ab!“
Das war Pareios und er kam ihnen auch schon entgegen, nachdem sie den ersten Fuß ins Schlafzimmer gesetzt hatten. Xandra erhaschte gerade noch einen Blick auf Aurelias Lederjacke, als sie sich behände aus dem zerschlagenen Fenster schwang. Pareios wollte offenbar den anderen Weg nach unten nehmen und auch Christian schaltete schnell. Er ließ sich nicht abhängen und Xandra folgte nach einer weiteren Schrecksekunde ebenso.
Sie polterten die Treppe wieder hinunter, am anderen Ende betraten sie wiederum das Casino. Pareios, der vor ihr lief, hob wie selbstverständlich die rechte Hand mit seiner Waffe und drückte ab. Wie sich herausstellte, hatte er keine Sekunde zu früh reagiert, denn sie wurden bereits von einem Kugelhagel erwartet.
Der Barmann entlud das gesamte Magazin einer Kalaschnikow in den Laden und ihm war so ziemlich egal, was oder wen er dabei traf. Hauptsache, Xandra und ihre Kollegen befanden sich unter den Opfern.
Der Elevender mit dem kurzrasierten Haar hielt sich nicht damit auf, stehen zu bleiben. Immer weiter in Richtung Bar feuernd verschaffte er sich ein wenig Deckung und rannte quer durch den Splitterregen der Automatenscheiben und die herum sirrenden Kugeln zum Vordereingang. Chris tat es ihm gleich, aber Xandra nahm sich die Zeit, den Schützen mit einem gezielten Schuss in die Schulter niederzustrecken. Der Kerl grunzte unflätig. Er ließ die Waffe fallen und sein massiger Körper, der in einem ungepflegten Trainingsanzug steckte, krachte gegen die Plexiglasregale mit den Spirituosen in seinem Rücken. Flaschen regten herab, zerbrachen auf seinem Kopf, seinen Schultern, und er hob schützend die Arme vors Gesicht. Die Kalaschnikow konnte er so auf jeden Fall nicht mehr benutzen.
Schließlich sprintete auch Xandra durch den zerstörten Laden ohne auf die Leute zu achten, die hinter den Automaten Schutz gesucht hatten. Draußen drehte sie sich einmal um die eigene Achse und entdeckte Chris am anderen Ende der Straße.
Mit der gezückten Waffe in der Hand nahm sie die Verfolgung auf.
Während Aurelia mit Pareios im Rücken die kleine, heruntergekommene Wohnung durchsuchte, dachte sie, dass sie es doch irgendwie geahnt hatte. Dieses Gefühl hatte ihr den ganzen Nachmittag über eingeflüstert, dass sie sofort loslegen musste. Sie hatte alles dafür getan, es zu verdrängen und jetzt hatte es erneut eine Explosion gegeben. Ein Gruß von Orcus, wenn sie nicht alles täuschte.
Die Intuition hatte ihr den Drang geschickt, das schien nun gewiss. Aber ob ihr Erzfeind die Gabe dazu veranlasst hatte, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen. Plötzlich fiel ihr auf, dass das im Moment sowieso keine große Rolle spielte. Wenn sie ihn finden wollte, war dies hier der einzige Weg. Sie würde Orcus in seinem eigenen Spiel schlagen müssen.
Das Klirren war aus dem hinteren Bereich der Wohnung gekommen und sie machten sich in die selbe Richtung auf, wobei sie sich wachsam nach rechts und links absicherten. Leise Schritte verkündeten, dass sich die beiden Jäger aus Ceiling ebenfalls auf dem Vormarsch befanden. Der kleine Flur war schummrig und eng, nach einem kurzen Stück teilte er sich an einer Gabelung auf. Aurelia nahm den Gang linker Hand und bald erreichten sie eine weitere Tür. Ein Rascheln drang durch das dünne Holz und ließ sie aufhorchen.
Aurelia wechselte einen kurzen Blick mit Pareios. Im Zwielicht konnte sie seine grauen Augen nicht richtig erkennen, aber das war auch nicht nötig. In dieser Situation waren sie wieder ein Team, wie die beiden Jäger von früher, die voll und ganz auf einander eingespielt waren und wussten, was der andere wann über das weitere Vorgehen dachte. Und im Augenblick wussten sie beide, dass sie in dieses Zimmer mussten, Falle oder nicht.
Diesmal versuchte Aurelia, das hölzerne Hindernis leiser zu überwinden, was sich als unproblematisch herausstellte, da die Tür nicht abgeschlossen worden war. Ein Schubs ihrer Hand ließ das Ding weit auf schwingen und sie hob die Waffe, sondierte den Raum, der nun vor ihr lag. Es war das Schlafzimmer. Nicht sonderlich groß, aber auf der linken Seite stand ein schweres, hölzernes Bett, geradeaus befand sich ein Fenster, dessen Glas beinahe gänzlich fehlte. Nur an den Rändern standen noch Spitze Splitter aus dem Rahmen, Scherben waren über den Boden verteilt.
Eine aus Laken und Bettüberzug geformte Kordel reichte vom oberen Fuß der Schlafstätte zum Eck des Fensterrahmens. Der Stoff und die Knoten spannten sich unter dem daran baumelnden Gewicht. Der Kerl war offenbar zu feige gewesen, einfach zu springen. Sie hastete hinüber, streckte den Kopf hinaus in die Nacht und spähte nach unten. Dort konnte sie eine verschwommene Gestalt am anderen Ende der improvisierten Kordel ausmachen, die gleich den Boden der düsteren Gasse zwischen den beiden Häusern erreicht haben würde.
Aurelia holte tief Luft, packte die Glock fester und schwang sich aus dem zertrümmerten Fenster.
Die kurze Flugphase wurde ihr durch die wummernden Bässe in den Ohren versüßt. Geschickt rollte sie sich beim Aufkommen ab und kam gleich wieder auf die Füße.
Der Gesuchte rannte etwa zwanzig Meter weiter vorn die Straße entlang und sie nahm die Beine unter die Arme. Beim Rennen verstärkte sich dieses drängende Gefühl nur, sodass es irgendwann wie ein Hammer immer und immer wieder auf ihren Frontallappen einschlug. Mittlerweile war es ihr herzlich egal, ob Orcus ihr diese Emotion einpflanzte, sie wollte nur noch dass die furchtbar unangenehmen Regungen aufhörten. Und das würden sie nur, wenn sie den Flüchtigen dingfest machen konnte.
Der Drang wütete in ihrem Schädel, beherrschte ihre Gedanken, unterwarf ihren Verstand, alles andere schien mehr und mehr nebensächlich. Sie gewann an Geschwindigkeit, feuerte die jubelnden Muskeln zu neuen Höchstleistungen an und holte mit jedem langen Schritt ein bisschen auf.
Ihr Herz jauchzte vor Freude über die Anstrengung und brachte die Nebennieren dazu, eine gehörige Menge Adrenalin auszuschütten. Immer schneller und schneller schlugen ihre Kampfstiefel auf den Asphalt, der Bass der Musik zog an und gab ihr den Schrittrhythmus vor. Sie rannte voller Inbrunst, zunächst vorbei an vereinzelten Nachtbars, die die Straße noch ein wenig erhellten. Dann wurde es zunehmen dunkler, als sie den Kiez hinter sich ließen und in eine spärlich beleuchtete Wohngegend abbogen. Hier gab es nur wenige Laternen und der Mond hatte sich gerade hinter ein paar finstere Wolken zurückgezogen.
Meter für Meter arbeitete sie sich heran, bis sie endlich ein halbwegs passables Schussfeld hatte. Sie durfte den Kerl nicht töten, aber sie konnte ihn trotzdem vom Weglaufen abhalten.
Sie rief die Intuition zu Hilfe, wartete vollkommen fokussiert auf den richtigen Moment.
Das Drängen erreichte seinen Höhepunkt und Aurelia schoss. Bereits als sie den Abzug betätigte, wusste sie, dass sie das Ziel treffen würde.
Die Kugel pfiff durch die Luft, dann bohrte sie sich ins Sprunggelenk des fliehenden Mannes.
Er strauchelte, bevor er sich der Länge nach auf die Nase legte. Wenige Sekunden später hatte Aurelia ihn erreicht und stürzte sich auf ihr Opfer, das sich gerade ungelenk aufrappeln wollte. Sie begrub den Kerl unter sich, vernahm mit Genugtuung das Keuchen, mit dem die Luft aus seinen Lungen entwich.
Sie musste ihm unbedingt ins Gesicht sehen, weswegen sie seinen zappelnden Körper auf den Rücken wälzte und ihm dann die Waffe unters Kinn hielt. Erst als er vor Schreck erstarrte und beide Hände hob, nahm sie sich die Zeit ihn genauer zu betrachten.
Sie glaubte, die Visage noch nie zuvor gesehen zu haben, dennoch wummerte die Intuition genauso in ihrem Bewusstsein wie die Drum’n’Bass-Musik. Die Gabe wollte um jeden Preis auf diesen Typen aufmerksam machen und bescherte ihr damit dröhnende Kopfschmerzen. Aurelia verdrängte den Druck in ihrem Schädel und zwang sich, den Kerl noch mal genau anzusehen. Dennoch war es, als müsste sie sich durch Treibsand kämpfen. Als versuchte sie, Erinnerungen zu greifen und sie aus eben dieser zähen Masse zu zerren, doch sie entglitten ihr eins ums andere mal.
Was ging hier bloß vor sich? Wurde sie langsam aber sicher verrückt oder versuchte Orcus gerade, sie davon abzuhalten, sich an etwas zu erinnern?
Der Gedanke schien ihr plötzlich gar nicht mehr so abwegig.
Schwarzes kurzes Haar, dunkle Iriden, dunkle Haut. Ein entsetztes, angsterfülltes Gesicht, das kaum verbergen konnte, dass der Kerl sich gleich in die Hosen machte. Aber es wollte einfach nicht Klick machen, sie konnte ihn nicht identifizieren, so sehr sie sich auch anstrengte. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht und Aurelia kniff mehrmals die Augen zusammen, in der Hoffnung sie könnte sich damit aus dem grauen, zähen Dunst in ihrem Kopf befreien. Doch es gelang ihr einfach nicht und die Befürchtung, Orcus befände sich gerade jetzt in ihrem Bewusstsein, erzürnte sie auf eine völlig neue Weise. Heiß und intensiv wallte der Zorn in ihr auf, brach wie eine zerstörerische Lavawelle über sie herein und ließ sie alle vorherigen Überlegungen über Bord werfen, alles zum Teufel jagen, wofür sie trainiert und worüber sie mit Slater gesprochen hatte.
„Wer bist du?“ forderte Aurelia harsch zu wissen. „Was hast du mit dem Bombenanschlag auf die Campbells zu tun?“
Speedy riss die Augen auf und schüttelte den kurzen Haarschopf wie wild hin und her. „Bombenanschlag??? Was für ein Bombenanschlag? Ich bin doch nur ein Fahrer! Ein Faaahrer!“
Sie wusste dass er log - wie sie so vieles ganz einfach wusste, ihrer Elevenderfähigkeit sei Dank - und packte ein dickes Haarbüschel, damit er dem Lauf ihrer Waffe nicht noch einmal entkommen konnte. Seine Schreie hallten von den Häuserwänden wider. Zum Glück hatten sie sich ein gutes Stück vom Kiez entfernt und um diese Uhrzeit befand sich keiner der Bewohner auf der Straße.
Da vernahm sie Schritte hinter sich und zuerst trudelte Pareios ein, kurz nach ihm auch Xandra und Christian. Alle drei keuchten kaum und die blonde Jägerin mischte sich sofort ein.
„Und? Hast du was aus ihm raus gebracht?“
Aurelia riss sich die Stöpsel aus den Ohren. „Es kann nicht mehr lange dauern.“
„Aber…“, stieß der Kerl hervor, doch Aurelia unterbrach ihn unwirsch.
„Du solltest wirklich schleunigst anfangen von Dingen zu faseln, die ich auch hören will! Sonst verpasse ich dir ein hübsches Gaumenpiercing, haben wir uns verstanden?!“ Mit dieser Drohung bohrte sie die Waffe noch etwas tiefer in die Kehle des Fremden, der Lauf zeigte Richtung Schädeldach.
Der Typ wimmerte. Leider kam nichts Verständliches über seine brabbelnden Lippen und Aurelia verlor zusehends die Geduld. Irgendwann entschied sie, den Worten Taten folgen zu lassen, damit er auch wirklich verstand, in welcher Situation er sich gerade befand. Wenn er nicht redete, würde er sterben.
Um dies zu verdeutlichen, verpasste sie seiner Nase einen schweren Hieb mit dem Holm der Waffe. Sie hörte es laut knacken. Die Haut platze an der Stelle auf, die sie getroffen hatte, aber das kümmerte sie nicht. Das Drängen war nun wie ein Sturm in ihrem Verstand. Er wirbelte durch die Hirnwindungen, riss Leitungen um, kappte Verbindungen, verursachte ein heilloses Durcheinander, in dem nur noch der Zorn übrigblieb.
Orcus führte sie die ganze Zeit an der Nase herum und jetzt wurde sie auch noch von ihrem eigenen Verstand im Stich gelassen. Sie wollte die Wahrheit von diesem Typen hören. Wenigstens ein einziges verdammtes Mal.
„Rede endlich, du Bastard!“
„Worüber denn? Ich weiß ja noch nicht mal…“
Wieder schlug Aurelia zu. „Schluss mit den Ausreden! Spuck’s aus, oder ich befördere deinen Pinocchio-Arsch in die Welt des Schmerzes.“
Als wieder bloß Schluchzer kamen, holte Aurelia erneut aus.
„Stopp!“, ertönte Xandras entrüstete Stimme. „Sieh ihn dir an! Der Kerl ist nur noch ein armseliges Häufchen Elend. Er hätte bestimmt bereits was verraten, wenn er etwas wüsste.“
Aurelia schüttelte benommen den Kopf. Wankte kurz unentschlossen, aber der alles verschlingende Drang brachte sie wieder auf Kurs. „Nein! Er lügt.“
„Selbst wenn! Lass‘ uns das nicht hier mitten auf der Straße machen. Wir fesseln ihn und nehmen ihn mit. Auf Blackridge wird er sich dann einem Verhör unterziehen.“
„Ihr versteht das nicht“, rief Aurelia aufgebracht und parkte die Waffe wieder unterm Kinn des Gefangenen. „Wenn man Orcus besiegen will muss man skrupellos sein. Und man muss sofort handeln, weil er es immer irgendwie schafft, einem die Trophäe wieder abzuluchsen, bevor man aus ihr schlau werden kann.“
Bei den eindringlichen Worten schaute sie über die Schulter zu ihren Kollegen, um sie endlich davon zu überzeugen, dass das hier absolut notwendig war.
Sie wollte sich gerade auf Xandra konzentrieren und mit einem weiteren Argument aufwarten, als sie etwas an der Hand mit der Waffe fühlte.
Erschrocken riss sie den Kopf herum. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Mensch seinen Finger vor den schob, den Aurelia um den Abzug gelegt hatte. In der nächsten Sekunde quetsche er besagten Finger hinunter und der Bolzen gab nach.
Bevor sie so richtig begriff, was passierte, oder gar reagieren konnte, löste sich der Schuss mit einem ohrenbetäubenden Knall. Die Waffe war eben sehr zuverlässig.
Sie zuckte zurück, als sie etwas Warmes abbekam und riss die Augen auf, um nachzusehen, was es war. Überall war rotes, zähes Blut. Es klebte an ihren Händen, an den Ärmeln der schwarzen Lederjacke, an der Haut in ihrem Ausschnitt, im Gesicht. Ihr Gehör vermeldete einen hohen, durchdringenden Fiep-Ton. Oh mein…, dass bedeutete doch, dass…
Nein! Dieser Dreckssack konnte hier doch nicht einfach die Biege machen! Blind vor Schock und Zorn stürzte sie sich auf den Verletzen, merkte dass er nicht atmete und begann mit verschlungenen Fäusten sein Herz zu massieren. Er würde ihr verdammt noch mal nicht wegsterben. Nicht schon wieder einer!
Aurelia stemmte sich immer wieder auf seinen Brustkorb, in der Hoffnung, sein Herz zum Schlagen bewegen zu können. „Xandra! Du bist hier doch die Heilerin. Komm‘ endlich her und mach‘ deinen verfluchten Job!“ Sie pumpte weiter ohne sich davon beirren zu lassen, dass keiner ihrer Kollegen Anstalten machte ihr zu helfen. „Kann einer endlich Evrill holen?! Steht da nicht so nutzlos rum!“
Aurelia war mittlerweile außer sich. Irgendwann schlug sie aus Verzweiflung mit der Faust auf die Mitte der Menschenbrust. Wieder und wieder. Fast so wie man ein zickendes Elektrogerät schlug, damit es wieder stotternd in Gang kam und seinen Dienst tat. Obwohl nichts davon Wirkung zu zeigen schien, hörte sie nicht auf. Das Drängen sagte ihr, dass sie den Mann und was immer er wusste brauchte. Er durfte jetzt nicht einfach auf offener Straße verrecken. So hätte es nicht laufen dürfen!
Durch die erfolglosen Wiederbelebungsversuche keuchte sie bald vor Anstrengung, jede ihrer Bewegungen schien so schwer, als kämpfte sie immer noch mit dem Treibsand. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Sicht verschwamm, aber nichts konnte sie stoppen. Sie musste den Typen einfach retten…
Da legte sich eine sanfte Hand auf ihre Schulter. Xandras weiche Stimme drang durch den Schleier des Grauens. „Aurelia… Er ist tot.“
Sie schüttelte die Berührung trotzig ab und machte weiter, doch nach weiteren zehn Minuten verlor sie immer mehr an Zuversicht. Erneut versuchte die Elevenderin, sie in ihrer Trance zu erreichen. „Aurelia, er hat sich das Licht ausgepustet. Nichts und niemand kann ihn zurückholen. Hör‘ endlich auf und lass‘ ihn in Frieden gehen.“
Sie stockte und blickte zu der Elevenderärztin auf. Sofort fand sie sich in einem warmen und mitfühlenden Blick gefangen, aber gleichzeitig stand der anderen ins Gesicht geschrieben, dass sie Aurelia für nicht ganz knusper hielt.
Die konnte sich ihr Handeln ja auch nicht erklären und wandte sich voller Enkel vor sich selbst ab. Verzweifelt ließ sie die Augen über die Leiche gleiten und bemerkte jetzt erst, dass sich der halbe Schädel in Luft aufgelöst hatte. Besser gesagt hatte er sich in Form von Blut und breiigen Bröckchen auf den Asphalt verteilt. Aurelia wurde schlecht und sie stolperte auf die Beine. Schlingernd taumelte sie zur nächstbesten Hauswand, stützte sich daran ab und erbrach sich schwallartig.
Verdammte Scheiße!
Diese ganze Situation kam ihr sehr bekannt vor. Orcus hatte sie wirklich wieder einmal beherrscht. Ihr seinen Willen aufgezwungen. Dieser Drang war so rabiat gewesen, dass sie alles getan hätte, um ihn los zu werden. Erneut hatte der Feind sie besiegt.
Aber nicht nur sie. Auch der flüchtende Mensch war von ihm kontrolliert worden, dessen war sie sich ziemlich sicher, und sie hatten beide die Hauptrollen in Orcus‘ neuerlicher Inszenierung inne gehabt. Obwohl Aurelia sich vorher der Gefahr bewusst gewesen war, hatte sie erneut nichts gegen der Verlauf der Dinge ausrichten können. Hatte ihn sogar erst möglich gemacht.
Nein, nein, nein! Das konnte einfach nicht wahr sein!
Ein stechender Schmerz in den Fingerknöcheln ließ sie aufschauen und sie stellte fest, dass sie die Hand zur Faust geballt und mit voller Wucht gegen den grauen Stein gedonnert hatte. Erstaunt betrachte sie die kleine Kerbe in der Wand, dann die Abschürfungen an ihrer Haut und die kleine Blutrinnsale, die ihren ausgestreckten Arm hinunterliefen.
Plötzlich griff eine weitere Hand nach der ihren, umfasste sie vorsichtig und zog sie von der Mauer zurück. Daraufhin wurde sie in eine feste Umarmung bugsiert, die sie in ihrem Nervenzusammenbruch innehalten ließ und ihr den Atem raubte. Nicht weil es sich schlecht angefühlt hätte. Im Gegenteil. Aurelia sog die tröstliche Wärme geradezu in sich auf, ließ sich für einen kurzen Moment in die Sicherheit fallen, die ihr zwei starke Arme boten, wo sie doch so vollkommen verloren war in den Abgründen, die sie mit Orcus teilte. Sie brauchte nur ein paar Sekunden voll Frieden, bevor sie sich wieder zusammenreißen und ihn erneut bekämpfen konnte.
Verwirrt und hilflos blickte sie auf und sah in Pareios‘ schöne graue Augen mit den goldenen Sprenkeln, die auf so wunderbare Weise einem Schwarm Glühwürmchen ähnelten. Aber die Bedeutung des Bildes sickerte nur in Zeitlupe in Aurelias Bewusstsein.
Langsam und unter Aufbringung all ihrer Willenskraft kämpfte sie sich aus dem Treibsand in den Tiefen ihres Verstandes heraus, kam an die Oberfläche zurück…
… und begriff plötzlich vollends, wer sie da in den Armen hielt.
Aurelia machte sich frei und stieß den warmen Körper von sich. Nicht auszudenken, wenn Orcus sie in den letzten Augenblicken dazu gebracht hätte, Pareios zu verletzen. Nein, das durfte sie einfach nicht zulassen. Sie musste ihn auf Abstand halten, zu seinem eigenen Schutz.
Trotz des harten Ausdrucks in seinem attraktiven Gesicht konnte Aurelia den Schmerz sehen, den er bei der Zurückweisung empfand. Sie kannte ihn einfach schon so lange, dass sie genau wusste wie er aussah, wenn er litt. Besonders, wenn sie der Grund dafür war. Darin hatten sie zwei reichlich Erfahrung.
Wieder regte sich etwas in ihrem Herzen und Aurelia erschrak. Bevor der Funke zum Flächenbrand werden konnte, erstickte sie ihn im Keim. Sie zwang sich, tief durchzuatmen und dabei ihren Verstand wieder unter Kontrolle zu bringen. Erneut kämpfte sie mit etwas, das sie weder fassen noch beschreiben konnte und wieder fühlte es sich an, als versänke sie bei dem Versuch nur tiefer im Treibsand, während ihre eigenen Gedanken vom Wind davon getragen wurden, wie eben jene Körnchen, wenn sie trocken waren.
Slater hatte versucht, ihr zu erklären, wie man sich abschottete, wie man jegliche Emotion verbarg. Ein Mantra, ein Bild, das man fokussierte. Aber er hatte auch gesagt, dass jeder Mensch sein eigenes finden musste. Ein Ziel, ein Gedanke, der das zeigte, wofür man einfach alles geben würde,… wofür man einfach alles aufgeben würde.
Vorher hatte Aurelia nicht gewusst, wie schwer es werden könnte, so ein Mantra zu finden. Sie hatte geglaubt, ihr Hass wäre Motivation genug. Jetzt wusste sie es besser, besonders da Orcus in ihrem Kopf rumpfuschte und es ihr unmöglich machte, sich auf etwas anderes zu fokussieren, als seine Anweisungen. Dieser Drang war wirklich von ihm gekommen, was wiederum bedeuten musste, dass er sie schon heute Nachmittag manipuliert hatte, als sie noch geglaubt hatte, es gäbe tatsächlich einen Möglichkeit ihn auszuschließen. Da war sie auch noch nicht so außer sich gewesen, wie gerade eben. Und wenn sie davon ausging, dass Gefühle Orcus‘ Schlüssel zu ihrem Bewusstsein waren, dann war zu dem Zeitpunkt schon etwas schief gegangen. Sie musste bereits vor ein paar Stunden die Kontrolle verloren haben und ihr fiel nur ein möglicher Grund dafür ein.
Und eben der stand jetzt vor Aurelia und ließ langsam jene Arme sinken, die sie gerade eben zurückgewiesen hatte.
Jemand räusperte sich betreten und sie wandte langsam den Blick von Pareios ab, suchte den Verursacher des Geräusches. Aber es war, als konnte ihr Gehirn der Bewegung des Kopfes, der es beherbergte, nicht ganz folgen und ihr wurde schwindelig. Xandra kam in ihr schwankendes Gesichtsfeld. Deren Stimme klang irgendwie verzerrt, als sie den Mund öffnete und etwas sagte.
„Iiich gehe zurüüück uuund löööschee diiiee Eeeriiinneeruungeen deer Meenscheeen iiim Caasiiinooo….“
Aurelia schüttelte sich, doch das Dröhnen in ihren Ohren wollte nicht nachlassen.
Verschwommen bemerkte sie, wie Christian den toten Körper vom Boden hoch wuchtete und sich auf die Schultern lud, dann gingen er und die blonde Jägerin die Straße hinunter. Bis sie um die nächste Ecke verschwanden, konnte Aurelia nicht aufhören, die Leiche anzustarren.
Sie hatte Orcus erneut dabei geholfen, seine Spuren zu verwischen, eine Figur vom Schachbrett zu nehmen, trotz ihrer gegenteiligen Absichten. Sie war so vermessen gewesen, zu glauben, dass sie irgendeinen Einfluss nehmen könnte, wo sie doch eigentlich nur eine macht- und willenlose Marionette war. Himmel, ihr ganzes Dasein erschien ihr mit einem mal gottverlassen und trostlos.
Und jetzt stand sie da, spürte, dass sie nicht allein in ihrem eigenen Geist war und konnte nur hilflos dabei zusehen, wie das Schicksal wieder einmal seinen Lauf nahm.
„Hör‘ zu. Wenn du willst, dass das funktioniert, musst du ehrlich zu uns sein.“
„Ich weiß“, fauchte Aurelia, ohne den Blick von der Häuserecke abwenden zu können, wo eben noch die Leiche von Orcus‘ Schergen zu sehen gewesen war.
Pareios packte sie am Arm und drehte sie zu sich um. Nur mit einiger Mühe gelang es ihr, sich ihm nicht zu entziehen. Sie war von einem Parasiten besetzt und wer wusste schon, wann der wieder zuschlagen würde. Das Letzte, was sie wollte, war, Pareios noch mehr zu verletzen, als sie es schon getan hatte. Leider manövrierte sie dieser Vorsatz in eine Zwickmühle. Um ihn zu schützen, hätte sie ihn jedes Mal zurückstoßen und letztendlich verlassen müssen, doch auch das schien ihn zu schmerzen. So oder so, er würde leiden. Diese Unausweichlichkeit ließ sie sich wünschen, ihm nie begegnet zu sein. Überhaupt, es wäre wahrscheinlich besser gewesen, wenn sie vor langer Zeit einfach abgetreten wäre… und Orcus dabei mit sich genommen hätte. Es hatte so viele Gelegenheiten gegeben, als sie noch geglaubt hatte, er wäre ihr Schicksal. Sie hatte alle ungenützt verstreichen lassen.
Mit einiger Anstrengung hob sie die Augen und begegnete Pareios‘ verschlossenem Gesicht. Er wollte offenbar nicht preisgeben, was in ihm vorging. Trotzdem konnte Aurelia es sich denken. Sie in seiner Lage wäre stinksauer gewesen.
„Wieso bist du immer noch hier?!“, fragte sie anklagend. „Dir ist doch klar, was das eben war?!“
Pareios schob die Brauen zusammen, sodass sie fast eine Linie bildeten und eine steile Falte auf seiner Stirn entstand. Unvermittelt ließ er Aurelia los und obwohl sie dies durchaus befürwortete, durchfuhr sie ein markerschütterndes Verlustgefühl. Wieder eine Emotion, die sie nicht unterdrücken hatte können. Verärgert zog sie sich einige Schritte zurück und versuchte verzweifelt die Regung zu bezwingen.
„Du willst mich loswerden.“ Seine Stimme klang bei der Feststellung eigentlich gleichmütig, aber am Ende spürte sie trotzdem die Fassungslosigkeit in den Worten.
Schmerz. Da war so viel Schmerz zwischen ihnen beiden. Nicht nur der des heutigen Abends, sondern auch der der vergangenen Wochen, über die sie sich nie ausgesprochen hatten.
„Ja, natürlich!“, platzte Aurelia heraus. „Orcus ist in meinem Kopf und ich könnte dir etwas antun. Kapierst du das nicht?“
Sein graugoldener Blick wanderte zu den Überresten des Menschenhirnes auf dem Gehweg. Im Dunkeln war der Fleck einfach nur schwärzlich, glitschig und schlierig wie eine Ölspur. Die Bröckchen wirkten wie graue Kieselsteine im fahlen Licht der Sterne. Aber sie wussten beide, dass sie das nicht waren. Wussten, welch grauenvollen Anblick dieser Ort bei Tag bieten würde.
„Ich bin nicht blind.“ Wieder verstummte er und starrte einfach nur hinunter auf die Misere.
„Aber dann… Wieso?“
Pareios zuckte mit den Schultern. Diese lässige Geste konnte die Anspannung seines Körpers jedoch nicht verbergen. Die Muskeln an seinen langen Armen und Beinen wölbten sich unter dem Stoff und Leder der schwarzen Jägeruniform, obwohl er sich keinen Zentimeter rührte. „Es gibt tausend Gründe dafür.“
„Ich möchte sie hören.“
„Einige davon würdest du nicht verstehen“, entgegnete er düster.
„Dann erklär‘ sie mir eben.“ Sie war doch kein uneinsichtiges kleines Kind. „Ich konnte deine Denkweise schon immer gut nachvollziehen.“
Jetzt schoss sein Kopf zu ihr herum. In seinen schönen Zügen spiegelte sich lodernder Zorn, den er jedoch sogleich wieder zügelte und in stoische Entrüstung verwandelte. Für einen kurzen Moment hatte sie wieder den feurigen und leidenschaftlichen Mann von früher erkennen können. Der, in den sie sich damals verliebt hatte. Dessen Lebendigkeit sie stets fasziniert und später unausweichlich angezogen hatte. Erleichterung durchflutete Aurelia, da sie doch geglaubt hatte, diesen unbändigen Lebensdurst in ihm ein für alle Mal ausradiert zu haben, bloß weil er an ihrer Seite gewesen war.
Und obwohl er gerade wieder einmal wütend auf sie war, vermutlich weil sie ihn an die gemeinsame Vergangenheit erinnerte, hätte sie beinahe gelächelt. Ganz einfach, weil Pareios unter all der Trauer und Verschlossenheit der war, der er immer gewesen war. So nüchtern und schnörkellos konnte Glück aussehen.
Verflucht, sie war schlichtweg nicht imstande, sich dem zu entziehen, was Pareios in ihr weckte. Er wirkte wie ein Gegengift für all ihre Vorsätze, egal wie sehr sie sich dagegen sträubte und egal wie viel Abstand sie zwischen sie beide brachte.
„Glaubst du etwa, das hier ist leicht für mich?! Oder dass ich mich nicht von dir fernhalten würde, wenn ich eine Wahl hätte?!“
Autsch. Aurelia spürte den Schnitt ganz tief in ihrem Herzen, trotz ihrer erheblichen Bemühungen, die Bemerkung nicht an sich heran zu lassen. Mit aller Macht riss sie sich zusammen.
„Du hast eine Wahl.“ Keiner zwang ihn hier zu sein, im Gegensatz zu ihr.
„Nein, habe ich nicht. Nicht, wenn ich herausfinden will, was mit Viktor passiert ist. Nicht, wenn ich dann mit dem Gedanken leben muss, dich dir selbst überlassen zu haben."
Verdattert zuckte Aurelia zurück. „Du hast keine Verpflichtungen mir gegenüber.“
Pareios warf den Kopf in den Nacken und stieß ein einzelnes bitteres Auflachen aus. „Danke, dass du mich daran erinnerst.“
Ohne sie noch eines Blickes zu würdigen setzte er sich in Bewegung, aber in Aurelia herrschte mittlerweile ein Tumult, den sie nicht mehr stoppen konnte. Bisher hatte sie Orcus zumindest soweit unterdrücken können, dass sie sein Monster nicht in ihrem Verstand gespürt hatte. Vielleicht hatte er das Ungetüm auch nur schlafen lassen, damit sie sich in falscher Sicherheit wägte, was wahrscheinlicher schien, angesichts der Tatsache, dass es ihm trotzdem gelungen war, sie zu kontrollieren.
Pareios` letzter Satz hatte sie jedoch an den Rand der Selbstbeherrschung gebracht und jetzt regte sich das bösartige Wesen in ihrem Innern, verseuchte sie mit seinem Zorn und seiner unbarmherzigen Besitzgier. Sie war nur noch Sekunden davon entfernt, sich in eine morallose, hysterische Furie zu verwandeln, die sich nicht verwehrte, sich das wünschen was sie sich eben wünschte. Die sich ohne Pardon alles nahm, was sie begehrte, ungeachtet der Folgen.
Kopflos rannte Aurelia hinter Pareios her und versperrte ihm den Weg. „Wir sind noch nicht fertig.“
„Ach wirklich?! Du wolltest mich doch loswerden. Ich dachte, ich tue dir einen Gefallen.“
„So ist es nicht.“
„Wie ist es dann, Aurelia? Langsam blicke ich nicht mehr durch.“
„Ich muss dich loswerden wollen. Zu deinem eigenen Besten. Außerdem will ich wissen, welche Gründe du noch hast. Tausend, sagtest du doch, nicht wahr?“ Das Monster brachte sie dazu, selbstsüchtig nach der Wahrheit zu verlangen, mit jeder Faser ihres Seins. Trotz des Wissens, dass die Antwort sie über den Rand der Klippen treiben könnte, sodass das Ungeheuer die Gelegenheit zur Übernahme bekam.
Nun konnte Parios seine Wut nicht mehr verhehlen. Sie zeigte sich offen in seinen feurigen Augen, in der steigenden Temperatur, die von seinem versteinerten Körper ausging. Aurelia konnte die Hitze auf der Haut spüren. Nicht mehr lange und sengende Glut würden die Härchen auf ihren Unterarmen wegbrennen, aber sie wich nicht zurück. Alle Zeichen standen auf Konfrontation und das Monster heulte zustimmend auf.
„Du bist herzlos!“, schnappte Pareios.
„Ich weiß…. Aber ich muss es hören.“ Mit einer Besessenheit, die an schieren Wahnsinn grenzte. Das Ungetüm in ihrem Schädel scharrte mit den Krallen, lauerte. Was war bloß los mit ihr? Was konnte Orcus für einen Vorteil davon haben, wenn sie Pareios nötigte, ihr seine Gefühle zu erklären? Denn genau das schien das Monster zu wünschen. Und sie selbst auch. Das war ja das Verhängnisvolle an der Sache. Und wenn sie schon die Kontrolle verlor, konnte sie dieses schmerzhafte Thema auch hier und jetzt aufs Tableau bringen. Vielleicht würde sie es dann endgültig abhaken können, damit die unberechenbaren Emotionen aufhörten, die sie zu einem leichten Opfer für Orcus‘ Intrigen machten.
„Wo stehen wir, Pareios?“, bohrte sie mit zittrigen Lippen nach. „Ich kann diesen Kampf nicht gewinnen, wenn ich mir ständig Gedanken um uns beide machen muss.“
„Uns beide?!“ Sein Knurren ließ ihre Knochen vibrieren. Es wurde immer heißer und Pareios‘ Pupillen begannen im Dunkeln weiß aufzuglühen. Er biss die Zähne zusammen, während er sprach, sodass sie ihn beinahe nicht verstehen konnte. „Wir waren ein Paar. Du hast gesagt, du liebst mich. Dann hast du dein Gegenstück kennen gelernt. Er ist gestorben und jetzt willst du Rache. Ende der Geschichte. Da stehen wir.“
„Was ich will, ist mir vollkommen klar, aber…“
„Das bezweifle ich stark“, unterbrach er. „Du bist wie ein Fähnchen im Wind. Mal drehst du dich in die Richtung, im nächsten Augenblick in eine andere… Und dennoch…“
„Und dennoch was?“
„Wieso zwingst du mich dazu, es zu sagen? Was soll das schon bringen, außer mir erneut ein Messer ins Herz zu stoßen??“ Er machte einen bedrohlichen Schritt auf sie zu. „Du willst es unbedingt hören? Bitte schön!“ Noch ein Schritt, es wurde heißer und heißer. „Ich kann nicht aufhören an dich zu denken. Ich kann nicht damit aufhören, darüber nachzugrübeln, wie ich dich zurück gewinnen könnte.“ Er blieb nur Zentimeter entfernt von ihr stehen und beugte sich vor. Sein Körper glich einem Hochofen, an dem sie sich jeden Moment die Finger verbrennen konnte. Aufgeregt hielt Aurelia die Luft an.
„Aber kurz darauf fällt mir wieder ein, dass ich dich erst vor dir selbst retten muss und dann kriege ich Panik. Dass du irgendwann einfach weg bist oder dass ich eines Morgens aufwache und du hast dich selbst ausgelöscht. Oder dass du mich irgendwann mit bloßen Händen im Schlaf erdrosselst. Das macht mich schließlich wütend, weil ich verdammt bin eine Frau zu lieben, deren Herz nicht frei für mich ist und die zur Zeit noch nicht mal Herrin ihres eigenen Verstandes ist. Zu guter Letzt habe ich dann ein schlechtes Gewissen. Immerhin kannst du für all diese Dinge nichts... Es ist nicht deine Schuld, es ist einfach…“ Während Pareios zu Beginn noch die Stimme erhoben hatte, war sie bei den letzten Sätzen immer leiser geworden. Nun flüsterte er fast. Resignation mischte sich in die Wut. „Ich schätze, es ist einfach unser Schicksal.“
Aurelia hatte einen dicken Kloß im Hals. Dieses Geständnis riss erneut alte Narben auf und sie blutete aus unsichtbaren Schnitten und Wunden. Der Schmerz war genauso intensiv wie damals, als sie sie zugefügt bekommen hatte. Das Monster dagegen wirkte zufrieden mit seinem Werk und grunzte beifällig. Es schien Gefallen an dem Leid zu finden, das dieses Gespräch verursachte.
Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
Das war es auch, was Orcus gewollt hatte!
Er versuchte sie mürbe machen, indem er sie wieder und wieder durch die Hölle gehen ließ. Sie und die Menschen, die ihr etwas bedeuteten. Die sie… liebte. Vor ein paar Wochen hätte sie nicht für möglich gehalten, dass man zwei Menschen lieben konnte, jetzt wusste sie es besser. Denn das hatte sie schon getan, als Dante noch gelebt hatte. Und jetzt tat sie es wieder, weil sie ihn nicht vergessen konnte. Nicht vergessen konnte, dass sie trotz all der Pein dieses unglaubliche Glück erfahren hatte dürfen. Und dass es wieder verloren gegangen war, bevor sie es überhaupt genießen konnte.
Angesichts all dieser Fakten war es absolut unfair, Pareios immer noch zu begehren. Ihn zu lieben, obwohl ihr Herz niemals ihm allein gehören würde und sie vom Feind besessen war. Er hatte so viel mehr verdient, vor allem da auch er vor langer Zeit den Tod seines Gegenstücks erlebt hatte. Das alles war so verdammt unfair. Doch Selbstmitleid konnte ihr jetzt auch nicht helfen.
Entschlossen schluckte sie die aufsteigenden Tränen hinunter. Das Monster in ihrem Kopf freute sich über das Unglück, das sie verspürte.
„Ich habe die Nase inzwischen gestrichen voll von diesem beschissenen Schicksal.“
„Ich auch“, stimmte Pareios mit bedauernder Miene zu.
Zögernd hob Aurelia die Hand und berührte seine Schulter. „Mir geht es genauso, weißt du? Ich kann auch nicht aufhören an dich zu denken. Aber wenn ich es tue, kann ich Orcus nicht ausschließen. Du bringst mich völlig durcheinander. Gerade jetzt spüre ich seine Präsenz in meinem Verstand. Es gefällt ihm, dass die Situation uns verletzt.“
Trotz der vernichtenden Wahrheit erschien ein kleines Lächeln auf Pareios‘ hübsch geschwungenen Lippen. „Du kannst fühlen, was er fühlt?“
Verdutzt sah sie auf. „Du hast Recht… Das kann ich!“ Da war sie. Die Verbindung, die sie zu Orcus gesucht hatte…
„Vielleicht ist deine Gefühle abzublocken der falsche Weg, um an Orcus heranzukommen“, fasste Pareios ihre Gedanken zusammen.
„Meinst du, er weiß, dass ich ihn spüre?“
„Wahrscheinlich… Aber er kann sich nicht 24 Stunden am Tag um dich kümmern, oder? Wenn du zulässt, ihn wahrzunehmen, dann weißt du auch wann er nicht da ist. Und wenn du dich mit seiner Präsenz vertraut machst, findest du vielleicht Schlupflöcher.“
Auch das stimmte. Aus diesem Blickwinkel hatte sie die Sache noch nie betrachtet. Leider besaß jede Medaille zwei Seiten. „Bestimmt weiß er jetzt, was du gesagt hast. Nun kann er Gegenmaßnahmen ergreifen.“
Pareios legte seine Hand über Aurelias, die immer noch an seiner Schulter ruhte. „Soll er es nur versuchen. Ich kenne niemanden, der das schaffen würde, was du geschafft hast. Wenn ihn jemand besiegen kann, dann bist es du.“
Seine unerschütterliche Zuversicht ließ Aurelias schwermütiges Herz höher schlagen. Dieses unbedingte Vertrauen in sie half auch ihr Mut zu fassen. Seine Wärme, sein unauslöschliches Feuer trug sie wieder, so wie früher, und in ihrer Trostlosigkeit fand sie neue Hoffnung. Nicht nur für einen Sieg über Orcus, sondern auch für eine eigene Zukunft, vielleicht sogar mit Pareios. Immerhin empfanden sie immer noch etwas für einander, auch wenn das Loch in ihrem Herzen verbot, solche Gedanken im Augenblick tatsächlich in Erwägung zu ziehen. Es wäre ihr pietät- und respektlos vorgekommen. Nichtsdestotrotz ließen sich die Gefühle nicht leugnen, wie falsch sie auch sein mochten.
Pareios bewegte sich und riss sie damit aus ihren Wachträumen. Langsam nahm er ihre Hand von der Schulter, hob sie an die Lippen und setzte einen zaghaften Kuss darauf, als fiele es ihm schwer ihre Reaktion abzuschätzen.
„Dann könnten wir doch mit dem Katz-und-Maus-Spiel aufhören. Aus irgendeinem verrückten Grund schaffen wir es nicht, einander loszulassen, jetzt… ist nur nicht die richtige Zeit für uns. Aber das heißt nicht, dass sie niemals kommen wird.“
„Glaubst du das wirklich?“
„Ja“, sagte er fest und sah ihr direkt in die Augen. Seine glühten nur noch leicht, sodass die goldenen Sprenkel auf grauem Grund wie von innen her erleuchtet wirkten. So glichen sie schwelenden Kohlen eines verglimmenden Feuers. „Unsere Zeit wird kommen, du wirst schon sehen. Wenn nicht in diesem Leben, dann im nächsten. Bis dahin sind wir einfach Freunde…. Sehr enge Freunde. Und du wirst mich mitnehmen, wenn du dich absetzen musst, genauso, wie du es versprochen hast.“ Er lächelte wie der verschmitzte Junge, den sie von damals kannte, und sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Aber die Tatsache, dass jemand so unumstößlich zu ihr hielt, bezwang alle bösen Befürchtungen.
Überrascht bemerkte Aurelia, dass auch sie zu lächeln begann. Ein echtes Lächeln, das von tief drinnen kam.
Das Monster schnaubte wütend und grub seine Krallen in ihr Großhirn. Doch da sie sich nicht mehr dagegen wehrte, tat es nur noch halb so weh.
Mit einem seltsamen Frieden beseelt, machten sie sich auf den Rückweg zur Bar, wo sie Christian und Xandra vermuteten. Während des kurzen Fußmarsches erörterten sie die Handlungsmöglichkeiten, die ihnen blieben, wenn Aurelia Orcus bewusst nicht ausschloss.
„Eigentlich gibt es keine Wahl“, schloss sie nach einigem Hin und Her und obwohl die Erkenntnis hart war, war sie wieder klar genug, um sie annehmen zu können. „Ihr müsst die Jagd übernehmen und mich als Köder nutzen. Ihr könnt taktisch Kapital aus mir schlagen.“ Sie führte den Gedanken nicht genauer aus und versuchte auch nicht ihn sich zu detailreich vorzustellen, damit Orcus nicht davon erfuhr. Aber Pareios würde schon verstehen, weil er immer verstand, was sie meinte.
Ihre Erwartungen bestätigend, nickte er ein einziges Mal. „Sehr vernünftig. Ich bin beeindruckt.“
„Danke. Ich kann das nur, weil ich weiß, dass du dich darum kümmern wirst.“
Darauf erwiderte er nichts, aber ein Seitenblick zeigte, dass seine wohl gebräunten Wangen fast im Dunkeln leuchteten. Sie verkniff sich ein Grinsen.
„Ich werde unterdessen das tun, was du vorgeschlagen hast. Ich mache mich mit Orcus vertraut.“
„Du willst also direkt in die Höhle des Löwen hinein spazieren?“
„Die Metapher scheint mir passend, ja.“
„Kann man dir dabei Rückendeckung geben?“
Aurelia schüttelte den Kopf, während sie den dunklen Asphalt inspizierte. „Ich glaube nicht. Da muss ich allein durch. Was soll schon groß passieren? Wenn ihr mich wegsperrt und nur mit ausgelesenen Informationen versorgt, werde ich keinen großen Schaden anrichten können und bin somit nutzlos für ihn.“ Aber sie würde dann nützlich für die Legion sein. Daher war es die richtige Entscheidung, auch wenn ihr die Machtlosigkeit, die mit ihrem Plan einherging zutiefst widerstrebte. Der wütende Teil von ihr drängte darauf, an vorderster Front zu kämpfen. Doch die kühle Taktikerin auf der anderen Seite wusste, dass es Situationen gab, die klügeres, überlegteres Handeln erforderten. Dies hier war so eine Situation und sie hatte begriffen, dass sie zwar ein wichtiges Mitglied ihres Teams war, vielleicht sogar das mächtigste, aber dass sie nur deshalb so erfolgreich gewesen war, weil sie eben ein Team hatte. Nun war es Zeit, das Ruder aus der Hand zu geben. Sie war nicht mehr die beste Wahl für die Führungsspitze und da sie den Posten nie gewollt hatte, fiel es ihr jetzt auch nicht schwer, ihn wieder abzugeben. Außerdem konnte sie sich darauf verlassen, dass ihre Kameraden genauso hartnäckig für das Ziel fechten würden, wie sie selbst.
„Klingt logisch“, lobte Pareios. „Ich werde mit Xandra darüber sprechen.“
„Gut.“
Als sie vor der Bar ankamen, verließen die anderen beiden Elevender gerade das zwielichtige Etablissement. Zu Aurelias großem Erstaunen, schoben sie den gefesselten und geknebelten Barmann vor sich her.
Trotz ihrer Neugier hielt sich Aurelia an den neuen Plan und zog sich zum Auto zurück, während Pareios hinüber ging, um sich auf den aktuellen Stand bringen zu lassen und die beiden Kollegen ebenso in ihre Ergebnisse einzuweihen. Die Gruppe unterhielt sich mit gesenkten Köpfen. Xandra sah auf und warf Aurelia einen Blick zu, dann nickte sie zustimmend.
Somit war es also beschlossene Sache. Alles zurück auf Anfang. Sie hatte so hart für ihre Freiheit gekämpft, nur um sie sich am Ende wieder freiwillig zu nehmen. Ein kleiner aber feiner Unterschied, denn dieses Mal hatte sie die Entscheidung selbst getroffen. Pareios war sich dessen bewusst gewesen und hatte darauf vertraut, dass sie es auch erkennen würde. Obwohl sie die Hellsichtige war, schien er gegenwärtig mehr Weitblick zu besitzen. Wenigstens noch einer von ihnen beiden, dachte sie bitter und wandte sich von der Szene ab. Zielstrebig stieg sie in den Wagen ein, schloss die Türen und versuchte, nicht genauer darüber nachzudenken, warum die beiden anderen Jäger den Barmann gefangen genommen hatten.
Nach diesem Erlebnis war Xandra über Aurelias Vorschlag erleichtert. Es sah nicht so aus, als könnte die Elevenderin den ungewollten Besatzer ihres Verstandes bezwingen, das hatte der merkwürdige Tod des Flüchtigen deutlich gezeigt. Sie hatte keine Erfahrung mit Orcus Vorgehensweise, aber langsam verstand sie die abstrusen Beschreibungen, die sie von den europäischen Kollegen erhalten hatte. Begriff, was mit Aurelia vor sich ging. In Anbetracht dessen, war es vielleicht wirklich die beste Lösung sie erst einmal aus den Ermittlungen heraus zu halten. Und immerhin war die Neuigkeit, dass Aurelia fühlen konnte, was Orcus fühlte, eine gute Nachricht. Daraus ließ sich doch etwas machen.
Zudem hatten sie jetzt diesen Barmann, der irgendwie in die Sache verwickelt war. Schließlich hatte er sie angegriffen, als sie auf der Jagd nach dem Campbell-Angestellten gewesen waren. Ob aus Freundschaft oder weil er tatsächlich eine Marionette oder ein Partner des Feindes war und etwas mit dem Bombenanschlag zu tun hatte, würde sich beim Verhör schon noch zeigen. Dank seiner Verletzung durch Xandras Schuss war er nicht weit gekommen und sie hatten ihn beim Versuch zu fliehen aufgegriffen. Seither hatte er kein Wort gesprochen, was sie ihm auch androhten. Aber das würde er noch. Slater hatte da so seine Mittel und Wege.
Sie schubste den Delinquenten, damit er sich in Richtung Auto in Bewegung setzte. Nach ein paar Schritten fragte Pareios so leise, dass nur sie es hören konnte: „Wie habt ihr eigentlich die Erinnerung der Zeugen gelöscht? Gab es Verletzte?“
„Die gab es, aber ich habe alle geheilt“, flüsterte sie zurück. „Wir haben Prionen geschaffen, die schon wenige Sekunden nach der Infektion die Erinnerung an die letzten paar Stunden vernichten. Ein kleiner Pieks und auf Nimmer wieder sehen Kurzzeitgedächtnis.“
„Prionen? So wie BSE?“
„So ähnlich. Ich habe es modifiziert.“
„Sehr praktisch.“
„Oh, ja. Manchmal braucht es gar keine Elevenderkräfte, Köpfchen reicht schon aus.“ Das hätte sie vorhin zu Ferroc sagen sollen, fiel ihr bei den Worten ein. Menschen waren genauso einfallsreich wie Elevender, und einige waren mit Sicherheit schlauer als so manches Exemplar von Xandras Gattung.
Der Barmann landete ohne große Diskussion bei der Leiche im Kofferraum, dann schickten sie sich an nach Hause zu kommen. Unterwegs holte Xandra ihr Handy heraus. Nacheinander rief sie die Teams an, die heute Nacht auf der Suche nach Cats Eltern ausgeschwärmt waren, und ließ sich berichten, was von den Kollegen in Erfahrung gebracht worden war. Die anderen Angestellten der Campbells waren alle sauber und hatten sich bestürzt über das Attentat gezeigt. Es gab folglich keine nennenswerten Durchbrüche, weshalb sie alle nach Blackridge zurückkehren würden.
Nachdem das Auto in die Garage gefahren war und angehalten hatte, versorgte Xandra den Gefangenen mit einem Sack über dem Kopf. Sie brachte ihn ins Untergeschoss, wo es einige gut gesicherte Räume gab, in denen man Verhöre durchführen und Leute festhalten konnte. Trotz der Zeitnot war das Warten bis Slater eintraf vielleicht ganz nützlich. So konnte der Kerl ein bisschen in seinen unbestimmten Ängsten schwelgen. Auch er war, genau wie der Tote, den man zur Untersuchung in Xandras Labor gebracht hatte, kein Elevender, schien aber zu wissen, dass er es mit welchen zu tun hatte. Sie hoffte, dass das seine Furcht noch schürte. Um die Beklemmung zu verstärken, ließ sie den Raum mit ohrenbetäubendem Heavy Metall beschallen und schaltete jeden Scheinwerfer auf die höchste Stufe. Es gab kein Entkommen vor dem Lärm, dem gleißenden Licht und der damit verbundenen Hitze.
Sie stellte fest, dass sie kein Problem mehr mit der Härte ihres Vorgehens hatte. Die Geschehnisse hatten wohl auch sie einen Teil ihrer moralisch korrekten Vorstellungen gekostet. Bei der Erkenntnis legte sich Kälte um ihr Herz, aber merkwürdiger Weise fühlte sie sich ihrem Vater näher, als zu seinen Lebzeiten. Auch er war ergebnisorientiert und ohne Mitgefühl gewesen, hatte sich nur an grundlegende moralische Prinzipien gehalten, die Feinheiten hatte er für Auslegungssache befunden. Jetzt konnte sie dieses Verhalten wahrhaftig nachvollziehen. Manche Ereignisse veränderten einen substantiell, ohne dass man groß die Wahl hatte und zum ersten Mal fragte sie sich, was ihren Vater wohl so geprägt hatte.
Unberührt stand Xandra im Nebenraum und beobachtete den Barmann durch eine verspiegelte Glasscheibe, wie er sich zitternd in einer Ecke zusammenrollte und den Kopf unter die Arme schob. Durch die Schallisolierung hörte sie nicht den kleinsten Laut aus dem Gefängnis, was es ihr erleichterte, sich von dem abzugrenzen, was hinter dem Spiegel geschah. Merkwürdig entrückt sah sie bei den Torturen zu und fragte sich nur, wann der Kerl wohl brechen würde. Wie weit sie gehen müssten, damit er redete, war ihr aber egal. Um Orcus zu finden, hätte sie dem Gefangen auch persönlich Fingernagel für Fingernagel ausgerissen.
Christian trat ein und meldete, dass er Aurelia in einem fensterlosen Zimmer am anderen Ende des Flurs untergebracht hatte. Die Teams waren inzwischen angekommen und Slater befand sich auf dem Weg zum Verhörraum.
„Willst du dir das wirklich antun?“, fragte Chris, als sie keine Anstalten machte zu gehen.
„Oh, bitte. Ich bin keines dieser zarten Weibchen, die bei so einer Aussicht gleich zerbrechen würden.“ Sie warf ihm einen entnervten Blick zu.
„Du bist eine Ärztin. Etwas dergleichen haut dich nicht aus den Socken. Aber ich weiß, als solche widerstrebt es dir andere Wesen zu verletzen.“
„Nicht mehr…“, murmelte Xandra nur und stützte sich an der Wand ab. Plötzlich fühlte sie sich unendlich müde, fühlte sich beinahe so alt wie sie tatsächlich war.
Chris war indessen hinter sie getreten. Er zog sie an sich ohne ihren Widerwillen wahrzunehmen und schlang die Arme um ihren kalten Körper. „Lass‘ nicht zu, dass diese Dunkelheit dich verschlingt. Du wolltest nie wie dein Vater werden.“
„Tja, vielleicht bin ich es ja schon“, stieß sie höhnisch hervor.
„Nein, bist du nicht.“
Das ließ sie so stehen, obwohl er sich täuschte. Sie hatte schlichtweg nicht die Energie, ihn auf seinen Irrtum aufmerksam zu machen oder darüber zu streiten.
„Im Übrigen hätte ich mit deinem Vater niemals das hier angestellt.“ Ruckartig drehte er sie herum und im nächsten Augenblick befand sie sich zwischen Wand und Christian eingezwängt, heiße Lippen verschlossen die ihren und raubten ihr den Atem. Der Kuss erwärmte Xandra von innen, verdrängte die Kälte, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Er ließ die starren Muskeln weicher und weicher werden, bis sich ihre Knochen zu verflüssigen schienen. Wie eine Welle aus zähem Honig schmiegte sie sich an jeden Zentimeter Chris, den sie erreichen konnte und spürte, wie der eisige Kern in ihrem Innern langsam aber sicher wieder auftaute.
Als er sich mit einem extrem selbstgefälligen, männlichen Lächeln von ihr löste, keuchte Xandra bereits.
„Du hast Recht“, brachte sie zwischen zwei tiefen Atemzügen raus und hielt sich an seinen Schultern fest. „Es wäre äußerst verstörend gewesen, wenn du meinen Vater so geküsst hättest.“
Chris grinste nur noch breiter und wollte offenbar zu einer Fortsetzung schreiten, doch im Nebenraum wurde in diesem Moment die Türe geöffnet.
Slater stand auf der Schwelle und gab ein Zeichen zur Spiegelwand. Sie sollten die Beschallung abstellen. Xandra machte sich frei und kam der Bitte des Kollegen nach und schaltete auch die Tonübertragung wieder an. Doch als sie sich erneut angespannt vor dem Fenster aufstellte, konnte sie nicht anders als nach der Hand ihres Begleiters zu fischen. Das hier wollte sie nicht alleine sehen.
Auch hinter ihnen verrieten Geräusche, dass jemand das Beobachtungszimmer betrat. Pareios gesellte sich zu dem blonden Elevender und zu ihrer Linken tauchte Blaise auf. Xandra musste sich schon sehr zusammenreißen, um ihr nicht dieselbe Frage zu stellen, die Chris vorhin an sie gerichtet hatte. Blaise würde die Geste ebenfalls nicht zu schätzen wissen. Die Erkundigung, wie sie von der Sache erfahren hatte, erübrigte sich ebenso. Wo Slater war, war sie neuerdings nun mal nicht weit. Vollkommen unabhängig davon, wie mies er sie behandelte.
Xandra hoffte inständig, dass der Rat, den sie Slater vor ein paar Stunden gegeben hatte, Früchte tragen würde. Das erinnerte sie auch daran, dass sie sich den Kummer der Freundin immer noch nicht angehört hatte. Kurzerhand legte sie den freien Arm um den viel kleineren Körper und zog ihn an ihre Seite.
Blaise sah auf und Xandra wusste, was sie gesagt hätte, wenn sie allein gewesen wären.
„Schon gut“, flüsterte sie und wandte sich wieder dem Szenario hinter dem Spiegel zu.
Erst als Slater den Gefangenen auf den Rücken rang, die allzeit vorhandene Strähne aus dem Gesicht schob und der Mann zu schreien begann, wurde Xandra bewusst, wie bizarr es war, mit ihren besten Freunden Arm in Arm bei der Folter zuzuschauen. Sie wollte schon loslassen, aber Blaise zuckte bei den irritierenden Bildern zusammen.
Slater hatte Arme und Kinn des Fremden fixiert, mit der freien Hand zwang er die Lider eines seiner Augen auseinander, sodass er ihn ansehen musste.
„Was macht er da?“ Die zittrige Stimme neben ihr klang piepsig vor Aufregung.
„Keine Ahnung, aber…“, Xandra wurde von einem herzzerreißenden Wimmern aus dem Nebenraum unterbrochen. Sie hatte nicht geahnt, dass ein erwachsener Mann solche Laute produzieren konnte. „Aber es funktioniert jedes mal.“ Eine Gänsehaut lief über ihren Rücken.
Slater ließ los, sein Werk war offenbar getan, doch die Behandlung zeigte immer noch Nachwirkungen. Der Kerl auf dem Boden kreischte und stöhnte, mit geballten Fäusten schlug er sich wiederholt gegen die Schläfen, als hätte man ihm Dämonen in den Kopf gezwängt, die er auf diese Weise auszutreiben versuchte.
„Oh, mein Gott…“, hauchte Blaise, während der Barmann begann, sich die Augen auszukratzen.
Slater betrachtete sein sich windendes und stöhnendes Opfer gleichmütig. Der Anblick ließ ihn völlig kalt. Das hier war eine Arbeit, die getan werden musste. Da traf es sich gut, dass er etwas von dem Handwerk verstand und keine Probleme damit hatte, es zu verrichten. Genaugenommen eignete er sich hervorragend für den Job. Keiner hätte ihn mit so wenig Aufwand erledigen können wie er. Durch sein linkes Auge war die Sache so einfach wie Atmen. Er brauchte lediglich die Haarsträhne zur Seite schieben, mit der er die Abnormität sonst verdeckte, und die andere Person ansehen. Um die Qual aufrecht zu erhalten, benötigte er noch nicht einmal ständigen Blickkontakt.
Dieser Teil seiner Gabe war in diesem Fall sogar doppelt praktisch, denn wenn jemand nicht schlecht war, hatte er auch nichts zu befürchten. Aus dem Grund konnte Slater sehr gut damit leben, Menschen oder Elevender dieser besonderen Sorte Folter zu unterziehen. Wenn es richtig wehtat, hatte das Opfer es aller Wahrscheinlichkeit nach auch verdient.
Er bestrafte die Leute in der gleichen Größenordnung, wie diese Unheil und Zerstörung verbreitet hatten. Dabei sah er sich weniger als Richter, denn als Henker. Schließlich war das Strafmaß nicht seine Entscheidung. Er war nur der Vollstrecker.
Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, fühlte er sich wie die Inkarnation des Teufels, jedes Mal wenn er dieser Aufgabe nachkam. Der tat ja letztlich auch nichts anderes. In diesem Zusammenhang fragte er sich manchmal, warum man den Herrn der Fliegen im Allgemeinen als böse betrachtete. Der erfüllte doch nur eine Funktion innerhalb eines Glaubensgefüges, wobei ihm das Fällen eines Urteils gar nicht oblag. Dafür waren die Regeln und die Art des Glaubens verantwortlich. Wenn also in diesem Konstrukt etwas böse war, dann doch das Gefüge selbst?!
Jedenfalls ließ er seiner Elevenderfähikeit freien Lauf, hielt nichts zurück. Die Tätigkeit war eine willkommene Ablenkung von den bisherigen Geschehnissen dieser desaströsen Nacht. Er war völlig überreizt von so viel sozialem Kontakt. Zuerst der Überfall auf sein Heim und diese Aurelia, die sich in seiner Hütte breit gemacht und ihm eine Lehrstunde in Sachen Emotionslosigkeit abgenötigt hatte. Dann der Besuch bei dem Campbell-Angestellten zusammen mit den zwei anderen Jägerkollegen. Nicht zu vergessen, diese vermaledeite Sache mit Blaise, die ihn dazu gebracht hatte, mit Xandra zu sprechen. Speziell diese Ereignisse wollten ihm keine Ruhe lassen. Als er um Rat gebeten hatte, war er selbst erstaunt gewesen, dass es ihm tatsächlich… etwas ausmachte, Blaise offenbar auf die Füße getreten zu sein.
Die letzten paar Stunden waren ein gänzliches Kontrastprogramm zu seiner sonstigen Existenz gewesen, aber die gravierendste Veränderung war, dass seine Gedanken noch stärker um die kleine Elevenderin kreisten als zuvor.
Wenn er geglaubt hatte, er könne sie aus seinem Dasein verbannen, indem er sie vor die Türe setzte, dann hatte er sich gehörig geschnitten. Ständig sah er sie vor sich. Die kugelrunden, entsetzten Augen, als er sich auf die Eindringlinge in seiner Hütte geworfen hatte. Ihre bestürzt zusammengezogenen Brauen, während sie versuchte, ihn in seiner Raserei zu erreichen. Die blanke Fassungslosigkeit in ihrem Gesicht, nachdem er sie rausgeschmissen hatte. Bei jedem anderen wären ihm all diese Dinge scheißegal gewesen. Aber bei ihr…
Irgendwie fand er es plötzlich nicht mehr so unproblematisch, dass er ein parasitärer, misstrauischer, feindseliger Dreckskerl war, dem jegliche Fähigkeit zur Güte oder Freundlichkeit fehlte. Bisher schienen ihm diese Eigenschaften unabdingbar, um sich einigermaßen sicher zu fühlen. Die Summe all seiner Erfahrungen hatte ihn diesen Weg wählen lassen und es war ihm gleichgültig gewesen, was andere darüber dachten. Jetzt jedoch sorgte Blaise dafür, dass er sich fragte, ob seine strikten Verhaltensregeln auch bei ihr nötig waren.
Die schrillen Schreie des Gefangenen rissen ihn aus seinen Mutmaßungen. Der Mann zu seinen Füßen blutete wie ein Schwein, weil er sich das Gesicht zerkratzte. Wahrscheinlich in dem Versuch, die Alpträume auszulöschen, die ihm in den Kopf gesetzt worden waren. Auch die Schusswunde an der Schulter war durch die hektischen Bewegungen wieder aufgerissen, dunkles Rot sickerte stetig aus der Verletzung. Rohe Panik und ohnmächtiger Schrecken erfüllten die Luft, prickelten trotz Slaters Eismauer wie Säure auf seiner Haut. Der zähe, widerwärtige Dunst verstärkte sich von Sekunde zu Sekunde.
Er drosselte seine Gabe auf ein Minimum und der Kerl ließ davon ab seine Augen zu traktieren, hielt ganz still. Kurze Zeit später seufzte er erleichtert und sackte aus seiner verkrampften Haltung auf den Rücken. Dann wurde sein großer, bulliger Leib von Schluchzern geschüttelt, ein Arm wanderte nach oben und legte sich über das zerschundene Gesicht.
Slater schaute mitleidslos zu, wie der Mann zerbrach. Er hatte schon viele Menschen und Elevender brechen sehen, nicht nur durch seine Hand, und jedes Mal hatte es ihm eine gewisse Befriedung verschafft. Immerhin hieß das, dass ihm die Person nicht mehr gefährlich werden konnte. Und dass er der Stärkere im jeweiligen Kampf gewesen war. Der, der überleben würde.
Auch heute überkam ihn Genugtuung, als er in die Hocke ging, um sein Werk genau in Augenschein zu nehmen. Doch anders als sonst, grübelte er gleichzeitig darüber nach, ob Blaise seine Reaktion auf den emotionalen Zusammenbruch wohl missbilligen würde. Irritiert schüttelte er den Kopf, um den Gedanken los zu werden.
„Das passiert mit Leuten, die keine Antworten auf die Fragen meiner Freunde geben. Redest du jetzt, oder brauchst du erst Nachschlag? Wir können das von mir aus die ganze Nacht machen“, sagte er mit unbewegter Stimme und meinte es komplett ernst. Falls in seiner Welt so etwas wie „Spaß“ existierte, dann kam diese Beschäftigung der Sache am nächsten.
Der Mann schüttelte vehement den Kopf und rollte sich hicksend auf der Seite zusammen. „A….alles!… I… ich werde alles sa… sagen….“, heulte er und bot einen herzzerreißenden Anblick,… wenn Slater ein Herz gehabt hätte.
Er nickte zum Spiegel und wartete, bis Xandra herein kam.
„Ist er soweit?“, erkundigte sie sich mit stockender Stimme.
Auf seine Bestätigung hin schluckte sie vernehmlich und ging an ihm vorbei. Der kleine Bogen, den sie dabei schlug, wäre ihm an einem anderen Abend vermutlich gar nicht aufgefallen, doch heute war ihm der Sicherheitsabstand sehr bewusst.
Als seine Kollegin auf der anderen Seite des Gefangenen kniete, schubste Slater ihn auf den Rücken.
„Dann rede. Wenn ich noch mal herkommen muss, werden dir die vergangen Minuten wie ein Kinderspiel erscheinen.“
Er sah nicht noch mal zu Xandra, bevor er den Raum verließ. Er spürte ihre unterschwellige Entrüstung auch so. Als Teamleiterin hatte sie sich seinen Respekt verdient, dennoch hielt er sie des Öfteren für eine Rosinenpickerin auf dem hohen Ross. Sie befand sich für moralisch überlegen, weil sie es ablehnte sich die Hände schmutzig zu machen. Während sie von Leuten wie ihm profitierte, die ihr diese undankbare Arbeit abnahmen, sah sie gleichzeitig auf sie herab. Ihr Ansehen bei ihm rettete nur, dass sie Slaters Einsatz schätzte und letztlich dankbar für seine Dienste war, auch wenn sie seine Methoden nicht gut hieß.
Als er die Tür schloss, freute er sich schon auf die Einsamkeit seiner Hütte, doch da bemerkte er, dass er nicht alleine im Flur war.
Am anderen Ende des schachtartigen, nur schwach mit LEDs beleuchteten Gangs huschte gerade eine Figur um die Ecke. Ein Blick auf die unverwechselbare Statur wäre gar nicht nötig gewesen, damit er identifizieren konnte wer dort davon hastete. Das Gefühlsgebilde war einmalig.
Blaise.
Nachdem sein Verstand die Puzzleteile zusammengesetzt hatte und ihm aufging, dass sie sich im Beobachtungsraum aufgehalten und zugesehen haben musste, entstand ein merkwürdiges Gefühl in seiner Brust. Fast wie ein Vakuum oder so, er konnte es zunächst nicht einordnen. Nach einigem Überlegen kam er jedoch zu dem Schluss, dass es dieselbe Regung sein musste, die seine Kollegen meinten, wenn sie sagten, dass ihnen das Herz in die Hose gerutscht sei.
Slater stockte. Sieh einer an… Vielleicht besaß er ja doch so ein Ding.
Kurzer Hand folgte er Blaises Gefühlsraster. Es war ihm ein Leichtes, sie zu lokalisieren, da ihre freundliche und gutmütige Aura wie ein Juwel in der Sonne strahlte. Und das bereits, wenn er versuchte sie abzublocken.
Er hatte zwar immer noch keine Vorstellung davon, was alles zum „zu Kreuze kriechen“ dazu gehörte und er beabsichtigte auch nicht, sich zu entschuldigen. Dennoch drängte ihn etwas, die Sache in Ordnung zu bringen. Was immer das auch heißen mochte.
Dass Blaise ihn bei seiner barbarischen Tätigkeit beobachtet hatte und ihn dieser Umstand zudem zutiefst beunruhigte, war nur ein Teil seiner Beweggründe. Ohne aus seinem Verhalten schlau zu werden, wanderte er durch die Flure, näherte sich stetig diesem Leuchtfeuer der Gefühle, das ihn aus unerklärlichen Gründen anzog.
Vor lauter Grübeln bemerkte kaum, dass sein Weg ihn ins Obergeschoss führte. Nur, dass die Echos der Emotionen um ihn herum immer unüberhörbarer wurden und begannen durch seinen Schutzpanzer zu sickern, machte ihn schließlich darauf aufmerksam, an welchem Ort er sich befand.
Offenbar war er Blaise in den Wohnbereich Blackridges gefolgt, wo die Zimmer der einzelnen Elevender lagen. Das Gefühlswirrwarr machte ihn schon ganz schwindlig, vor allem weil die einzelnen Ströme so unspezifisch waren. Die Bewohner schliefen wohl und im Traum herrschte diesbezüglich bei den meisten Chaos, was er jetzt mit voller Wucht zu spüren bekam. Als er von der ersten Welle Übelkeit überrollt wurde, musste er die Zähne zusammenbeißen, um sich nicht auf den hübschen Flauscheteppich zu übergeben. Er wusste schon, warum er sich normalerweise von Menschenmengen fernhielt. Eine so hohe Personenzahl konnte er nicht mehr komplett aussperren… und in der Konsequenz nur schwer ertragen.
An einer Kreuzung bog er nach links und dann hatte er das Ziel erreicht. Eine hübsche Holztür, genauso wie die anderen im Flur, und doch ganz außergewöhnlich. Denn dahinter pulsierte Blaises reine und unverdorbene Präsenz, gleich dem Herzschlag der Erde selbst.
Slater dröhnte der Schädel und höchstwahrscheinlich war er durch den Tumult in seinem Kopf nicht ganz bei Sinnen. Nur so konnte er sich später erklären, dass er doch tatsächlich die Hand hob und an das raue Holz klopfte. Die Flut der fremden Gefühle rauschte in seinen Ohren, brachte seinen Puls zum Rasen. Sein Magen wollte erneut rebellieren und er musste sich die Faust in den Bauch pressen, um den Übeltäter zum Schweigen zu bringen.
Hinter der Tür hörte er Schritte. Sie kamen näher, aber ihm wurde nicht geöffnet.
Sekunden der Stille folgten.
Sollte er noch mal klopfen?
Da Blaise jedoch direkt auf der anderen Seite zu stehen schien, hatte sie seinen ersten Versuch gewiss mitbekommen. Und wahrscheinlich hatte sie ihn mit Hilfe ihrer Gabe bereits identifiziert. Ok. Kein Wunder, dass sie nicht aufmachte.
Eigentlich hätte er froh darüber sein müssen, doch dieses „Herz in der Hose“-Ding setzte wieder ein. Höchst merkwürdig. Sein Unbehagen und auch das Gefühlschaos, das nicht von ihm stammte, verstärkten sich zusehends.
Schließlich ertönte Blaises Stimme durch die dünne Barriere. „Was willst du?“
Auch ohne den scharfen Tonfall wusste er genau, wie sauer sie war. Und enttäuscht. Und verletzt. Und… naja, die Latte hätte für eine fünfminütige Aufzählung im selben Tenor gereicht.
Er schüttelte sich, um den Kopf einigermaßen frei zu kriegen. „Reden“, brachte er schließlich hervor, wobei er sich total lächerlich vorkam. Reden! Von wegen… er hatte keinen blassen Dunst über was.
Als hätte sie diese Schwäche seines Planes ebenfalls gerochen, legte sie sogleich den Finger in die Wunde. „Und worüber???“
„Über… ähm… vorhin…“
Erneut Stille. Dann stieß sie ein Schnauben aus, das irgendwie… niedlich klang. „Sag‘ schon, was du zu sagen hast!“
Während er krampfhaft nach Worten suchte, bekam er Tinnitus und das Denken wollte nicht mehr so richtig funktionieren. „Du… du hättest nicht ohne Erlaubnis reinkommen dürfen.“
…
„Ernsthaft??? Weißt du was, Slater?! Geh‘ einfach, ok?!“
Moment, da war was gründlich schiefgelaufen. „Aber ich,…“ Am Schlitz zwischen Tür und Boden konnte er erkennen, wie sie sich entfernte. „Warte…!“
Blaise blieb stehen.
„Das war… Schei…, äh, Mist, was da heute… passiert ist“, stammelte er ohne Peilung, was er eigentlich von sich gab.
„Ist das alles?“
Gab es etwa noch mehr zu dem Thema zu sagen? Er kannte sich mit Frauen wirklich nicht aus.
„Und… ich habe mich gefragt, ob du… klar kommst und so…“
Die neuerliche Pause schien ihm voller Erstaunen.
„Wieso interessiert dich das plötzlich?“
„Du hast gesehen wie ich den Gefangenen… und da dachte ich…. Und Xandra hat gesagt, dass du…“
„Du bist hier, weil Xandra dich dazu gebracht hat?“
„Ja…“, gestand er der immer noch verschlossenen Tür. „Aber…“
„Tu‘ mir einen Gefallen! Wenn sie dich das nächste Mal zu sowas anstiftet, ignoriere sie einfach. Gute Nacht, Slater!“
„Aber…“
„Geh‘ endlich weg, verdammt noch mal!“
Eine fluchende Blaise war ihm völlig neu und er starrte verdutzt blinzelnd auf die dunkel lackierte Holzmaserung vor seiner Nase. Hatte Xandra mit „zu Kreuze kriechen“ einen solchen Schlagabtausch gemeint?
Er hatte keine Vergleichsmöglichkeiten, aber irgendwie zweifelte er daran. Andernfalls wäre die „Herz in der Hose“-Geschichte doch mittlerweile behoben gewesen, oder?
Er war mit seinem Latein am Ende. Unschlüssig trödelte er noch ein wenig auf ihrer Willkommen-Matte herum, dann konnte er die inzwischen penetrante Übelkeit und das Gefühlschaos in und um ihn nicht mehr ertragen.
Er machte auf dem Absatz kehrt und erfüllte Blaises Wunsch.
Vermutlich zum ersten und letzten Mal.
Aurelia ließ sich auf die weiche Matratze fallen. Es gab kein Gestell, man hatte das schlichte aber bequeme Schaumstoffteil einfach direkt auf dem Boden abgelegt, damit sie mit dem Gestänge nichts Gefährliches anstellen konnte. Demselben Motto getreu, waren die Wände ihrer Zelle mit weißen Polstern versehen, sodass sie sich wie in einer Irrenanstalt vorkam. Sehr passend, musste sie zugeben.
Wenigstens war der Raum groß und besaß ein Fenster zum Flur. Panzerglas, hatte Christian ihr erklärt. Neben dem weichen Kunststoffrahmen gab es einen Rufknopf, mit dem sie jemanden holen konnte, falls sie etwas brauchte. Auch das Licht konnte sie selbst an einem Schalter regeln. Alles in allem ein einsamer Ort, aber wenigstens durfte sie noch ein paar Entscheidungen selbst treffen. Wie zum Beispiel, ob sie es dunkel haben wollte oder nicht. Manchmal musste man sich über die kleinen Dinge freuen und sich an ihnen festhalten.
Nach dem Gespräch mit Pareios war sie wieder positiver gestimmt, obwohl es sich wie der sprichwörtliche Gang nach Canossa angefühlt hatte. Keineswegs angenehm. Von seinen Gefühlen zu erfahren und auch ihre preiszugeben, das musste sie erst noch verdauen. Dennoch hatte sie wieder Rückhalt und das gab ihr die Kraft, sich dem Monster in ihrem Kopf zu stellen.
Die ganze Rückfahrt über hatte sie in sich hinein gelauscht und es hatte den Anschein, als wäre das Ungetüm erneut schlafen gegangen. Jedenfalls rührte es sich nicht, soweit sie sagen konnte. Sollte Orcus zugehört haben, war er offenbar gerade mit Wichtigerem beschäftigt.
Der Zeitpunkt schien günstig.
Aurelia stand auf, drehte das Licht ganz hell und legte sich dann wieder hin. Neugierig schloss sie die Augen, erstaunlicher Weise war sie nur ein kleines bisschen ängstlich.
Also Orcus, dann wollen wir mal.
Sie holte tief Luft und tauchte in die Tiefen ihres Verstandes ab. Zu diesem Zweck stellte sie sich bildhaft vor, wie sie immer weiter vordrang, die oberflächlicheren Schichten ihres Bewusstseins hinter sich ließ. Sie begab sich auf die Reise zu einem Ort, den sie noch nie zuvor bewusst hatte erkunden wollen. Aber vielleicht hatte da ihr Fehler gelegen. Sie durfte sich nicht mehr vor der bitteren Realität verschließen. Sie musste es sehen, ob sie nun wollte oder nicht.
Als sie dem dunklen Kern ihres Wesens immer näher kam, spürte sie, wie sich die Gabe ganz leicht regte und mit ihr das Monster. Offenbar war es nicht mehr weit. Vorsichtshalber bewegte sie sich langsamer, schlich sich heran, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Und da entdeckte sie es. Der dunkle Ball aus Energie, ihr Kern, war mit etwas sehr kleinem, hell strahlendem verbunden, das wohl ihre Intuition repräsentieren sollte. Selbst wenn sie sich das hier gerade nur einbildete, wusste sie nicht woher sie die Idee gehabt haben sollte, ihrer Seele und der Gabe eine solche Gestalt zu verleihen. Der Anblick schien ihr durchaus realistisch und bei genauerem Hinsehen erkannte sie, dass die kleine Lichtkugel von dunklen Fäden überzogen wurde, die ihren Ursprung in einem flachen, schleimigen Etwas hatten, das am angrenzen Pol des schwarzen Balles klebte und auch diesen mit Tentakeln infiltrierte.
Orcus. Die dunkle Seuche, die sie von innen heraus vergiftete. Die ihre Seele, den Ursprung all ihrer Gefühle und auch ihre Elevenderkraft in Besitz nahm.
Der Feind hatte sich tief eingenistet, musste sie feststellen, als sie noch näher heran ging.
Die spinnenfeinen Fäden bildeten ein schon fast lückenloses Netz um ihren Kern, nur durch sie wirkte er so schwarz. Dagegen schien ihre Gabe im Vergleich weniger geknebelt. Aurelia wusste jedoch, dass das täuschen musste, immerhin hatte Orcus sie mit Hilfe dieser Fähigkeit gesteuert.
Sie bewegte sich einmal rundherum, um die Lage einschätzen zu können. Doch es gab wirklich nicht mehr ein einziges Schlupfloch zwischen Orcus Armen, durch das sie ihre wahre Seele erkennen konnte. Ihr wurde angst und bange, das Bild geriet ins Wanken und je panischer sie nach einem Weg zu sich selbst suchte, desto stärker wurde das Beben.
„Unsere Zeit wird kommen. Du wirst schon sehen“, hallte Pareios Stimme durch ihre endlose Traumwelt, in der es nur Orcus‘ Dunkelheit zu geben schien.
Die Worte riefen ihr ins Gedächtnis, dass jemand auf sie wartete, wenn das alles hier vorbei war. Der Gedanke half ihr, sich zu beruhigen und so brachte sie sich zur Raison, bevor sie den Kontakt verlor.
Wenn Pareios für sie stark war, für sie kämpfte, dann war sie ihm schuldig, das Selbe zu tun.
Aurelia kratzte all ihren Mut zusammen. Dann streckte sie die Hand nach dem dunklen, klebrigen Zeug aus, das sie für Orcus‘ finstere Brut hielt.
In dem Moment, als ihre Finger den zähen, widerwärtigen Glibber berührten, breitete er sich auf ihre Hand aus, von da aus auf den Arm, immer weiter und weiter erklommen neue Tentakel ihre Haut.
Aurelia spürte wieder die aufsteigende Furcht, aber sie zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Ruhig dabei zuzuschauen, wie die böse Macht Wurzel um Wurzel um sie schlang. Die Extremitäten waren schon völlig bedeckt, sodass sie sich nicht mehr rühren konnte, aber es hörte nicht auf. Die Enden der gierigen Fäden wanderten ihren Bauch hinauf, wanden sich um ihren Torso und den Hals, bis beide fast nicht mehr zum Atemholen zu gebrauchen waren. Schließlich hatte die Ausgeburt der bösen Saat ihr Gesicht erreicht. Sie konnte fühlen, wie sich der zähe Schleim über ihren Mund legte und dann mühelos eindrang. Als sie unwillkürlich nach Luft schnappen wollte, atmete sie ihn tief ein. Dann schlängelte sich ein weiterer Tentakel über ihre Lider und alles wurde dunkel.
Nun war Orcus überall um sie herum, überall in ihr drin, in jeder Pore, jedem Molekül, jedem Atom. Beinahe fühlte es sich an, als wäre sie… Orcus.
Plötzlich war der Druck um Geist und Leib und auch der von innen verschwunden.
Zunächst schien es, als ob sie sich auflöste und vom Wind davon getragen würde, doch dann spürte sie wieder die Grenzen eines Körpers. Eines viel zu großen Körpers.
Erstaunt blinzelte sie und schlug die Augen auf.
Sie befand sich in einem Aufzug. Spiegel an den Wänden, eine edle Mahagonivertäfelung und ein silbernes Schaltbrett mit vielen Knöpfen gestalteten die Identifikation ihres Aufenthaltsortes nicht schwer. Nachdem sie die pompöse Umgebung inspiziert hatte und sich fragte, wie zum Teufel sie wohl hier herkommen war und was hier eigentlich lief, fiel ihr Blick auf eine der verspiegelten Flächen gegenüber.
Und was sie da entdeckte, schien das Blut in ihren Adern stocken zu lassen.
Lapislazuliblaue Augen schauten ihr entgegen. Blondes, kurzes Haar wurde von der gedämpften Deckenbeleuchtung prägnant in Szene gesetzt. Ein hübscher Mund war zu einem grausigen Lächeln verzogen.
Aurelia erschreckte sich zu Tode und sah panisch an sich hinab. Natürlich nicht wirklich. Orcus betrachtete weiterhin sein Spiegelbild, während sie seine muskulösen Arme und Beine sowie die breite Brust begutachtete. Alles steckte in einem schneidigen Anzug, die Kombi hätte sie einst sehr attraktiv gefunden.
Wow! War sie etwa…?
Sie konnte nicht wirklich… in ihm drin sein… Oder doch?
War ihr tatsächlich gelungen, den Spieß umzudrehen oder befand sie sich in einer seiner perfiden Illusionen?
Um eine Antwort auf die Frage zu finden, ließ sie von der Inspektion ihres neuen Körpers ab und horchte in sich hinein. Horchte in Orcus hinein.
Er… anscheinend freute er sich…. Ja, ganz sicher. Er empfand unbändige Vorfreude, fast wie ein Kind an Heiligabend.
Das Ping einer edlen Glocke kündigte die Ankunft der Kabine an und Orcus rückte sein Revers zurecht. Er fand sich gut aussehend, war zufrieden mit seiner Erscheinung. Er dachte, dass sie zum Anlass passte.
Aurelia lauschte den vielfältigen Signalen, die sie von ihm auffing. Auch wenn sie nicht genau betiteln konnte, ob es nun Gedanken oder Gefühle waren, sie wusste sie instinktiv zu deuten, als wäre sie eben in seinem Kopf.
Die elektrischen Türen öffneten sich lautlos und gaben den Blick in einen ebenfalls sehr stilvoll eingerichteten Flur frei. Das Mobiliar war das Feinste vom Feinsten, die Crème de la Crème. Genauso wie Teppich und Vorhänge mussten die mondäne Sofalandschaft und die ausladenden Leuchter von irgendeinem dieser Nobel-Designer stammen. An den Wänden hingen Portraits. Die abgebildeten Gesichter riefen jedoch keine Assoziationen bei Aurelia wach. Große Fenster ließen eine Menge Tageslicht ein, aber auch die Landschaft, die sich dahinter erstreckte, war ihr nicht bekannt.
Am anderen Ende des langgezogenen Ganges befand sich ein schweres, doppelflügeliges Portal. Links und rechts davon warteten zwei Männer in dunkelblauen Uniformen.
Endlich erkannte Aurelia etwas wieder. Solche Kleidung trugen nur hochrangige Wächter der Hegedunen, auch Dante hatte so ein Stück angehabt, als er damals die Ratsmitglieder getötet hatte.
Ratlos fragte sie sich, warum Orcus ihr das hier zeigen wollte, sollte es seine Illusion sein. Doch die sich öffnenden Portalflügel unterbrachen ihre Gedankengänge.
Orcus passierte die Wachen gelassen, ohne sie eines Blickes zu würdigen, dann betrat er eine Art Thronsaal. Anders konnte man den Raum beim besten Willen nicht beschreiben. Ach was, Raum. Es war eine verdammte Halle, mit Wänden aus edelstem Marmor. Hier und dort hingen kunstvoll gewebte Teppiche, alle zeigten verschiedene große Schlachten. Griechische Säulen stützten die vier Meter hohe Decke, die mit einem prachtvollen Gemälde verziert war. Lange, schmale Buntglasfenster zu beiden Seiten schufen eine Atmosphäre wie in einer Kathedrale.
Orcus durchquerte die Halle und auch diesmal wurde er bereits am anderen Ende erwartet. Mit jedem Schritt wuchs seine diebische Freude. Er hielt sich für äußerst gerissen und beglückwünschte sich zu dem Geniestreich ein paar Ratsmitglieder auszuschalten. Vor allem der Tod eines bestimmten war ein beispielloser Triumph gewesen, der seines Gleichen suchte. Schließlich hatte dieser Mord zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen und ihn hier her gebracht. Dass sein Sohn dabei draufgegangen und dessen Gegenstück ihm vorerst durch die Finger geflutscht war, hielt er nur für Kollateralschäden. Schachfiguren, die für ein größeres Ziel fallen mussten.
Aurelia hörte im Hintergrund gespannt zu, versuchte den Gedanken an Dante zu ignorieren, damit sie nicht unaufmerksam wurde, und fragte sich, welches Ratsmitglied Orcus wohl meinte. Doch dann erreichte er ein Podest, blieb zu dessen Füßen stehen und sah zu den beiden Gestalten hinauf, die sich in Dunkelheit hüllten, sodass er ihre Gesichter nicht erkennen konnte. Trotz ihres Ranges waren sie nur Maden für ihn, potentielle Marionetten, die es zu benutzen galt. Er musste sich ein boshaftes Lächeln verkneifen.
„Da bist du also, Orcus aus dem Hause Warburg“, erschallte eine schnarrende, tiefe Stimme. „Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, riet ich deinem Vater, dich zu ertränken. Du warst ein schwächliches, fahles Würmlein, das kaum genug Kraft zum Atmen hatte. Er hätte es mit Sicherheit getan, wenn deine Mutter dich nicht so hübsch gefunden hätte. Hübsch wie ein Weibsbild. Und das bist du auch heute noch, wie ich sehe…“
Die Worte erzürnten Orcus. Brachiale, alles verzehrende Wut bemächtigte sich seiner… und auch Aurelias. Sie hasste die beiden Gestalten, die sogar zu feige waren, ihre verfluchten Visagen zu zeigen. Als sie erkannte, dass sie mit Orcus mitfühlte, schüttelte sie sich voller Entsetzen. Was für eine abgefahrene und abartige Grenzerfahrung.
Er biss die Zähne zusammen. Nur noch ein kleines bisschen Geduld, mahnte er sich. Nur noch eine Winzigkeit mehr Demut, dann würde er den hochmütigen Redner schon das Fürchten lehren.
„Aber schwächlich siehst du nicht mehr aus, mein Junge. Und du hast dir diese Audienz wahrhaftig verdient. Chronos‘ Tod war seit langem fällig. Er wäre der Einzige gewesen, der uns alle mit einem Wimpernschlag auslöschen hätte können. Ganz ehrlich? Ich habe nicht daran geglaubt, dass du das schaffen würdest.“
Der Mann, dem die unsympathische Stimme gehörte, machte einen Schritt nach vorn und trat aus den Schatten im hinteren Bereich des Podests. Obwohl er nicht gerade klein war, ließen ihn der gedrungene Körperbau und der erhebliche Wanst feist wirken. Sein Gesicht war einen Tick zu rot und untersetzt, als dass man ihn für jung gehalten hätte, aber er war definitiv ein Elevender. Ihn umgab diese mystische Aura der Unantastbarkeit, die verriet, dass er stets annahm, Herr der Lage zu sein. Dass er eine Kraft besaß, die ihn überlegen machte.
Aurelia stutzte. Der Kerl trug über dies einen glitzernden Anzug aus Brokat, wie man ihn im 17. Jahrhundert verortet hätte, und die lächerlichste Ausgabe einer Baskenmütze, die sie je gesehen hatte. Wahrscheinlich hatte sie es mit einem sehr mächtigen, hochrangigen Hegedunen zu tun und Orcus hatte sich auf dieses Treffen, genaugenommen auf diese Gelegenheit, gefreut. Jetzt war er voller gespannter Erwartung.
Mittlerweile hatte Aurelia starke Zweifel daran, dass diese ganze Szene eine Illusion von ihm, geschweige denn ein Hirngespinst ihrer eigenen blühenden Fantasie war. So kreativ war sie nicht und ihr wollte auch kein Grund einfallen, warum Orcus ihr das hier freiwillig zeigen sollte. Diese Überlegungen brachten sie zu dem Schluss, dass sie sich durch eine verrückte Anomalie tatsächlich in den Kopf ihres Erzfeindes geschmuggelt hatte. Das bedeutete, alles was sie sah, passierte gerade irgendwo auf diesem Planeten. Das Ganze faszinierte Aurelia mehr und mehr.
Der Mann, in dessen Haut sie steckte, hatte inzwischen das Haupt geneigt. Trotz der ehrerbietenden Geste dachte er dabei nur, dass der andere sich bald vor ihm verbeugen würde. Er konnte kaum mehr an sich halten.
Mit einiger Erleichterung registrierte er, wie der feiste Hegedune auf ihn zukam. Erst als er dazu aufgefordert wurde, schaute er hinauf zu dem im Moment noch mächtigeren Elevender.
Der hatte eine gönnerhafte Miene aufgesetzt und strich sich selbstvergessen über die glatt rasierten Wangen. „Wenn du dich weiter so gut machst, wirst du bald in unsere Reihen aufgenommen. Das ist es doch, was du wolltest?“
Orcus nickte und hielt den fiesen Blick aus den Schweinsaugen, wobei er sich über die Wortwahl des anderen ärgerte. Man hatte ihm versprochen, dass er sich mit dem Coup im Bunker der Legion den Zutritt erkaufen konnte. Jetzt hieß es plötzlich, er hätte nur einen Grundstein für dieses Vorhaben gelegt. Doch das Manöver überraschte ihn nicht wirklich. Er wusste ganz genau, dass er sich in einem Haifischbecken befand… und dass er der gefährlichere Hai von ihnen beiden war.
Wieder redete er sich Geduld ein, während der Zorn in ihm tobte, wartete auf seine Gelegenheit.
„Ich danke dir für diese Chance, Onkel.“ Er hasste schleimen, hasste es, sich zu unterwerfen, aber in diesem Fall war es ein notwendiges Übel. Er würde es sich ohnehin vergelten lassen. Vielleicht mit einem kleinen Finger, oder einem Ohr. Oder dieser fetten, hässlichen Nase. Er ergötzte sich an der Vorstellung, wie er das glänzende rote Ding einfach abschnitt und den Hegedunen danach dazu brachte, sie zu verspeisen.
Aurelia erschauerte hinter seinen Augen und bemerkte mit aufkeimender Sorge, dass sie trotz ihres Ekels von einem merkwürdigen Interesse gefesselt wurde und dass ein Teil von ihr das Selbe empfand wie Orcus. Naja, im Augenblick steckte sie ja auch in seinem Kopf, redete sie sich gut zu, aber das beunruhigende Gefühl wollte nicht vergehen.
Der Hegedune lachte selbstgefällig. „Ich bin sicher, du wirst dich angemessen bedanken. Was sehen deine Pläne als nächstes vor?“
„Wenn ich das verraten würde, was hätte ich dann noch für einen Nutzen für dich?“, wollte Orcus im Gegenzug wissen.
„Weise Worte!“ Sein Onkel nickte erfreut, als wäre dieses Spielchen äußerst amüsant. Daraufhin stolzierte er zu einem Stuhl hinüber, der Aurelias Vorstellung von einem Thron in nichts nachstand, und ließ sich dort nieder. „Warum hast du dann um dieses Treffen ersucht?“
Orcus missfiel die zunehmende Distanz außerordentlich. Angesichts der Reserviertheit des Anderen schwenkte er um. „Hat dir mein Geschenk gefallen?“
„Aber ja! Welch durchdachtes Präsent. Ich muss zugeben, deine Fertigkeiten sind überaus vielversprechend.“ Mit diesen Worten pfiff er durch die weiß blitzenden Zähne.
Die zweite Person im unbeleuchteten Bereich des Podestes rührte sich. Bisher hatte Aurelia sie ebenfalls für einen Hegedunen gehalten, vielleicht einer von niedrigerem Rang, doch der Umgangston passte nicht so richtig.
Die Gestalt trat jetzt ebenso ins Licht und…
Sie erblickte schwarzes kurzes Haar und ein Paar dumpf dreinschauende, graue Augen.
Aurelias Herz blieb stehen.
Himmel hilf! Es war Viktor!
Das Entsetzen war so überwältigend, dass ihr zweiter Gedanke sogleich der Sorge galt, ob Orcus ihren Gefühlsausbruch bemerkte. Doch er zeigte keine Anzeichen dafür und so hatte der Schock sie wieder.
Pareios‘ Bruder war kaum mehr wiederzuerkennen, sein Anblick versetzte Aurelia einen scharfen Stich. Er trug ein Pagenkostüm, das an seinem kräftigen Körper wie eine Verkleidung wirkte. Ein kleiner Hut mit Gummizug unterm Kinn komplettierte die erniedrigende Aufmachung. Aber das Schlimmste war die Kette.
Jemand hatte ihm einen massiven Stahlring durch die Nasenscheidewand getrieben, fast wie einem wilden Stier. Eine Kette mit dicken, schweren Gliedern war hindurchgezogen und an den breiten Metallreifen um Viktors Handgelenke befestigt worden. Dabei war deren Länge so bemessen, dass er die Arme nicht herunterhängen lassen konnte, sondern sie ständig vor seine Brust halten musste… Ähnlich einem Hund, der Männchen machte.
Das fürchterliche Konstrukt verursachte mit Sicherheit Schmerzen, doch er verriet nichts in die Richtung und blickte nur stumpf ins Leere. Richtig zombiemäßig.
Das Blut wich aus Aurelias Gesicht, ihr wurde ganz kalt vor Bestürzung. Voller Grauen inspizierte sie ihren Freund, in der Hoffnung auf irgendeinen Hinweis, dass er noch nicht gänzlich verloren war.
Bevor sie etwas dergleichen entdecken konnte, unterbrach ein weiterer Pfiff ihre Schreckensvision.
„Los, Diener! Komm‘ her!“
Viktor gehorchte unverzüglich. Sein sonst so unerschütterliches und selbstsicheres Auftreten war verschwunden und an dessen Stelle waren die trägen Bewegungen einer Marionette ohne eigenen Verstand oder gar Willen getreten. Er schlurfte fügsam zum Thron hinüber und wartete scheinbar auf weitere Befehle.
„Auf die Knie!“, forderte der grässliche Hegedune mit widerlicher Genugtuung in der Stimme. Orcus betrachtete die Szenerie vollkommen ungerührt.
Aurelias Kollege sank zu Boden und sie hätte beinahe aufgeschluchzt. Diesen stolzen Krieger so zu sehen, brach ihr das wunde Herz.
„Und jetzt…“ Ein Funken Boshaftigkeit glitzerte in den kleinen Schweinsäuglein. „Putz meine Schuhe… mit der Zunge!“
Als Viktor abermals ohne Zaudern tat wie befohlen, sich vorbeugte und begann, an den schwarzen Stiefeln zu lecken, wollte Aurelia nur noch schreien. Sie wollte toben und Orcus dafür zerfleischen, dass er auch noch einen ihrer besten Freunde mit seiner schwarzen Seuche infiziert und vielleicht sogar besiegt hatte. Nichts ließ darauf schließen, dass der Viktor von früher noch irgendwo in dieser geistlosen Hülle steckte.
Der fremde Elevender kicherte hocherfreut und sah seinem Diener versonnen zu. Der Genuss stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Bemerkenswert, Orcus!“, rief er fröhlich aus. „Wie hast du das bloß hingekriegt?“
„Betriebsgeheimnis“, erwiderte der kühl und Aurelia konnte spüren, wie seine Vorfreude noch stieg, während er sich bereit machte. Aber bereit wofür?
Es fühlte sich an, als sammelte er Teile von sich ein. Stück für Stück, Bild für Bild wanderte an Aurelia vorbei und alle Facetten von Orcus‘ Sein zentrierten sich an einer bestimmten Stelle in seinem Kopf, und somit in ihrem. Er lauerte voller Spannung und kanalisierte diesen seltsamen Wirbelsturm unterdessen immer mehr.
„Wenn du meinen Aufstieg in den Klerus förderst, werde ich dir eine ganze Armee davon liefern.“ Mit diesem Angebot streckte er dem Hegedunen die Hand hin, scheinbar um den Handel auf die Weise zu besiegeln. Doch er tat es aus einem anderen Grund.
Der ging Aurelia nur eine Sekunde später auf, als der Hegedune aufsprang und mit gieriger Miene einschlug.
Auf diesen Moment hatte Orcus gewartet.
Sie spürte noch, wie er das Kinn senkte und sich ein bösartiges Lächeln auf seine Lippen stahl. Dann war es, als befände sie sich in einem Whirlpool, bei dem jemand den Stöpsel aus einem gigantischen Abfluss gezogen hatte. Sie versuchte irgendwo Halt zu finden, doch bald trudelte sie orientierungslos in den tosenden Fluten. Wurde mit brachialer Gewalt in einen unbarmherzigen Strudel gerissen, der offensichtlich alles um sie herum verschlingen wollte.
Die Wassermassen, oder was es auch war, zermalmten Aurelia beinahe bei dem Versuch, sie durch irgendein Nadelöhr zu pressen. Der Druck wurde größer und größer, sie fürchtete, gleich entzwei zu brechen wie ein dürrer Zweig.
Aber plötzlich glitt sie hindurch und… befand sich im freien Fall.
Schock und Panik stiegen im Bruchteil eines Wimpernschlages auf. Das Gefühl der Bodenlosigkeit glich blankem Horror. Sie fiel immer weiter. Sekunden, Minuten, Tage, ja, sogar Jahre schienen zu verstreichen, die Zeit verlor jegliche Bedeutung.
Mit einem mächtigen Rums schlug Aurelia irgendwo auf. Die Wucht des Aufpralls trieb die Luft aus ihren Lungen und irgendetwas knackte. Es hätte sie nicht gewundert, wenn es ein paar ihrer Rippen gewesen wären. Jeder Millimeter ihres Körpers tat weh, doch der Schädel vermeldete den schlimmsten Schmerz. Sie musste damit unter einen Achttonner geraten sein, so wie das Ding pochte.
Mühsam blinzelte sie gegen die Qualen an. Tränen liefen aus ihren Augenwinkeln und rollten über die empfindlichen Schläfen. Endlich gelang es ihr, die Lider zu öffnen. Grelles Licht blendete sie und sie musste sie gleich wieder zu kneifen. Erst nach einigen weiteren Versuchen hatte sie sich fast an die Helligkeit gewöhnt.
Verschwommen nahm sie weißgepolsterte Wände und eine Tür mit Glasfenster wahr. Etwas Weiches an ihrem Rücken und der Winkel, in dem sie auf den Raum blickte, legten nahe, dass sie auf einer Matratze am Boden ruhte.
Es dauerte noch ein paar Herzschläge, bis Aurelia begriff, dass sie sich wieder in ihrer Zelle befand. Grenzenlose Erleichterung durchflutete sie und sie hätte gleich noch mehr heulen können. Das tat sie dann auch, weil ihr Viktor siedend heiß einfiel.
Eine weitere Erkenntnis ließ sie am ganzen Körper erzittern.
Jenes entsetzliche Schicksal konnte möglicherweise auch ihres sein. Vielleicht sogar das eines jeden denkenden und fühlenden Wesens auf der Welt.
Erschöpft trat Xandra aus dem Verhörraum. Ihre Hände und Füße fühlten sich taub an und sie musste hinuntersehen, um sich zu vergewissern, dass alle vier Gliedmaßen noch da waren. Vielleicht war sie unterzuckert. Die letzte Mahlzeit war… mal überlegen…., na jedenfalls viel zu lange her. Da bekam man schon mal Parästhesien, redete sie sich ein.
Wie auf Eiern ging sie zum Beobachtungszimmer hinüber und drinnen angelangt fand sie sich in einer Sardinenbüchse wieder. Die Sardinen schnatterten auch noch aufgeregt durcheinander, bei der Geräuschkulisse meldete sich Xandras Migräne vernehmlich. Der Kopfschmerz hatte schon seit einer Weile unter der Oberfläche gebrodelt, jetzt kochte er hoch und es fühlte sich an, als bohrte sich ein heiß glühendes Schwert in ihre Schläfe.
Beinahe das gesamte Team war versammelt, mit Ausnahme von Slater und Aurelia, und alle diskutierten über die Ergebnisse des Verhörs. Der Barmann hatte sein Geständnis sehr überzeugend rübergebracht und nach den Schrecken zu urteilen, die ihm ins Gesicht geschrieben standen, entsprachen seine Worte der Wahrheit. Eine weitere Begegnung mit Slater wollte er gewiss nicht riskieren.
Der Kerl wusste nichts von Orcus oder dem Anschlag. Der Campbell-Angestellte, sein Name war Harvey Patell, war vor etwa einem Jahr im Obergeschoss seines Spielcasinos eingezogen und hatte ihn dafür bezahlt, ungebetenen Besuch im Auge zu behalten und gesetztenfalls abzuwehren. Nach einer Weile war ihm natürlich aufgefallen, dass so mancher von Patells Gästen nicht menschlich gewesen war, aber das hatte ihn eher fasziniert als abgeschreckt. Über den Deal selbst hatte er sich jedoch nie Gedanken gemacht. Da er aus dem Rotlichtmilieu stammte, wusste er, dass es von Zeit zu Zeit besser war, nicht genauer nachzufragen. Vor allem, weil sein Untermieter ihm regelmäßig Opfer für seine perfiden Bedürfnisse lieferte. Er hatte eine Vorliebe für kleine Jungs und hartes Spielzeug und Harvey das beste Angebot.
Von Slaters Gabe gebrochen, hatte der Widerling all seine Sünden gestanden. Xandra hatte ihn bremsen müssen, als klar war, dass es nicht mehr um Patell ging. Aber das, was sie bis dahin gehört hatte, ließ sie Gott danken, dass sie diesen Dreckhaufen heute Nacht durch Zufall aus dem Verkehr gezogen hatten.
Mit einem durchdringenden Pfiff verschaffte sie sich Gehör.
„Die Personenbeschreibungen des Nicht-menschlichen Besuches und auch die Bilder unserer Gefangenen gehen an Jordan, die wird sich um die Suche in den internationalen Datenbanken kümmern. Vielleicht bekommen wir so noch etwas über Patell heraus. Ich werde mir gleich seine Leiche ansehen, auch sie könnte uns noch ein paar Informationen verraten. Außerdem möchte ich, dass ein Team zurück zu seiner Wohnung fährt und sie im Auge behält. Wenn die Luft rein ist, seht euch drinnen um. Gibt es Freiwillige für den Job?“
Xandra schaute in die Runde und Roman hob sogleich die Hand, was sie nicht groß verwunderte. Sonst hätte sie den Kollegen mit ein paar gutgemeinten Rügen nach Hause zu Frau und Kindern geschickt, aber im Moment brauchten sie jeden Mann. Christian bemerkte ihre sorgenvolle Miene und wechselte einen fragenden Blick mit ihr. Dann nickte er und meldete sich ebenfalls für die Mission. Er würde den Südländer im Auge behalten und ihm auf den Zahn fühlen. Außerdem besaß er bereits Ortskenntnisse, die dem Team die Arbeit erleichtern würde.
Als letztes schloss sich Rowena an, die europäische Jägerin mit der grimmigen Ausstrahlung. Xandra wusste von der Elevenderin, dass sie erst Mitte 60 und somit außer Cat die jüngste im Raum war. Dass sie trotz ihrer Jugend in eine so brandgefährliche Truppe aufgenommen worden war, sprach für sich, was Xandra ziemlich Respekt einflößte. Obwohl sie auch ihre Freundin Cat respektierte, war deren Beteiligung mehr auf die Tatsache zurückzuführen, dass es sich um das Verschwinden ihrer Eltern drehte. Dareon hätte ihr sicher bei der Aussage zugestimmt, dass der kleine Elevender-Backfisch mit seinen 27 Jahren und kaum einer Woche Kampftraining besser zu Hause aufgehoben gewesen wäre.
Bevor die neugebildete Gruppe aufbrechen konnte, war jedoch noch mehr zu besprechen und dazu brauchte Xandra alle Anwesenden.
„Außerdem müssen die Videoaufnahmen der Verkehrskameras in der Umgebung von Cats Elternhaus rund um den Zeitpunkt des Anschlags überprüft werden. Wir sollten uns auch die Konten und Telefonaktivitäten von Patell und den Campbells ansehen. Wer will sich der Sache annehmen?“
Quentin, Cat selbst sowie ihr Gegenstück erklärten sich schließlich bereit, die Aufgabe zu erledigen und Xandra fiel ein, dass sie zusätzlich Ferroc drauf ansetzten konnte. Bei all den Leuten und der Planung meldete sich ihre Migräne nur noch lauter, die Kopfarbeit hatte den Schmerz verschlimmert, sodass sie mit aller Macht um Konzentration kämpfen musste.
„Hat jemand noch andere Vorschläge, wie wir weiter verfahren sollten?“, fragte sie in den Kreis der Versammelten und ignorierte das dröhnende Wummern zwischen ihren Schläfen.
„Ich glaube, wir müssen noch globaler Denken“, warf Evrill von der Seite ein. Er hatte die ganze Zeit über mit verschränkten Armen und verschlossenem Gesicht dagestanden. „Sicher, Cats Eltern zu finden, hat im Moment oberste Priorität, aber sie stehen mit Orcus in Verbindung. Finden wir sie, finden wir ihn. Was ist, wenn das auch umgekehrt der Fall ist? Ihr sagtet doch, dass hier in der Gegend schon häufiger Elevender verschwunden sind. Wenn wir alle Akten noch mal aufrollen, ergibt sich eventuell ein Muster oder neue Hinweise.“
„Gute Idee!“ Xandra nickte ihm zu. Sie wollte wirklich nicht so lange in die silbernen Augen sehen, doch der intensive Ausdruck darin hielt sie gefangen. Um den unangenehmen Moment mit dem Potential zum Desaster zu überbrücken, fragte sie hastig: „Kannst du das übernehmen? Ich werde Slater bitten, dir dabei unter die Arme zu greifen… Wenn du willst.“ Und Blaise könnte sie damit auch beauftragen. Ob der der Gedanke auch gefallen würde, konnte sie in Anbetracht des merkwürdigen Gesprächs im Foyer am frühen Abend nicht sagen, aber sie war imstande ihr eine Gelegenheit zu bieten. Die Entscheidung wollte sie ihrer Freundin überlassen.
Zum Glück hatte der Exkurs Xandra von dem betörenden Silber und den dichten, hellblonden Wimpern abgelenkt und die Migräne störte ebenfalls zusehendes ihre Fähigkeit sich zu fokussieren. Gerade so bekam sie noch mit, dass Evrill nickte und Pareios sich ebenfalls anschloss. Er wollte wahrscheinlich lieber auf dem Anwesen und somit in Aurelias Nähe bleiben.
Danach kehrte Xandra zum allgemeinen Thema zurück, bevor die Erschöpfung siegen und sie nur noch Müll brabbeln konnte.
„Sonst noch was?“
Auf ihre Erkundigung hin gab es einige Anregungen, deren Ausführung sie dann den jeweiligen Initiatoren übertrug. Cat wollte sich in ihrem Menschennetzwerk umhören, natürlich unter der gebotenen Verschwiegenheit bezüglich gewisser Details. Christian schlug vor, die Nachbarn von Patell und die der Campbells zu befragen und Evrill versprach, sich unauffällig bei der Handvoll Hegedunen zu erkundigen, die er durch seinen Job in der Finanzwelt kannte. Schließlich versiegten die Ideen und Xandra löste das Treffen auf, aber nicht ohne die Teammitglieder darauf hinzuweisen, dass jeder von ihnen auch Schlaf brauchte, egal wie dringlich die Sache war. Sie hatte so im Gefühl, dass sich wahrscheinlich sowieso keiner aufs Ohr hauen würde, trotz ihrer freundlichen Ermunterung.
Wie erwartet machten sich alle sofort an die Arbeit. Die Menge strömte geschäftig murmelnd aus dem kleinen Raum, Chris drückte ihr im Vorbeigehen eine Kuss auf den Mund und hastete dann seiner Gruppe hinterher. Als alle draußen waren, zückte Xandra ihr Handy und informierte Ferroc, Slater und Blaise. Letztere meldete sich bereits nach dem ersten Klingeln in wütendem Tonfall.
„Wie kommst du dazu, Slater zu bequatschen?“
Ach, verdammt! „Was hat der Idiot jetzt wieder angestellt?“ Langsam aber sicher begann Xandras Kopf von dem vielen Input zu rauchen. Es waren einfach zu viele Baustellen, die sie überblicken musste.
Blaise schnaubte unweiblich in die Leitung und berichtete dann mit zittriger Stimme zunächst vom Besuch des verschlossenen Elevenders an ihrer Tür und dann auch von den Geschehnissen in seiner Hütte.
„Es ist alles so furchtbar. Ich konnte ihn nicht ansehen“, beendete sie unglücklich ihre Erzählung.
„Ach, Süße. Ich hatte ja keine Ahnung… Das tut mir ehrlich Leid. Ich hab’s nur gut gemeint…“
Ein Seufzer drang aus dem Hörer. „Ich weiß. Aber halte dich einfach raus, ok?! Ich muss das selbst regeln.“
„Dir traue ich das auch zu. Aber ihm nicht. Er brauchte einen Tritt in den Arsch.“ Oder vielleicht auch zwei. Möglicherweise musste Xandra noch einen nachlegen. Slater hatte definitiv nicht begriffen, was sie von ihm erwartete.
„Das nützt sowieso nichts, das hast du doch gesehen. Und im Augenblick bin ich so neben der Spur, dass ich erst mal herausfinden muss, wo ich jetzt stehe.“
Diese Aussage klang schon beinahe vernünftig, war aber in Bezug auf den Gegenstand der Diskussion völlig unglaubwürdig. „Ganz ehrlich, Blaise… Wer soll dir das abkaufen?“
Auf die Stille am anderen Ende hin fuhr sie fort. „Seit Monaten liegst du mir mit dem Thema in den Ohren. Sowas hört nicht einfach auf, bloß weil er sich wie üblich wie ein gefühlloser Trampel aufführt. Du wusstest, was er für einen Ruf hat und jeder Kerl hat gute und schlechte Seiten. Entweder du hörst mit dieser albernen Schwärmerei auf oder du reißt dich zusammen und dann ran an den Speck!“
„Das ausgerechnet von dir zu hören ist total verrückt!“, kam es überrascht von Blaise.
Gut, vielleicht war das Statement auch etwas von Xandras persönlicher Christian-Evrill-Problematik gefärbt. Das konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, denn ihre Hirnwindungen ächzten und sie verlor zusehends die Kontrolle über das, was aus ihrem Mund sprudelte. Doch eins wusste sie ganz genau. Nämlich, dass die Freundin trotz Xandras Haltung zu Slater und seinem heutigen Verhalten nicht aufhören würde, an ihn und zu denken…..und dass ihr selbst langsam die Geduld für solche Mätzchen ausging. Slater oder kein Slater, es gab zurzeit wesentlich Wichtigeres.
„Ich will nur, dass du glücklich bist. Aber du musst eine Entscheidung treffen. Nichts konnte dich von dem Typen abbringen, noch nicht mal meine Wenigkeit, und deine Begeisterung für ihn grenzt schon fast an Besessenheit. Jetzt steh‘ dazu und mach‘ das Beste draus. Wenn nicht, wirst du dir das dein Lebtag lang vorwerfen und dich fragen, ob er der Eine gewesen wäre und du dir nur nicht genügend Mühe gegeben hast.“
Verdammt. Die Worte stammten wirklich aus der Ecke ihres Verstandes, die sie unentwegt dazu zu überreden versuchte, sich in Chris zu verlieben und Evrill zu vergessen. Himmel, sie war einfach zu k.o. für diese Art der Konversation. Es pochte vernehmlich hinter ihrer Stirn.
„Ich habe mir aber schon sehr viel Mühe gegeben…“, hauchte ihre Freundin zweifelnd.
„Wirklich? Hast du alle Register gezogen?“
„Hm… Nein, ich glaube nicht…“
„Dann weißt du, was zu tun ist!“ Hauptsache, sie kam langsam mal zu Potte.
„Bist du sicher???“
„Ja! Besser, du hast versucht die Welle zureiten, als nie aufs Surfbrett gestiegen zu sein.“
„Ha ha“, machte Blaise trocken. „Und wie stellst du dir das vor?“
Wieso glaubten die Leute ständig, dass sie die Antwort auf alle Fragen wusste? Als ob ihre eigene momentane Situation nicht schon Hinweis genug auf ihre Fertigkeiten auf diesem Gebiet gewesen wären. Doch davon ahnte ihre Freundin ja nichts. „Das musst du schon selbst rausfinden. Sei‘ kreativ! Damit hast du doch Erfahrung… Und falls du interessiert bist, wüsste ich schon eine günstige Gelegenheit für deinen nächsten Schritt.“ Xandra beschrieb die Nachforschungen, zu denen sie Slater abberufen hatte und die auch Blaise bearbeiten könnte.
„Und wie soll ich deiner Meinung nach meinen Stolz behalten, wenn ich ihm weiter nachlaufe?“
„Schatz, ich weiß nicht, wie ich’s dir sagen soll,… aber dein Stolz hat sich schon vor längerem verabschiedet.“
„Hey!“
„Keine Sorge, das hat niemand außer mir mitgekriegt.“
„Das tröstet mich jetzt wirklich…“
Da sich das Gespräch zusehends in Geplänkel verlor, sah Xandra ihre Chance, es zu beenden. „Hör‘ zu, B. Ich muss jetzt weiter und du wirfst dich in Schale und gehst dann runter in den Computerraum.“
Sie verabschiedete sich und legte auf. Es tat ihr fast ein wenig Leid, dass ihr Blaises Gejammer auf die Nerven ging, immerhin heulte sie sich auch regelmäßig bei der anderen aus. Doch gerade jetzt war sie so beschäftigt, dass das hinten anstehen musste.
Inzwischen glich der Schmerz hinter ihrer Stirn einem Perpetuum-mobile-Presslufthammer, der ohne Unterlass versuchte die Schädeldecke aufzustemmen. Die Migräne war in vollem Gange, aber auch ihr konnte sie im Augenblick keine Beachtung schenken.
Xandra biss die Zähne zusammen und verließ den leeren Verhörraum. In Gedanken war sie schon bei Patell, dessen Körper sie gleich auf Spuren untersuchen und von dem sie DNA-Proben entnehmen würde. Und dann musste sie auch noch den Venus Orden informieren und dann…
„Siehst du dir jetzt die Leiche an?“, erschallte eine vertraute Stimme hinter ihr.
Xandra blieb stehen und ignorierte das plötzliche Herzklopfen. Sie waren allein im Flur. Ganz allein… Jetzt bloß nicht hinschauen.
„Ja. Solltest du nicht im Computerraum sein?“
Evrill kam näher. „Ich dachte, ich könnte dir vielleicht zuerst mit meiner Gabe behilflich sein. Ich hätte es auch allein erledigt, ist schließlich kein schöner Anblick, aber ich weiß nicht, wo ihr den Körper hingebracht habt.“
Trotz Xandras instinktiver Ablehnung, musste sie zugeben, dass seine Elevenderfähigkeit in diesem Fall wirklich praktisch wäre. Er konnte durch Berührung die letzten Gedanken der Toten sehen und war somit der einzige, der Patell noch in gewisser Weise befragen konnte.
Sie nickte schicksalsergeben und stapfte los. Immer noch hielt sie die Augen gesenkt und auf dem Weg hütete sie ihre Zunge.
Sie hätte auch nichts zu sagen gewusst. Bei ihrer letzten…, höflich ausgedrückt, Unterhaltung, hatte er klargestellt, dass sie keine Freunde mehr waren und bisher war ihr nicht richtig bewusst gewesen, was das eigentlich bedeutete. Doch jetzt, da ihr absolut kein Konversationsanstoß einfallen wollte und Ev sich genauso wortkarg zeigte, wurde es umso deutlicher. Bei ihm hatten ihr bis heute noch nie die Themen gefehlt und die betretene Stille vermittelte ein neues Unbehagen zwischen ihnen beiden. Ein verwirrender Abstand, der mit jedem Schritt größer zu werden schien und der sich so merkwürdig deplatziert anfühlte, weil sie ihn doch kannte seit er ein kleines Baby gewesen war. Schon damals hatte er dieses weißlich schimmernde Haar und die kluge, überlegte Ausstrahlung an sich gehabt. Später, in seiner Jugend, waren dann Wissensdurst, eine freche Eloquenz und eine gewisse Dreistigkeit hinzugekommen, die sie zu jener Zeit nicht ganz so charmant gefunden hatte. Erst als Evrill dann erwachsen geworden war, hatten sie sich allmählich angefreundet und sich über Jahrhunderte hinweg recht nahe gestanden, vielleicht vergleichbar mit Cousin und Cousine. Man war sich ein paar Mal im Jahr bei Verwandtschaftstreffen begegnet und wenn die Eltern sich trafen, man wusste über die gegenseitigen Familientrasch und die Jugendsünden des anderen Bescheid, wenngleich man auch nicht der erste oder zweite war, der alles erfuhr. Bis vor zwei Jahren, als sie in einer alkoholumwölkten Nacht nicht die Finger von einander hatten lassen können und eine Urlaubsaffäre begannen. Danach hatte totale Funkstille geherrscht. Schweigen, Geheimnisse und Lügen hatten sich zwischen sie gedrängt und jetzt war von der engen Beziehung nichts mehr übrig geblieben.
Bei diesen Erinnerungen wurde ihr plötzlich klar, welchen Platz Evrill vor der Bettgeschichte in ihrem Leben gehabt und wie sehr der Sex alles verändert hatte.
Unsicher linste sie zu ihrem Begleiter hinüber und stellte fest, dass er sie ebenso beobachtete.
„Was ist?“
„Du hast Kopfschmerzen“, erwiderte er ruhig. „Du reibst dir ständig über die Nasenwurzel.“
„Tatsächlich?“ Das war ihr gar nicht aufgefallen…
Ehe sie sich versah, trat Evrill vor sie und drehte sie an den Schultern leicht zur Seite.
„Was…?“ Doch bevor sie die Frage beenden konnte, spürte sie schon warme Finger im Nacken, die genau die Punkte fanden, die Xandra selbst mittels Akupressur nutzte, um die Migräne einzudämmen. Ev hatte sie oft dabei gesehen und es fiel ihm anscheinend leicht, die Bewegungen perfekt nachzuahmen.
Kurz erstarrte Xandra völlig überrumpelt von der Berührung, aber als er auch noch genau den richtigen Druck ausübte, entfuhr ihr ein wohliger Seufzer und sie konnte sich der angenehmen, wunderbaren Empfindung nicht mehr entziehen. Die alte Vertrautheit erwachte mit einem Schlag, gab ihr das Gefühl von Sicherheit und sogar der Gedanke, dass sie sich gerade auf gefährliches Terrain begab, konnte ihre Abwehr nicht wiederbeleben.
Oooh Gooott, es fühlte sich so gut an.
Sie wusste gar nicht, wie ihr geschah…
Muskel für Muskel entspannte sich unter seinen Händen, überall entstand Gänsehaut. Jedes sanfte Drücken und Massieren befreite sie ein weiteres Stück aus ihrer Verkrampfung. Sie sackte gegen Evs breite Brust, wo er ihren schlaffen Körper festhielt, damit sie noch mehr loslassen konnte. Nach ein paar Minuten wurden auch die Kopfschmerzen stetig weniger und Xandra hätte vor Erleichterung beinahe ein paar Tränchen verdrückt.
Unterdessen war sie in Evrills Händen zu Wachs mutiert. Ihr Kopf ruhte matt an seiner Schulter, während er die Verspannungen in ihrem Nacken bearbeitete und entfernt erkannte sie, dass so etwas wie Schnurren aus ihrer Kehle kam. Mit der zunehmenden Entspannung machte sich dann auch die Erschöpfung mehr und mehr bemerkbar und ihr drohten die Augen zu zufallen. Mühsam kämpfte sie gegen den Schlaf. Es schien beinahe, als hätte sie seit der Sache mit ihrem Vater nicht mehr richtig geschlafen, geschweige denn sich erholt. Und je lockerer sie wurde, desto mehr spürte sie, wie ausgebrannt sie tatsächlich war. Ja, die dauerhafte Anspannung hatte sie aufrechtgehalten, nicht wahr?
„Das is fies…“, nuschelte sie nach einer Weile, aber die Tatsache, dass sie weiterhin zufriedene Katzenlaute produzierte, zog die Aussage ins Lächerliche. „Sowas machen Nicht-Freunde aber nich…“
Evrill schmunzelte an ihrem Ohr. „Verklag‘ mich doch.“
„Würde ich, wenn…“ Ein nicht unterdrückbares Gähnen unterbrach ihr Gemurmel. „…Wenn‘s diese Straftat gäbe.“
„Widerrechtliches Massieren von Privateigentum.“
Xandra lächelte schläfrig in sein weiches Hemd. „Vertragsbruch in Sachen Körperschaftsrecht.“
„Verstoß gegen die Verkehrsordnung“, flüsterte er heiter, wobei er sie fester hielt, aber das war ihr nur recht. Ihre Beine waren einfach so unendlich müde und sein warmer, männlicher Geruch stieg ihr in die Nase, vernebelte die Sinne. Der lapidare Wortwechsel und die zwanglosen Berührungen schufen eine intime Atmosphäre, als hätten sie sich in die Zeit vor zwei Jahren zurück versetzt. Als sie sich so nahe gewesen waren…
Das schwere Pochen ihres Herzens und Evrills heilende Hände wiegten sie schließlich in einen wohligen Zustand zwischen Wachen und Schlafen. Sie bekam zwar mit, was um sie herum geschah, aber es war ihr herzlich egal und wenn sie angesprochen wurde murrte sie die Antwort auf Autopilot.
Evrill hob sie hoch, ließ sich den Weg erklären und brachte sie dann in ihr Labor. Dort legte er sie auf der weißen Untersuchungsliege ab und deckte sie mit irgendetwas zu, aber sie konnte nicht mehr bestimmen, was es war.
Bevor sie ganz ins Reich der Träume sank, war ihr noch so, als ob er sein Hemd auszöge, aber sie sagte sich, dass der Anblick sicher nur eine Einbildung ihres erschöpften Geistes sein musste... Oder vielleicht ein tief vergrabener Wunsch, der diesen merkwürdig losgelösten Zustand nutzte, um aus ihrem Unterbewusstsein aufzusteigen.
Dann driftete sie weg.
Wahnsinn! Wie hatte er das vermisst!
Wie sehr, war ihm gar nicht bewusst gewesen…
Das Gefühl ihres starken, weiblichen Körpers an seinem. Ihr warmer Atem, der über die Haut in seinem Nacken strich. Die vollen Wellen ihres blonden Haares, die zart über seine Hand streiften, während er massierte. Allein das Privileg, sie wieder berühren zu dürfen…
Und dann diese kehligen Laute… Ein helles Vibrieren, das sich auf seine Knochen übertrug und ihm direkt zwischen die Beine fuhr. Nach einer Weile musste er von Xandra abrücken, damit sie nichts von den Vorgängen südlich seines Äquators mitbekam. Doch da war sie sowieso schon halb weggetreten und er hob sie hoch.
Trotz ihrer beachtlichen Größe passte sie gut in seine Arme, er war ja auch nicht gerade zu kurz geraten, und so merkte er ihr Gewicht kaum. Sie schaffte es noch, ihm den Weg zum Labor zu erklären, aber der Transport blieb dann ihm überlassen. Eine Aufgabe, der er sehr gerne nachkam.
Während er mit ihr durch die Flure ging, drückte er sie fest an seine Brust, erstaunt darüber, wie gut es sich anfühlte sie zu halten. Es wäre ihm völlig gleichgültig gewesen, wenn er das Labor nicht auf Anhieb gefunden hätte, er hätte sie auch für den Rest der Nacht getragen. Oder des Tages. Oder der Woche.
Dementsprechend war er fast enttäuscht, als er den sterilen Raum mit dem medizinischen Inventar erreichte, wo man Patells Leichnam auf einem silbernen Tisch aufgebahrt hatte. In einiger Entfernung stand in der Mitte des Raumes eine Untersuchungsliege, die Evrill bequem genug erschien. Wehmütig legte er Xandra sachte dort ab und deckte sie mit seiner Jacke zu. Die würde er sowie so nicht brauchen und zudem befriedigte es ihn, dass sie unter seinen Klamotten schlief. Die Lichter ließ er vorerst noch aus, um sie nicht zu stören.
Obwohl er hier etwas zu erledigen hatte und ihm sicher nicht das Recht dazu zustand, konnte er sich nicht davon abhalten Xandra anzuschauen. Zu diesem Zweck bezog er neben der Liege Stellung und beugte sich vor. Vorsichtig schob er ein paar freche Strähnen aus dem wohlgeformten Gesicht und strich über die hübsche, zierliche Nase, die eleganten Wangen und das sogar im Schlaf starrsinnig nach vorn gereckte Kinn. Dabei musste er erneut schmunzeln.
Eigentlich passte es überhaupt nicht zu ihm, dass er sich ausgerechnet auf so eine eigenwillige, störrische Frau eingeschossen hatte. In seiner Familie gab es schon genug rechthaberische Sturköpfe, mit denen er sich herumschlagen musste, weshalb er stets angenommen hatte, dass sich eine weiche, anpassungsfähige Frau mit viel Feingefühl besser für ihn eignen würde. Eine, die leichter zu… handlen gewesen wäre.
Doch wenn er jetzt darüber nachdachte, und neuerdings dabei auch ehrlich zu sich selbst war, dann war ihm diese Entscheidung schon vor langer Zeit abgenommen worden, nicht erst seit der kurzen Affäre.
Von Anfang an hatte Xandra etwas an sich gehabt, das er bewunderte.
Bereits als Winzling von vier Jahren hatte er sie für einen Engel gehalten und seinem Vater kühn offenbart, dass er sie eines Tages heiraten würde. Die Geschichte war zur netten Anekdote auf Familienfeiern geworden, doch jetzt betrachte Evrill sie in einem anderen Licht. Später hatte er die ältere blonde Elevenderin unglaublich cool gefunden… und noch etwas später natürlich ihren superheißen Körper begeiert, als Teenager hatte ihn der beinahe in den Wahnsinn getrieben.
Mit dem erwachsen werden hatte er sich dann an die Anziehungskraft ihrer attraktiven Gestalt gewöhnt und versucht sie weitestgehend auszuklammern, schließlich gehörte Xandra quasi zur entfernteren Verwandtschaft. Dennoch war er vor jedem Treffen der Familie oder ihrer Eltern aufgeregt gewesen und hatte sich in seinen besten Zwirn geworfen, in der Hoffnung, dass sie auch kommen würde.
Lange Zeit hatte er überhaupt nicht in Erwägung gezogen, dass sie tatsächlich etwas mit ihm anfangen könnte. Sie befand sich so weit außerhalb seiner Liga, dass sie schon in einer anderen Dimension spielte. Allein die Fantasie war ihm undenkbar erschienen, weshalb er den Wunsch wohl gar nicht erst zugelassen hatte.
Rückblickend drängte sich ihm folglich die Erkenntnis auf, dass sie für ihn die Frau auf dem Podest gewesen war, mit der er alle anderen weiblichen Wesen insgeheim verglichen hatte. Keine noch so herzliche und nachgiebige Partnerin hatte mit seiner Vorstellung von Xandra konkurrieren können, weswegen er wahrscheinlich auch kaum nennenswerte andere Beziehungen gehabt hatte. Er hatte den Umstand immer darauf zurück geführt, dass er die Richtige eben noch nicht gefunden hatte, jetzt ging ihm jedoch so langsam auf, dass dieses Sehnen nach einer ganz bestimmten Frau wohl stets unter der Oberfläche geschlummert hatte.
Und als er dann auch noch einen Vorgeschmack auf das Zusammensein mit ihr bekommen und gespürt, geschmeckt, gerochen hatte, dass sie in der Realität noch viel toller war, war es um ihn endgültig geschehen gewesen. Von da an hatte für ihn festgestanden, dass sie irgendwann einmal zu ihm gehören würde. Und zwar nicht auf die Weise, wie das der Vierjährige gemeint hatte.
Doch da sie eben nicht leicht zu erobern war und er sich offenbar an das Warten und Hoffen aus der Ferne gewöhnt hatte, hatte er aus lauter Vorsicht, sie bloß nicht zu sehr zu bedrängen, einfach zwei Jahre verstreichen lassen. Zwei Jahre, in denen er sich eingebildet hatte Xandra durch Distanz und lässiges Geplänkel aus der Reserve locken zu können. Zwei Jahre, die er nicht wiederbringen konnte und die ihm jetzt womöglich alles vermasselten.
Und wo er schon dabei war ehrlich zu sich selbst zu sein: Waren das wirklich die einzigen Gründe gewesen, nicht offener um Xandra zu werben?
Etwas sagte ihm, dass er noch nicht bereit war, sich dieser verborgenen Wahrheit zu stellen. Also ließ er den Gedanken instinktiv fallen und ärgerte sich lieber wieder darüber, aufs falsche Pferd gesetzt zu haben.
Sicher steigerte Abstand die Leidenschaft, aber da existierte diese schmale Grenze und wenn man die überschritt, begann alles zu verpuffen, was bis dahin entstanden war. Diesen Punkt hatte er verpasst und den Absprung nicht rechtszeitig geschafft. Stattdessen hatte er sich mit seiner Abenteuerlust und seinem Wunsch nach Ruhm abgelenkt. Trotz seiner beinahe 400 Jahre war er diesbezüglich ein naiver Junge gewesen, der die einmalige Gelegenheit nicht erkannt hatte, die sich ihm bot.
Heute war er klüger und um einige Erfahrungen reicher. Und er war das Warten und Hoffen leid. Er wusste ganz sicher, was er wollte, wahrscheinlich schon immer gewollt hatte.
In dem Moment regte sich die großgewachsene Elevenderin auf der Liege. Sie hob einen Arm über der Kopf und drehte sich ein wenig zu ihm. Im fahlen Licht der Geräte des Labors bildete der schlanke Körper eine erotische Silhouette und ihr unschuldiger Gesichtsausdruck vervollständigte das verführerische Bild zu einer Szene für Legenden über mystische Wesen, die Männern mit ihrer Schönheit den Verstand raubten. Was Xandra in gewisser Weise ja auch tat.
Ihr Anblick stellte etwas mit seinem Magen an und ihm wurde ganz warm in der Brust. Seine Fingerspitzen schrien förmlich nach ihrer cremefarbenen, perfekten Haut und er musste schlucken weil ihm das Wasser im Munde zusammen lief.
Was hätte er darum gegeben, sie so berühren zu können, als wäre sie Sein…
Ev zwang sich, einen Schritt zurück zu treten, bevor sich seine Hände verselbstständigen konnten. Er hatte die besten Vorsätze, aber die Wirkung ihrer weiblichen Attribute hatte in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeit mit Dynamit und auch er war nur ein Mann.
Vorsichtshalber ging er auf Nummer sicher und verweigerte sich gleich ganz, seine Nemesis weiter anzustarren. Um sich abzulenken, machte er sich voller Tatendrang ans Werk und ging zu dem Leichnam hinüber. Selbstvergessen ließ er den Blick über das kalte, tote Fleisch und den zerstörten Schädel schweifen. Ein krasser Kontrast zu dem Bild, das sich ihm eben noch geboten hatte. Er schüttelte sich und versuchte zu erkennen, mit was für einem Typen er es hier zu tun hatte. Am Gesicht konnte man es jedenfalls nicht festmachen.
Der Kerl war schätzungsweise Anfang zwanzig und trug robuste Jeans, No Name Turnschuhe und einen Sweater. Allerweltskleidung, die nichts über den Träger aussagte, außer dass er es gerne bequem hatte oder nicht auffallen wollte. Oder beides.
Da ihm der erste Eindruck nicht mehr verriet, schnappte er sich schließlich die Kamera von einer der Ablagen und machte Fotos von jedem Quadratzentimeter. Dann entdeckte er auch die Utensilien für die Spurensicherung und rückte dem Toten mit Klebeband, Malachitgrün und Wattestäbchen zu Leibe. Die Proben beschriftete er sorgfältig und reihte sie auf einem Tisch an der Wand auf. Die ganze Zeit über bemühte er sich, die Angelegenheit sehr ernst zu nehmen, damit er nicht wieder zu anderen Themen abschweifen konnte. Zum Glück war ihm die Arbeit aufgrund seiner Elevenderfähigkeit vertraut, sodass er bald in geschäftiger Routine versank.
Nachdem er alles dokumentiert und geordnet hatte blieb nur noch eines zu tun. Ihm graute wie immer ein wenig, aber das hatte er im Griff.
Mit dem gebotenen Respekt entkleidete er Patells Oberkörper und zog dann auch sein eigenes Hemd aus. Beide Kleidungsstücke faltete er ordentlich zusammen und platzierte sie am Boden, bevor er auf den Tisch stieg. Den Ekel konsequent ignorierend, legte er sich flach auf den Toten, sodass sich möglichst viel Haut berührte, wobei er jedoch darauf achtete dem verunstalteten Kopf nicht zu nahe zu kommen. Als er davon überzeugt war, dass er nicht herunter fallen würde, schloss er die Augen und begann seinen Herzschlag zu verlangsamen.
Tief ein- und ausatmen.
Ein und wieder aus, ein und wieder aus.
Die Pausen zwischen seinen Atemzügen zogen sich in die Länge. Der Sauerstoff wurde weniger und der Muskel in seiner Brust folgte dem Muster brav. Alles kam zur Ruhe, näherte sich dem Stillstand.
Evrill rang mit seinem Überlebenswillen. Diesen Kampf musste er jedes Mal erneut ausfechten und er gewann ihn nur, weil er wusste, dass er wieder aufwachen würde. Er ließ zu, dass die Kälte von ihm Besitz ergriff, solange, bis er so starr und kühl war, wie der tote Körper unter ihm. Nur auf diese Weise konnte der Gedankenaustausch funktionieren.
Sein Herz schlug nun gerade mal so häufig, dass es ihn eben noch am Leben erhielt. Doch das fehlende Klopfen, die Stille in seinem Innern, fühlte sich an wie der Tod.
Xandra war zu träge und entspannt, um sich gegen den Schlaf zu wehren. Sogar im Traum wusste sie, dass sie jede Menge zu erledigen hatte und sich die lange Pause eigentlich nicht leisten konnte. Dennoch schaffte sie es nicht, an die Oberfläche zu gelangen, wahrscheinlich, weil sie es eigentlich gar nicht wollte.
Sie war so losgelöst wie schon lange nicht mehr und als sie letztlich von allein aufwachte, fühlte sie sich tatsächlich ein wenig erholt. Sie döste noch eine Weile in diesem seligen, schwerelosen Zustand und schlug dann die Augen auf.
Im Labor herrschte Dämmerlicht. Die künstliche Beleuchtung war ausgeschaltet, lediglich die beweglichen Strahler über dem stählernen Untersuchungstisch brannten. Erst auf den zweiten Blick fiel ihr auf, dass Evrill mit nacktem Oberkörper auf dem ebenfalls entkleideten Patell lag. Obwohl ihr der Vorgang nicht fremd war, überkam sie ein Schauer. Die Szene wirkte einfach zu verstörend, vor allem weil sie wusste, dass sich der schöne Körper mit den schlanken Muskeln und den langen Gliedmaßen kühl und leblos anfühlen würde, wenn sie ihn jetzt berührte. So kühl, dass man sich kaum vorstellen konnte, dass sein Geist wieder zurückkommen würde.
Ev hatte ihr einmal erklärt, was er machte und sie hatte es auch schon gesehen, aber der Gruselfaktor hatte nicht nachgelassen.
Hastig kam Xandra auf die Beine und lief zum Tisch hinüber. Die Uhr über der Eingangstür zeigte zehn Uhr am Morgen und verriet somit, dass er bereits seit ein paar Stunden dort liegen musste. Und dass sie ebenso lange geschlafen hatte!
Zwar hatte sie es eilig, brachte es aber trotzdem nicht über sich, Evrill jetzt alleine zu lassen. Der Haufen beschrifteter Probenmaterialien auf der Arbeitsfläche musste ohnehin bedeuten, dass er bereits einen Teil der Spurensicherung übernommen hatte, sodass Xandra noch etwas Zeit blieb.
Also stand sie einfach nur da und spielte Voyeurin.
Seit sie ihn das letzte Mal so gesehen hatte, hatte er sich kaum verändert. Die gleiche großgewachsene Statur, das breite Kreuz, die schmalen Hüften. Alles daran war ihr vertraut und weckte Erinnerungen, die noch etwas anderes ansprachen als nur ihr Herz.
Zögernd legte sie die Hand auf Evs Schulter. Die glatte Haut fühlte sich jedoch so hart und kalt wie Marmor an und sie zuckte kurz zurück. Das Ganze kam derart überzeugend rüber, dass sie das Ohr auf seinen Rücken legen musste, um sich zu vergewissern, dass er tatsächlich nicht tot war.
Es gab keine Atembewegungen und sie wartete fast eine Minute auf einen Herzschlag, bis ein einzelnes leises Bumm den verstörenden inneren Aufruhr besänftigte. Erst danach war sie ruhig genug, um sich anderen Aufgaben widmen zu können. Mit einem Ohr bei Evrill ließ sie die Proben vom Massenspektrometer und dem schnieken DNA-Sequencer auswerten und telefonierte unterdessen mit Syn, dem Vertreter des Venus Ordens, der den Kontakt zur Legion hielt.
Er hatte an dem Treffen teilgenommen, bei dem die Ratsmitglieder ermordet worden waren, und hatte ihr seine Hilfe bei der Ergreifung der Täter angeboten. Vielleicht fühlte sich der Orden auch dazu verpflichtet, da die anwesenden Jäger ihr Leben für das Wohlergehen der Menschen aufs Spiel gesetzt und zum Teil auch dort gelassen hatten. Diese Taten waren eine besserer Beweis für die wahre Intention der Legion gewesen, als es Worte je gekonnt hätten, und sie hatten beide Gruppierungen einander näher gebracht.
Das heutige Gespräch drehte sich somit um die neusten Ereignisse und den Stand der Ermittlungen, wobei sie nur noch wenig ausließ. Wie zum Beispiel das Chaos, das im Moment innerhalb der Elevenderorganisation herrschte. Die anderen Fakten gab sie ungefiltert durch, da sich dieser spezielle Mensch ihren Respekt redlich verdient hatte.
Syn ließ sich die üblichen anzüglichen Bemerkungen natürlich nicht nehmen, aber alles in allem war es ein produktives Telefonat. Er versprach, sich nach Cats Eltern und weiteren Vermissten-Fällen umzuhören, dann verabschiedete er sich galant wie eh und je.
Mittlerweile war es Mittag geworden und Xandra konnte die Ungeduld kaum mehr mit Arbeit vertreiben. Die stupide Probenauswertung war so fesselnd wie ein leeres Blatt Papier und sie linste irgendwann immer häufiger zu Evrill hinüber. Der hatte sich keinen Millimeter bewegt und wirkte genau wie vorhin einfach nur tot.
Während sie so versonnen seinen ausgestreckten Körper betrachte, wunderte sie sich unwillkürlich darüber, wie es dem Kerl gestern Nacht gelungen war, die Kluft zwischen ihnen mit ein paar Gesten zu überwinden. Wie er ihr im Handumdrehen das Gefühl gegeben hatte, alles wäre so wie in der Zeit auf dem Anwesen bei Warschau.
Sie konnte sich noch genau daran erinnern, als sie damals langsam aber sicher entdeckt hatte, dass Evrill möglicherweise nicht nur der langjährige Freund und Bekannte für sie sein konnte. Auch die Überraschung über ihren ersten Kuss und darüber, was er in ihr ausgelöst hatte, erhob sich jetzt lebhaft aus den tiefen ihres Gedächtnisses. Sie hatte kaum glauben können, was für ein hinreißender Mann aus dem frechen, jungen Elevender geworden war, der sie einst an den Haaren gezogen und heimlich beim Duschen beobachtet hatte.
Vollkommen in den Anblick und die Vergangenheit vertieft, wurde ihr mit der Zeit ganz heiß und sie musste sich zwingen, diesen knackigen Po samt den gefährlichen Erinnerungen auszublenden.
Oh weia! Was dachte sie da bloß? Sie hatte einen Freund, oder irgendwas in der Art. Sie durfte so was nicht denken, nicht wahr? Oder hieß es ‚gucken aber nicht anfassen‘? Den Appetit unterwegs holen, aber zu Hause essen?
Himmel, die Gedanken wurden ja immer schlimmer!
Mit der festen Absicht das Karussell in ihrem Kopf anzuhalten, machte sie sich an die Zubereitung eines Grogs, den Evrill erhalten sollte, sobald er erwachte. Xandra erinnerte sich, dass ihm danach stets kalt war und er Zucker und Wasser brauchte. Ein wenig Alkohol konnte da auch nicht schaden.
Das Gebräu entstand in einem Glaskolben über dem Bunsenbrenner und enthielt am Ende neben Wasser, einer Glukoseinfusionslösung und Ethylalkohol auch Ascorbinsäure, als Ersatz für den Zitronensaft. Misstrauisch beäugte Xandra die hellgelbe bis weißliche Flüssigkeit und wünschte sich, sie hätte Blaises Fähigkeiten in der Küche. Aber sie musste sich zugutehalten, dass ihr hier auch lediglich die kulinarische Ausstattung eines medizinischen Labors zur Verfügung stand.
Vorsichtig hängte sie die Nase übers heiße Glas und da sie sich nicht übergeben musste, nahm sie eine Kostprobe in Angriff. Mit der hölzernen Zange griff sie sich den Kolben, wollte sich umdrehen und…
„Was machst du da?“, erklang es neben ihrem Ohr.
Xandra erschrak sich zu Tode, ihr Herz blieb beinahe stehen. Automatisch stolperte sie rückwärts und dabei entglitt ihr das frisch zubereitete Heißgetränk. Evrill, der direkt hinter ihr gestanden und ihr eine Heidenangst eingejagt hatte, langte reflexartig nach dem fallenden Glas.
„Nicht…!“, brachte Xandra noch heraus, doch es war schon zu spät.
Seine Hand schloss sich um das Gefäß, das sich eben noch über dem Bunsenbrenner befunden hatte, und er brüllte laut auf. Natürlich ließ er nur eine Sekunde später wieder los und der Kolben knallte schließlich doch zu Boden, wo er laut scheppernd zerbrach und ihre Beine mit kochend heißem Grog bespritzte. Der plötzlich einsetzende Schmerz ließ auch Xandra aufheulen.
Wie Grenzdebile hoppelten sie brüllend durch das Labor, versuchten die getränkten Schuhe und Hosen loszuwerden, bevor ihnen die Hitze Brandblasen und blankes Fleisch verschaffte. Zwar verheilten Verbrennungen bei Elevendern schnell, aber der Schmerz war genau derselbe, den ein Mensch verspürt hätte.
„Heiß! Heiß! Heiß!“, fluchte Xandra, während sie sich aus dem letzten Hosenbein freistrampelte, dann besah sie sich die bereits entstandenen Schäden. Es war nicht ganz so schlimm wie befürchtet. An ihren Knöcheln und Waden hatten sich vereinzelt winzige Blasen gebildet und die Haut in der Umgebung war nur gerötet. Da hier alles im grünen Bereich war, sah sie sich sogleich nach Evrill um.
Der stand ein paar Meter entfernt, das kaum zugeknöpfte Hemd auf Halbmast, unten rum nur mit einer eng anliegenden Boxershort bekleidet, und musterte seine ziemlich mitgenommen Füße missmutig. Er hatte definitiv mehr abbekommen.
Als sich ihre Blicke trafen, an einander hinab und wieder hinauf wanderten, prusteten sie synchron los. Der Anblick von ihnen beiden musste einfach zu köstlich gewesen sein, wie sie einen Regentanz veranstaltet und sich aus ihren Klamotten befreit hatten.
Sie lachten, bis ihnen die Tränen über die Wangen liefen und sie sich die Bäuche halten mussten und wenig später saßen sie einträchtig neben einander auf der Untersuchungsliege und kühlten die Kriegsverletzungen mit den Eispacks, die Xandra aus dem Kühlschrank geholt hatte.
„Was zum Teufel war dieses Höllenzeug?“, erkundigte sich Evrill und wies auf die riesige Pfütze und den Scherbenhaufen am Boden. „Es fühlte sich an, als ob es sich wie Säure durch die Haut fressen würde.“
Xandra boxte empört gegen seine Schulter. „Das war ein Grog! Und du wolltest mich erschrecken! Kleine Sünden bestraft der liebe Gott eben sofort.“
„Hm, also ein Rachegrog voller Gotteszorn.“ Während er über die Stelle rieb, die sie getroffen hatte, hob er den Aufschlag seiner Hose an die Nase. „Und irgendwie riecht es chemisch. Sag‘ mal, ist das giftig?“
„Der Geruch stammt vom Ethylalkohol und in dieser geringen Dosis ist er garantiert nicht toxisch. Und im Übrigen ist das ein ‚Halte-dich-mit-Kritik-zurück-oder-du-kriegst-gar-nix‘-Grog.“
„Aha. Na, der wäre mir wahrscheinlich sowieso nicht bekommen“, mutmaßte er freimütig und sah sie schief von der Seite an. Ein belustigtes Glitzern huschte durch die silbernen Augen. „Zum Glück bist du Ärztin und keine Krankenschwester.“
Routiniert fing er einen weiteren Schlag von ihr ab.
„Na, warte!“, drohte sie fies grinsend, indessen versuchte sie die Hand zu befreien. „Ich verpasse dir gleich eine Tracht Prügel wie damals, als du mir unter den Rock geschaut hast.“
„Ich war zehn! Und zur Rettung meiner Ehre sollte erwähnt werden, dass du mich erst durchs ganze Haus jagen musstest.“
„Na, einer musste dir ja Anstand einbläuen!“
„Und dir musste jemand Flausen in den Kopf setzen. Du warst viel zu ernst.“
Xandra gab die Befreiung ihrer Faust auf. Sie sah wieder den schelmischen Jungen im Gesicht des Mannes, als er ihren Arm zu sich zog und einen flüchtigen Kuss auf den Handrücken setzte. Die Berührung schickte kleine Schockwellen über ihre Haut und ihr Herz setzte für ein paar Sekunden aus.
Oh Gott! Das war gar nicht gut. Katastrophenmäßig nicht gut!
Doch ehe sie wusste, was sie tat, murmelte sie schon: „Ich muss zugeben, darin warst du schon immer ziemlich versiert.“ Und die Hand nahm sie auch nicht weg.
„Ich weiß!“, er lächelte versonnen. „Deshalb sind wir ja auch ein gutes Team.“
Sie stockten beide und Evrill ließ sie abrupt los. Die verheißungsvolle Stimmung verpuffte innerhalb eines Wimpernschlags. Zerstreut fuhr er durch sein Haar und räusperte sich dann ausgiebig, suchte scheinbar nach Worten.
Xandra wankte unterdessen unentschlossen hin und her. Sie hätte den Funken, der gerade aufgeleuchtet war, weiter tragen können, doch wo sollte sie das hinführen? Zu Anfang hatte sie Christian oft vorgeworfen, dass er nicht treu sein konnte, da würde sie jetzt den Teufel tun und mit ihm die Rollen tauschen, auch wenn Evrill etwas in ihr zu Tage förderte, von dem sie gehofft hatte, es bereits hinter sich gelassen zu haben.
Schließlich glitt ihr Blick auf Evrills Hand, die ihre bis vor kurzem gehalten hatte. Die Haut an der Innenseite seiner Finger hatte sich schwielig angefühlt und gerötet war sie auch. Das nahm Xandra zum Anlass wieder auf den Arzt-Modus umzuschalten. Sie sprang auf und schlüpfte in die inzwischen abgekühlten Hosen. „Leg‘ dich auf die Liege. Ich werde noch eben deine Verletzungen verschwinden lassen.“
Der große Kerl gehorchte und sie machte sich zügig ans Werk. Die Hand war schnell behandelt und es dauerte nicht lange sich seine Beine hinauf zuarbeiten, weil die meisten Blessuren ohnehin schon verheilt waren und Xandras Hilfe eigentlich nicht wirklich von Nöten gewesen wäre. Aber sie tat es nicht nur trotzdem, sondern zog den Vorgang auch noch in die Länge. Sagte sich, dass sie allein aus medizinischen Gründen so genau hinschaute und dass die wiederkehrende Hitze in ihrem Körper einzig von dem Zusammenstoß mit dem Grog stammen konnte.
Evrill war überall fest gebaut und besaß breite Schultern, doch die Muskeln wölbten sich eher auf elegante als auf geltungssüchtige Art. Schon seit der ersten gemeinsamen Nacht hatte sich das Gefühl seiner Haut auf ihrer in ihr Erinnerungsvermögen eingraviert. Wie die weiche, blonde Behaarung dabei kitzelte. Wie er sich bewegte, wenn sie eine besonders empfängliche Stelle gefunden hatte.
Mit Gewalt riss sich Xandra aus den verräterischen Gedanken und stellte entsetzt fest, dass sie dem Schritt ihres platonischen Nicht-Freundes verdächtig nahe gekommen war. Eine weitere Hitzewelle wogte über sie hinweg und ihr brach der Schweiß aus. Abrupt richtete sie sich auf.
„Ich glaube,… ich… muss los“, stammelte sie. „Nein, du solltest gehen… Ähm… jedenfalls sollte einer von uns jetzt gehen.“
„Wieso?“
Bisher hatte Evrill die Augen geschlossen und sich auf die heilenden Energien konzentriert. Wenn er aufgeschaut hätte, hätte er in seiner knappen Unterhose auch gleich ein Zelt aufschlagen und zum Camping einladen können. Jetzt jedoch öffnete er erstaunt die Lider und sah sich nach Xandra um. Er entdeckte sie gerade noch rechtzeitig, damit ihm nicht entging, wo ihr Blick bis dahin geklebt hatte.
Da wusste er, wieso.
Na, also! Er hatte es noch drauf! Ein breites Grinsen wollte sich auf seine Lippen schleichen, aber er musste cool bleiben. Betont gemächlich setzte er sich auf.
„Mache ich dich etwa nervös?“
„N…Nein… Auch nicht mehr, als andere Holzköpfe“, entgegnete sie in dem Versuch, sich an ihrem unerschütterlichen Sarkasmus festzuhalten.
„Turnen die dich auch so an, dass du sie rausschmeißen musst?“
Xandra lief tomatenrot an, rührte sich aber nicht vom Fleck.
Die ganze Zeit über hatte ihr halbnackter Körper ihn beinahe seine guten Manieren vergessen lassen. Sie war ihm so nah gewesen, dass er nur leicht den Arm verschieben hätte müssen, um ihren Oberschenkel hinauf streichen zu können. Es hatte ihn jedes Quäntchen Willenskraft gekostet, es nicht zu tun, die Situation nicht auszunutzen, wie er es sich vorgenommen hatte. Aber da Xandras distanzierte Fassade plötzlich zu bröckeln begann, konnte er sich nicht mehr zügeln.
„Ich wette, diese Untersuchung hatte nichts mit meinen Verletzungen zu tun. Stimmt doch, oder?!“
„Nein!“, stieß sie diesmal schärfer hervor und wandte sich ruckartig ab. Ihre Finger begannen fahrig, die Probenmaterialien zu sortieren.
Doch Evrill hatte nicht vor, jetzt schon klein bei zu geben. Er stand auf und stellte sich direkt hinter sie, hielt sie zwischen Tisch und seinem Körper gefangen, ohne sie direkt zu berühren oder ihr tatsächlich den Weg abzuschneiden. Als sie seine Nähe bemerkte, drehte sie sich wütend um. Ihre Nase war nur noch zwanzig Zentimeter von seiner entfernt, aber er hielt sich eisern zurück. Er wollte provozieren, doch der erste Schritt durfte nicht von ihm ausgehen.
„Du kannst mich nicht belügen. Und dich selbst auch nicht.“
Xandra wich nicht zurück und verschränkte störrisch die Arme vor der Brust. „Wir haben schon über das Thema gesprochen und ich denke, du hast meinen Standpunkt verstanden. Ich dachte in den letzten Stunden hätten wir wenigstens unsere Freundschaft gekittet. Bitte, mach‘ das jetzt nicht kaputt.“
„Freundschaft?! Einen Freund schaut man nicht so an, X! Oder muss ich dir das mit den Bienen und Blümchen noch mal erklären?“
„Mitnichten“, fauchte sie. Die saphirblauen Augen funkelten düster. „Ich habe das ad acta gelegt. Du kannst mich nicht an und aus knipsen, wie es dir gerade passt. Glaubst du nach zwei Jahren Funkstille tauchst du hier auf, schnippst mit den Fingern und ich komme angelaufen?! Das ist vorbei!“
„Als ob es je angefangen hätte! Das mit der Affäre war deine Idee und du hast dich auch nicht gemeldet. Aber darum geht’s mir nicht… Ich weiß genau, dass da etwas zwischen uns ist und ich war ein Vollidiot, nicht rechtzeitig dafür zu kämpfen. Aber jetzt bin ich hier und so schnell wirst du mich nicht wieder los.“
Er lehnte sich noch weiter vor und stützte die Hände links und rechts von ihrem Körper auf dem Arbeitstisch ab. Bisher hatte sie jede Gelegenheit zur Flucht gehabt und dass sie die nicht ergriffen hatte, musste doch heißen, dass sie es nicht wollte.
Nur noch ein kleines Stück von ihren roten Lippen entfernt flüsterte er: „Und ich glaube, eigentlich möchtest du mich auch gar nicht loswerden.“
Xandras Wangen waren immer noch gerötet und das Haar hing zerzaust über ihren Schultern. Die vollen Brüste hoben und senkten sich schnell, wobei ihn die Spitzen bei jedem tiefen Atemzug streiften. Himmel, wenn er nicht gleich…
Sie war einfach mit Abstand die schärfste Frau unter der Sonne und er verzehrte sich förmlich nach ihren grazilen Kurven. Vermutlich würde er in wenigen Sekunden in Flammen aufgehen. Diesmal hielt er seinen Schwanz nicht im Zaum.
Er lehnte sich auf voller Länge an Xandra und ließ sie seine Erektion spüren.
Ihre Augen wurden groß und starrten ihn unverwandt an. „Jedem anderen dahergelaufenen Klugscheißer hätte ich jetzt die Nase gebrochen“, erwiderte sie, doch ihr Blick wanderte zu seinem Mund und blieb dort hängen.
„Mir nicht.“
„Nein,… dir nicht…. Aber was sollte sich jetzt geändert haben? Wie sollte ich darauf vertrauen können, dass du nicht wieder von der Bildfläche verschwindest?“
„Weil ich jetzt weiß, was ich will und was schon vor zwei Jahren meine oberste Priorität hätte sein müssen.“ Er neigte den Kopf noch ein winziges Bisschen, brachte sich so nah an ihre Lippen heran, dass er jeden Hauch ihres zittrigen Atems spürte. Xandras Arme lösten sich langsam aus der Verschränkung, ihre Finger wanderten zu seinen Schultern, krallten sich dort Halt suchend im Stoff des dunkelblauen Hemdes fest.
„Ich werde bleiben und um dich kämpfen, auch nach dieser Mission…, wenn du es zulässt. Aber falls nicht, musst du mich jetzt ein für alle Mal abweisen.“ Bei den geflüsterten Worten hätte er beinahe den hübsch geschwungenen Mund berührt, dessen Anblick schon drohte, ihn den letzten Rest Anstand zu kosten. Doch eben nur beinahe.
Die Spannung zwischen ihnen beiden war allmählich mit Händen zu greifen, die Atmosphäre schien zu knistern.
Evrill verharrte in der Position und fixierte ihren Blick mit seinem. Wartete auf eine Antwort. Eine Abfuhr. Auf irgendetwas. Sein Herz pochte vernehmlich, aber er ließ die Angst nicht zu.
„Du bist ein freier Mensch. Du kannst tun und lassen, was du willst“, sagte sie schließlich schroff.
Frischer Sauerstoff strömte in seinen sich weitenden Brustkorb und er saugte sie tief ein. Bis eben war ihm gar nicht aufgefallen, dass er die Luft angehalten hatte. Diesmal konnte er das Lächeln nicht unterdrücken.
Er stieß sich ab und gab Xandra frei. Mit einiger Genugtuung beobachtete er, wie sie zu verbergen versuchte, dass sie sich am Tisch festhalten musste. Sich seiner Wirkung voll und ganz bewusst, schlüpfte er mit langsamen Bewegungen in Hose und Schuhe, knöpfte das Hemd ganz zu. Dann machte er sich an die Beseitigung des Chaos.
Er spürte, dass Xandra auf mehr wartete, aber er hatte vor sie erst mal schmoren zu lassen. Dieses Mal natürlich keine zwei Jahre. Ein weiterer Fehltritt kam nicht in Frage, weshalb jeder Schritt von nun an gut geplant werden musste. Und da gab es ja auch noch Christian.
Was der wohl dazu sagen würde?
Ervill scheute einen Faustkampf nicht, sollte es zum Äußersten kommen, obwohl er die Sache lieber zivilisiert geklärt hätte. Die Frage war nur, ob das grundsätzlich im Bereich des Möglichen lag. Allerdings waren dieses Überlegungen müßig, sie änderten nichts an seiner Entscheidung und wenn er Xandras Freund die Kampfansage aussprach, würde er schon sehen wo der Hase langlief.
Das Zusammenfegen der Scherben nahm nicht viel Zeit in Anspruch, vor allem, weil die blonde Elevenderin sich irgendwann aus ihrer Starre löste und ihm zur Hand ging. Die Stimmung im Raum rangierte irgendwo zwischen angespannt und erwartungsvoll, als rechnete sie damit, dass er jeden Moment über sie herfallen könnte. Evrill grinste zufrieden in sich hinein, hielt sich mit Kommentaren jedoch zurück.
Nachdem der Boden gewischt und auch die Gegenstände auf den Armaturen geordnet waren, lehnten sie gemeinsam am Arbeitstisch und betrachteten das aufgeräumte Labor und den Leichnam, den sie eben erst wieder angekleidet hatten.
„Was hast du eigentlich in seinen Gedanken gesehen?“, erkundigte sich Xandra nach einer Weile in die Stille hinein.
Bisher war er so auf seine Jagd fixiert gewesen, dass er das Erlebnis ganz verdrängt hatte, doch nun ploppten die Erinnerungen auf wie Popcorntüten in der Mikrowelle. Er schüttelte sich unwillkürlich.
Die Bilder und Szenen, die er aus den Gehirnen der Toten saugte, hinterließen stets auch Gefühle. Da die meisten Eindrücke jedoch zusammenhangslos für jemanden mit fehlendem Hintergrundwissen waren, verbrachte er meist so viel Zeit wie er konnte in der jeweiligen Gedankenwelt, um aus den Einzelheiten schlau zu werden und das Puzzle vervollständigen zu können. Wenn er sich dann zurückzog, blieb jedes Mal ein Abdruck der Person haften, in die er eingetaucht war, umso intensiver, je länger er sich eingeklinkt hatte. Manchmal musste er sich danach erst selbst davon überzeugen, dass er wirklich wieder am Leben war.
Patells Gedankengänge zum Zeitpunkt seines Ablebens waren nichts Besonderes und doch merkwürdig zugleich gewesen. Etwas daran hatte Evrills Interesse geweckt.
Zunächst hatte er die üblichen Bilder gesehen. Eine Frau in einem lichtdurchfluteten Garten, die dem Verstorbenen offenbar viel bedeutet hatte. Kurz darauf ein Kerl mit Gitarre in einer verwitterten Garage, wahrscheinlich ein enger Verwandter oder so, wenn man von den Emotionen ausging, mit denen die Szene belegt war. Im Anschluss daran folgte eine ganze Reihe ähnlicher Sequenzen, bis hin zu Patells Entsetzen, als er in seiner Todesnacht erkannt hatte, dass ihm jemand auf die Schliche gekommen war. Das war das erste und einzige Mal, dass er an all seine Verbrechen gedacht und Furcht empfunden hatte. Evrill hatte diese Erinnerung an besagte Vergehen heran gezoomt, aber nichts über einen Bombenanschlag entdecken können.
Danach hatte es so etwas wie einen Kurzschluss gegeben, der Kerl hatte abgedrückt und war auf der Stelle gestorben.
Die Campbells oder gar Orcus‘ Visage waren in dem Wust nicht aufgetaucht und es gab auch keine Hinweise, in welcher Verbindung er zu Patell stehen könnte. Allerdings wusste Evrill, dass das nicht unbedingt etwas zu bedeuten hatte. Er hatte sich auf den merkwürdigen ersten Eindruck verlassen und genauer hingesehen und nach einer Weile war ihm aufgegangen, dass es hinter dem vordergründigen Film noch ein Echo gab. Wie ein altes wiederbeschreibbares Tonband, bei dem sich nach häufigem Gebrauch die Wortfetzen früherer Aufnahmen in die aktuellen Lieder mischten.
Aufgrund des Wissens, dass der Kerl wahrscheinlich von Orcus besetzt gewesen war, war Evrill zu dem Schluss gekommen, das der Feind in Patells letzten Augenblicken in seinen Gedanken herum gepfuscht hatte. Wieviel davon also noch verwertbar und was verfälscht worden war, konnte Evrill nicht sagen.
Schließlich hatte er aufgegeben das Rätsel zu knacken, hatte die Sequenzen in seinem Gehirn abgespeichert und war wieder zum Leben erwacht. Später würde er alles noch einmal durchgehen und Personen sowie Orte aufzeichnen.
Er schilderte Xandra seine Erlebnisse und sie hörte aufmerksam zu.
„Klingt, als könntest du dir jetzt vorstellen, wie es in Aurelias Kopf aussieht“, murmelte sie nachdenklich, während sie Evs verwirrende Beschreibung Revue passieren ließ. Wenigstens bestätigte sich, dass Patell besessen gewesen war. Infolgedessen musste er irgendwann Kontakt zu Orcus gehabt haben, was seine Verwicklung in den Anschlag auf das Campbell-Anwesen nahelegte. Leider brachte sie das Cats Eltern keinen Schritt näher.
Xandra schielte vorsichtig zu Evrill hinüber. Diese Verbundenheit, die sie bei ihm spürte, machte sie ganz konfus und seit seiner wagemutigen Erklärung von vorhin wollte ihr Herz nicht aufhören zu rasen. Gegen ihren Willen hatte er Hoffnungen geweckt, die sie nie wirklich zugelassen und eigentlich schon begraben hatte. Ein Teil von ihr, der Teenager-Anteil mit den durchgeknallten Hormonen, fieberte auf seinen nächsten Vorstoß hin. Sie konnte es kaum erwarten, erneut dieses ihr bisher unbekannte, berauschende Kribbeln in der Magengegend zu spüren. Die ziehende Sehnsucht, die sie zu verschlingen drohte. Das Feuerwerk das zwischen ihren erhitzten Körpern abbrannte, noch bevor sie sich überhaupt berührten.
Das war doch total verrückt!
Sie erinnerte sich, dass sich die Affäre gut angefühlt hatte. Sie waren prächtig mit einander ausgekommen und sie hatte in ihm immer mehr den attraktiven, anziehenden Kerl und weniger den Kumpel oder Cousin gesehen. Das war auch der Grund gewesen, weshalb sie die Geschichte damals eigentlich gerne fortgeführt hätte. Sie hatte so eine Ahnung gehabt, dass das Tête à Tête Potential zu mehr hatte. Doch ihr Pflichtgefühl hatte gesiegt und sie war zu ihrem Job in die USA zurückgekehrt. Und wenn sie sich recht entsann, dann war sie zu dem Zeitpunkt der Annahme gewesen, dass sich schon was ergeben würde, hätte Evrill ähnlich empfunden wie sie. Bis sich daraus etwas Stabileres entwickeln würde, hatte sie ihre Eltern jedenfalls außen vor lassen wollen. Wie hätte sie auch sagen sollen, dass sie mit dem Sohn der engsten Freundin ihrer Mutter in die Kiste gehüpft war. Der Kerl, dessen Windeln sie vor langer Zeit gewechselt und den sie gebabysittet hatte. Die Sache war ja schon für sie selbst äußerst befremdlich gewesen.
Aber hätte sie damals geahnt, welches Chaos Evrill eines Tages in ihr anrichten würde, hätte sie die ganzen Bedenken über Bord geworfen und einen echten Versuch gewagt.
Jetzt war Xandra quasi gebunden und konnte sich nicht mehr auf ihn einlassen. Doch sie brachte es auch nicht fertig, ihn abzuweisen, wie es mit Sicherheit angemessen gewesen wäre.
Etwas hielt sie zurück und es schien, als ob ihre schlimmsten Befürchtungen eingetreten wären. Sie hatte ja geahnt, dass Ev die Macht besaß, sich in ihre Beziehung zu drängen und sie völlig durch einander zu bringen. Nun hatte sie den Salat.
Sie war echt dabei, riesen Mist zu bauen!
Der Gegenstand ihrer Überlegungen stand auf und schnappte sich seine Jacke.
„Wie wär’s, wenn du mir jetzt zeigst, wo dieser Computerraum ist, damit ich mich an die Recherchen und die Aufzeichnung von Patells letzten Gedanken machen kann?“
Aus unerfindlichen Gründen war sie kurz enttäuscht, fing sich aber gleich wieder. Ihre Beine gehorchten etwas widerwillig, als auch sie sich aufrappelte und Richtungen Eingang lief. Gemeinsam verließen sie das Labor und Xandra kam es vor, als ob sich mit der breiten Glastür ebenso das Tor zu etwas anderem schloss.
Auch auf dem Weg machte Evrill keine Anstalten, sich ihr zu nähern, was sie zunehmend irritierte. Hatte er nicht vorhin gesagt, er würde um sie kämpfen? Wie genau hatte er sich das eigentlich vorgestellt?
…Und was würde Christian tun, falls er davon Wind bekam?
Vielleicht sollte sie froh sein, wenn Evrill sich in der Öffentlichkeit zurückhielt. Dennoch, das gespannte Warten ließ sich nicht abstellen, genauso wenig, wie das verfluchte Kribbeln in ihrem Bauch. Speziell letztere Empfindung war so neu, so kraftvoll und intensiv. Ganz anders, als sie sonst empfand. Etwas dergleichen hatte sie vorher noch nie erlebt. Es machte sie irgendwie fröhlich und sie hätte wie ein Honigkuchenpferd grinsen können…
„X!“
Xandra schreckte auf. „Hm?“
„Ich glaube, du bist vorbei gelaufen.“
„Was?“ Sie drehte sich um und musste erkennen, dass Evrill tatsächlich vor der Tür mit der Aufschrift „Computerraum“ stehen geblieben war, während sie tief in Gedanken vielleicht sogar bis nach Timbuktu marschiert wäre. Peinlich berührt warf sie das Haar über die Schulter und stapfte zurück. „Natürlich. Du hast Recht. Ich bin anscheinend etwas zerstreut.“
„Kann man wohl sagen…“, raunte er amüsiert und seine wissende Miene vermittelte, dass er sie sofort durchschaut hatte. Er warf ihr ein anzügliches Lächeln zu, bevor er die Klinke nach unten drückte und in das Zimmer voller Leute trat.
Da sie sich im Untergeschoss befanden, gab es genau wie im Labor keine Fenster, sondern nur die elektrische Beleuchtung. An allen vier Wänden standen Tische mit PC-Arbeitsplätzen, die jeder Besucher des Anwesens nutzten durfte. Momentan waren einige Geräte von ein paar Teammitgliedern besetzt, die emsig ihre Aufgaben erledigten. Quentin, Dareon, Cat, Pareios und Slater saßen vor den jeweiligen holografischen Bildschirmen und als Ev mit Xandra im Schlepptau hereinkam, sahen alle auf. Keiner wirkte, als hätte er besonders viel Schlaf bekommen.
„Gibt’s was Neues?“, fragte sie in die Runde, doch niemand hatte gute Nachrichten.
Cat wies auf ihren Computer. „Meine Eltern haben das Haus irgendwann am gestrigen Nachmittag mit dem Auto verlassen. Ich konnte ihnen mit Hilfe der Verkehrskameras bis zu einem Bistro in Downtown folgen, aber dort verliert sich ihre Spur. Entweder sitzen sie immer noch drin, was ich stark bezweifle, oder sie haben den Hinterausgang genommen, der nicht videoüberwacht ist. Ihr Wagen wurde jedenfalls nicht bewegt.“
„Und es gab keine auffälligen Gäste, die das Lokal betreten haben, vor und nachdem deine Eltern rein gegangen sind?“
Cat schüttelte den Kopf.
„Könnten sie dort trotzdem jemanden getroffen haben?“ hakte Xandra nach. „Oder vielleicht haben sie irgendetwas geahnt und sich heimlich abgesetzt…“
„Ich weiß nicht… Seit gestern Mittag haben sie weder ihre Kreditkarten noch ihre Handys benutzt. Und Dareon hat den Terminplan meines Vaters gehackt. Seine Termine für heute hat er gestern um 13 Uhr bestätigt, aber er ist bisher bei keinem einzigen erschienen. Sang und klanglos zu verschwinden, ohne vorher in der Firma alles zu regeln und dann noch nicht mal sein Handy zu benutzen, um es im Nachhinein zu tun, das passt überhaupt nicht zu ihm.“
Dareon, der hinter sein Gegenstück getreten war und die Hand auf ihre Schulter gelegt hatte, machte ein finsteres Gesicht. „Zusammengefasst, wir wissen, dass wir nichts wissen.“
„Immerhin gibt es keinen Beweis für ihren Tod“, wollte Xandra die müde Truppe aufheitern, erntete allerding nur sarkastische Blicke. Woher sie die gute Laune dafür genommen hatte, wusste sie selbst nicht. „Ok, ok... Was ist mit den Anrufen und Kontobewegungen der letzten Zeit?“
„Ich bin dran, aber das muss noch warten. Dareon fährt mich gleich nach Ceiling und wir hören uns bei meinen Leuten um, vielleicht hat einer was gesehen oder gehört.“
Damit standen die beiden auf und machten sich auf den Weg. Auch Pareios verließ mit ihnen den Raum, weil er nach Aurelia sehen wollte, die er bei seinen bisherigen Besuchen nur schlafend angetroffen hatte.
Quentin berichtete schließlich, dass die Kameras rund um das Campbell-Anwesen vor der Detonation keine Warnzeichen für die Tragödie aufgenommen hatten. In den letzten Wochen hatte man keine Reparaturen an Haus oder Kanalisation durchgeführt, es waren keine Lieferanten aufgetaucht und hatten dubiöse Päckchen abgegeben und Gewalteinwirkung von außen konnten sie ebenfalls ausschließen. Das Gebäude war sozusagen einfach aus heiterem Himmel explodiert, was möglicherweise bedeuten konnte, dass Patell seine Anstellung genutzt hatte, um den Sprengsatz hineinzuschmuggeln.
Danach erkundigte sich Xandra bei Slater, ob er irgendwas herausgefunden hatte. Er winkte nur knapp ab, was wohl heißen sollte, dass er nichts Nennenswertes vorweisen konnte. Doch sie war ohnehin mit der Frage beschäftigt, wo Blaise eigentlich steckte.
Als hätte die kleine Elevenderin nicht nur eine Spürnase, sondern auch telepathische Kräfte, kam sie in diesem Moment zur Tür herein.
Was tat man, wenn man rund um den Hirnstamm ständig dieses leichte Ziehen verspürte, das einen daran erinnerte, dass man einen fremden Parasiten im Kopf hatte und noch dazu in einer kalkweißen Kerkerzelle saß, wo es nichts gab, mit dem sich die Augen beschäftigen konnten?
Man trieb Sport.
So langsam verstand Aurelia die ganzen Knackis, die aussahen wie aufgepumpte Michelin Männchen. Was blieb ihnen denn auch anderes übrig?
Vor geraumer Zeit war sie aus einem tiefen Schlaf erwacht, der so schwarz und traumlos gewesen war, dass man meinen könnte, ihr Gehirn sei vollkommen überlastet gewesen und hätte einfach abgeschaltet. Die Pause war offensichtlich nötig gewesen, denn die Gedanken, die sie kurz vorm Wegdösen heimgesucht hatten, kehrten bald nach dem Aufstehen wieder und quälten sie. Vor allem, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie die ganze Geschichte bloß Pareios beibringen sollte. Deshalb hatte sie auch noch niemanden informiert.
Orcus schien gerade nicht anwesend zu sein und diese Gelegenheit wollte sie nicht verstreichen lassen. Er würde ihr wieder früh genug seine Aufmerksamkeit schenken und bis dahin musste sie das Thema bewältigt haben.
Aurelia ging die Vision durch, die sie auf wundersame Weise in Orcus‘ Kopf versetzt hatte. Es war, als klebten die Eindrücke in ihrem Verstand fest und das Ganze jagte ihr immer noch einen Schauer über den Rücken. Dieses Gefühl, ihrem Feind auf so intime Art nah zu sein, seine Gedanken und Gefühle zu spüren als wären es ihre eigenen, hatte sie auf einer tiefen Ebene erschüttert. Sie hatte sich dem Sog der fremden Bilder nicht entziehen können und jetzt verurteilte sie sich für diese Faszination.
Als sie mit dem Trainingsprogramm wieder von vorn begann, ertönte das Klicken des Türschlosses. Aurelia unterbrach ihren Rhythmus und kam hoch auf die Knie.
Natürlich erschien ausgerechnet Pareios schwer beladen im Rahmen. Mit dem rechten Arm balancierte er ein Tablett, unter dem linken klemmte ein riesiger Bücherstapel. Sogleich rappelte sie sich auf, um ihm entgegen zu gehen. Er überreichte ihr die Bücher und schloss daraufhin mit der freigewordenen Hand die Tür hinter sich.
„Shakespeare?“, fragte Aurelia mit gerümpfter Nase, wobei sie das oberste Buchcover inspizierte.
„Und Joyce, Goethe und Tolstoi.“
Etwas konsterniert folgte sie ihm zur Matratze hinüber, wo er Platz nahm und die Mahlzeit abstellte. „Kann es vielleicht sein, dass du mich für ungebildet hältst?“
„Wie kommst du denn darauf?!“, erwiderte er und hob einen Mundwinkel zu dieser Andeutung eines schiefen Lächelns, das ihn in der Damenwelt sehr begehrt machte. „Können wir ungestört reden?“
Sie nickte finster und ließ sich neben ihn fallen. Die Bücher stellte sie ordentlich am Fußende ihrer Schlafstätte ab. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass er gerade nicht zuhört.“
„Gut, ich wusste, du kannst das. Den Lesestoff habe ich dir auch mitgebracht, damit du dich ablenken kannst, wenn du nicht willst, dass er deine Gedanken bespitzelt.“
„Sehr schlau… Ich seh’s schon kommen, am Ende werde ich diese ganze verfluchte Bibliothek durchgelesen haben.“
„Und dann wird uns was anderes einfallen.“
„Weißt du eigentlich, dass du was Besonderes bist?“, fragte sie unvermittelt und Pareios blickte sie erstaunt an, dann zwinkerte er verschmitzt.
„Könnte mir schon ein, zwei Mal zu Ohren gekommen sein. Aber da du‘s erwähnst,… was ist denn so besonders an mir?“
Na, alles… „Du sagst immer was Positives, wenn man in schlechten Gedanken versinkt.“
„Ähm, ja. Na, das habe ich tatsächlich noch von keinem gehört…“
„Für alles gibt es ein erstes Mal… Hör‘ zu, ich muss dir etwas sagen…“
„Ach, daher weht der Wind. Erst schmierst du mir Honig ums Maul und dann kommst du mit der ‚Ich muss dir etwas sagen‘-Keule. Sehr raffiniert.“ Er lächelte spöttisch, konnte die aufkeimende Besorgnis aber nicht ganz aus seinem Gesicht verbannen.
„Ganz so ist es jetzt auch wieder nicht, aber… Also gut, ich sag’s einfach. Es ist mir gelungen, in Orcus Kopf zu gelangen.“
Pareios setzte sich kerzengerade hin und starrte sie erfreut an. „Wahnsinn! Und? Wie war es? Was hast du mitbekommen?“
„Naja, es gibt eine gute und ein paar schlechte Nachrichten.“
„Ok… Dann bitte zuerst die gute…“
Aurelia fasste sich ein Herz. „Er lebt und wir kriegen das wieder hin.“
„Was?“ Pareios schaute sie verständnislos an.
„Ich hätte vielleicht mit den schlechten Nachrichten anfangen sollen, damit der Satz einen Sinn ergibt…“ Sie holte tief Luft und schilderte wie sie in Erfahrung gebracht hatte, dass Orcus mit allen Mittel versucht hatte, in Kontakt mit einem Mitglied des Klerus zu kommen und dieses dann zu infiltrieren. „Den Bunker hat er nur überfallen, weil man ihm versprochen hat, er könne dann in die Führungsriege aufsteigen. Dafür hat er die Ratsmitglieder getötet, speziell Chronos, er war wohl besonders mächtig, und… dafür benutzt er auch seine Zombis…“
Pareios hatte der Geschichte mit angespannter Miene gelauscht, doch jetzt zog er fragend die Augenbrauen zusammen. „Was für Zombis?“
„Leute wie mich, nur dass sie vollkommen von ihm beherrscht werden und keinen eigenen Willen mehr haben… Orcus hat gestern so einen Sklaven wie ein Gastgeschenk an den hochrangigen Hegedunen verschachert. Sie haben ihn entwürdigende Dinge tun lassen… Pareios, der Sklave war Viktor.“
Ihr Zuhörer schoss in die Höhe. „Viktor lebt???“ Zuerst wirkte er noch erfreut, doch dann fiel seine Mimik in sich zusammen wie ein Kartenhaus und Entsetzen trat in seine Augen. „Und Orcus hat ihn…“ Benommen ließ er sich wieder auf den Hosenboden fallen, stützte sie Stirn an den Handballen ab, bis er schließlich murmelte: „Jetzt verstehe ich das mit der guten Nachricht.“
Aurelia nickte. „Ja… Aber wir kriegen das wieder hin. Und Viktor auch.“
„Falls es uns gelingt, ihn zu finden.“
„Ja.“
„Und falls er überhaupt noch zu retten ist…“ Er erinnerte sich wohl genau wie sie an Dante, der so von der Gabe seines Vaters zersetzt gewesen war, dass es für ihn keine Erlösung mehr gegeben hatte. Nur den Tod. Der anhaltende Schmerz in ihren Venen und das Loch in ihrem Herzen meldeten sich vernehmlich. Bloß nicht dran denken…
„Ja.“
„Und falls wir Orcus besiegen können.“
„Ja.“
„Ziemlich viele „Falls“, findest du nicht?“, versetzte er sarkastisch.
„Schon, aber wenn du Hoffnung für mich hast, solltest du auch welche für deinen Bruder haben. Meine Chancen stehen auch nicht viel besser und ich werde nicht ruhen, bis ich meinen Kopf wieder ganz für mich alleine habe. Du hast gesagt, wenn es jemand schaffen kann, dann ich.“
Pareios musterte sie lange und trotz seiner vorigen fatalistischen Worte trat Erstaunen in seine Züge. „Von wegen, ich sage immer was Positives. Merkst du eigentlich, dass du das jetzt gerade tust?“
Auch Aurelia hob überrascht den Blick und dachte darüber nach. „Stimmt, aber ich kann es nur wegen dir.“ Durch ihn und für ihn. Nur für ihn.
Sie sahen sich noch einen weiteren Moment in die Augen, dann wandte er sich ab und rubbelte sich verdrossen über das kurzgeschorene Haar. „Glaubst du, dass er… alles mitkriegt…? Dass er leiden muss?“
„Viktor?... Ich weiß es nicht... Ich hoffe aber, dass ihm die Gnade vergönnt ist, ein tiefes Schläfchen in seinem Kopf abzuhalten.“
„Ich auch.“ Er schluckte heftig und etwas brachte Aurelia dazu, ein Stück rüber zu rutschen und den Arm um seine breiten Schultern zu legen. Natürlich klappte das null, weshalb ihre Hand irgendwo an seinem Rücken zu liegen kam. Er schenkte ihr ein müdes Lächeln und lehnte daraufhin den Kopf gegen ihren. Wortlos saßen sie eine ganze Zeit lang so da und während sie Pareios Trost spendete, tat er dasselbe für sie. Gemeinsam trotzten sie den Ängsten und Befürchtungen, gaben sich gegenseitig Zuversicht. Halt.
Irgendwann richtete er sich auf. „Dann lass‘ uns das mal in Angriff nehmen. In der Vision gab es keinen Hinweis auf Viktors Aufenthaltsort?“
„Nein, und den Hegedunen kannte ich auch nicht. Aber ich könnte ihn beschreiben und ein Phantombild erstellen. Was mir im Moment ehrlich gesagt mehr Sorgen macht, ist, dass Orcus es sicher nicht bei diesem einen Klerusmitglied belässt. Er will sie alle und bald wird er so mächtig sein, dass ihn niemand mehr aufhalten kann.“
Ihr Gesprächspartner starrte nachdenklich ins Leere, bis ihm scheinbar eine Idee kam. „Vielleicht, aber so lange das noch nicht passiert ist, geht er ein großes Risiko ein. Er steht alleine da, oder?!“
Das konnte doch nicht sein Ernst sein! „Du meinst, der Feind meines Feindes…?“
„Was glaubst du, würde passieren, wenn…
„Stopp! Sag‘ es nicht! Und ich darf auch nicht dran denken! Wenn ich einmal damit anfan ge, kann ich nicht mehr aufhören und irgendwann landet es dann bei Orcus! Lalalalalalala….“ Aurelia sprang auf und hielt sich die Ohren zu. Um auf andere Gedanken zu kommen lief sie auf und ab, sah sie sich im Raum um. Das Tablett am Boden bot ihr schließlich die gesuchte Ablenkung. Es war mit einer üppig belegten Pizza, einer Wasserflasche und einem Blaubeermuffin beladen.
„Hier gibt’s Muffins?“ Sie stürzte sich auf die Mitbringsel, die sie bisher völlig links liegen gelassen hatte. Bevor sie sich wieder mit Orcus‘ Ränkespiel befassen konnte, schnappte sie sich das süße Ding, fummelte das Papierchen ab und biss hinein. Der fantastische Geschmack flutete ihr Nervensystem und ihren Verstand und versetzte sie ins Schlemmerland.
„Hmmmm… Weißt du eigentlich, wie lange ich keinen Muffin mehr gegessen habe?“
Pareios hatte sie amüsiert beobachtet und lachte jetzt leise. „Keine Ahnung, aber es scheint schon eine Weile her zu sein…“
„Ewigkeiten!“
„Aaalles klaaar… Dann bespreche ich das mit jemand anderem.“
„Gute Idee“, entgegnete Aurelia und gönnte sich noch einen riesigen Bissen. Fast meinte sie, mitten in einem Kiefernwald bis zu den Knien in Heidelbeersträuchern zu stehen, so allumfassend wurden ihre Geschmacksknospen beansprucht. Dieser Muffin war ein willkommenes Himmelsgeschenk. „Blaise hat die gebacken, stimmt‘s? Meinst du, ich könnte mehr davon kriegen?“
„Ich denke, das wird sich machen lassen… Kommst du zurecht? Also, ich meine, mit dem Süßkram und den Büchern.“
Aurelia verstand und bejahte, daraufhin erhob sich Pareios und ging vor ihr in die Hocke.
„Gute Taktik, übrigens. Du schlägst dich wirklich gut und ich setze nach wie vor auf dich.“ Seine grauen Augen trafen sie, Feuer flackerte darin auf und sein Gesicht nahm einen Ausdruck an, der Aurelia das Essen vergessen ließ. Mit reichlich unzerkautem Muffin im reglosen Mund starrte sie gebannt zurück, konnte sich der Intensität nicht entziehen. Dieser Blick hüllte sie in Geborgenheit, gab ihr Kraft, gab ihr… ein zu Hause. Und nicht zuletzt sah sie darin Verehrung, obwohl sie keinen Schimmer hatte, warum ihr die zustehen sollte. Pareios offenbar schon.
Ihr wurde ganz leicht zumute, während sich ihr Kopf langsam aber stetig mit rosaroter Watte füllte. Und wenn sie zwei andere Elevender in einem weit, weit entfernten Paralleluniversum gewesen wären, hätte Aurelia sich jetzt vorgelehnt und ihn geküsst.
Doch sie waren immer noch das abnorme Duo mit der verworrenen Geschichte und den unüberwindbaren Hindernissen. Und speziell Aurelia war die, die den Tod ihres Gegenstücks immer noch so spürte, als sei es eben erst geschehen. Nichts hatte sich geändert, egal wie sehr sie die Situation bedauerte. Also würgte sie die unzerkauten Bissen die trockene Kehle hinab und brachte ein verunstaltetes „Danke“ hervor.
Der Mann mit dem Inferno in den Augen nickte schlicht, dann stand er auf und ging.
Aurelia schaute ihm nach und erst als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, fiel ihr das Kauen wieder ein. Nachdem sie den Muffin verspeist hatte, musterte sie die restliche Mahlzeit und dabei entging ihr nicht, dass es kein Besteck gab.
Eine Portion Pizza später, hatte sie es sich gerade im Schneidersitz auf der Matratze bequem gemacht, als ein äußerst unangenehmes Gefühl aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins emporstieg. Die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf, ein Schauer rieselte den Rücken hinab. Das stetige Ziehen im Kopf verstärkte sich plötzlich, als ob jemand an einer unsichtbaren Leine zog, die um ihren Hirnstamm gelegt worden war.
Sie hatte damit gerechnet, aber als sie nun spürte, wie sich Orcus wieder in ihr breit machte, wurde ihr ganz anders und am liebsten wäre sie die Mahlzeit von vorhin gleich wieder losgeworden. Da sie die Energie jedoch brauchte, beruhigte sie sanft ihren verknoteten Magen. Dann griff sie seufzend nach Goethe und schlug die erste Seite auf.
Na, dann viel Spaß mit „Faust“, Orcus!
Vor und nach Xandras Anruf hatte Blaise kein Auge mehr zugetan. Doch bei der Küchenarbeit war sie nicht nur aufgrund der Müdigkeit zu nichts zu gebrauchen gewesen und sie hatte sich auch nicht wegen des Schlafmangels so oft in die Finger geschnitten, obwohl sie das Messer sonst sicher und fehlerfrei führte.
Ständig hatte sie mit sich gerungen, ob sie das Angebot der Freundin nun annehmen sollte oder nicht. Sie war sich nicht sicher, ob sie eine weitere rüde Zurückweisung verkraften konnte, denn so würde es doch laufen, nicht wahr?
Trotz Slaters überraschenden Besuches am gestrigen Abend hatte sich diese Sorge mittlerweile tief in Blaise festgesetzt, daran änderte sein schales und von Xandra provoziertes Interesse auch nichts. Er hatte sie inzwischen einfach zu häufig abblitzen lassen und grob behandelt, als dass sich der Gedanke weiterhin ignorieren ließ. Ihr Stolz hatte sehr gelitten und sie verwandelte sich allmählich in eine Person, die sie nicht wieder erkannte… und die sie noch nicht mal leiden konnte.
Sie erledigte ihre Arbeit nicht mehr aus vollem Herzen, war ständig wegen Slater in Aufruhr oder dachte an ihn und vergaß darüber alles andere. Wenn es sich dabei nur ums Duschen oder Zähneputzen gehandelt hätte, hätte sie noch ein Auge zugedrückt. Aber neuerdings entfielen ihr auch wichtige Dinge. Zum Beispiel, dass sie sich um Yumi kümmern wollte, der es zurzeit wirklich schlecht zu gehen schien.
Und selbst als es ihr wieder eingefallen war, hatte sie nicht die Kraft aufbringen können, es auch zu erledigen. Als hätte sie im Augenblick nur Kapazität für ihre eigene Misere. Sie konnte einfach nur immer weiter über Vincent sinnieren und sich fragen, was sie nun tun sollte.
Deshalb stand sie jetzt vor der Tür des vermaledeiten Computerraums, von dem sie wusste, dass Slater sich darin aufhalten würde und zögerte es hinaus, die Klinke zu benutzen.
Xandra hatte Recht behalten. Blaise konnte nicht aufhören, an ihn zu denken und sie befürchtete, dass das auch so bleiben würde, wenn sie den Pfad, den sie betreten hatte, nicht bis zum bitteren Ende ging. Wo immer der sie auch hinführen mochte.
Das änderte jedoch nichts daran, dass sie stinkwütend war. Nie zuvor hatte sie sich so gedemütigt gefühlt wie am zurückliegenden Abend, vielleicht mit Ausnahme von dem Übergriff im Wald vor ein paar Wochen. Aber den hatte niemand mitbekommen, während gestern Aurelia Zeugin ihrer Schmach geworden war.
Nicht mehr lange und jedem auf Blackridge würde auffallen, dass Blaise nicht mehr sie selbst war und sich regelmäßig für einen gefühllosen Ignoranten erniedrigte… Und was würde bis dahin noch alles geschehen?
Nein, sie musste sich Klarheit verschaffen und mittlerweile war ihr das Ergebnis herzlich egal, wenn sie nur endlich eine eindeutige Reaktion von Slater bekam. Außerdem wäre dann alles, was bisher geschehen war, umsonst gewesen.
Sie holte tief Luft, kratzte all ihren Mut zusammen und öffnete die Tür einen Spalt, um hindurch zu linsen.
Erwartungsgemäß flutschte ihr Blick sofort zu Slater, der allein auf der rechten Seite an einem Computer saß und den Bildschirm studierte. Erst danach entdeckte sie auch Xandra und Evrill. Die beiden standen bei Quentin und hatten sich interessiert über seine Schultern gebeugt. Anscheinend erstattete der Elevender mit dem zurzeit pink und blau gefärbten Haar gerade Bericht über seine Ergebnisse.
Schließlich gab sie sich einen Ruck und ging hinein. Die Leute im Raum bemerkten sie natürlich sogleich und Xandra kam lächelnd auf sie zu.
„Ich wusste, du packst den Stier bei den Hörnern“, flüsterte sie so leise, dass nur Blaise es hören konnte.
„Du meinst wohl eher, den Drachen.“ Sie seufzte unterdrückt und gönnte sich noch einen Blick auf den Mann mit der eisigen Ausstrahlung. Der hatte sich wieder seiner Arbeit zugewandt und schenkte ihr wie immer keine Beachtung.
Xandra stupste sie aufmunternd an. „Genau! Reite den Drachen, Blaise. Reite den Drachen.“
„Sag‘ mal, hast du was geraucht?“ Sie musterte die große Elevenderin von Kopf bis Fuß und registrierte, wie sie nervös von einem Bein aufs andere trat, wie ihre fahrigen Hände immer wieder das blonde Haar in den Nacken warfen und wie sie freudestrahlend bis über beide Ohren lächelte.
„Quatsch!“, winkte ihre Freundin ab. „Ich konnte ein wenig schlafen, jetzt bin ich eben gut drauf.“ Während der Worte wanderten ihre Augen zu Evrill hinüber und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich auf eine Weise, die Blaise noch nie bei ihr gesehen hatte, der aber aufgrund seiner Universalität nicht zu verkennen war.
Da fress‘ ich doch gleich meinen Besen…!
„Ich glaube eher, du hast einen hochgewachsenen, silberäugigen Clown gefrühstückt“, spekulierte Blaise breit lächelnd drauf los und zog schon vorsorglich den Kopf vor dem Konter ein.
„Und du hast… und du… du bist…“
„Na, was…? Fehlen uns heute etwa auch noch die Worte?! Oh mein Gott! Ich glaube, der Himmel ist soeben auf die Erde gestürzt! Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich sagen, du fährst total auf diesen Kerl ab… Aber ich täusche mich bestimmt. Du hast schließlich Christian, oder habe ich da was verpasst?“
Nun sah die andere betreten auf die Spitzen ihrer Lederstiefel. „Kann sein, dass ich und Evrill mal… und dass er jetzt versucht,…“
„Oh, Mann! Blöder Slater!“, entfuhr es Blaise ungehalten.
„Wie bitte?!“
„Wegen ihm verpasse ich alles! Er hat meinen Verstand annektiert“, verriet sie unglücklich und schielte wieder zu dem Kerl hinüber, der ihr ständig im Kopf herumspukte und ihr keine Ruhe ließ.
„Das mit Evrill war schon vor zwei Jahren. Ich hab’s keinem erzählt, weil… Keine Ahnung, warum.“
Weil es wirklich etwas zu bedeuten hatte. Aber ihre sture Freundin musste schon selbst auf diesen Trichter kommen.
„Und was hast du jetzt vor?“
„Na, was schon?! Den Kopf einziehen und warten bis der Sturm vorbei ist. Ich habe mich dafür entschieden, mit Christian einen Versuch zu wagen und dabei bleibt es. Ich kann doch jetzt nicht einfach wieder abspringen.“ Xandras Flüsterton war zunehmend von Entschlossenheit erfüllt und es klang, als müsste sie sich selbst bei der Stange halten. Blaise hatte schon vor einer Weile den Eindruck gewonnen, dass Xandra sich nicht voll und ganz auf den hübschen Elevender einließ.
„Ich finde, falls er nicht der Richtige für dich ist, musst du das sogar. Du kannst doch nicht bei ihm bleiben wenn er nicht der Mann in deinem Herzen ist. Das hat er nicht verdient und du auch nicht.“
„Das wollte ich jetzt wirklich nicht hören! Außerdem, solltest du dich nicht gerade auf der Jagd befinden?! Der Drache wartet.“ Ihre Freundin verpasste Blaise einen leichten Schubs in Slaters Richtung und bevor der darauf aufmerksam werden konnte, gab sie nach.
„Ist ja gut", zischte sie und stiefelte los. Nervös setzte sie sich zwei Plätze entfernt von Slater hin.
Oh Gott, was sollte sie bloß sagen? Hatte sie vorher etwa gar nicht darüber nachgedacht? Sie war wirklich zu einem hirnlosen Huhn geworden, denn auch jetzt wollte ihr nichts einfallen.
Dabei blieb es auch, bis Xandra Quentin mit den Worten, er solle sich ja nicht wieder blicken lassen, bevor diese Augenringe verschwunden seien, ins Bett scheuchte und kurz darauf selbst zusammen mit Evrill den Raum verließ, um ihre Kontakte abzuklappern. Somit bekam Blaise ihre traute Zweisamkeit schneller als ihr lieb gewesen wäre.
Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her, doch als sie erneut zu Slater hinüberschaute, fiel ihr auf, dass er sich zu ihr gedreht hatte und scheinbar auf etwas wartete.
„Was ist?“ fragte sie erstaunt. Ihre Stimmte war nur ein Piepsen.
Er verzog keine Miene. „Du willst mit mir sprechen. Schieß los, bevor du dir noch die Zunge abbeißt.“
Woher zum Teufel wusste er das nun wieder? Überhaupt schien er ihr verdächtig häufig an der Nasenspitze anzusehen was sie dachte, auch wenn ihn das nicht davon abhielt, es geflissentlich zu ignorieren. Ob das wohl etwas mit seiner Gabe zu tun hatte? Aber die hatte er doch dazu benutzt, diesen Gefangenen auf grässliche Weise zum Reden zu bringen, mit diesem geheimnisvollen Auge…
„Darum geht’s also“, knurrte Slater, als hätte er erneut ihre Gedanken gelesen. „Wenn du ein Problem damit hast, beschwer‘ dich bei deiner Busenfreundin.“
„Wie machst du das?“, erkundigte sie sich statt einer Antwort. So langsam bekam sie ein Gefühl für dieses Spielchen und er brauchte sich nicht einzubilden, dass er der einzige war, der es beherrschte.
„Ich mache es einfach.“
„Tut es weh? Also dem anderen. Körperlich, meine ich…“
„Wonach sah es denn aus?“ Sein Gesichtsausdruck blieb eine leere Maske und ihre Finger kribbelten von dem Bedürfnis, sie ihm einfach runterzureißen, damit er ihr nicht mehr entgleiten konnte wie ein Aal. Egal was sie fragte, er ließ sich nicht festnageln.
„Machst… machst du das gerne?“
„Atmest du gerne?“
Blaise blinzelte irritiert. Seine Unnahbarkeit frustrierte sie immer mehr und das Spielchen langweilte sie auch zusehends. Immerhin schien nicht absehbar, wann es einen Gewinner geben würde und bei Slater hatte ihr von Anfang an die Geduld gefehlt. Da sie jetzt allein im Raum waren, brannte sein eisiger Geruch in ihrer Nase, verstärkte den Überdruss nur. Als sie schließlich die Lippen öffnete, brachte sie nur ein Flüstern heraus und ansehen konnte sie ihn auch nicht. Stattdessen starrte sie auf ihre verschränkten Finger, die sich gegenseitig wie wild kneteten.
„Also… als du gestern Nacht bei mir aufgetaucht bist… Was wolltest du da wirklich?“
Als Slater eine ganze Weile nicht reagierte, war Blaise kurz davor die Nerven zu verlieren… oder sich die Finger zu brechen. Wenn er nicht gleich eine richtige Antwort gab, würde sie womöglich noch explodieren. Konnte er nicht ein einziges Mal…
„Es in Ordnung bringen“, murrte Slater da und Blaise klappte der Mund auf. Ihre Augen schossen nach oben, um seine Gesichtszüge zu prüfen, die jedoch reglos wie eh und je waren.
Sie hatte sich sicher verhört… „Was in Ordnung bringen?“
„Das gestern Abend in der Hütte. Das scheint dir was auszumachen.“
„Wieso… wieso solltest du das in Ordnung bringen wollen?“
Slater wandte den Blick ab und während sie diesmal einer Erwiderung harrte, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Es war als stand sie irgendwie neben sich und selbst von da hörte sie das Ding wie ein irre gewordenes Metronom tickern. Unmöglich, dass es dem geheimnisvollen Mann zwei Meter weiter nicht ähnlich erging.
Endlich stieß Slater einen unverständlichen Laut aus und begegnete ihr mit diesem ausdruckslosen, schwarzen Auge. „Xandra hat mir verklickert, dass es angemessen wäre.“
„Ist das der einzige Grund?“
Stille. Blaise hielt die Luft an, aber dann… „Ich fand das auch.“
Halleluja!
Beinahe wäre sie aufgesprungen, hätte die Fäuste siegestrunken in die Luft gereckt und dann einen kleinen Freudentanz veranstaltet. Im Innern tat sie das auch, aber äußerlich versuchte sie ruhig zu bleiben.
Wenn Slater der Meinung war, dass er etwas geradebiegen musste, dann hieß das doch, dass sie ihm etwas bedeutete. Dass er unter all der abweisenden Gleichmütigkeit und Eiseskälte zumindest irgendetwas für sie empfand.
„Und wie willst du das anstellen?“, fragte sie mit einem kaum zu unterdrückenden Lächeln auf den Lippen.
„Keine Ahnung.“
„Nun, du könntest dich entschuldigen. Auch für damals im Wald. Das wäre doch ein Anfang.“
Slater verengte die Augen zu misstrauischen Schlitzen. „Nein! Niemals!“
Und Schwupps, war alles wieder beim alten. Der Drang zu lächeln verschwand genauso schnell wie er gekommen war und Blaise hörte schon beinahe das Möööp, das in Quizzshows bei falschen Antworten eingespielt wurde. Und so langsam wurde sie ernsthaft wütend. Immer wenn sie einen Schritt vorwärts gekommen waren, sorgte Slater dafür, dass sie gleich darauf wieder zwei Schritte zurück machten. Sie verlor sonst nie die Contenance, aber dieser Kerl trieb sie noch zur Weißglut und während sie sich die Zähne an ihm ausbiss, lachte er sich heimlich ins Fäustchen! Jetzt reichte es! Genug war einfach genug!
Blaise sprang vom Stuhl auf und explodierte.
Genauer gesagt heulte sie los.
„Wieso machst du das nur immer wieder?“, schluchzte sie hemmungslos. „Zuerst sagst du irgendwas halbwegs Akzeptables und eine Sekunde später bist du wieder der unnahbare Eisklotz. Wieso hast du überhaupt an meine Tür geklopft, wenn du ja doch nicht bereit bist, mir entgegen zu kommen. Und weißt du überhaupt, was „In Ordnung bringen“ heißt? Hast du auch nur die geringste Vorstellung davon? Das solltest du nämlich, bevor du dich das nächste Mal ans Werk machst. Mal ehrlich, das war total stümperhaft! Ich meine, hast du mal überlegt, was das bei anderen anrichtet?“ Erst als sie geendet hatte, fiel ihr auf, dass sie sich die Frage selbst beantworten konnte. Zweifelsohne. Und das brachte sie noch mehr zum Heulen. Dicke Tränen rannen in unaufhörlichen Strömen über ihre Wangen und ihr Kinn bibberte unkontrolliert, während Slater völlig ungerührt dasaß und ihr bei ihrem Ausbruch zuschaute. Allenfalls wirkte er etwas genervt, aber keine Spur von den leidenschaftlichen Emotionen, die in Blaise wüteten. Das schürte ihren Zorn nur noch, weil sie sich fühlte, als bewarf sie eine Steinmauer mit ihren Vorwürfen. Alle prallten wirkungslos an ihm ab, hinterließen keine Spuren, egal wie sehr sie sich aufregte.
Sie heulte und heulte und Slater schaute einfach zu, tat nichts, um ihr die fürchterliche Situation zu erleichtern. Als die Tränen schließlich versiegten und Blaise wieder halbwegs Luft bekam, wäre sie vor Scham am liebsten mal wieder im Erdboden versunken. Kraftlos ließ sie sich mit eingezogenem Kopf zurück auf den Bürostuhl sinken und blickte starr auf den Bildschirm ohne die Buchstaben dort wahrzunehmen.
Was war nur in sie gefahren? So ein Ausbruch passte ganz und gar nicht zu ihr und jetzt gefiel ihr noch weniger, zu wem sie durch ihre Besessenheit wurde. Was, wenn sie das nächste Mal in aller Öffentlichkeit durchdrehte? Mal ganz abgesehen davon, dass ihre Emotionalität Slater sicher nicht ansprach, was ja eigentlich ihr oberstes Ziel war. Plötzlich bekam sie eine riesen Angst ihn vergrault zu haben, was völlig paradox war. Sie hatte doch das Recht, sauer zu sein und er musste es sich gefälligst anhören! Dennoch, was, wenn er jetzt nie wieder mit ihr sprechen würde?
Wahnsinn schien ihr plötzlich noch eine Untertreibung für ihren aktuellen Zustand.
Bevor sie sich soweit sammeln konnte, dass sie etwas raus gebracht hätte, stand Slater auf.
Klar, sie hatte den Bogen überspannt und jetzt suchte er das Weite. Sie hatte es ja geahnt!
Doch anstatt zur Tür zu gehen, kam Slater auf sie zu und griff in die Tasche am linken Knie seiner Hose. Kurz darauf brachte er daraus ein in Zeitungspapier eingewickeltes Päckchen zum Vorschein, das er dann vor ihrer Nase auf dem Tisch abstellte.
Wie vom Donner gerührt erstarrte Blaise zur Salzsäule. Was war denn hier auf einmal los?
Sie konnte sich zunächst nicht von dem seltsamen Gebilde loseisen und als es ihr dann doch gelang, war Slater letztlich verschwunden. Ohne Abschied, ohne ein einziges weiteres Wort. Die Trauer, die sich deswegen in ihr breit machte, hielt jedoch nicht lange vor. Die Neugierde überwog schon bald bei weitem und sie langte mit zittrigen Händen nach dem kleinen Präsent, das ihr jetzt bereits wertvoller erschien als ein Goldbarren.
Ungeduldig rupfte sie Schicht für Schicht des Papiers ab, bis eine hübsche Tasse sichtbar wurde. Sie war aus festem Keramik, besaß eine geschwungene Lippe sowie einen breiten Henkel und auf der Vorderseite befand sich ein Bild mit einem Spruch.
Blaise drehte das gute Stück und als sie die Worte lesen konnte, hätte sie das Geschenk beinahe fallen lassen. Denn da stand:
„Du bist das Croissant unter den Brötchen.“
Nichts, nichts und wieder nichts.
Kein Kontakt hatte Hinweise auf Orcus oder die Campbells. Die restlichen Ermittlungen des Teams waren noch lange nicht abgeschlossen, doch bisher hatten sie keine brauchbaren Informationen zutage gefördert. Von Pareios und Aurelia gab es ebenfalls noch keine Neuigkeiten und jetzt brütete Xandra missmutig über den Ergebnissen der Proben von Patell und stellte fest, dass auch hier absolut nichts Ungewöhnliches zu finden war.
Doch Xandras Hochstimmung war nicht nur deswegen inzwischen verflogen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen und außerdem wollte sie nicht, dass Christian von ihrem emotionalen Aufruhr erfuhr. Sie verhielt sich viel zu verräterisch und wenn ihr Freund auftauchte, würde er ihr an der Nasenspitze ansehen, dass sie heute quasi einem anderen Mann grünes Licht gegeben hatte, sich um sie zu bemühen.
Was hatte sie da bloß angerichtet? Und das alles nur, weil es sich für kurze Zeit so gut angefühlt hatte? So sprachen notorische Fremdgeher, die Entschuldigungen für ihre persönlichen Schwächen suchten.
Sie hatte vielleicht einen Fehler gemacht, aber zu weiteren würde sie sich nicht hinreißen lassen. Sie war eine Frau, die zu ihren Entscheidungen stand und nicht gleich bei der ersten Unwegsamkeit aufgab. Und wenn sie die Beziehung zu Christian intensivierte, würde sich das mit ihrem Gefühlschaos sicher auch beheben lassen.
Plötzlich legten sich zwei Hände über ihre Augen und ließen sie zusammenzucken. Hätte sie nicht gleich darauf weiche Lippen an und eine vertraute Stimme in ihrem Ohr gehabt, hätte sie demjenigen ohne Zögern die Finger gebrochen.
Wenn man vom Teufel sprach…
„Ganz vertieft in die Arbeit… Du bist so heiß, wenn du dich mit Feuereifer für etwas einsetzt…“
„Du solltest dich nie wieder so an mich anschleichen, wenn du deine Arme behalten willst.“
„Und noch heißer, wenn du dich aufregst“, raunte Christian und stellte sich neben sie. „Oh, Mann. Das waren die längsten zehn Stunden meines Lebens. Und das will was heißen! Gott sei Dank wurden wir endlich abgelöst.“
Bei dem plötzlich mürrischen Tonfall schaute Xandra zu ihm auf und entdeckte müde, abgespannte Gesichtszüge und dunkellila Augenringe. Dennoch sah er noch immer aus wie ein Model, das eben aus der Zeitung auferstanden war. Einfach zum anbeten.
Er neigte den Kopf und brachte die Lippen erneut an ihr Ohr. „Ich hätte die Zeit wirklich viel lieber mit dir verbracht. Vielleicht in meinem Bett… oder in deinem…Wir hätten sowas wie vor unserem Flug nach Europa gemacht… Und du hättest meinen Namen gerufen, versprochen!“
Xandra wurde bei den Vorstellungen, die er in ihrem Kopf wachrief, schon wieder ganz warm. Jedoch mischten sich in die gegenwärtigen Gefühle auch die von heute Mittag, als Evrill ihr so nahe gekommen war. Auf vielerlei Ebenen.
Verflucht! Sie war auf dem besten Weg, sich in Teufelsküche zu bringen.
Sie musste sich endlich am Riemen reißen und dieses verkorkste, unrealistische Etwas, das sie mit Evrill verband, in einer Truhe ganz hinten in ihrem Verstand verstauen. Die Klappe-zu-Affe-tot-Methode klappte jedoch nur bedingt, weswegen sie zu drastischeren Maßnahmen überging.
„Das können wir ja ein andermal nachholen… Aber zuerst solltest du etwas essen. Du siehst k.o. aus.“
„Nicht so sehr wie du. Wie war dein Tag? Was hast du getrieben?“ Sein intensiver Blick durchleuchtete Xandra.
Sie strich sich das Haar aus dem Nacken, versuchte auf die Weise zu überspielen, dass sie für eine Zehntelsekunde erstarrt war. „Viel Arbeit und keine Aussicht auf Erfolg. Sagen wir, ich hätte mich auch besser an deine Wunschvorstellungen halten sollen.“ Wirklich wahr!
„Meine Rede…“, grinste Chris und gähnte ausgiebig. Seine erschöpften Gesichtszüge weckten sofort Xandras fürsorgliche Seite.
Sie stellte sich vor ihn und strich ihm das weiche Haar aus der Stirn. „Komm‘ ich bringe dich jetzt ins Bett. Nach einem Abstecher in die Küche.“
„So sehr mich das Angebot reizt, ich hatte eigentlich etwas anderes mit dir vor“, entgegnete er in verführerischem Tonfall, nahm ihre Hände und legte sie sich um den Nacken.
„Du hast doch gesagt…“
„Habe ich. Aber ich bin davon ausgegangen, dass mit ‚ein andermal‘ noch etwas später als jetzt gemeint ist.“ Er lächelte träge und seine überirdisch blauen Augen funkelten vergnügt. „Und keine Sorge, ich vergesse garantiert nicht, dass du heute noch meinen Namen schreien wolltest.“
„Ich?!“ Xandra musste unwillkürlich ebenso lächeln. Seine entwaffnende Nonchalance kriegte sie irgendwie immer wieder dran. „Weißt du, ich glaube du bist schon so erledigt, dass du nur noch wirres Zeug faselst. In meiner Funktion als Ärztin des Stützpunktes verordne ich dir hiermit strikte Bettruhe.“
„Akzeptiert. Später.“
„Warum…?“
„Soll eine Überraschung werden.“
Er hatte ihr schon ein paar Mal bewiesen, dass er einige davon auf Lager hatten und die bisherigen Erfahrungen versprachen einen spannenden Abend, wenn sie auf das Angebot einging. Zu ihrer großen Schande verdiente sie jedoch nicht gerade Bestnoten im „Sich-überraschen-lassen“. Sie behielt einfach zu gerne die Kontrolle und sofort stellten sich ihr eine Reihe von Fragen.
„Was machen wir? Ich meine, gib‘ mir ein paar Eckdaten. Brauche ich mein Sportzeug oder Wanderschuhe? Oder vielleicht ein Abendkleid?“
Christian lachte leise. „Obwohl ich dich nur zu gern in einem kurzen Schwarzen sehen und es dir dann langsam und genüsslich ausziehen würde, muss ich dich leider enttäuschen. Du brauchst weder das eine noch das andere. Ich werde alles Nötige besorgen und wir treffen uns in einer Viertelstunde in der Garage.“
„Aber, was wenn…?“
„Komm‘ schon! Vertraust du mir etwa nicht?“
Und zumindest diese Frage konnte sie unter seinem treuherzigen Blick mit Überzeugung beantworten.
„Doch, das tue ich.“
Als sie am Treffpunkt ankam, wartete ihre Verabredung bereits.
Chris lehnte an einer Kawasaki und hielt ihr Nierengurt und Helm hin. Zwei dicke Taschen weiter hinten an der Maschine deuteten darauf hin, dass er tatsächlich noch einiges mit ihr vorhatte.
„Wir machen eine Ausfahrt?“
„Warst du heute überhaupt schon mal draußen? Das Wetter ist spitze und auf dem Rückweg darfst meinetwegen auch du fahren.“
Die Aussicht war verlockend. Sie hatte an diesem Tag wirklich noch keinen Blick hinaus geworfen und nachdem sie hinter Chris aufgestiegen und er die Maschine in den Hof gerollt hatte, erwartete sie dort ein wunderschöner Herbstabend.
Sie fuhren los, allerdings nicht Richtung Ceiling sondern weiter aufs hügelige Land hinaus. Sie passierten in goldenes Licht getauchte Täler und farbenprächtige Wälder. Die tief stehende Sonne ließ die Blätter an den Bäumen in sattem Rot, Orange und Gelb aufleuchten. Da wusste man, woher der Begriff „Indian Summer“ kam. Schließlich lenkte ihr Fahrer die Maschine über eine Serpentinenstraße und Xandra wurde eins mit ihm, folgte der Neigung seines Körpers in jeder Kurve. Sie gingen eine Einheit ein und während der frische Fahrtwind durch ihr Haar peitschte, ihren Kopf freipustete und die Geschwindigkeit ihre Adrenalinproduktion anheizte, fühlte sich Xandra heiter und beschwingt.
Nach etwa einer halben Stunde hielt Chris mitten auf einer Landstraße an. Er langte hinter sie und holte zwei Regenmäntel aus den Gepäcktaschen hervor.
Mit einem Blick zum wolkenlosen Himmel fragte sie: „Wozu denn das? Es sieht gar nicht nach Regen aus.“
„Wart’s nur ab. Das kommt noch“, sagte er und da er ganz unnachgiebig dreinschaute, fügte sie sich. Kurz darauf setzten sie die Fahrt mit den zusätzlichen Jacken bekleidet fort, obwohl weiterhin nichts auf einen Wetterumbruch hindeutete.
Wenig später wurde Christian langsamer und bog auf einen Kiesweg ein. Sie hopperten eine Weile an Wiesen und Feldern entlang, bis sie einen Halbmondförmigen Hein erreichten, der einen weiten See umgab. Auf der Wasseroberfläche spiegelte sich die untergehende Sonne und Xandra stellte sich auf eine Rast an diesem malerischen Ort ein.
Doch anstatt die Geschwindigkeit zu drosseln, gab Christian plötzlich Gas. Die Maschine hob sich vorne wie ein scheuendes Pferd, dann raste sie geradewegs aufs Wasser zu!
„Chris?!“, entfuhr es Xandra, während das Ufer immer näher kam. Noch vier Meter, noch drei…
„Chris! Stopp!!!“ Sie würden total baden gehen! „Du Wahnsinniger…!“ Dagegen halfen diese beschissenen Regenmäntel auch nichts, schoss es ihr durch den Kopf, dann holte sie tief Luft und kniff reflexartig die Augen zu, rechnete fest damit abzusaufen.
Aber nichts geschah.
Nur das Geräusch der Reifen hatte sich verändert. An die Stelle des Knirschens auf Kies war ein wasserfallartiges Rauschen getreten und plötzlich wurde sie doch von ein paar Wassertropfen getroffen.
Überrascht riss sie die Lider wieder auf und sah sich um.
Sie fuhren übers Wasser! Links und rechts von ihnen entstanden kleine Fontänen, die die Reifen bei der Überfahrt verdrängten. Woher auch die kleinen Wasserspritzer kamen. Trotzdem glitt das Motorrad mühelos dahin, als bewegte es sich auf einem kleinen Luftkissen, vermittelte ein Gefühl von Fliegen.
Xandras ganzer Körper reagiert sofort mit Endorphinen auf die Erfahrung. Ihr Herz schlug höher, ein unbändiges Glücksgefühl bemächtigte sich ihrer und sie jauchzte unwillkürlich. Ihr Freudenschrei hallte über den See und während Chris noch ein wenig schneller fuhr, breitete Xandra die Arme aus, glitt mit den Fingern durch die Wasserfontänen und ließ den Blick über die glitzernde Wasseroberfläche vor ihnen schweifen.
Wow, Freiheit pur!
Breit lächelnd lehnte sie sich vor. „Vielleicht hat dein Wahnsinn auch was Gutes.“
Nach der feuchten Spritztour lagen sie am Ufer des Sees auf einer Decke und verspeisten ein Picknick, das Christian ebenfalls aus den Gepäcktaschen hervor gezaubert hatte. Sie aßen still, bestaunten die letzten Strahlen der Sonne und genossen die friedvolle Stimmung. Obwohl es immer kühler wurde, froren sie nicht.
„Was für ein Tag“, murmelte Xandra nach einer Weile mehr zu sich selbst.
„Siehst du?! Dein Vertrauen hat sich bezahlt gemacht. Und weißt du was? Ich setzte noch einen drauf. Gib mir deine Hand.“
Er kam auf die Beine und streckte ihr besagtes Körperteil entgegen. In seinen Augen blitzte der Schalk. Ohne Zögern ergriff sie, was ihr angeboten wurde uns ließ sich in die Höhe ziehen. Er führte sie erneut hinab zum Wasser und blieb dort stehen, wo seichte Wellen am Kiesstrand leckten.
„Hast du Lust mal übers Wasser zu wandeln wie Jesus?“
Xandra betrachtete seine lässige Miene zweifelnd. „Kriegst du das hin?“
„Klar! Nur zu!“ Er ließ sie los und machte eine einladende Geste in Richtung See.
Zögernd ging Xandra vorwärts, bis sie kurz davor war, den ersten Fuß ins Wasser zu tauchen. Doch anstatt dass ihr Stiefel versank, fühlte sich die blau glitzernde Oberfläche eher wie Wackelpudding an. Sie gab ein wenig unter dem Gewicht ihres Beines nach und federte dann leicht zurück. Mutig geworden wagte Xandra sich weiter vor und schob sich Schritt für Schritt über den wankenden Untergrund. Fasziniert stellte sie bald fest, dass sie auch wie auf einem Trampolin hüpfen konnte und die elastische Wasseroberfläche sie mit jedem Mal weiter empor katapultierte. Kichernd probierte sie verschiedene Figuren aus und dachte so bei sich, dass Chris mit seiner Gabe wirklich einfallsreich war.
Zu guter Letzt ließ sie sich auf den Rücken fallen, schaukelte auf den sanften Wellen dahin und blickte in den schon beinahe nachtblauen Himmel hinauf. Erste Sterne waren zu sehen und der Mond erschien hell leuchtend am Firmament. Chris kam herüber und legte sich neben sie.
„Das ist einfach der Wahnsinn, Chris… Du bist der Wahnsinn“, flüsterte sie gen Himmel. Ihre Worte wurden vom Rauschen des Windes davon getragen, aber sie wusste, dass er sie gehört hatte, denn er nahm ihre Hand.
„Und noch dazu ganz dein.“
Xandra erstarrte. Oh, oh… „Wirklich? Ich meine, was sind wir…? Gibt es irgendwelche Regeln?“
„Wir sind du und ich. Und wenn es passt, brauchen wir keine Regeln.“
„Aber…“
Er stützte sich auf die Ellenbogen und sah ihr direkt in die Augen. „Keine Sorge, ich will nur dich.“
Oh, Mist… Er hatte sie offenbar falsch verstanden, aber diese ernste Erklärung erreichte ihr Herz. Unwillkürlich schlang sie die Arme um seinen Nacken und zog ihn zu einem Kuss heran.
„Du solltest mich jetzt nicht ablenken…“, flüsterte er noch, doch da berührten sich ihre Lippen bereits, verschmolzen in feuchter Hitze.
In der nächsten Sekunde war der Widerstand unter Xandra verschwunden und sie beide tauchten prustend in eiskaltes Wasser.
Wo zum Teufel steckte die Frau bloß, wenn er sie brauchte?!
Er war bis eben in Jordans Lasterhöhle gewesen und hatte brisante Neuigkeiten, die Xandra unbedingt erfahren musste. In der Eingangshalle entdeckte er sie schließlich. Sie kam gerade gemeinsam mit Christian aus der Garage. Beide kicherten und waren offensichtlich bis auf die Knochen durchnässt.
Ein fieser Schmerz breitete sich in Evrills Brust aus und obwohl er sich für einen Gentleman hielt, hätte er dem anderen Elevender gerne hier und gleich eingebläut, zu wem Xandra wirklich gehörte. Als diese ihn entdeckte, fiel ihr das Grinsen geradezu aus dem Gesicht.
„Was… was machst du hier?“
„Dich suchen“, erwiderte so gleichmütig wie möglich.
„Wirklich?“ Ihre Stimme klang unnatürlich hoch und Christian warf ihr einen prüfenden Blick zu.
„Es gab wieder einen Anschlag. Auf ein Firmengebäude der Campbells.“
Beide Zuhörer wurden sofort ernst und Xandra brauchte nicht lange, um die Lage einzuschätzen. „Was für ein Gebäude?“
„Es hat eins ihrer Lager getroffen. Sie bauen Rohstoffe ab.“
„Das müssen wir uns sofort ansehen. Ich werde mir nur eben was Trockenes anziehen und dann ein Team zusammentrommeln. Und… weiß Cat schon Bescheid?“
Als Evrill den Kopf schüttelte ging sie los, um die Freundin zu informieren, nicht jedoch, ohne ihm einen warnenden Blick zuzuwerfen.
Den ignorierte er geflissentlich und wartete, bis sie im Aufzug verschwunden war. Er hatte nicht vor diese Notwendigkeit vor ihren Augen zu erledigen. Doch bevor er sich darüber klar wurde wie er anfangen sollte, erhob Chris die Stimme.
„Lass‘ mich raten. Du willst mir eine Antwort auf meine Frage geben.“
Evrill nickte grimmig. „Ich kann ihr nicht erzählen, dass ihr Vater etwas über sie gesagt hat, bevor er gestorben ist. Ich werde Xandra nichts vormachen. Und aus demselben Grund werde ich ihr sagen, was ich für sie empfinde.“
„Wenn mich nicht alles täuscht, hast du das schon.“ Chris‘ durchdringender Blick traf ihn. „Und jetzt willst du dein schlechtes Gewissen besänftigen, indem du mich warnst.“
Verdammt, der Kerl war gut. Und noch dazu grinste er völlig unbeschwert, als ob er in Evrill sowieso keine Bedrohung sähe. Immerhin bedeutete das keine Prügelei. „Das kannst du sehen wie du möchtest. Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt.“
„Das wusste ich schon vor dir. Und weil du so nobel bist, werde ich dir auch einen guten Rat geben. Du glaubst du kennst sie? Das tust du nicht. Sie hat sich verändert und vielleicht werden weder du noch ich jemals zu ihr durchdringen.“
„Was soll das heißen?“, fragte er verblüfft und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Dass sie nicht besonders entscheidungsfreudig ist, was ihr Liebesleben angeht. Du solltest dich auf einen langen Weg einstellen, Kumpel.“
Evrill hätte beim letzten Wort am liebsten geknurrt. „Vielleicht ist sie das nur nicht, was dich angeht…“
„Unwahrscheinlich“, erwiderte Christian mit einem Gesichtsausdruck, der bewies wie überzeugt er von sich war. Was Evrill ihm nicht verdenken konnte, schließlich war das hier ein David-gegen-Goliath-Kampf. „Du bist doch der Kerl, der sich so lange nicht bei ihr gemeldet hat. Dann solltest du doch wissen, dass das nicht nur für mich gilt. Dich hat sie doch damals ebenfalls nicht an sich ran gelassen. Und daran wird sich auch nichts ändern.“
Evrill verengte die Augen zu Schlitzen. Offenbar hatte er seinen Gegner trotz seines gehörigen Respekts grundlegend unterschätzt. „Das werden wir noch sehen.“
„Ja, das werden wir wohl. Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich muss diesen äußerst informativen Plausch auf später verschieben. Bevor wir losfahren sollte ich mich noch umziehen. Auf unserem Ausflug sind wir klitschnass geworden. Xandra hat so ihre Methoden, meine Konzentration zu stören. Aber du weißt ja, wovon ich rede.“
Evrill biss die Zähne zusammen, seine Sicht wurde in Rot getaucht und Zorn wallte in ihm auf. Wäre er nicht so anständig gewesen, hätte er dem anderen das überhebliche Grinsen aus dem Gesicht geschmirgelt. Vorzugsweise mit einer Schleifmaschine. Dann würde sein Gegner nicht mehr so hübsch aussehen, was?
Offenbar hatte der Kerl vor, Xandra vorerst nicht aus den Augen zu lassen. „Du begleitest das Team zum Lager?“
„Aber sicher doch.“
Na, toll! Das konnte ja heiter werden… „Ich auch.“
In diesem Moment kam Pareios aus dem Aufzug gestürzt und wirkte total aus dem Häuschen. In seinem Gesicht stand fieberhafte Aufregung. „Ich komme gerade von Aurelia. Es gibt Neuigkeiten, die wie eine Bombe einschlagen werden!“
„Dieser Plan klingt so irre, dass er tatsächlich funktionieren könnte…“
„Exakt. Wenn wir’s klug anstellen, können wir uns sogar aus der Geschichte raushalten.“
Xandra horchte auf und drehte sich zu Pareios um. „Wie das?“
Evrill schaltete sich von der anderen Seite der Rückbank aus ein. „Ich habe geschäftliche Kontakte zu ein paar Hegedunen. Ich könnte die Info als Gerücht streuen. Die wissen nicht, dass ich mit der Legion arbeite, damit bestünde kein Zusammenhang zu euch.“
Xandras Herz blieb beinahe stehen. „Zu uns vielleicht… aber du gerätst direkt ins Fadenkreuz!“ Upps, sie war wohl laut geworden, denn plötzlich sahen sie alle an. „Ich… ich meine, woher willst du wissen, dass deine Geschäftspartner genügend Einfluss haben, damit das Gerücht auch die Richtigen erreicht? Am Ende bringst du dich ganz umsonst in Gefahr.“
„Ich finde die Idee brillant“, kommentierte Chris neben ihr. „Gerüchte können mehr Macht entwickeln, als eine bloße Warnung.“
Pareios nickte. „Das denke ich auch. Überleg‘ doch mal. Zum ersten Mal könnten wir die Hegedunen für uns die Drecksarbeit machen lassen. Und bis das Gerücht die Runde macht, ist Evrill schon wieder in der Deckung verschwunden.“
„Du willst sie auch noch treffen? Alleine???“, hakte sie entgeistert nach. Hätte ein Telefonat denn nicht gereicht?
„Alles andere würde nur Mistrauen hervorrufen. Und wenn ich die Info unauffällig an den Mann bringen will, muss ich unter einem anderen glaubwürdigen Vorwand Kontakt aufnehmen. Das funktioniert besser von Angesicht zu Angesicht.“
„Aber…“
„X, du bist überstimmt. Wir werden schon auf ihn aufpassen.“ Christian warf ihr einen durchleuchtenden Seitenblick zu und plötzlich wurde ihr bewusst, wie verdächtig sie sich gerade verhielt. Peinlich berührt schloss sie den Mund und hoffte, dass er nicht die richtigen Schlüsse ziehen würde. Mist, diese Auseinandersetzung konnte sie nicht weiter ausfechten, ohne sich zu verraten. Sie ließ sich in den Sitz zurückfallen und starrte wütend aus dem Fenster. Indessen planten die anderen das verhängnisvolle Vorhaben, das bei Xandra jetzt schon Bauchschmerzen verursachte.
Orcus wollte die Klerusmitglieder infiltrieren, was für eine Neuigkeit, die Aurelia da tatsächlich aus dem Kopf des Feindes gestohlen hatte. Trotz der Bedrohung war diese Entwicklung insgesamt sicher positiv. Immerhin wussten sie jetzt, was der Feind vorhatte und konnten ihn bespitzeln. Außerdem war Pareios‘ Plan an sich grundsätzlich nicht schlecht. Nur… Evrill so nah bei einem Hegedunen zu wissen… Der Gedanke schnürte ihr die Kehle zu.
Chris parkte den Wagen an der Rückseite eines wahren Trümmerfelds.
Gegen 21 Uhr hatte die Explosion eine große Lagerhalle in einem Industriegebiet am Rand von Ceiling getroffen. Zwei Wachmänner waren dem Inferno zum Opfer gefallen, sonst war die Halle zum Glück nicht mit Personal besetzt gewesen. Tagsüber arbeiteten dort laut Cat ein Dutzend Menschen. Sie und die anderen studierten in Blackridge die Bestandlisten des Lagers und suchten eine Antwort darauf, warum der Angriff gerade hier stattgefunden hatte.
Xandra zog die Sturmhaube über und stieg aus. Der Rest des Teams folgte ihrem Beispiel und sie verteilten sich über das Gelände, das im Dunkeln einer zerklüfteten Felsenlandschaft glich. Die Polizei hatte das Grundstück bereits mit neongelben Bändern abgesperrt. Hier und dort befanden sich Pfützen vom Löschwasser der Feuerwehr. Der vordere Teil der ehemaligen Halle war nur noch ein Krater. Das Dach hatte sich förmlich über das weiter hinten gefaltet und es zum Einsturz gebracht. Dort formten riesige Metalltrümmer ein beinahe unzugängliches Labyrinth.
Die Männer übernahmen die Suche in den Gebäuderesten, weswegen sich Xandra den leichter zugänglichen Bereichen widmete. Da schien jedoch alles pulverisiert und sie wandte sich in Richtung Straße. Das Lager stand zwischen anderen Hallen und die waren nicht beschädigt worden. Dennoch fiel ihr beim Tor angelangt auf, dass die Detonation offenbar die Kameraüberwachung in Mitleidenschaft gezogen hatte. Die Geräte auf den Spitzen der Zaunpfeiler hingen nur noch an einzelnen Kabeln herunter wie verdurstende Tulpen. Der Radius der Druckwelle reichte bis auf den Asphalt vor dem Grundstück. Wahrscheinlich war die Bombe ganz vorn gezündet worden. Vielleicht waren die Türen sogar noch offen gewesen. Warum sonst hätte sich die Kraftentwicklung nur in eine Richtung ausbreiten können?
Aber wieso…?
Xandra stutze.
Sie war gerade an dem Sicherungskasten an der Straße vorbei gelaufen und etwas silbrig Schimmerndes lag auf dem grauen Plastikgehäuse. Sie blieb stehen und trat näher.
Bei genauerer Betrachtung stellte sich der Gegenstand als silberne Münze heraus.
Nachdenklich nahm sie das Geldstück in die Hand und befühlte das kühle Metall. Ihre Finger glitten über die Ränder, spürten unregelmäßige Rillen. Moment…
Sie besah sich das Schloss des Sicherungskastens. Es war eines dieser Dinger, die einen Schlitz in der Mitte hatten. Solche, die man mit etwas Dünnem, Schmalem drehen könnte…
Und auch dort ertastete sie ein Relief aus großen und kleinen Kerben.
Voller Spannung fummelte Xandra das Schloss auf, plötzlich ganz sicher, was sie finden würde…
Auf den ersten Blick schien alles normal. Aber dann entdeckte sie im Kabelsalat eines, das ein wenig dünner als alle anderen wirkte. Als wäre es erst nachträglich ausgetauscht worden.
Verblüfft sog sie die Luft zwischen den Zähnen hindurch. Das hier war gar keine Aufräumungsaktion! Und auch keine Jagd nach Cats Eltern, wie sie bisher vermutet hatten. Hier handelte es sich eindeutig um…
Hinter ihr raschelte es plötzlich und sie fuhr erschrocken herum.
Bevor sie sich richtig umsehen konnte, wurde sie von einem schwarzen Schatten angesprungen. Sie landete hart auf dem Rücken, das schwere Gewicht presste ihre Rippen schmerzhaft zusammen. Die Luft entwich mit einem tiefen Keuchen und ließ sie nach Atem ringend zurück. Die Sekunde, die sie damit verschwendete, reichte dem Unbekannten aus, um ihr einen harten Schlag gegen die Schläfe zu verpassen, dass sie Sterne sah. Ein weiterer landete auf ihrem Jochbein und noch einer auf dem Kinn. Ihre Lippe platzte auf. Alles drehte sich.
Und da riss er ihr die Sturmhaube vom Kopf.
Der Schock ließ sie wieder zu sich kommen. Reflexartig schob sie den Schmerz und die Benommenheit beiseite und langte nach dem Gesicht des Angreifers. Mit aller Kraft drückte sie die Daumen in seine Augenhöhlen, bis er loslassen musste. Ein schneller Schlag gegen seine Kehle beförderte ihn von ihr runter. Schwer keuchend kam sie auf die Knie. Auch der Gegner rappelte sich röchelnd auf und sah sie hasserfüllt aus geröteten Augen an. Im Gegensatz zu Xandra trug er noch seine Sturmhaube, aber Größe und Kraft hatten ihr bereits verraten, dass er ein Mann und Elevender sein musste.
Im nächsten Augenblick hatte er eine Waffe in der Hand. Ohne nachzudenken sprang sie auf und trat nach ihm. Als ihr Stiefel seinen Arm nach oben beförderte, löste sich ein krachender Schuss. Das Geräusch hallte durch die Nacht und wurde von den metallenen Fassaden um sie herum vielfach zurück geworfen. In ihrem Rücken vernahm sie die entsetzten Rufe ihrer Kollegen.
Aber die würden nicht rechtzeitig zur Stelle sein. Das hier musste sie selbst in den Griff kriegen.
Sie bekam das Handgelenk des anderen zu fassen und riss daran, gleichzeitig rammte sie ihm durch den Schwung seines eigenen Körpers den Ellenbogen ins Gesicht. Etwas knackte, er grunzte und Blut rann unter der schwarzen Wolle der Maske hervor.
Xandra zog das linke Knie mit einem Ruck an, benutzte es als Hebel und brach ihm den Arm. Mit einem Aufschrei ließ er die Waffe fallen und begann zu taumeln. Ein weiterer Tritt beförderte ihn zu Boden.
Schwer atmend leckte Xandra sich über die blutige Lippe. Zeit, die Sache zu beenden.
Sie stürzte sich auf ihn, holte aus und…
Etwas Stumpfes traf ihren Bauch mit voller Wucht und stoppte ihre Bewegung. Der erste dumpfe Schmerz verwandelte sich plötzlich in spitzes, heißglühendes Stechen, das sie regelrecht durchfuhr. Sie sah erstaunt nach unten.
Ein Metallstab ragte aus ihrer Mitte. Und dem Schmerz nach zu urteilen hätte sie darauf gewettet, dass er an ihrem Rücken wieder ausgetreten war. Oh, oh…
Ungläubig starrte sie den Angreifer an, spürte, wie die Beine plötzlich zu Gummi wurden und unter ihr nachgaben. Sie sackte auf die Erde und erbrach einen Schwall Blut. Sie hatte sich noch nicht wieder gefangen, als sie grob am Haar gepackt und hochgerissen wurde. Eine Schneide grub sich in die Haut an ihrer Kehle.
Ein letzter verzweifelter Widerstand regte sich in ihr. Nein! Sie würde heute Nacht nicht sterben!
Mit tauben Fingern tastete Xandra panisch nach ihrer eigenen Waffe, zog sie und schoss.
Sie wusste nicht, wo sie getroffen hatte, aber mit einem Mal war sie frei.
Noch während sie kraftlos zur Seite fiel, machte sich der unbekannte Elevender aus dem Staub.
Evrill erreichte sie zuerst. Seit dem Schuss war das Blut in seinen Adern gefroren und jetzt hätte er sich beinahe vor Schreck übergeben, als er erkannte, wie schlimm Xandra verletzt war.
Er kniete sich neben sie, da rührte sie sich stöhnend.
Erleichtert half er ihr beim Aufsetzen und betrachtete alarmiert die Metallstange, die zweifelsohne eine Menge Schaden angerichtet hatte. In diesem Moment trudelte auch Christian ein und setzte sich auf ihre andere Seite. Pareios nahm indessen die Verfolgung der flüchtenden Person auf.
„Na, da hast du dir ja was eingefangen“, meinte der Kollege zu Xandra und begutachtete auch ihre Rückseite, wo der andere Teil des Eisens hervor ragte.
Sie hob währenddessen die Mundwinkel zur Andeutung eines Lächelns, das ihr nicht so recht gelingen wollte. „Ich dachte, es wäre mal wieder Zeit dafür. Au!“ Sie zuckte bei einer Bewegung.
„Ich zieh sie raus.“
Evrill erschrak und stoppte den anderen Elevender. „Bist du wahnsinnig?“
„Ist schon gut“, flüsterte Xandra schwach. „Ich kann mich heilen. Also bist du mir jetzt behilflich?“
„Ich…
„Fuuuck!!!“, brüllte sie, als Chris die Stange unvermittelt mit einem einzigen Ruck entfernte.
„Hey!“ Er bedachte ihn mit einem zornigen Blick.
Xandra keuchte in tiefen Zügen. „Besser… ohne… Vorwarnung.“ Sie ließ sich auf den Rücken sinken und bedeckte die stark blutende Wunde im Oberbauch mit den Händen. Es half nicht viel. Die rote Flüssigkeit sprudelte förmlich zwischen ihren Fingern hindurch.
„X???“ Das ging eindeutig nicht schnell genug!
Endlich begannen ihre Hände durch die Heilkraft zu leuchten. In der Dunkelheit musste er weg sehen, um nicht blind zu werden. Stattdessen fixierte er ihr fahles Gesicht, das einige Blutergüsse und einen Cut an der Lippe aufwies. Sein Herz zog sich vor stummer Wut zusammen, während er sich vorstellte, wie die Verletzungen entstanden waren.
Wäre er nur ein paar Sekunden früher dagewesen…
Langsam aber sicher versiegte der Blutstrom, Farbe kehrt zurück in ihre Haut. Ihre Atmung wurde ruhiger, der Ausdruck in ihren geschundenen Zügen entspannte sich. Zeit, dass auch er aufatmete. Eine Portion Frischluft später, hätte er Xandra am liebsten an sich gezerrt, um zu spüren, wie sie lebte. Dass sie sich erholen würde.
Doch Christian gegenüber hatte sich bereits über sie gebeugt und strich ihr zärtlich das Haar aus der Stirn. Xandra schlug die Lider auf und der warme Blick, den sie dem blonden Elevender schenkte, traf Evrill fast wie eine Ohrfeige.
Von der trauten Zweisamkeit der beiden ausgeschlossen, wich er zurück. Er hatte geahnt, dass der Kampf um diese Frau hart werden würde, aber er hatte vorher nicht in Betracht gezogen, dass sie wirklich Gefühle für seinen Gegenspieler hegte. Doch das tat sie. Er sah es in ihren Augen. Christians unübersehbare Perfektion war nicht das Einzige, das sie an ihn band.
Noch während er die Erkenntnis verdaute, kam Xandra wieder auf die Beine. Ihr Freund stützte sie beim Gehen. Gemeinsam wankten sie hinüber zu einem Sicherungskasten.
„Er hat sie mitgenommen.“
„Was?“, erkundigte er sich von hinten.
„Eine Münze. Damit haben sie den Kasten aufgebrochen und die Stromversorgung des Gebäudes lahmgelegt. Außerdem war das vordere Tor offen, als die Sprengladungen gezündet wurden. Ich glaube, die haben versucht, einen Diebstahl zu vertuschen. Offensichtlich wollten sie den Beweis wieder haben.“
Nachdenklich inspizierte Evrill den Schauplatz. Unter der Annahme, dass die Campbells für Orcus arbeiteten und verschwunden waren, kurz bevor die Anschläge begonnen hatten, passte dieser Diebstahl nicht ganz ins Bild. Wenn sich die Menschen in seiner Gewalt befanden, warum sollte Orcus seine eigenen Mitarbeiter bestehlen? Oder war es jemand anderes gewesen?
Es sei denn… „Ich glaube, Cats Eltern haben sich tatsächlich abgesetzt.“
„Warum?“
„Nehmen wir an, die Campbells haben mit Orcus gearbeitet. Eines Tages wird es ihnen zu viel und sie geben ihm nicht mehr was er will. Er will sie einschüchtern, indem er ihr Heim in die Luft sprengt als sie nicht da sind. Die Botschaft ist eindeutig. Er kann sie überall dran kriegen, wann immer er will, sogar zu Hause. Doch dann verschwinden die Campbells und Orcus muss sich was anderes einfallen lassen, um heimlich an das zu kommen, das ihm die Campbells sonst geliefert haben.“
„Womit wir bei dem Diebstahl wären“, vollendete Xandra seine Gedanken.
„Richtig. Des Weiteren wissen wir, dass Cats Eltern mit Rohstoffen handeln und sie sagte, dass ihr Vater schon mal in einem der Labore seines Auftraggebers gewesen sei. Das bedeutet doch, dass die Rohstoffe irgendwas mit den Steinen zu tun haben!?“
„Aber Dante ist tot“, warf Christian ein. „Wozu sollte Orcus die Dinger noch brauchen?“
„Naja. Syrus, der Wissenschaftler im Bunker, war überzeugt, dass chemische Bestandteile der Steine nach dem Vorbild menschlicher DNA geschaffen wurden und nach dem Überfall gingen wir davon aus, dass die Übereinstimmung der Gene des Steins und der des Nutzers den Energieaustausch zwischen beiden ermöglichte. Also rein theoretisch, könnte man für jeden Elevender einen passenden Verstärker-Stein züchten.“
„Wenn man genügend Rohstoffe hat“, fiel Xandra erneut ein und wirkte plötzlich sehr aufgeregt. „Hat er hier bekommen, was er wollte?“
Evrill zuckte mit den Schultern. „Die Kameras sind hinüber, der Überwachungsraum im Eingangsbereich auch. Vielleicht gibt es eine Firmenzentrale, wo die Aufnahmen gespeichert sind.“
„Ich rufe Cat an.“ Chris zückte sein Telefon und entfernte sich ein wenig für das Gespräch. Automatisch wollte Evrill den freien Platz einnehmen, doch da kam Pareios zurück. Mit leeren Händen.
„Der Kerl hat sich ein paar Straßen weiter einfach in Luft aufgelöst. Alles ok bei dir?“
Xandra bejahte und richtete sich zum Beweis auf. Danach beschrieb sie, zu welchen Erkenntnissen sie gekommen waren.
„Er will die Steine, um das mit dem Klerus schneller durchziehen zu können“, mutmaßte der nach den Schilderungen. „Das ergibt Sinn. Und vielleicht will er sich tatsächlich eine Armee von Sklaven schaffen.“
Viktor sollte nur der erste einer Reihe superhöriger Soldaten sein? Evrill schüttelte sich unwillkürlich. „Er wird mehr Elevender brauchen und auch Rohstoffe, wenn er sie hier noch nicht bekommen hat. Wir sollten schnellst möglich herausfinden was für Zeug er sucht und wo es zu finden ist.“
Alle Anwesenden stimmten seinen Worten zu und sie kehrten zum Auto zurück. Evrill verzog sich nachdenklich auf den Rücksitz. Er musste sich auf ein Treffen vorbereiten. Und bezüglich Xandra war ihm klar geworden, dass er die schweren Geschütze auspacken musste, wenn er diesen Krieg gewinnen wollte. Als wäre sein Vorhaben nicht schon schwer genug gewesen.
Er brauchte DIE große Geste.
Doch wie zum Teufel sollte die bloß aussehen?
Es klopfte an seiner Tür.
Evrill stieg aus dem Bett und schlüpfte in eine Jeans. Dann öffnete er mit einem verwunderten Blick auf die Uhrzeit und war noch überraschter, als er in Xandras Gesicht schaute. Die Blutergüsse hatte sie schon im Auto geheilt, doch der Hautton rangierte immer noch zwischen aschfahl und grau. Sie musste viel Blut verloren haben.
„Was machst du denn hier?“ Seine Stimme klang ungläubiger als beabsichtigt. Nach der Rückkehr auf das Anwesen hatte Chris Xandra zu einer Pause genötigt und sie natürlich höchstpersönlich ins Bett gebracht. Angesichts dessen hatte Evrill garantiert nicht mehr mit ihr gerechnet.
Trotzdem trat sein Körper automatisch zur Seite und ließ sie ein.
Ohne eine Antwort wanderte sie zum Bett, zögerte und setzte sich dann auf den Stuhl am Schreibtisch.
Er schloss die Tür und lehnte sich dagegen. „Wo hat du denn Chris gelassen?“
Zusammengekniffene Augen fassten ihn ins Visier und er hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Eifersüchteleien würden sie nur von ihm forttreiben.
„Ich meine, du solltest im Bett sein und dich erholen. Kann mir nicht vorstellen, dass er dich freiwillig auf den Beinen sein lässt.“
„Das ist nicht seine Entscheidung“, entgegnete sie knapp und er hörte beinahe das ‚und deine auch nicht‘, das sie nicht aussprach. „Hast du schon deine Kontakte bei den Hegedunen aktiviert?“
„Du willst dich doch jetzt nicht mit mir streiten?! Das wäre in deinem Zustand ziemlich dämlich.“
„Muss ich mich denn mit dir streiten? Dir ist doch klar, wie gefährlich das für dich werden könnte?“
„Das heute war auch ziemlich gefährlich und ich erinnere mich nicht, dass dich das von irgendetwas abgehalten hat.“
„Aber wenn sie herausfinden, dass das Gerücht echt ist, kannst du dir auch gleich eine Zielscheibe auf den Rücken kleben!“ Xandras Stimme gewann an Nachdruck, während sie den Zeigefinger in seine Richtung stieß.
Er wollte ihr schon trotzig klar machen, dass er ein großer Junge war, der auf sich selbst aufpassen konnte, aber dann entdeckte er die steile Sorgenfalte, die sich auf ihrer Stirn gebildet hatte. Wie sie schluckte, als müsste sie einen Kloß hinunter würgen.
Bevor er zusammengesetzt hatte, was mit ihr los war, hatten sich seine Beine schon bewegt. Er setzte sich aufs Bettende und nahm ihre Hand. Die Finger waren kühl und starr, erwiderten seinen Griff nicht.
„Mir wird schon nichts passieren. Mach‘ dir keine Sorgen, ok?!“, sagte er diesmal sanfter. „Du weißt, dass die Idee gut ist.“
Sie sah ihn einfach nur mit diesem nicht zu deutenden Ausdruck an. Ihr Kinn begann zu beben.
„Hey… Was ist denn los? So kenne ich dich gar nicht.“ Er vergaß jede Befangenheit und zog sie auf seinen Schoß. Xandra machte sich steif und ließ es nur widerwillig geschehen, doch nachdem er sie zurecht gerückt hatte und verwirrt ihren Rücken streichelte, in der Hoffnung sie damit trösten zu können, klappte sie unvermittelt an seiner Schulter zusammen und zuckte vehement.
Er brauchte einen Moment, bis er kapierte, dass sie weinte. Das war dermaßen untypisch für sie, dass es die letzte Möglichkeit war, die sein Verstand in Betracht zog. Feuchtigkeit an seinem Hals verifizierte den Gedanken und er fühlte sich mit einem Mal hilflos. Er hatte viele Szenarien zwischen ihnen beiden im Kopf durchgespielt. Hatte geplant, wie cool und verführerisch er sich verhalten würde. Doch eine solche Situation war ihm dabei garantiert nicht in den Sinn gekommen.
Er strich weiter mit der Hand auf und ab, aber je mehr er streichelte, desto mehr weinte sie, weshalb er irgendwann damit aufhörte und sie nur noch festhielt. Er suchte immer noch nach Worten und eine fiese Stimme in seinem Hinterkopf war der Meinung, dass Chris jetzt gewiss gewusst hätte, wie man Xandra trösten konnte.
„Es… es tut mir… leid“, stammelte sie schließlich heiser und von Schluchzern unterbrochen. „Ich k…kann das nicht… Nicht nachdem mein Vater… U…und ich… ich dachte immer… Wenn ich da gewesen wäre,… w…wenn ich nur alles durchschaut hätte,… dann hätte ich… und… und wenn du den Hegedunen…. Ich dachte, ich könnte dich…, aber n…nach heute,… ich kann… ich kann noch nicht mal… mich selbst beschühüützen…. Ich…“
Evrill ging ein Licht auf. Die heutige Verletzung hatte sie wohl tiefer getroffen, als sie es zugeben hatte wollen. War sie überhaupt schon mal bedrohlich verwundet worden? „Das mit deinem Vater hätte keiner verhindern können. Glaub’ mir. Wir haben alles versucht, was in unserer Macht stand und sogar zu sechst ist es uns nicht gelungen. Und was heute angeht…“ Er lehnte sich ein wenig zurück, um sie anschauen zu können. Ihre verheulten Augen wichen seinem Blick aus, weshalb er sie am Kinn fasste und behutsam zu sich drehte.
„Heute hast du gewonnen. Du hast dich selbst geschützt. Ganz allein.“
„Aber…“
„Ich verstehe, dass diese Verletzung dein Sicherheitsgefühl erschüttert hat. Sie hat dir klar gemacht, dass du nicht unantastbar bist. Aber du hast überlebt. Du bist stark, du wirst immer überleben. Und dafür brauchst du weder mich noch irgendjemand anderen.“
Inzwischen waren die Tränen versiegt. Ihre feuchten Wimpern klappten ein paar Mal auf und nieder, als sie verdutzt blinzelte.
„Das war das erste Mal, stimmt’s?“
Sie nickte beklommen, senkte den Blick und ihre vom heulen geröteten Wangen nahmen eine noch dunklere Schattierung an. „Kaum zu glauben, was?! Ich habe schon die schlimmsten Verstümmelungen gesehen, aber… nie an mir.“ Jetzt sah sie mit einem irren, selbstironischen Ausdruck zur Decke. „Ich habe wohl vermessener Weise immer geglaubt, ich sei zu gut dafür.“
„Du bist auch gut!“, warf er nachdrücklich ein. „Sonst hätte es dich nicht erst nach knapp 500 Jahren erwischt. Aber für jeden kommt irgendwann der Tag, an dem wir auf jemanden treffen, der in diesem Moment eben besser ist.“
„Ja. Schätze, das weiß ich eigentlich auch.“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf, dann rutschte sie von seinen Knien und setzte sich neben ihn. Sie wischte sich rabiat die Tränen ab und schien langsam zu ihrer alten Form zurückzufinden. Das merkte er an der Distanz, die sie nicht nur zwischen ihre Körper brachte, sondern die sich nun auch wieder in ihren Gesichtszügen widerspiegelte. Außerdem konnte er sich denken, dass ihr der kleine Ausbruch peinlich war.
„Es ist ok“, erwiderte er und wusste gar nicht, was genau er eigentlich meinte.
„Nein. Ist es nicht. Das Ganze hat mich nur so getroffen, weil es bedeutet, dass ich niemanden schützen kann… Besonders nicht dich…“
„Ich hab‘ dir doch schon gesagt, dass ich selbst auf mich aufpassen…“
„Wenn dir was zustoßen würde… Ich könnte das nicht ertragen.“
Evrill fuhr herum.
„Ich meine, deine Eltern würden mir den Kopf abreißen“, fügte sie hastig mit scherzhaftem Tonfall an, doch er erkannte in ihren Augen dieselbe Wärme, die sie nach dem Angriff Christian geschenkt hatte.
„Du…“
„Ich sollte mich jetzt wirklich hinlegen. Für heute hatte ich genug Drama.“ Xandra stand auf.
„Hey.“ Sie stoppte und schaute zurück. „Ich würde dich niemals alleine lassen… Solange du das möchtest.“
Xandra sah ihn an, als würde sie ihn zum ersten Mal richtig sehen. Dann war es vorbei und sie riss sich aus der Starre. Sie ließ seine edelmütige Erklärung unkommentiert und verließ kurz darauf sein Zimmer.
So viel zur großen Geste, dachte er bitter. Wieso kam sie bloß nicht, wenn er sie so dringend brauchte?
Blaise wanderte nervös in der Küche auf und ab.
Es war mitten in der Nacht, Xandra war verletzt worden und sie war viel zu aufgewühlt, um schlafen zu gehen. Nicht auszudenken, wenn etwas schief gegangen wäre.
Ob sie wohl jemals stark genug sein würde, um so wie ihre Freundin als Jägerin in den Kampf zu ziehen? Fürs erste konnte sie es sich noch nicht mal vorstellen. Da waren ihr die vertrauten Hallen mit dem Herd und der Arbeitsplatte lieber. All ihre Stärken konnte sie hier gewinnbringend einsetzen, während sie als Jägerin lediglich als Spürhund taugte. Ob das genug für den Job war?
Bestimmt nicht. Vor allem solange sie in Gedanken die meiste Zeit bei einer einzigen Person war. Versonnen glitt ihr Blick zu dem Becher auf der Arbeitsfläche, in dem dampfender Tee auf sie wartete. Sie las den Spruch zum hundertsten Mal und ihr Herz flatterte in ihrer Brust so schnell wie ein Kolibri. Sie konnte es gar nicht erwarten, Slater wieder zu sehen. Vor allem deswegen trieb sie sich in dieser schlaflosen Nacht in der Küche herum. Ihn aufzusuchen kam nicht in Frage, sie hatte ja gesehen, was dabei heraus kommen konnte. Aber wenn er sie freiwillig in der Küche besuchen sollte… dann wollte sie das um keinen Preis verpassen.
Zerstreut wandte sie sich wieder den Vorbereitungen für die Antipasti zu, die sie morgen zum Mittag servieren wollte. Das geschnittene Gemüse landete in der Pfanne und briet vor sich hin. Indessen hackte Blaise duftende Kräuter und maß der wunderbar milden Balsamico für die Marinade ab. Vollmundige Aromen füllten die Luft, besänftigten ihren unsteten Verstand.
Als sie gerade alles in große Schüsseln verteilte, wurde die große Metallschwingtür geöffnet. Blaise hielt vor wilder Hoffnung den Atem an, doch es war…
„Yumi? Was machst du um diese Uhrzeit hier?“
Die kleine asiatische Frau kam heran, setzte sich auf den Hocker an der anderen Seite des Tresens und hielt einen Briefumschlag hoch. „Ich konnte nicht schlafen und laut deinen fünf Nachrichten, bin ich immer bei dir in der Küche willkommen.“
„Und das stimmt auch. Ich konnte nicht mit ansehen, wie du dich weiter in eurer Wohnung verkriechst.“
Yumi griff sich eine Paprika und inspizierte sie, bevor sie hineinbiss. „Wer sagt denn, dass ich mich verkrieche?“
„Ich… ich muss dir was gestehen.“
Sie hörte auf zu kauen. „Was denn?“
„Ich habe das Ultraschallbild gesehen.“
„Du hast… ach, so.“ Ihr Blick senkte sich auf den Tresen.
„Ja… Weißt du was?! Du brauchst keine Antipasti. Was du brauchst, ist eine seelenwärmende unverschämt süße, heiße Schokolade. Und zufälligerweise mache ich die Beste.“
„Ich weiß.“ Die andere nickte selbstvergessen und starrte irgendwo an Blaise vorbei.
„Mach‘ dir keinen Kopf. Ich hab’s niemandem erzählt“, sagte sie, während sie einen Topf aus einem der Schränke nahm.
„Ok,… danke.“
Sie goss Milch hinein und stellte den Herd auf mittlere Stufe. „Weißt du, ich kann mir gar nicht vorstellen, wie du dich fühlen musst. Möchtest vielleicht darüber reden?“
Die Elevenderein mit dem rabenschwarzen Pagenkopf blieb lange still. Blaise hobelte indessen Schokolade in die warme Milch und gab Vanillezucker hinzu, zum Schluss einen Schlag Sahne obendrauf und fertig war das Meisterstück. Mit einem Hauch Kakao garniert, servierte sie die Tasse und setzte sich.
„Wie lange ist es denn her?“
„21 Monate, drei Wochen und 4 Tage.“
Blaise schluckte den Kloß hinunter, der bei den Worten in ihrem Hals entstanden waren.
„Und wie weit warst du?“
Yumi schniefte trocken, dann nahm sie einen Schluck von der heißen Leckerei. „In der 10. Woche. Es waren… Es waren wieder Zwillinge.“
„Das tut mir so unendlich leid.“ Sie tätschelte tröstend Yumis Hand, die auf dem Tresen neben dem dampfenden Becher lag. Wahrscheinlich konnte sie sich nur vage vorstellen, wie schmerzhaft der Verlust gewesen war. Und wie er sich immer noch anfühlte. „Wie seid ihr damit umgegangen?“
„Wir reden nicht mehr viel. Aber das wusstest du schon, nicht wahr? Was auch der Grund sein dürfte, warum du mich eingeladen hast.“
„Ok, ertappt. Ich habe mir eben Sorgen um dich gemacht. Und das halbe Anwesen fragt sich schon eine ganze Weile, was bloß mit Roman los ist.“
Yumi atmete tief ein und schüttelte der Kopf. „Er ist nicht mehr er selbst. Und ich auch nicht. Wir… haben uns verloren…, schätze ich.“
„Was ist passiert?“, hakte Blaise sanft nach. Nicht weil sie neugierig war, sondern weil es wichtig war, dass man solche Dinge bei jemandem abladen konnte.
Die andere Elevenderin zögerte. „Ich konnte nicht akzeptieren, dass es vorbei sein sollte. Ich wollte es wieder versuchen und das haben wir. Aber…“ Sie stockte und schluckte hart.
„Es klappte nicht?“
„Nein. Trotzdem konnte ich nicht aufhören. Doch je krampfhafter wir es versuchten, desto weniger schien es klappen zu wollen… und desto breiter wurde die Kluft zwischen Rome und mir. Er… er versteht nicht, warum mir das, was wir bereits haben, nicht genug ist. Und das war es lange Zeit auch. Ich war glücklich mit ihm und den Zwillingen. Ich fühlte mich reich beschenkt, bis… das passiert ist.“
„Du meinst, dass du wieder schwanger geworden bist? Da hast du gemerkt, dass du noch mehr haben kannst und jetzt fällt es dir umso schwerer, den Gedanken wieder loszulassen“, schlussfolgerte Blaise.
„Ja. Ich meine, als ich es bemerkte, haben die Zwei einen Platz in meinem Herzen bekommen. Jetzt ist da nur noch ein schwarzes, leeres Loch. Ich weiß nicht, wie ich es sonst füllen könnte.“
Mitfühlend musterte Blaise die Asiatin und spürte deren Schmerz. „Wieso hast du nicht schon früher mit jemandem gesprochen? Ich kann sehen, wie sehr es dich quält.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Das hätte auch nichts geändert.“
Danach saßen sie lange still da und tranken beide aus ihren Tassen, die inzwischen abgekühlt waren. Yumi war eine sehr schlaue Frau, sie kannte jeden Rat, den Blaise hätte geben können. Sie hatte sie sich wahrscheinlich schon selbst gegeben, war aber so in ihrer Trauer versunken, dass sie nicht mehr alleine herausfand.
„Ich muss noch die Antipasti für morgen fertig machen. Möchtest du mir dabei helfen?“
Der schwarze Pagenkopf wippt auf und ab, als die andere Elevenderin zustimmte. Sie machten sich gemeinsam daran, noch mehr Gemüse zu schnippeln und zu braten. Blaise nötigte ihre Gehilfin immer mal wieder an ein paar Kräuter zu riechen, hier und da zu kosten, sich Gedanken zu machen, was noch fehlen könnte. Aus eigener Erfahrung wusste sie, wie heilsam es sein konnte, etwas zu erschaffen. Zu sehen, dass man dazu um Stande war, etwas zu bewirken.
Am Ende saßen sie um halb vier morgens erneut am Tresen und kauten zufrieden auf den eben zubereiteten Köstlichkeiten. Schon vor einer Weile hatten sie eine Flasche Wein geöffnet, er hatte zum Rezept gehört, und nun teilten sie sich die Reste. Blaise schenkte großzügig nach und hob das Glas zu einem Toast. „Auf deine leckere Kreation. Und auf viele weitere.“
„Hört, hört!“ Lächelnd stieß die andere Frau mit ihr an.
„Im ernst, komm doch morgen wieder vorbei. Wir können immer ein paar helfende Hände gebrauchen.“
Ich weiß nicht…“
„Du solltest mal rauskommen und hier hättest du Gesellschaft und etwas zu tun. Es würde dir gut tun.“
„Ich glaube nicht…“
„Dann glaube ich für dich mit. Tu‘ mir den Gefallen und probiere es aus. Wenn dir nicht wohl dabei ist, kannst du jederzeit wieder aufhören.“ Außerdem konnte sie die Freundin auf diese Weise im Auge behalten.
„Du hast schon begriffen, dass ich so meine Probleme mit dem Aufhören habe?!“
Blaise lachte erleichtert. „In diesem Fall: umso besser!“
Wenig später wünschten sie sich einen gute Nacht und Blaise blieb allein zurück, um aufzuräumen. Sie hatte noch nicht begonnen, als sie erneut die Tür klappern hörte.
„Hast du was vergessen?“ Sie drehte sich um und stockte überrascht. Nur eine Sekunde später war sie von wilder Freude erfüllt und konnte das breite Grinsen nicht verhindern.
„Dachte schon, die würde nie verschwinden“, murrte Slater stoisch.
„Du hast gewartet?“, erkundigte sie sich übermütig und lächelte noch breiter. Oh, verflixt! Sie war wohl doch etwas angesäuselt.
Er zuckte nur mit den Schultern und sein Blick schweifte zu dem Geschenk, aus dem sie vorhin Tee getrunken hatte.
„Danke dafür.“ Sie wanderte langsam zu ihm hinüber. Ganz vorsichtig, aus Angst ihn zu verschrecken.
Slaters Miene blieb unverändert distanziert und kühl, aber er wich auch nicht vor ihr zurück. Mutig geworden, griff Blaise unter den Tresen und zog den Gegenstand hervor, mit dem sie sich revanchieren wollte.
Er zeigte keine Reaktion, als sie die himmelblaue Tasse mit der Aufschrift „Morgenmuffel“ neben die andere stellte.
„Die wartet hier auf dich, falls du mal Lust auf ein heißes Getränk haben solltest.“
Es blieb eine weitere Minute ruhig, aber das machte Blaise nichts aus. Sie erwartete gar keine Antwort. Sie wollte nur, dass er wusste, dass er hier einen Platz hatte. Bei ihr.
„Wie wär‘s mit jetzt?“, erklang seine tiefe Stimme da und ihr Kiefer klappte nach unten.
„J… jetzt???“
„Und es muss gar nicht heiß sein.“ Er deutete auf die zweite Flasche Wein, die noch halb voll war.
Ein Ruck ging durch Blaise und ihre Beine bewegten sich wie von selbst. Bevor ihr Gehirn alles verarbeitet hatte, hatte sie ihm bereits eingeschenkt und nahm auch sich selbst noch mal. Ihr Körper schien zu wissen, noch ehe ihr Verstand es begriffen hatte, wie einmalig diese Gelegenheit war. Alkohol hatte immerhin einige sehr nützliche Eigenschaften.
Zum Beispiel, dass sie sich zwar ein wenig nervös, aber trotzdem auch verwegen fühlte, anstatt völlig durchzudrehen, wie es sonst in seiner Gegenwart geschah. Ein wohliges warmes Kribbeln in der Magengegend und in den Wangen ließen sie sich lebendig fühlen, als wäre heute Nacht alles anders als sonst. Als wäre alles möglich.
Wie das Zeug wohl auf Slater wirken mochte?
Sie konnte es gar nicht erwarten, es herauszufinden.
Sie tranken eine Weile ohne sich zu unterhalten. Blaise lauschte dennoch auf jedes Geräusch, das er machte. Er schlürfte nicht, fiel ihr auf. Aber vor jedem Schluck ließ er den Inhalt ein paar Mal im Becher kreisen, dabei blickte er gedankenverloren in die Ferne. Wie immer war es ein wenig, als säße er zwar hier direkt neben ihr, aber irgendwie auch wieder nicht.
Doch heute war ihr das dank ihres umnachteten Zustands völlig schnurz. Sie genoss es, ihn unauffällig von der Seite zu beobachten, seine Nähe zu spüren. Als er die Tasse geleert hatte, goss sie ihm eifrig nach und hätte am liebsten in sich hinein gegrinst.
Solange er trank, blieb er hier. Und das zählte doch.
„Du bemutterst wohl jeden?“, fragte er irgendwann gleichmütig in die Stille hinein, die Blaise gar nicht so unbehaglich gefunden hatte. Er bedachte sie mit einem abschätzenden Blick und sie wurde sogleich von eine Hitzewelle überrollt. Und die stammte ganz sicher nicht vom Wein.
„Wenn du mit jeden Yumi meinst, dann ja. Es ist nichts Falsches daran, sich um die Menschen zu kümmern, die einem am Herzen liegen.“ Sie sah ihm direkt in das eine schwarze Auge, doch er wich ihr aus und nahm noch einen Schluck.
„Ich wusste ja schon, dass du leichtsinnig bist.“
„Bloß weil du niemanden an dich heran lassen willst, bedeutet das nicht, dass ich leichtsinnig bin.“
Plötzlich war er wie erstarrt. „Soll das heißen, ich habe Angst?“
Seinem bedrohlichen Tonfall zum Trotz, straffte Blaise die Schultern und betrachtete ihn lange, wie er dort saß. Direkt neben ihr und dennoch so weit weg. Und ganz allein. „Nein. Du hast keine Angst. Aber auch keine Freude, keine Lebenslust,… keinen Genuss.“
Er machte ein unbarmherziges Geräusch. „Du bist schlauer, als ich dachte.“
Sie ignorierte den bissigen Kommentar, viel zu angetütert, um sich deswegen verletzt zu fühlen. „Darf ich dich was fragen?“
„Wenn ich nein sagen würde, würde dich das abhalten?“
„Wenn dir doch alles egal ist, und du generell kein Interesse am Leben hast, wieso dann weiter machen?“ Ihre Zunge war locker vom Wein und die Frage war raus, bevor sie sich stoppen konnte.
Er zögerte. „Wegen Leuten wie dir.“
Verdattert fuhr Blaise herum. „Wie meinst du das?“
„Ich kann Dinge tun, die Leute wie du nicht tun können, die aber dennoch nötig sind. Ich bin gut darin, die Drecksarbeit zu erledigen. Es macht mir nichts aus.“
Ungläubig sah sie ihn an. „Aber… berührt dich denn wirklich gar nichts?“ Oh Gott, es musste doch grauenvoll sein, absolut nichts zu fühlen. Sich das Schönste am Leben zu verwehren.
Erneut entstand eine Pause, in der er nichts erwiderte und Blaise gönnte sich noch einen großen Schluck Wein. Der schien sie den letzten Rest Verstand zu kosten, denn kurz darauf stand ihr Entschluss fest.
Sie rückte mit dem Hocker näher heran und streckte vorsichtig die Hand nach Slater aus. Er erkannte, was sie vorhatte, aber merkwürdiger Weise hielt er sie nicht auf. Als sie ihn berührte, breitete sich Wärme in ihr aus, ihr Herz schlug schneller und schneller.
„Aber du fühlst das doch, nicht wahr?“ Bedächtig streichelte sie weiter. Über die breite Schulter zum Nacken, wo sich das dunkle Haar am Ansatz kräuselte. Sie konnte kaum fassen, dass er es zu ließ und nahm sogleich die zweite Hand zur Hilfe. Mit ihr strich sie seinen Oberarm hinauf, glitt weiter nach vorn zu seiner Brust. Er rührte keinen Muskel, versteinerte unter ihren Liebkosungen zur Statue, doch all das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie schnell sein Herz unter ihren Fingerspitzen dahin raste. Beinah so schnell wie ihres.
„Ich weiß, du spürst das. Du kannst es nicht leugnen“, provozierte sie weiter, obwohl sie keine Ahnung hatte, was sie da tat. Slater hatte ihr mehrfach eindrücklich gezeigt, dass es ein großer Fehler sein konnte, ihm zu nahe zu kommen, hatte sie sogar eindringlich davor gewarnt. Doch dieses Mal war er zu ihr gekommen. Und er hatte gewusst, was er zu erwarten hatte.
„Wieso tust du so, als würdest du nichts fühlen, wenn es doch gar nicht stimmt?!“ Sie langte nach seinem Kinn und drehte es zu sich. Sein dunkles Auge wirkte bedrohlich. Tiefer und schwärzer denn je. Aber sie war zum Sprung bereit. Schon sehr lange.
„Ich werde dich jetzt küssen“, warnte sie und seine Wimpern zuckten ein einziges Mal. „Ich will, dass du etwas spürst. Dass du mich spürst.“
„Du bist unbelehrbar“, stellte er tonlos fest, doch Blaise lehnte sich unbeirrt vor.
„Vielleicht.“
„Und leichtsinnig.“
„Diesmal mit Sicherheit.“ Es trennten sich nur noch zehn Zentimeter und bis jetzt hatte er nicht Reißaus genommen. „Aber auch mutig. Und Leidenschaftlich. Und…“ Sie presste die Lippen auf seine, bevor er es sich anders überlegen konnte… und hätte vor Wonne beinahe aufgeseufzt.
Himmel, was für ein Gefühl!
Es durchflutete sie innerhalb eines Augenblicks, versetzte sie in einen Rausch ganz anderer Art. Sie war überwältigt von dem ersten Schuss dieser verbotenen Droge, hatte gar keinen Gedanken dafür übrig wie Slater reagierte. Denn ehrlich gesagt hätte er sie jetzt schon mit Gewalt davon abhalten müssen, sich mehr zu holen.
Wie die Süchtige, die sie war, schlängelte sie sich durchs Slaters Abwehr und kroch ohne viel Federlesen auf seinen Schoß.
Erstaunt nahm sie zur Kenntnis, dass er sie nicht nur gewähren ließ, sondern ihr sogar Platz machte. Seine Lippen entspannten sich langsam, erwiderten zaghaft die Küsse und ließen sie immer mehr die Zurückhaltung verlieren. Sie schlang die Arme um seinen Hals und schloss die Augen, versank in dem herrlichen Spektakel der Sinne, das dieser geheimnisvolle Mann in ihr hervorrief, badete in den Gefühlen, die nur er in ihr wecken konnte.
„Was zum Teufel machst du da?“, brüllte ein Teil von ihm lauthals. Doch der durch und durch männliche Part von Slater stopfte dem anderen das Maul. Zuerst hatte er gedacht, er wäre Blaise noch etwas schuldig und dass es doch gelacht wäre, wenn er es nur dieses eine Mal nicht hinkriegen würde.
Aber als ihre Lippen seine berührten, bekam seine Eismauer Risse. Sie ächzte bedrohlich und dann war sie einfach eingestürzt, zur Gänze pulverisiert, von dieser kleinen, unnachgiebigen Frau. Damit wurde er von all ihren Gefühlen überschwemmt und durchdrungen und jetzt schwelgte er wie ein Parasit in dem geborgten Glück. Saugte ihre überschwängliche, leuchtende Freude ein, nährte sich von ihrer Leidenschaft, stahl sich ihre Zuneigung. Jeder Widerwille vergessen und begraben unter ihrer erotischen Ausstrahlung.
Wie schon zuvor stieß ihn nicht ab, was ihn übermannte. Er ließ sich sogar gerne übermannen, stellte er überrascht fest. Auch wenn das Ganze waghalsig und gefährlich und gegen all seine Grundsätze war, es tat so verflucht gut, sich so zu fühlen, wie Blaise sich fühlte. So leicht und unbeschwert wie ein Vogel, voller Hoffnung und Zuversicht. Und alles galt nur ihm, obwohl er sich so viel Mühe gegeben hatte, diese Gefühle bei ihr zu zerstören.
Sie war sein komplettes Gegenteil und in diesem Moment genoss er tatsächlich. Und aus irgendeinem verrückten Grund wollte er, dass sie es wusste. Er hätte sich wohl nicht wundern sollen, denn immerhin war alles an dieser Situation vollkommen hirnverbrannt. Er würde es später bereuen, das wusste er genau. Dennoch…
Auch er schlang die Arme um ihre schmale Taille und zog sie an sich, vollkommen beherrscht von ihrem Verlangen. Er ließ ihre Zunge ein und mit ihr noch mehr von Blaise, das ihn durchströmte, ihn unaufhaltsam bezwang. Vor allem, da er sich wie gesagt nicht wehrte. Sie schmeckte nach der Säure des Weines, aber auch nach dunkleren Noten von Gewürzen und Gebratenem. Bereitwillig erwiderte er den Zungenkuss und ihre Begierde schoss ihm direkt zwischen die Beine.
Als hätte Blaise seine Reaktion erahnt, rückte sie näher, rieb sich an der wachsenden Beule und trieb sie beide damit gleichermaßen in den Wahnsinn. Er spürte jede Bewegung durch ihre Gefühle verstärkt, war schon kurze Zeit später am Rande der Selbstbeherrschung, genau wie sie. Ihre Sinne reagierten so unverfälscht und direkt auf ihn, dass er nicht mehr wusste, ob er sie oder sich selbst berührte. Nach einer Weile schien es ein und dasselbe. Und es störte ihn nicht im Geringsten. Denn alles, was er damit auslöste, schien der pure Himmel.
Als er hergekommen war, hatte er sowas nicht im Entferntesten im Sinn gehabt. Hatte sich nur gefragt, was es wohl noch kosten würde, damit Blaise ihm vergab. Jetzt wusste er es. Und auch, dass er den Preis ohne Zaudern löhnte. Ha, von wegen. Er war mit Feuereifer dabei und erkannte, dass er sich sogar danach gesehnt hatte, ohne es sich eingestehen zu wollen.
Doch jetzt konnte er sich nichts mehr vormachen. Hölle, Blaise war überall um ihn herum, in ihm drin und er liebte jede Sekunde, in der er ihre Gefühle borgen durfte.
Sie war es schließlich, die sich schwer atmend von ihm löste. „Lass‘ uns zu mir gehen.“
„Nein.“ Er strich über ihre geröteten Wangen. „Zu mir.“
Mit großen Augen nickte sie und war schon auf den Beinen. Ihre Vorfreude wurde zu seiner und er verließ mit ihr eilig die Küche. Unterwegs spürte er den Drang ihre Hand zu nehmen, wahrscheinlich weil sie es sich wünschte, und da er voll und ganz auf sie eingestimmt war, folgte sein Körper der stummen Bitte ohne Zögern. Er staunte darüber, wie wohl sie sich durch seine Berührung fühlte und bemerkte plötzlich einen Gedanken, der garantiert von ihm selbst stammte. Was er sie wohl sonst noch alles fühlen lassen konnte? Und damit sich selbst…
Auf halbem Weg durch den Wald spürte er aus heiterem Himmel Blaises Übermut. Kaum hatte er es registriert, zog sie ihn zwischen die Bäume. Mit einem verruchten Lächeln drängte sie ihn gegen einen rissigen Stamm und küsste ihn erneut.
„Hier?“, fragte er, als sie ihn Luft holen ließ.
„Du hast noch etwas gut zu machen“, raunte sie an seinem Hals und begann sein Hemd aufzuknöpfen. Kühle Luft traf ihn.
„Es ist kalt.“
„Wirklich? Mir ist ganz heiß, dir nicht?“ Mittlerweile war sie bei seiner Gürtelschnalle angelangt und er konnte ihr nicht widersprechen. Er stand in Flammen. Und weil sie sich mit einer Wildheit danach sehnte, berührte er sie. Streichelte ihre Schultern, das Schlüsselbein, glitt tiefer und fuhr über ihre weichen Rundungen. Griff dann fest zu, genauso, wie sie es sich wünschte.
Er wurde von einer Welle der Lust belohnt, die durch sie beide wogte, konnte jetzt schon kaum mehr einen klaren Gedanken fassen.
Er machte weiter, bis sie nackt unter ihm lag. All seine Sinne waren auf die ihren konzentriert, folgten ihrem unbewussten Ruf hörig. Er konnte es nicht kontrollieren und wollte es auch gar nicht. Ihre glatte Haut war wie Seide, ihre Brüste voll und schwer, so verdammt verführerisch. Er hatte ihren Körper von Anfang an heiß gefunden und als sie sich ihm nun mutwillig auslieferte, nach ihm verlangte, gab es kein Zurück mehr. Selbst wenn er selbst kaum glauben konnte, was er vorhatte.
„Komm herein“, flüsterte Blaise in die Dunkelheit und zog ihn näher heran.
Sein Körper gehorchte dem Befehl. Er bestieg sie, willenlos und doch beseelt. Leer und doch voll von Gefühlen. Er spürte jedes winzige Zucken und jeden Schauer, der über Blaises Körper lief, als er eindrang. Die Intensität des Sturms, den er in ihr entfachte, raubte auch ihm den Atem. Sie brach über ihn herein wie eine Naturgewalt, ihre Lust wütete in ihm.
Obwohl er oben lag, dirigierte sie seine Bewegungen, lenkte seine Hände, gab seinen Hüften den Takt vor. Er schob den Arm unter ihren Rücken, hob sie seinen Stößen entgegen. Der Sturm nahm noch zu, drängt ihn, Blaise fest am Haar zu packen und ihren Kopf nach hinten zu biegen. Sie brachte ihn dazu, sie zu beherrschen, obwohl es doch genau umgekehrt war. Und als ihr Orgasmus aufzog, wurde er ebenso mitgerissen. Das Gefühl zerrte brachial an ihm, trug ihn empor und zerfetzte ihn dann. Ließ ihn in tausend Teile zersplittern.
Keuchend sackte er auf ihr zusammen. Welle um Welle lief noch durch seinen Körper und er befand sich in irgendeiner Parallelwelt, in der er keine Sorgen kannte. Ja, in der er nicht der Vincent war, der gelernt hatte, dass man niemandem trauen und sich auf nichts verlassen durfte. Dass schon ein Moment der Unachtsamkeit bittere Folgen haben konnte. Er fühlte sich sicher. Weil Blaise sich bei ihm sicher fühlte. Und das ließ ihn vor Ehrfurcht erbeben.
Ihre Hände strichen träge über seinen nackten Rücken. Sie sehnte sich danach, ihm in die Augen zu sehen und er fügte sich abermals. Als er sich auf die Ellenbogen stützte, fand er ihren ungläubigen Blick. Sie schüttelte der Kopf, während sie ihn betrachtete. Zögerlich hob sie die Fingerspitzen an seine Lippen, fuhr die Konturen zart wie eine Feder nach.
„Ich hätte nie gedacht, dass das jemals geschehen würde.“
Er auch nicht. Aber das behielt er für sich.
Langsam strich sie höher zu seiner Wange, dann zu der Haarsträhne, die sein schlimmes Auge verdeckte. Er ahnte nichts Böses, doch dann begann sie die Strähne zur Seite zu schieben.
Als hätte sie ihn mit einem Eimer eiskalten Wassers übergossen, kam er zu sich. Das Entsetzen durchfuhr ihn schnell und gnadenlos, zwang ihn zurück in seine eigene Welt, voll von Mistrauen und Fatalismus. Wie von der Tarantel gestochen rollte er sich von ihr herunter und kroch rückwärts, bis er an einen Baum stieß.
Blaise setzte sich auf. Jetzt schien sie die Kälte doch zu spüren, denn sie zog die Beine an und umschlang sie mit den Armen. Ihr verwirrter Blick fand ihn trotz der dunklen Schatten und er wusste, dass er sich nicht vor ihr verbergen konnte.
„Warum darf ich es nicht sehen?“
Vincent schluckte und auch er spürte wieder die Eiseskälte. Aber nicht wegen der kühlen Nachtluft. „Weil ich nicht weiß, was du sehen würdest.“
„Würde… es mir wehtun?“
„Ich weiß nicht.“ Aber wenn, dann würde es ihn zerstören. Blaise war die einzige Person, die er als durch und durch gut kennen gelernt hatte. Wenn ein Blick in sein Auge bei ihr Schmerzen verursachte, hieß das auch, dass er sich in ihr getäuscht hätte. Dass sie genauso niederträchtig war wie der Rest der Schöpfung. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er jetzt noch damit leben sollte.
„Und du willst es nicht herausfinden.“ Eine bloße Feststellung, sie schien ihn nicht zu verurteilen.
Er schüttelte den Kopf, da stand Blaise auf und kam herüber. Nur wenig Mondlicht drang durch die Baumkronen, doch jedes einzelne Quäntchen schien von ihrem Körper angezogen zu werden. Es tauchte ihre Haut in einen silbrigen Schein, betonte ihre sinnlichen Brüste und die weiblichen Hüften, die bei jedem bedachten Schritt aufreizend mitschwangen. Wie sie so nackt und in voller Pracht auf ihn zuging, glich sie einer lumineszenten Erscheinung. Eine Göttin, die herab stieg, um sich seiner Unwürdigkeit zu erbarmen.
Sie setzte sich neben ihn. „Es tut mir leid, dass ich dich bedrängt habe.“
Vorsichtig musterte er sie, durchstöberte absichtlich ihre Gefühle, prüfte auf diese Weise ihre Aufrichtigkeit. Doch da war kein Argwohn. Nur Güte.
Schließlich nickte er und ließ sich auf die Beine ziehen. Blaise hatte ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen.
„Steht die Einladung zu dir noch?“
Zwei Wochen später…
Ihr Blick verschwamm, als sie in den Krater hinunterschaute und die vielen verkohlten Skelette erkannte. Neben jedem waren neonfarbene Markierungen platziert worden. Wie grausame Hinweise, die auch noch auf die unzähligen Opfer aufmerksam machten. Der kalte Nieselregen hatte den Staub aus Asche und Tod auf den Boden zementiert, nur noch einzelne Rauchschwaden dampften aus größeren Schutthaufen. Überall waren Trümmer verstreut, die Begrenzungsmauern des einstigen Gebäudes konnte man in der Dunkelheit nur noch schemenhaft ausmachen.
Xandra unterdrückte das markerschütternde Zittern, das in ihr aufsteigen wollte. Seitdem sie verletzt worden war, spürte sie jeden dieser Tode wie ihren eigenen. Ihre Sterblichkeit stand ihr so deutlich vor Augen, wie sie es Jahrhunderte nicht empfunden hatte. Die Gedanken an ihren Vater und sein plötzliches, unversöhnliches Verschwinden ließen sich immer schwerer verdrängen, wenn sie durch Schutt und Blut watete.
Sie bekämpfte den Drang zu schreien, während sie im Kopf überschlug wie viele Tote die Bombenanschläge der letzten zwei Wochen gefordert hatten. Die Zahlen mussten sich inzwischen im dreistelligen Bereich bewegen und ihr wurde ganz übel angesichts der Machtlosigkeit, mit der sie sich konfrontiert sah. Keines der neun Attentate hatten sie verhindern können, ja, sie hatten noch nicht einmal einen winzigen Hinweis darauf finden können, wo sich das nächste Unglück ereignen würde, als ihnen klar geworden war, dass es sich um eine ganze Serie von Verbrechen handelte.
Dieser Umstand verstärkte bei Xandra nur den Eindruck, dass ihr alles aus den Händen glitt. Nicht nur ihr Privatleben war von der Krankheit betroffen. Die Seuche hatte sich ausgebreitet und ihr an allen Fronten die Kontrolle entrissen.
Obwohl die Campbells weiterhin verschwunden blieben und mit jedem verstreichenden Tag die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang des Geheimnisses um ihr Verschwinden kleiner wurde, hatte Xandras Team sich mittlerweile von der Annahme gelöst, dass es bei der Geschichte ausschließlich um Cats Eltern ging. Nach den Anschlägen auf das Privathaus und ein Lager der Familie hatte es weitere im Umkreis von Ceiling gegeben. Zunächst ebenfalls industrielle Ziele, dann waren den Katastrophen jedoch auch Bürogebäude in dicht bevölkerten Gegenden zum Opfer gefallen.
Die Explosion, die das Loch in den Erdboden zu ihren Füßen gerissen hatte, hatte die Fakultät für Technik und Naturwissenschaften der Ceilinger Universität ausradiert und übertraf die Rücksichtslosigkeit der vorrangegangen Vorkommnisse noch ein mal. Am helllichten Tag hatte die Tragödie viele Studenten das Leben gekostet. Unbescholtene, nichtsahnende Menschen. Sicher, die Ausbildung war teuer und die meisten Alumni stammten aus wohlhabenden Familien. Jene, die durch Skrupel- und Gewissenlosigkeit von den Machtstrukturen profitierten, indem sie ihr eigenes Volk im Dienst der Hegedunen versklavten und ausbeuteten. Die ihren Reichtum auf Kosten anderer erlangt hatten, ohne zu wissen, welchem Herrn sie in Wahrheit dienten.
Doch davon ahnte die Weltbevölkerung nichts. Für sie waren es nur gemeine, unaufgeklärte Anschläge auf Unschuldige und die Öffentlichkeit verlangte Antworten von den Behörden. Dementsprechend war es neuerdings schwer geworden, sich in Ceiling frei zu bewegen. Der Bürgermeister der Stadt hatte den Notstand ausgerufen und nun patrouillierten Soldaten 24 Stunden am Tag durch die Straßen.
Nur des Nachts wagten sich die Elevender der Legion vermummt hinaus, um die Tatorte zu untersuchen und weitere Erkenntnisse über die Verursacher und deren Motive zu erhalten. Mit aller Kraft versuchten sie Zusammenhänge zwischen Orcus und den Attentatszielen aufzudecken, recherchierten fieberhaft in den Datenbanken darüber, was der Feind mit diesem Vorgehen bezwecken konnte. Anfangs hatten sie Evrills Theorie verfolgt und versucht herauszufinden, welche Rohstoffe Orcus von den Campbells beziehen konnte. Leider gab es keinerlei Aufzeichnungen über den Handel, kein einziges Dokument, das die Existenz dieser Rohstoffe überhaupt belegte. Und mittlerweile nahmen sie an, dass zumindest die ersten beiden Anschläge zum Teil auch zu diesem Zweck gedient hatten.
Als dann aber so unterschiedliche weitere Ziele angegriffen worden waren, hatten sie auch diese Theorie fallen gelassen und nach Gemeinsamkeiten der verschiedenen Orte gesucht. Doch nicht nur, dass ihre bisherigen Versuche die Verschwörung aufzudecken alle in Sackgassen geführt hatten, auch den Hergang der jeweiligen Anschläge konnten sie nicht rekonstruieren. Die Hegedunen ließen jedes Mal auf mysteriöse Weise jede Kamera im Umkreis von hundert Metern ausfallen und verwischten auch sonst jede Spur, genau wie bei den ersten beiden Vorfällen. Fest stand nur, dass sich die Angriffe in allen neun Fällen aus heiterem Himmel ereigneten und hinter her nicht geklärt werden konnte, weder von der Legion noch von der menschlichen Polizei, wie die Sprengsätze an Ort und Stelle gelangt waren. Und mittlerweile gab es so viele mögliche Beteiligte, dass Xandras Team es niemals schaffen würde alle zu verhören. Noch dazu unter den Augen des menschlichen Militärs, das die nationale Sicherheit wiederherstellen sollte.
Auch Aurelia hatte sich fleißig in Orcus‘ Kopf umgehört, wobei sie natürlich keine Ahnung hatte, was hier draußen vor sich ging. Aber bisher hatte sie nur verzeichnen können, dass er weiterhin diesen hochrangigen Hegedunen traf und versuchte, sich mit Geschenken und Versprechungen bei ihm einzuschmeicheln, während er ihn klammheimlich infiltrierte. Offenbar dachte er des Öfteren auch über andere Eisen nach, die er noch im Feuer hatte und die seine Macht mehren sollten, aber hierzu hatte die europäische Jägerin nichts Spezifisches auffangen können.
Wenigstens bedeutete das auch, dass ihnen noch ein wenig Zeit für den einzigen strategischen Zug blieb, der zum jetzigen Zeitpunkt Sinn machte, auch wenn er noch so waghalsig war. Bisher hatte sich Evrills Kontakt nicht zurück gemeldet und die Wartezeit war zu einer Zerreißprobe für Xandras Nerven geworden. Das Ganze erschien ihr immer noch wie ein Himmelfahrtskommando. Aus naheliegenden Gründen scheute sie instinktiv vor einer Zusammenarbeit mit dem großen Gegenspieler der Legion zurück. Zudem konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass etwas schief gehen würde. Sie würde nicht die Kraft besitzen, Evrill zu schützen, das hatte sie sich ja selbst bewiesen.
Tief in Gedanken versunken wanderte Xandra über das zerstörte Areal. Unter ihren Sohlen knirschten Gesteinsbröckchen und kohlenartige Stücke. Trotz des Regens stieg Hitze von den Überresten des Gebäudes auf, weswegen die Polizei wahrscheinlich auch noch nicht viel verändert hatte. Eine hartnäckige Windböe zerrte eine blonde Strähne unter ihrer Sturmhaube hervor und blies kleine Staubkörnchen in ihre Augen. Die Vorstellung, dass es Asche von den verbrannten Leichen war, drehte ihr den Magen um.
Wie aus dem Nichts erschien Christian neben ihr und stützte sie diskret am Ellenbogen. Seine riesenhafte Gestalt stärkte ihr auf vertraute Weise den Rücken, während er sie mit seiner ruhigen Gelassenheit einhüllte.
„Ich habe ein Déjà-vu“, raunte er an ihrem Ohr und ließ den Blick ebenfalls über die abstoßende Mondwüste gleiten.
Xandra konnte ihm da nur beipflichten. Auch ihr kam es so vor, als hätten sie in derselben Position vor jedem der neun Anschlagsziele gestanden und waren trotz ihrer Erfahrung in dem Geschäft entsetzt gewesen. Und das schlimmste daran war, dass sie sich dabei absolut hilflos fühlten.
Schließlich wandten sie sich wieder ihrer Aufgabe zu und durchkämmten die Trümmer nach brauchbaren Spuren. Doch wie jedes Mal sollte die Suche auch heute erfolglos bleiben. Der Gegner war gründlich im Vernichten von Hinweisen, er überließ offenbar nichts dem Zufall, was für die langwierige und genaue Planung der Verbrechen sprach.
Etwa eine halbe Stunde später versammelte sich das Team am Absperrband, das die Polizei rund um den Schauplatz des Infernos angebracht hatte. Alle wirkten unter ihrer Maskierung betroffen und ratlos.
„Wir sollten los. Die Nachricht vom Anschlag ging durch alle Medien, könnte mir gut vorstellen, dass das nächtliche Schaulustige auf den Plan ruft“, murrte Roman missmutig und sondierte die Schatten entlang der Straße, wo sie die Autos abgestellt hatten.
Xandra bekam erneut Gänsehaut und blickte mit einem mulmigen Gefühl unauffällig über die Schulter. Aurelia hatte sie am Anfang dieser verfluchten Geschichte davor gewarnt, dass Orcus sie jederzeit aus den Schatten heraus angreifen konnte. Hatte sie sich damals deswegen schon gegruselt, dann hatte ihre eigene Verletzung vor zwei Wochen sie nur noch mehr verängstigt. Inzwischen fürchtete sie die Schatten, auch wenn sie das niemals laut zugegeben hätte.
Die andern stimmten Romans Vorschlag zu und verteilten sich in die Wagen. Xandra wollte die Beifahrertür des silbernen SUVs öffnen, doch Evrill kam ihr zuvor. Galant machte er ihr den Weg frei und ließ sie einsteigen, bevor er die Tür sanft wieder schloss. Dann beeilte er sich zur Fahrerseite zu gelangen, wo jedoch plötzlich Christian stand. Die beiden prallten beinahe zusammen, dann lieferten sie sich ein kurzes Blickduell, das nur Zehntelsekunden dauerte, aber Xandra trotzdem nicht entging.
Offenbar hatte Chris die unauffällige Auseinandersetzung gewonnen und glitt hinters Steuer, während Evrill mit steinernem Gesichtsausdruck hinten Platz nahm. Beide reichten ihr im selben Moment eine Flasche Wasser und einer meinte, sie sähe blass aus.
Sie lehnte seufzend ab und sah aus dem Fenster, um unbemerkt die Augen zu rollen. Dieses untergründige Gerangel ging ihr allmählich gehörig gegen den Strich. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, was sie mit ihrem Verhalten heraufbeschwören würde.
Dadurch, dass sie alle vollauf mit der Mission beschäftigt gewesen waren, war diese vertrackte Konstellation in eine Art Warteschleife gelegt worden. Sie war weder dazu gekommen, sich mit dem einen noch mit dem anderen Elevender auszusprechen und allmählich setzte sich in ihr immer mehr der Verdacht fest, dass die beiden ihr das ohnehin bereits aus der Hand genommen hatten. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass die Kerle eine Art Wettstreit um sie veranstalten, obwohl der nie offen ausgetragen wurde und beide versuchten, die Auswirkungen von ihr fern zu halten. Sie verhielten sich ihr gegenüber übermäßig zuvorkommend und fürsorglich, wichen ihr nicht von der Seite und schienen ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen zu wollen.
Xandra hatte schon damit aufgehört, sich zu fragen, warum Christian sich das überhaupt alles gefallen ließ. Er hatte nie ein Wort zu ihr gesagt, sie nicht zur Rede gestellt, wie sie es im umgekehrten Fall sicher getan hätte. Denn wenn er sich auf diese Auseinandersetzung einließ, musste er begriffen haben, wie sie zu Evrill stand. Er musste tatsächlich eine Bedrohung in ihm sehen, obwohl Xandra sich große Mühe gegeben hatte, ihr Gefühlschaos zu verbergen und ihre Entscheidung eigentlich schon getroffen hatte.
Doch sie schaffte es nicht, ihnen dies auch mitzuteilen. Etwas hielt sie zurück. Ob es der Gedanke war, Evrill für immer gehen zu lassen oder ob es ihr Unmut darüber war, dass Christian sich auf das Geplänkel eingelassen hatte, anstatt auf Xandras Loyalität zu vertrauen, konnte sie nicht sagen. Jedenfalls entglitt ihr die Kontrolle über die Situation zusehends, was sie von Tag zu Tag mehr beunruhigte. Die Sache hatte eine eigene Dynamik entwickelt und da sie nicht den Mumm besaß, gewisse Themen anzusprechen, fühlte es sich auch noch an, als ob sie im Blindflug durch dichten Nebel irrte. Neben all den anderen Problemen war ihr ihre persönliche Schwäche der größte Dorn im Auge.
Auf Blackridge angekommen, gab es erneut einen verstohlenen Kampf darum, wer ihr die Tür öffnen durfte und schließlich wurde es ihr zu bunt. Sie kroch über den Schaltknüppel in der Mittelkonsole und stieg auf der Fahrerseite aus. Die beiden Kerle wechselten einen beunruhigten Blick und mit einem Mal hatte sie das Schmierentheater satt. Knurrend wies die die zwei Elevender an, ihr bloß nicht zu folgen, dann verließ sie die Garage fluchtartig.
„Jonathan Rothschild. Wenn es dir gelingt, ihn von dir zu überzeugen, hast du gleich ein paar Mitglieder auf deiner Seite. Sie richten sich uneingeschränkt nach ihm.“
„Kannst du ein Treffen organisieren?“, fragte Orcus den anderen Mann und wies hinaus auf die Terrasse, um den Weg über das hübsche Anwesen zu nehmen, das bei Nacht im Licht der edlen Strahler noch eindrucksvoller wirkte. Dabei legte er eine Hand auf die Schulter seines Onkels, damit er sich über den Kontakt noch tiefer einschleusen konnte.
Es war dieselbe Paarung, die Aurelia damals in ihrer ersten Traumreise in Orcus‘ Kopf beobachtet hatte. Seither hatte sie die beiden bereits bei zwei weiteren Meetings belauscht und stets ging es um dasselbe. Ihr Erzfeind ebnete seinen Weg in die Führungsriege und infizierte das Klerusmitglied mit jedem Mal mehr. Aber noch befand er sich nicht ganz in seiner Hand. Noch musste er vorsichtig sein, konnte nur sanft in verschiedene Richtungen drängen, anstatt völlig zu kontrollieren.
Doch das würde sich bald ändern, wenn sich seine anderen Bemühungen endlich auszahlten, dachte er bei sich, wobei er den Hegedune zu einem Kiesweg hinüberbegleitete.
„Vielleicht. Ich habe ihm von deinen Fähigkeiten berichtet, aber er will noch mehr Beweise sehen, dass du das mit jedem X-Beliebigen machen kannst.“ Orcus bemerkte im anderen den Gedanken, dass das somit auch für alle Hegedunen gelten könnte, und unterdrückte die Ahnung geschickt. Stattdessen schickte er dem Mann ein Bild von den Armeen, die ihm bald zur Verfügung stehen würden, sowie den Glauben an Orcus‘ unverbrüchliche Loyalität.
„Das stellt kein Problem dar. Ich werde dir ein paar Videoaufnahmen von meinem nächsten Opfer mitgeben, auf dem zu sehen ist wie er vor der Behandlung war. Den Rest wird dein Kollege dann in den Nachrichten sehen.“
Sie hatten den Parkplatz erreicht und Orcus drückte seinem Onkel die Schulter, wenn auch nur, um den letzten Moment der Verbundenheit voll für seine Zwecke zu nutzen. Mit seinem Unterbewusstsein flüsterte er dem anderen ein, dass es nichts Wichtigeres gab, als seinen Wünschen so bald wie möglich zu entsprechen und schürte auch dessen Gier nach Macht. Eine Gier, die ihn direkt in Orcus‘ Arme treiben würde.
Einer seiner Bediensteten kam mit der Videodatei herbei gehastet, die er seinem Onkel versprochen hatte und sie verabschiedeten sich knapp, bevor die schwarze Limousine los brauste und Orcus allein in der Auffahrt zurück blieb. Sobald das Fahrzeug außer Sichtweite war, verfinsterte sich seine Miene. Die aufgesetzte Höflichkeit kotzte ihn tierisch an und die Aggressionen darüber hatten sich in ihm aufgestaut. Zum Glück wartete in seinem Arbeitszimmer genau die richtige Gelegenheit, um seinem Zorn Luft zu machen.
Aurelia hatte seinem Gespräch aufmerksam gelauscht, da war es ihr noch gut gelungen, seine Gedanken und Gefühle von den ihren zu trennen. Doch je intensiver er empfand, desto mehr vermischte sich sein Wesen mit dem ihren und sie spürte seine Wut wie ihre eigene, konnte den Hass regelrecht auf der Zunge schmecken, der in ihm wütete und seine Schritte antrieb. Seine kraftvollen Bewegungen waren Aurelias, als sie erbost und ungeduldig durch die Eingangshalle marschierte und sich in Gedanken schon in dem Büro befand, in dem sie noch nie gewesen war, von dem sie aber dennoch haargenau wusste wie es aussah.
Das alles hätte sie erschrecken sollen, aber sie steckte schon zu tief drin.
Als sie die Tür zu dem großen Raum mit der gediegenen Ausstattung aufstieß und hineinschritt war sie nur voller grausamer Genugtuung darüber, dass sich die Dinge eins ums andere so fügten, wie sie es geplant hatte.
Nein, Moment, wie Orcus es geplant hatte. Genau.
Er schloss das schwere Holzportal bedächtig hinter sich, seinen Auftritt und die Furcht die er hervorrief voll und ganz auskostend. Erst dann wandte er sich den Werkzeugen für seinen nächsten Schachzug zu.
Aurelia erblickte zwei… Menschen. Ja, eindeutig. Ein Mann und eine Frau, beide waren ihr unbekannt. Orcus dagegen wusste, dass es sich um einen Kioskbesitzer und seine Ehefrau handelte, die er zu seinem Zweck einsetzen würde, ob mit oder ohne seine Gabe. Im Moment brauchte er all seine Kräfte für seinen Onkel und dessen Spießgesellen, weshalb es natürlich nicht in Frage kam, sich in jeden X-Beliebigen einzuschleichen. Schon gar nicht jemand, von dem er sich keinen langfristigen Nutzen versprach.
Während Aurelia noch darüber rätselte, was er mit den beiden Menschen vorhatte, die wie Geiseln an zwei üppig gepolsterte Stühle mit prächtigen Intarsien gefesselt worden waren, schlenderte Orcus zu einem Tisch hinüber.
Er verspürte eine innige Vorfreude auf das Bevorstehende und auch Aurelias Herz schlug höher, schlug in einem Takt mit seinem. Langsam öffnete er ein dickes ledernes Mäppchen und rollte es ganz aus. Eine Reihe von silbernen Gerätschaften kam zum Vorschein und obwohl ein Teil von Aurelia erkannte, wozu das blinkende Metall diente und schockiert darüber war, auf welche Weise es gleich eingesetzt werden würde, brannte ein anderer Teil von ihr darauf, den kalten Stahl in ihren Händen zu spüren. Zu fühlen, wie es war, damit Haut und Muskeln zu durchstoßen, die Schmerzensschreie zu hören. Trotz des Schreckens, der sie bei dem Gedanken durchfuhr, war sie nicht imstande die Begierde abzuschütteln. Das perverse Verlangen pulsierte in ihrem Kopf, ihrer Brust, ihren Eingeweiden, wie der Herzschlag ihres Feindes, mit dem sie eins geworden war.
Fasziniert griff sie nach den Folterinstrumenten, suchte gezielt jenes aus, welches den größten Schaden anrichten würde ohne zu töten, dann wandte sie sich heiter um.
„Ich nehme an, ihr habt nicht die geringste Ahnung warum ihr hier sitzt“, sagte sie zu den beiden Gefangen, ihre tiefe Stimme von einem versonnen Lächeln gefärbt. Als der Mensch mit einem Seitenblick zu seiner Frau den Kopf schüttelte, wies sie die beiden Bodyguards mit einem Nicken an, ihr Platz zu machen. Die drei Männer in den schwarzen Anzügen, die voll und ganz ihrem Willen gehorchten, traten zurück.
„Ich will ehrlich zu dir sein. Die Sache ist eigentlich ganz simpel.“ Sie beugte sich zu dem männlichen Gefangen hinunter. Ihr blondes Haar und das süffisante Grinsen auf ihren Lippen spiegelten sich in seinen weit aufgerissenen Augen.
„Das hier ist eine Erpressung“, verkündete sie, nur um das Entsetzten im Gesicht des anderen sehen zu können. „Du wirst etwas für mich erledigen, oder dein Frauchen hier…“ sie schlenderte weiter zur zweiten Gefangenen, packte das volle dunkle Haar und riss ihren Kopf nach hinten. „…wird die Konsequenzen tragen. Haben wir uns verstanden?“
Der Mann auf dem Stuhl war vollkommen erstarrt, aschfahl und kurzatmig wirkte er, als ob er gleich in Ohnmacht fallen würde. Nur mühsam schaffte er es zu nicken. Aurelia ärgerte sich über die offensichtliche Schwäche und war enttäuscht, so schnell bekommen zu haben, was sie verlangte. Sie winkte einen ihrer Gorillas heran. Der durchtrennte die Fesseln des Menschen und reichte ihm dann einen braunen Rucksack.
„Du wirst das Ding morgen mit in deinen Kiosk nehmen. Wenn du diese Anweisung befolgst, wird ihr nichts geschehen.“
Der Kerl blickte erstaunt auf. „Das ist alles?“ Doch dann zog er den Reißverschluss des kleinen Gepäckstücks auf, sah hinein und war im selben Augenblick außer sich. „Nein! Nein, das kann ich nicht! Bitte, zwingen sie mich nicht dazu!“
Aurelia sog erleichtert den Duft seines Angstschweißes ein, der plötzlich in der Luft hing wie ein dickes Tuch. Sah aus, als käme sie doch noch auf ihre Kosten.
„Eigentlich hatte ich gehofft, dass du das sagen würdest. Es wird mir ein Vergnügen sein, dich zu überzeugen.“
Sie schwang ein langes Bein über die der Frau und setzte sich auf ihren Schoß. Sofort begann diese unter ihr zu zappeln, was ihr einen heftigen Adrenalinkick verschaffte. Genüsslich schloss sie die Finger um den zarten Kiefer, der so zerbrechlich in ihrer riesigen Pranke wirkte, schwelgte in dem Gefühl der Macht. Grob packte sie fester zu und hob das schimmernde Metallinstrument.
„Das hier, meine Liebe, ist ein Schürflöffel. Ein wenig grob, ich weiß, aber unser kleiner Freund wird dafür sorgen, dass wir zwei möglichst lange Spaß miteinander haben können.“ Die Panik, die ihre Worte hervorriefen, zog Aurelia förmlich an wie das Licht die Motte. Sie folgte dem unwiderstehlichen Drang, lehnte sich vor und leckte mit einer langsamen Bewegung über Hals und Gesicht der Geisel, schmeckte noch mehr rohe Furcht und ließ sie sich auf der Zunge zergehen wie ein Fünfsterne-Menü.
Der menschliche Kerl hatte zu rufen begonnen. „Was…? Hey, was soll der Scheiß!! Lassen Sie sie gefälligst in Ruhe!!! Hey!!! Lassen Sie…“
„Na, na, na“, beschwichtigte Aurelia und drehte Frauchens Gesicht so, dass sie ihren Mann ansehen musste. „Wir wollen doch nicht laut werden. Ich denke, du hast die Dringlichkeit meines Anliegens endlich verstanden?“
„Ich… Das ist doch Irrsinn! Das können Sie nicht von mir verlangen!!!“
„Du siehst doch, dass ich es kann. Und ich kann noch viel mehr“, gab sie lapidar zurück. Zeit für eine kleine Kostprobe ihrer Macht.
„Los! Schau‘ dir deinen Mann noch mal ganz genau an, denn es ist das Letzte, was du mit diesen beiden hübschen blauen Augen sehen wirst.“ Dann riss sie den Kopf der Frau zu sich herum, stach den Schürflöffel zielsicher durch das Unterlied des linken Auges und hebelte das kleine Organ mit einer schnellen Bewegung aus der Höhle. Ein Geräusch von reißendem Gewebe, gefolgt von einem „Plopp“, ertönte und der kleine weiße Ball hüpfte auf die Plastikplane, die den edlen Teppich vor der Schweinerei bewahren sollte, hinterließ dort eine rot leuchtende Spur. Genauso rot wie das Blut, das aus der leeren Augenhöhle quoll, während die Verwundete vor Entsetzen und dann Schmerz laut schrie. Auch der Menschenmann brüllte, wollte aufspringen, doch Aurelias Bodyguards waren sofort zur Stelle und hielten ihn zurück.
Sie lachte über den Lärm hinweg, dann küsste sie die Frau ausgiebig und leidenschaftlich, bezwang ihren sich windenden Körper, ganz alleine deshalb, weil es etwas gab, das einen Mann nicht nur verletzen, sondern ihn ganz und gar zerstören konnte.
„Wenn du nicht tust, was ich sage, wird sie nicht nur das zweite Auge verlieren. Wir beide wissen doch, dass ich ihr noch so viel Schlimmeres antun könnte.“
Der Mensch hatte aufgehört, sich gegen die Wächter zu wehren. Schlapp und mit gesenktem Kopf hing er in ihrem Griff. „Wieso tun Sie das bloß? Was haben wir Ihnen getan?“
„Reiß‘ dich gefälligst zusammen, du elender Schlappschwanz!“, knurrte Aurelia barsch. „Wirst du es nun erledigen, oder werden deine Süße und ich eine äußerst lange, spannende Nacht zusammen haben? Ich wette, du hast sie noch nie so gefickt, wie ich sie ficken werde.“
Der weibliche Mensch unter ihm wimmerte und schluchzte, zitterte am ganzen Körper, während ihr männliches Pendant flehend herüber starrte.
„Ich werde alles tun. Nur, bitte… Bitte, Lassen Sie sie gehen. Bitte,…“
„Sobald es erledigt ist, ist sie frei“, versicherte Aurelia mit ernster Miene.
„Sie müssen es versprechen!“
Sein Betteln war nur noch jämmerlich. Verachtung stieg in ihr auf und sie verlor zusehends das Interesse an ihrem neuen Spielzeug. „Fein. Jetzt, raus mit dir. Und vergiss dein Gepäck nicht.“
Ihre Untergebenen schleiften den Kerl nach draußen, wobei der sich los zu reißen versuchte. Über die Schulter brüllte er immer wieder. „Caren?! Caren, halte durch! Ich hol‘ dich da raus! Ich liebe dich, hörst du?! Caren?! Caaaaareeeen!“
Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, stand Aurelia beschwingt auf, nahm Klebeband vom Tisch und verschloss den Mund ihrer Geisel.
Daraufhin zog sie eine Waffe und schraubte den Schalldämpfer auf.
Das verbliebene Auge der Gefangenen wurde weit aufgerissen und sie kämpfte wie eine Furie gegen die Fesseln, die sie erbarmungslos an den Stuhl banden.
„Caren“, flüsterte Aurelia und strich mit dem Waffenlauf zärtlich über die blutige Wange unterhalb der riesigen Wunde. „Ein hübscher Name für eine hübsche Frau.“
Die andere war plötzlich ganz reglos geworden und Aurelia konnte nicht widerstehen, sie noch einmal zu küssen. Andächtig glitt sie mit den Lippen über das Panzertape, das ihren Genuss in keinster Weise schmälerte, da sie dennoch das panische Zittern und den stoßweise gehenden Atem spürte. Die Furcht schmeckte scharf, wie ein exotisches Gewürz tanzte sie über ihren Gaumen. Sie suhlte sich in der von ihr verursachten Tortur und lehnte sich schließlich vollkommen gesättigt und entspannt zurück.
„Sag‘ gute Nacht, Caren.“
Dann drückte sie ab.
Mit brachialer Gewalt und einem Urschrei riss sich Aurelia aus Orcus‘ Kopf. Angsterfüllt registrierte sie, wie schwer ihr das Loslösen fiel. Wie viel Kraft sie brauchte, um auch den letzten seiner schwarzen Tentakel abzuschütteln und sich frei zu strampeln. Wie immer hatte sie das Gefühl ins bodenlose Nichts zu stürzen und eine Ewigkeit lang zu fallen, nur dass sie heute noch schockierter war, als all die anderen Male, als sie die Rückreise aus Orcus Gedankenwelt angetreten hatte. Noch nie hatte es sich so echt, so untrügerisch und wahr angefühlt in seiner Haut zu stecken, wie in der vergangenen Stunde.
Erst als ihr ureigenes Ich über diese letzte ultimativ gewissenlose Tat entsetzt war, war sie wieder fähig gewesen eine Grenze zwischen sich und dem Feind zu ziehen, durch dessen Augen sie seine Realität erlebt hatte. Erst da war ihr überhaupt aufgefallen, dass sie bereits keinen Unterschied mehr gemacht hatte, vollkommen mit ihm verschmolzen war. Dass seine Taten, seine Gefühle und Überzeugungen bereits zu den ihren geworden waren, ohne dass sie es auch nur gemerkt hatte.
Und während sie fiel und fiel, empfand sie nicht nur Scham über ihre Taten. Sondern vor allem darüber, dass es ihr derartig leicht gefallen war, sich selbst ganz und gar zu vergessen. Ihr Verstand, ihre Seele, ja, ihr ganzes Wesen waren plötzlich nicht mehr dagewesen. Sie hatte sich verloren und dieser Schreck fuhr ihr tief in die Knochen, genauso wie der Aufprall, der stets auf das Fallen folgte.
Benommen und keuchend schlug Aurelia die Augen auf. Die Welt drehte sich und es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass sie von starken Armen umschlungen und gehalten wurde. Ein vertrautes Gesicht beugte sich über sie, der warme, besorgte Ausdruck darin strich über ihre Haut wie eine Berührung.
„Du hast so gequält gewirkt und um dich geschlagen, ich dachte, bevor du dich verletzt, halte ich dich fest“, flüsterte Pareios vorsichtig und lockerte die Umarmung reflexartig.
Doch Aurelia griff nach seinen Händen und hinderte ihn am Rückzug. Brauchte einen Anker für ihre schwankende Sicht. „Hör nicht auf. Ich kann mir nach den letzten Stunden nicht vorstellen, wie ich lieber erwacht wäre.“
Seine Wangen röteten sich eine Spur, aber er machte es sich mit ihr auf dem Schoß bequem und strich mit federleichten Bewegungen über ihren Rücken, beruhigte sie wie es wahrscheinlich niemand sonst konnte. Doch obwohl Aurelia sich bei ihm erdete, wollte der Schwindel nicht vergehen, den sie bereits von ihren Ausflügen zu Orcus kannte. Schon bald stieg Übelkeit auf und drohte, sie zu überwältigen. Säure prickelte in ihrem Rachen, sie musste verkrampft schlucken.
So weit war es bis her noch nie gekommen. Aurelia wand sich überrascht aus Pareios‘ Griff, stürzte zu dem Eimer in der Ecke und erbrach das üppige Abendessen. Völlig überfahren von der Attacke lehnte sie anschließend an der Zellenwand und stemmte die Hacken in den Boden, in der Hoffnung auf die Weise das Karussell in ihrem Kopf zu stoppen.
Etwas Feuchtes und Kühles berührte ihre Stirn. Zuerst erschrak sie, aber dann spürte sie die erleichternde Frische auf ihrem Gesicht. Zaghaft wagte sie durchzuatmen.
„Sieht so aus, als würde es von Mal zu Mal schlimmer“, kommentierte Pareios‘ Stimme neben ihr.
„Wem sagst du das.“ Schwach erinnerte sie sich an die Erfahrungen in Orcus‘ Verstand und hätte am liebsten mit ins Grab genommen, wie knapp sie davor gewesen war, nicht mehr aus ihm herauszufinden. Doch Pareios musste davon erfahren. Im Falle eines Falles war er der einzige, dem sie zutraute sie zurückholen zu können.
Das Zimmer schien immer noch zu wanken, aber da ihr Magen leer war klang die Übelkeit langsam ab. Nachdem sie einen Schluck Wasser getrunken hatte, begann sie stockend den schauerlichen Bericht wiederzugeben.
„Ich habe Angst, mich allmählich in ihn zu verwandeln“, gestand sie zum Schluss bitter. „Was ist, wenn ich irgendwann einfach davon treibe, wenn ich verloren gehe?“
„Dann werde ich dir folgen. Du bist nicht allein.“ Sie tauschten einen langen Blick, der all das Unausgesprochene zwischen ihnen überwand. „Aber jetzt musst du dich konzentrieren. Die Gefahr, die du für die Informationen auf dich genommen hast, lohnt sich nur, wenn wir etwas Verwertbares finden. Was glaubst du, war in dem Rucksack?“
„Keine Ahnung. Ich konnte es nicht sehen und Orcus war so scharf darauf, seine Überlegenheit auszukosten, dass er darüber gar nicht nachgedacht hat. Aber es muss etwas Schreckliches gewesen sein. Unter anderen Umständen hätte der Mensch niemals zugestimmt.“ Sie sah förmlich, wie es in Pareios Kopf ratterte, wie er die Neuigkeiten mit all den Fakten abglich, die man ihr aus gutem Grund verheimlichte. Doch da fiel ihr noch etwas ein. Eine Bemerkung, die ihr zunächst gar nicht so wichtig erschienen war.
„Den Rest wird er dann in den Nachrichten sehen“, murmelte sie nachdenklich.
„Wie meinst du das?“
„Das hat Orcus zu seinem Onkel gesagt, als der ihm zu einer weiteren Machtdemonstration riet, um sich beim Klerus einzuschleimen. Er hat damit angegeben, dass er jeden dazu bringen könnte, das zu tun was er wollte, dann hat er versprochen dass die Hegedunen die Verwandlung eines seiner Opfer in den Nachrichten sehen würden.“
Begreifen spiegelte sich in Pareios angespannten Zügen. „Und kurze Zeit später zwingt er einen Menschen zu irgendwas. Da könnte ein Zusammenhang bestehen. Aber warum macht er sich die Mühe? Warum hat er den Kerl nicht einfach infiltriert?“
„Er ist der Meinung, dass er seine Kraft für die großen Brocken aufsparen muss, die von denen er länger profitieren kann.“ Abgesehen davon, dass er ein sadistisches Schwein war, das sich am Blut und am Leid andrer ergötzte.
„Das bedeutet doch, dass er gar nicht unbegrenzt viele Personen gleichzeitig steuern kann, zumindest jetzt noch nicht…“
„Aber in diesem Stadium seiner Planung reicht es aus, den Anschein zu erwecken“, vollendete Aurelia seinen Satz. Das hieß auch, dass Orcus damit rechnete, seine Macht bald vergrößern zu können. Später konnte er sich diese Schwäche nicht mehr leisten, das musste ihm klar sein, und einen so großen Bluff traute sie selbst ihm nicht zu.
„Was könnte so groß sein, dass es in den Nachrichten landet?“, fragte sie verwirrt und plötzlich fuhr Pareios auf.
„Scheiße. Aurelia, ich weiß, ich darf dich das nicht fragen, aber es muss einfach sein!“ Er packte sie entschlossen bei den Schultern. „Wäre es möglich, dass Orcus sich in der Nähe von Ceiling aufhält?“
„Schätze schon. Es war zumindest dieselbe Tageszeit. Aus der Vegetation konnte ich nichts ableiten. Was verschweigst du mir?“
„Kommst du kurz allein klar?“ erwiderte er, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Ich muss telefonieren.“
„Erinnert dich die ganze Geschichte nicht auch an die Campbells und unsere Theorie mit den Steinen?“, drang Preios‘ aufgeregte Stimme aus dem Hörer. „Patell hatte Orcus noch infiltriert, doch diesesmal hat er es gelassen. Orcus kann nicht mehr jeden x-beliebigen übernehmen, weil ihm der Rohstoffnachschub ausgegangen ist. Also erpresst er Menschen, das zu tun, was er verlangt. Das würde auch bedeuten, dass er die Rohstoffe noch nicht gefunden hat.“
„Angenommen, dass er für die Attentate verantwortlich ist und all unsere Annahmen richtig sind, dann trifft das zu.“ Wofür sie jedoch immer noch keine Beweise hatten. Sie jagten Schatten hinterher und das auf der Grundlage von Vermutungen. „Ist das eben erst passiert?“
„Exakt. Falls Orcus den Kerl zu einem Attentat angestiftet hat, wird es erst noch passieren.“
„Wir können es vielleicht verhindern“, stieß sie verblüfft aus. „Ok, setzten wir alles auf eine Karte und nehmen wir an, es handelt sich tatsächlich um einen weiteren Anschlag in Ceiling. Welchen Kiosk könnte er gemeint haben?“
„Aurelia sagte, der Mensch besitzt den Laden. Evrill könnte eine Phantomzeichnung anhand ihrer Beschreibung erstellen. Damit machen wir uns dann auf die Suche.“
Xandra hatte zwar große Zweifel, da das letzte Phantombild anhand von Aurelias Beschreibungen zu nichts geführt hatte. Das hatte allerdings auch Orcus‘ Onkel gezeigt, einen hochrangigen Hegedunen. Die Mächtigsten von ihnen waren der Öffentlichkeit und auch der Legion völlig unbekannt. Ihr einziger Anhaltspunkt war der Familienname Warburg, was sie jedoch auch nicht weiter gebracht hatte. Das Klerusmitglied blieb ein großes Fragezeichen.
„Wie lange haben wir Zeit?“
„Es soll morgen passieren.“
„Ok. Dann los!“ Xandra legte auf und begann die anderen zu informieren. Keine drei Stunden war es her, seit sie von ihrem Ausflug zurückgekehrt waren. Sie hatte die Ruhe genossen, nachdem sie ihre beiden neuen Schatten abgehängt hatte und jetzt graute ihr ein wenig davor, wieder mit ihnen zum Einsatz aufzubrechen. Aber es half nichts. Wenn sie den Mörder ihres Vaters finden wollte, musste sie jede Spur verfolgen. Außerdem war da noch die Aussicht, dass sie vielleicht ein paar Leben retten konnte, wie hätte sie da egoistisch sein sollen.
In voller Montur wollte sie schließlich ihr Zimmer verlassen, doch vor der Tür wartete schon jemand auf sie.
„Hatte ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt?“, fragte sie Evrill spitz und kniff die Augen zusammen.
„Schon. Ich habe dennoch gehofft, dass das nicht für uns beide galt.“
„Hat es aber.“ Sie hatte keinen weiteren Bedarf für diese Spielchen. Obwohl die Männer andauernd um sie herumscharwenzelten, war keiner von beiden in der vergangenen Woche offen auf sie zugekommen und nach einer gewissen Zeit war ihre Aufregung bezüglich Annäherungsversuchen in Frustration umgeschlagen.
Es ging weder vorwärts noch rückwärts und die Kerle behandelten sie zwar wie eine Königin, schienen aber insgesamt doch mehr auf ihren eigenen Disput fixiert. Als ob Xandra von der Haupt- zur Nebenrolle dieses Dramas degradiert worden wäre.
„Wolltest du nicht um mich kämpfen?“ rutschte es ihr schließlich heraus. „Was ist daraus geworden?“
„Wir hatten kaum eine freie Sekunde. Außerdem war ich der Meinung, dass ich meine Absichten doch recht deutlich zeige. Christian sind sie jedenfalls nicht entgangen“, rechtfertige er sich.
„Du hast Recht. Für ihn ist es wohl kaum zu übersehen. Danke auch dafür.“
Evrill hob verdutzt die Augenbrauen und als sie an ihm vorbei in Richtung Aufzüge stapfte, hängte er sich an ihre Fersen. „Ich bin verwirrt. Du hast doch gesagt, ich bin ein freier Mensch und könnte tun…“
Xandra blieb abrupt stehen und drehte sich barsch zu ihm um. Beinahe wäre er in sie hinein gelaufen. „Ja. Nur hatte ich dabei etwas anderes im Sinn!“
„So? Was denn genau?“, hakte er plötzlich belustigt nach und sein amüsiertes, anzügliches Lächeln nervte sie gleich noch mehr. Vor allem, weil sie keine Antwort wusste. Sie hatte keine Ahnung, was sie sich eigentlich vorgestellt, auf was sie gehofft hatte.
„Zumindest hatte ich erwartet, dass es bei der Sache ein wenig mehr um mich gehen würde.“
„Tut es das nicht?“
„Ich weiß nicht, sag du’s mir! Haben sich deine Gedanken in letzter Zeit eher mit mir beschäftigt, oder damit wie du Christian ausspielen kannst? Man könnte ja beinahe auf die Idee kommen, ihr hättet einen Pakt geschlossen.“
Evrills silbern leuchtende Augen weiteten sich überrascht, dann richteten sie sich betreten auf den Boden.
Oh, mein… „Evrill?! Habt ihr etwa über mich gesprochen???“ Ihre Stimme klang ohne ihr Zutun bedrohlich und als er nichts sagte und weiterhin auf seine Füße starrte, fügten sich die Puzzleteile in Xandras Kopf zusammen. „Ganz ehrlich! Wenn ich nicht wichtigeres zu tun hätte, würde ich euch beiden...“
„Was hast du denn geglaubt, was passieren würde?“ Jetzt schien auch er ein wenig wütend. „Du drückst dich vor einer Entscheidung. Du weißt, dass ich nur dich will.“
„Ich weiß gar nichts. Das hast du gesagt, mehr auch nicht.“
„Ich verstehe dich nicht! Einerseits bist du sauer auf mich, weil Christian mitbekommen hat, dass da was zwischen uns ist. Andererseits möchtest du offenbar, dass ich richtig um dich werbe. Du weißt schon, dass ihm das erst Recht nicht entgehen wird?!“
Als sie ihn nur verdutzt anstarrte, schüttelte er den Kopf. „Du solltest wirklich dringend herausfinden, was du willst. Und das auf so vielen Ebenen, dass ich langsam den Überblick verliere.“
„Ich…“, setzte Xandra erbost an, doch er unterbrach sie.
„Lass es. Nichts, was du sagst, kann verstecken, dass du wegläufst, also spar‘ dir die Worte.“
„Wa…?“ Wie zum Teufel war sie auf einmal zur Bösen geworden??? „Ich habe dir nichts versprochen!“
„Ha. Nein, das hast du nicht. Weißt du, damals, als du nach deiner Verletzung in mein Zimmer kamst, da dachte ich, wir hätten eine Verbindung. Dass du diese Verbindung wolltest. Aber danach hast du dich einfach wieder verschlossen. Denn Gott bewahre, dass dir jemand so wichtig wird, dass du nicht mehr ohne ihn leben kannst. Dass du abhängig von irgendjemandem bist. Allmählich habe ich den dumpfen Verdacht, dass Christian recht hatte, was dich angeht.“
„Wie bitte???“
„Er sagt, du bist vielleicht nicht fähig, jemanden an dich heran zu lassen. Bis jetzt wollte ich es nicht glauben.“
Xandras Gedanken rasten, ihr Herz wummerte auf unbehagliche Weise in ihrer Brust. Wie konnten die beiden nur über sie sprechen? Und wie konnte Christian nur so etwas über sie sagen? Es verletzte sie mehr, als sie zugeben wollte. Vor allem weil sie sich fragen musste, worüber die beiden sonst noch geplauscht hatten. Und ob nicht sogar beide Recht hatten, was sie anging.
„Was fällt euch ein?!“, war das Einzige, das sie herausbrachte.
„Weder er noch ich haben das getan oder gesagt, um dir weh zu tun.“
„So fühlt es sich aber verdammt noch mal an!“
Er nickte gefasst. „Weil die Wahrheit eben manchmal wehtut. Und trotzdem kämpfen wir beide immer noch wie zwei Vollidioten um dich. Er will dich genauso sehr wie ich.“
„Du nimmst ihn auch noch in Schutz?“
Evrill seufzte resigniert. „Lächerlich, was?! Offensichtlich bin ich der größere Vollidiot.“
Aber auch der mit dem größeren Herzen, dachte Xandra einen Moment lang, bevor ihr wieder einfiel, wie wütend sie war. „Ich denke, ich hätte dir nicht erlauben dürfen, dich um mich zu bemühen.“ Sie konnte sehen, wie die Worte diesmal ihn trafen, doch die Befriedigung darüber fühlte sich nicht halb so gut an wie erhofft.
„Ja, vielleicht.“ Er räusperte sich. „Oder du wirst nach 500 Jahren endlich erwachsen und stehst dazu, wer du bist und was du willst.“
Oh Mann, sie bekam ihre Wahrheiten gerade saftig um die Ohren gehauen, was? Sie verschränkte die Arme vor der Brust, damit sie nicht vor Zorn bebten. „Selbst wenn ich das täte, bisher habe ich noch nichts von dir gesehen, was mich dazu bewegen könnte, dich zu wählen.“
Er hob vielsagen die Augenbrauen. „Du willst wirklich, dass ich mich nicht mehr zurückhalte? Dann wird es aber niemandem im Umkreis von einem Kilometer verborgen bleiben.“
„Das lass‘ mal meine Sorge sein!“
„Gut. Dann geh‘ heute mit mir Essen.“
„In Ordnung! Wird Zeit, dass du deinen groooßen Versprechungen Taten folgen lässt.“
„Aber vorher musst du es Christian erklären.“
„Was???“
„Du sagtest doch, du hast genug von den Spielchen. Dann beende sie. Es liegt in deiner Hand.“
So ein Mist!
Eigentlich hatte sie sich aus der ganzen Geschichte zurückziehen und bei ihrer Entscheidung für Christian bleiben wollen. Und nun hatte sie sich nur noch tiefer hinein manövriert. Aber Evrill lag mit einer Annahme richtig. Sie hatte kein Recht dazu, wütend auf ihn oder Chris zu sein. Durch die Spielregeln, die sie festgesetzt hatte, oder genau genommen: nicht festgesetzt hatte, hatte sie dafür gesorgt, dass es mit beiden Männern nichts Halbes und nichts Ganzes war. Sie selbst hatte auf die Pausetaste gedrückt.
Evrill hatte sie schneller durchschaut, als Xandra dafür gebraucht hatte und sogar Christian schien in manchen Belangen besser informiert als sie selbst. Was war nur in letzter Zeit los mit ihr, dass sie so verblendet war? Was hatte der Tod ihres Vaters ins Rollen gebracht, das ihr nun Stück für Stück den Boden unter den Füßen wegzog?
Sie konnte es nicht festmachen, so sehr sie es auch versuchte. Und mittlerweile hatte sie auch keine Lust mehr, weiterhin Kraft darauf zu verschwenden, es herauszufinden.
Sie lenkte den Wagen durch den Morgenverkehr und schielte zu ihrem Freund hinüber, der wachsam aus dem Fenster sah. Es kotzte sie immer noch an, dass er mit Evrill gesprochen hatte. Und dass er sich auf diesen Wettkampf mit ihm eingelassen und sie nicht zur Rede gestellt hatte. Aber andererseits war auch ihm nicht viel Raum zum Reagieren geblieben.
Nun waren sie zum ersten Mal seit Tagen allein unterwegs und sie vermisste das Gefühl der Leichtigkeit, das er ihr so oft vermittelte. Das sie zerstörte, weil sie sich nicht entscheiden konnte.
Oh verflucht! Sie war zu einer dieser Frauen geworden, nicht wahr?! Diese Tussis, die Männer für ihr eigenes Ego benutzten. War denn alles an ihr nur Fassade? Hatte sie die Mauer so geschickt errichtet, dass sie sie noch nicht mal mehr selbst sah? Und wie lange ging das schon vor sich?
Erst Evrill hatte ihr die rosarote Brille von der Nase gerissen. Sie gezwungen, die Realität zu sehen. Jetzt gab es keinen Winkel mehr in ihrem Kopf, wo sie sich vor der Wahrheit verstecken konnte.
„Ich glaube, ich habe noch Gefühle für Evrill“, hörte sie sich wie auf Autopilot sagen.
Es blieb eine Weile still. So lange, dass Xandra sich irgendwann zu Chris drehte. Er hatte das Gesicht abgewandt und sah weiterhin aus dem Fenster und sie überlegte, ob er sie tatsächlich nicht gehört hatte, oder ob er sie nicht hören wollte.
„Dachte ich mir“, antwortete er schließlich tonlos. „Aber ich habe mich gefragt, wann du es aussprechen würdest.“
„Wozu?! Du hast es doch schon lange gewusst.“ Bei ihrem bissigen Tonfall widmete er ihr doch seine Aufmerksamkeit.
„Schon. Aber du wolltest nicht, dass ich es weiß. Oder etwa nicht?!“
„Du denkst total kompliziert!“
„Könnte das vielleicht daran liegen, dass du kompliziert bist?!“, erwiderte er mit einem sarkastischen Lächeln. „Aber die Lage ist doch ganz eindeutig. Du wolltest herausfinden, ob da noch was ist. Und das hast du jetzt. Nun können wir alle mit offenen Karten spielen. Oder ist auch diese Entscheidung inzwischen gefallen?“
„Nein. Aber ich… ich werde heute Abend mit Evrill ausgehen.“
„Deswegen die große Offenbarung“, er lachte trocken auf und fuhr sich durchs Haar. „Weißt du, was ich die ganze Zeit nicht verstehe?! Wenn ich dir nicht genug war, warum sind wir dann überhaupt zusammen?“
„So ist es nicht, Chris. Es ist….“
„Kompliziert. Das hatten wir bereits.“
„Ja! Aber ich empfinde sehr viel für dich.“
„Wirklich?! Denn ich liebe dich. Kannst du das Selbe von dir behaupten?“
Xandra erschrak und starrte ihn entgeistert an. Hatte er da etwa gerade die L-Bombe platzen lassen? Einfach so mir nichts dir nichts?
„Ich…, ich…“
„Sei einmal ehrlich zu dir selbst! Kannst du das überhaupt über irgendjemanden behaupten?“
Beschämt zog sie den Kopf ein und fühlte sich in das Gespräch mit Evrill zurückversetzt. Christian legte den Finger in die frische Wunde, hielt ihr ebenso den Spiegel vor und sie konnte die Augen nicht mehr vor dem verschließen, was sie angerichtet hatte.
Als sie nicht antwortete, schnaubte er nur verdrießlich und ließ sich mit verschränkten Armen in den Sitz zurückfallen. „Weißt du, was dein Problem ist? Du kannst dich noch nicht mal selbst lieben. Ich hätte nicht erwarten dürfen, dass du das bei anderen hinkriegst. Und das alles nur, weil Daddy dich nicht geliebt hat?! Reiß dich zusammen und komm‘ endlich darüber hinweg!“
Das saß.
Etwas stach in ihrer Brust, wie damals als sich das Metallrohr durch sie hindurch gebohrt hatte. Wie in Trance sah sie hinab, um sich zu überzeugen, dass da keine Waffe war, die ihr das Herz entzwei riss. Aber sie hatte es verdient nicht wahr? Sie hatte die beiden Kerle an der Nase herum geführt. Und sich selbst obendrein auch.
Xandra konnte nichts mehr sagen, ihr blieb die Spucke weg. Nachdem die beiden Elevender so lange überaus zuvorkommend zu ihr gewesen waren, war sie jetzt von beiden in die Schranken verwiesen worden. Was sie letzten Endes herausgefordert hatte, wurde ihr da klar. Nicht die beiden Kerle trieben die Spielchen, sie war es, sie ganz allein, hallten Evrills Worte durch ihren Kopf und ließen sie sich nur noch schuldiger fühlen.
Sie hatte gewusst, dass sie ein Schlamassel anrichten würde, aber sie hatte sich selbst übertroffen und es richtig verbockt. Auf alle Arten, wie man etwas nur verbocken konnte.
Mit schwerem Herzen parkte sie den Wagen in der Nähe der Fußgängerzone. Den Rest der Fahrt hatten sie geschwiegen, denn Xandra wagte es nicht, ihn noch mal mit ihrer Unzulänglichkeit zu belästigen.
Sie stiegen aus und teilten sich dann jeder mit einem Phantombild des Kioskbesitzers bewaffnet auf. Auch die anderen Mitglieder ihres Teams waren in die ganze Stadt ausgeschwärmt, um den Typen rechtzeitig zu finden, bevor Orcus ihn zu einem Verbrechen zwingen konnte, wie sie befürchteten.
Xandra befragte die Passanten und zeigte das Bild in den Läden herum, doch niemand schien den Kerl zu kennen. Nach einer halben Stunde im eisigen Herbstwind rief Jordan durch und meldete, dass sie den Kiosk online ausfindig gemacht hatte. Als sie die Adresse nannte, horchte Xandra auf. Das war ganz in der Nähe. Sie informierte Chris und wenig später trafen sie sich wieder beim Auto. Sie waren das Team, das am nächsten dran war.
Im Affenzahn rasten sie durch die schmalen Gassen des Zentrums. Sie hielt sich nicht mit roten Ampeln und Einbahnstraßen auf und so schafften sie den Weg in nur wenigen Minuten.
„Scheiße“, murmelte Christian nur, als ihr Ziel in Sicht kam.
Auch Xandra erkannte mit einem Blick das Problem.
Der Kiosk gehörte zu einem Einkaufzentrum. Genau genommen befand er sich im Eingangsbereich, wo viele Menschen in einem kleinen Atrium saßen und frühstückten.
„Los“, sagte sie nur und sie stießen die Türen auf.
Der Zeitungsladen war in einer Art Container untergebracht und sie traten zu den Kunden, die an der Durchreiche Schlange standen. Sie warteten, bis alle bedient und ihres Weges gegangen waren, dann lehnte Xandra sich über den Tresen. Der Verkäufer auf der anderen Seite war ein Abziehbild von der Phantomzeichnung, die Aurelia Evrill aus dem Gedächtnis beschrieben hatte. Kein Zweifel, sie waren am richtigen Ort.
„Hi, wir suchen einen Kerl, dessen Frau im Augenblick bedroht wird.“
Der Mann riss entsetzt die Augen auf und sah sich voller Angst um.
„Hat er sie geschickt? Ich habe alles getan, was er verlangt hat. Hier ist der Rucksack.“ Er wies hinter sich in die Ecke des kleinen, mit Krimskrams vollgestopften Innenraums des Containers.
Xandra schielte an ihm vorbei und entdeckte das Corpus delicti. „Geben Sie ihn mir!“
„Was?“
„Nun machen Sie schon!“
Als er immer noch wie versteinert da stand, schwang sie sich kurzerhand über den Tresen und schubste ihn zur Seite. Während sie sich über die vermeintliche Bombe beugte, kam er wieder zu sich.
„Ist meine Frau jetzt frei?“
„Wir gehören nicht zu dem Kerl, der Sie erpresst“, hörte sie Christian hinter sich sagen. „Aber wir sind hier, um Ihnen den Arsch zu retten.“
„Was?! Nein! Dann wird sie doch…“
Xandra zog den Reißverschluss auf und erblickte ein kleines Gerat mit vielen Kabeln. „Ihre Frau ist bereits tot. Und wir werden jetzt dafür sorgen, dass Sie nicht das gleiche Schicksal ereilt. Christian, hol mir Jordan ans Telefon.“
Während er tat wie geheißen, begann der Mensch zu weinen, doch sie hatte kein Ohr für seine Trauer. Unterdessen packte sie das Werkzeug aus und machte sich bereit. Schließlich stellte Chris das Handy auf Lautsprecher und legte es auf den Boden. Daraufhin erklärte sie dem Technikass am anderen Ende der Leitung, was sie vor sich hatte.
Es gab keinen Timer, also hatte sie keine Ahnung, wie viel Zeit ihr noch blieb. Jordan leitete sie mit knappen, klaren Anweisungen an, das Gerät aus einander zu bauen. Die ruhige Stimme und die soliden Antworten halfen ihr dabei, die Panik nicht die Oberhand gewinnen zu lassen.
Xandra befolgte jeden Befehl genau, doch als sie einen komplexen Schaltkreis mit unzähligen blinkenden Lichtern freigelegt hatte, begann das Ding plötzlich zu piepen.
„Jordan, es piept! Was mache ich jetzt?“
„Ruhig bleiben“, drang es aus dem Hörer. „Deine einzige Chance ist, den Zünder zu überbrücken.“
„Und wo finde ich diesen verdammten Zünder?“
„Es muss ein Relais sein. Weißt du, wie so was aussieht?“
„Nein! Sag nicht, dass ich jetzt raten muss!“
„Das Relais verbindet zwei Kabel, nur zwei. Such‘ diese Stelle.“
Der Apparat piepte schneller, versetzte sie ohne ihr Zutun in Hektik.
„Verdammt Jordan! Ich sehe zehn solcher Stellen und das Ding kriegt gleich einen Rohrkrepierer, wenn es noch schneller piept!“
„Ok. Raus!“
„Was?“, fragte Xandra verständnislos.
„Lasst es und verschwindet da so schnell ihr könnt!“
„Aber hier sind überall Menschen!“ Fassungslos sah sie nach draußen, wo die Leute nichts ahnend in den Tag starteten. Christian packte sie an der Schulter.
„Du hast sie gehört. Wir sollten gehen.“
„Aber…“
„Xandra, bitte! Ich kann nichts mehr für euch tun!“, tönte es voller Grauen aus dem Lautsprecher des Mobiltelefons.
Schockiert kam sie auf die Beine, wollte noch nicht wahrhaben, dass sie all die Menschen sterben lassen würde. Sie wandte sich zum Gehen und erreichte mit ihrem Teampartner gerade die Tür, als sich das Piepen in einen schrillen Dauerpfeifton verwandelte. Christian schubste sie durch den Ausgang und warf sich über sie, aber Xandra gelang trotzdem ein Blick zurück.
Während die Elevender weggerannt waren und sich in Sicherheit gebracht hatten, war der Mensch geblieben. Er ging in die Hocke und krümmte sich wie ein Schild über die tickende Bombe.
Mit einem Mal setzte der hohe Ton aus. Es wurde still. Eine Sekunde verging… zwei… drei…
„Was zum Teufel…?“ Xandra wollte sich aufrichten, doch eine ohrenbetäubende Detonation kam ihr zuvor.
Eben hatte sie da noch den Mann gesehen, im nächsten Augenblick war er von einer Lichtkugel verschluckt worden und die Druckwelle fegte so heiß wie die Hölle selbst über sie hinweg.
Christian schob sich schützend über sie, aber trotzdem war es, als atmete sie pure Glut ein. Überall spürte sie, wie die Hitze Haut und Haare versengte, sich durch die schwere Lederuniform fraß. Das Opfer des Menschen hatte die Explosion kaum gedämpft, schoss es ihr bitter durch den Kopf, während sie darauf wartete, ebenfalls in Flammen auf zu gehen.
Doch plötzlich war alles vorbei.
Das blendende Licht, der Lärm und die allesverzehrende Feuersbrunst verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Hinterließen eine Kakophonie von entsetzten Rufen, hysterischen Schreien und dem Weinen von verstörten Kindern und verzweifelten Müttern.
„Alles in Ordnung bei dir?“, hörte sie Christian an ihrem Hals krächzen.
Xandra versuchte zu sprechen, schmeckte Ruß und hustete. „Ja. Bei dir?“
„Ich glaube ich habe am Hinterkopf keine Haare mehr.“
„Wenn das deine größte Sorge ist…“ Als sie sich aufsetzte, erfassten ihre Elevenderaugen einen Kriegsschauplatz. Das Atrium, das vorher mit Leben gefüllt gewesen war, war nun übersäht von Verletzten und Toten.
„Schnell! Wir müssen hier weg. Dieser Tage ist das Militär niemals weit.“
Sie wusste, dass er damit richtig lag, dennoch… Der Menschenmann hatte sich für sie geopfert, auch wenn es nicht viel Wert gehabt hatte. So viele waren bereits in diesem Krieg gefallen und Xandra fühlte sich machtloser denn je. „Ich bleibe. Ich kann zumindest ein paar heilen.“
„Und wie willst du ihre wundersame Genesung erklären? Oder dass wir vorher im Kiosk waren? Wir wurden bestimmt gesehen.“
All das stimmte, aber sie war eine Ärztin. Wenigstens das konnte sie. Entschlossen stand sie auf und ignorierte seine Einwände. Sie konnte nicht noch mehr Leute leiden lassen, egal welche Konsequenzen sie dafür tragen würde.
„X, wenn du das jetzt tust, entblößt du die gesamte Elevenderschaft vor der Menschheit! Da hinten kommen schon die Kamerawagen! Bist du denn völlig wahnsinnig geworden?“
Sie schüttelte seine Hand ab, die ihren Arm gepackt hatte, um sie zu stoppen. „Mir egal! Dann sehen sie wenigstens, dass wir gut und rechtschaffend sind!“
„Ich kann dich das nicht machen lassen. Bitte, zwing mich nicht dazu!“
„Spar dir…“, brachte sie noch voller Jähzorn hervor, dann spürte sie einen dumpfen Schmerz am Hinterkopf und alles wurde dunkel.
„Und? Waren meine Infos nützlich?“, erkundigte sich Aurelia, als Pareios die Zelle betrat. Stunden hatte sie mit warten zugebracht, dazu verdammt ihre Neugier zu verdrängen und sich nicht ständig zu fragen, warum er so Hals über Kopf verschwunden war. So war in ihrem Geist viel Platz für die Sorge gewesen, was wohl geschehen würde, wenn sie ein weiteres Mal in Orcus Gedankenwelt reiste. Würde sie dann restlich zu ihm werden? Sich in eine seelenlose, machtbesessene Bestie verwandeln? So würde sie seinen Plänen nur in die Hände spielen.
Pareios Lächeln schien zwiegespalten. „Kann man wohl sagen. Aber das einzige, das ich dir ohne Gefahr weitertratschen kann, ist, dass Christian Xandra niedergeschlagen hat.“
„Er hat sie niedergeschlagen?!“, echote Aurelia ungläubig aber auch ein wenig belustigt. „Erinnert mich irgendwie an Viktor.“
„Stimmt. Und auch Chris hatte recht damit, es zu tun.“
„Hmpf.“
„Komm schon. Du solltest dich freuen. Du schlägst Orcus mit seinen eigenen Waffen. Hat er sich inzwischen gemeldet?“
„Er hat vorhin kurz nach mir gesehen, aber ich habe ihm noch mehr Faust vorgelesen.“
„Schlaues Mädchen“, brummte er zufrieden und setzte sich neben sie auf die Matratze.
Aurelia lehnte sich automatisch bei ihm an und er schlang die Arme um sie. „Es tut mir leid, welchen Preis du dafür zahlen musstest. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass du es nicht noch mal machen musst. Aber wie es aussiehst, hast nur du Zugang zu den entscheidenden Spuren.“
„Wie tröstlich.“ Allein bei dem Gedanken wurde ihr speiübel. Sie hatte keinen blassen Schimmer, wie sie das noch mal durchziehen sollte, jetzt da ihr die Furcht vor einer etwaigen Verwandlung tief in den Knochen saß.
„Ich könnte bei dir bleiben, wenn du es versuchst. Ich passe auf, dass du den Weg zurückfindest.“
„Danke. Das beruhigt mich ein bisschen“, flüsterte sie in die Falten seines Hemdes und sog den vertrauten Duft ein, der ihr ein Gefühl von Heimat gab. Dennoch ließ sich die Sorge nicht vertreiben. Sie blieb hartnäckig in ihrem Hinterkopf, während sie sich mit Pareios über dies und jenes unterhielt und hoffte, dass er sie vor dem Abgleiten bewahren konnte.
„Genug der Ablenkung“, sagte sie schließlich, als die Anspannung kaum mehr auszuhalten war. „Ich will es hinter mich bringen.“
Pareios sah sie zweifelnd an, die Stirn von tiefen Falten gefurcht, doch er widersprach nicht.
„Ok. Ich halte dich.“ Er lehnte sich mit ihr zurück und sie machte es sich an seiner Brust bequem. Wild entschlossen aber mit unregelmäßig klopfendem Herzen schloss sie die Augen, machte sich auf den Weg. Mit Pareios an ihrer Seite schien es zunächst leichter zu gelingen, doch als sie erneut den schwarzen Ball in ihrem Innern berührte - als sie Orcus in ihrem Innern berührte - wurde die Übelkeit so stark, dass sie sie zu überwältigen drohte.
Aurelia amtete hastig durch Mund und Nase, kämpfte gegen das Bedürfnis an, ihren Innereien eine außerkörperliche Erfahrung verschaffen zu müssen und kurz dachte sie, sie hätte es geschafft.
Nein, doch nicht…
Würgend riss Aurelia die Augen auf. Sie konnte Pareios gerade noch von sich stoßen, bevor sie sich über ihn erbrach. Stattdessen traf sie die Wand, die Matratze, sich selbst… so ziemlich alles um sie herum, außer natürlich den Eimer, der für diese Fälle bereit stand. Pareios rieb ihr den Rücken und hielt die Haare zurück, während sie würgte bis Tränen kamen und nichts mehr da war, das sie auskotzen konnte.
„Ok… es wird wirklich schlimmer“, sagte er mit einem hilflosen Unterton in der Stimme und sie brauchte sich nicht nach ihm um zu sehen, um zu wissen, dass er jetzt ernsthaft besorgt war. „Wir sollten Xandra holen.“
„Nein“, presste sie atemlos hervor. „Was soll sie schon tun? Mir eine Pille gegen Orcus verschreiben?!“
„Das ist nicht mehr normal. Sie sollte dich zumindest kurz durchchecken. Selbst wenn sie dir damit nicht hilft, mir würde sie das alle mal.“
…. Ach, verdammt! „Na gut. Aber wehe, du vergisst die Muffins!“
Wenig später rollerte Xandra mit einem Wagen herein, der stark dem Ungetüm glich, das auch Syrus damals benutzt hatte, als Aurelia verletzt worden war. Er beinhaltete ein tragbares Ultraschallgerät, Desinfektionsmittel, Verbandszeug und vieles mehr. Aurelia bereute es jetzt schon.
Die Sauerei hatte sie inzwischen beseitigt und man hatte ihr auch eine frische Matratze herein geschafft. Jetzt lag sie widerwillig darauf und wartete auf die Untersuchung. Pareios ließ sie mit der Elevenderärztin allein und sie hoffte, dass er danach zufrieden sein würde.
„Dein Kollege sagt, du musst dich häufig übergeben, wenn du zu Orcus reist?“
„Und deiner hat dich heute niedergeschlagen, habe ich gehört“, versuchte Aurelia abzulenken, doch die andere durchbohrte sie sofort mit einem bösen Blick.
„Wenn du nicht möchtest, dass ich dir ausversehen den Blinddarm rausoperiere, solltest du nicht davon anfangen.“ Ihr süßlicher Tonfall konnte den Ärger in ihrem Gesicht nicht verbergen.
„Komm‘ schon! Ich sitze hier unten und langweile mich zu Tode! Bitte, gönn mir ein bisschen Tratsch. Vor allem, wenn er so gut ist wie der hier!“
Xandra rollte mit den Augen, aber dann rückte sie mit der ganzen Geschichte raus.
„Dir ist doch klar, dass er dich vor einem riesen Fehler bewahrt hat?!“
„Siehst du?! Das sagen alle! Genau deswegen wollte ich nicht darüber reden.“
„Du willst lieber sauer auf ihn sein?“, fragte Aurelia, sich nur mühsam das Lachen verkneifend.
Die neue Kollegin fauchte missmutig. „Er hätte mich doch nicht gleich ausknocken müssen! Das kann man auch anders regeln.“
„In der Situation war es die schnellste und ungefährlichste Lösung. Ich hätte es auch getan.“
Xandra richtete die vor Zorn funkelnden Augen auf sie. „Was du nicht sagst. Vielen Dank auch!“
„Nichts für ungut. Ich habe mich auch schon in diversen Situationen niederschlagen lassen. Du siehst also, du bist nicht das einzige Mitglied in diesem Club.“
Die Miene der Blonden Elevenderin spiegelte Überraschung wider und entspannte sich ein wenig. „Bei dir wundert mich das jetzt wirklich überhaupt nicht…“ Ihr anzügliches Grinsen ließ auch Aurelia schmunzeln.
„Sehr witzig. Haha.“
„Also, du übergibst dich, wenn du Orcus…. Dingsda?“
Vom Regen in die Traufe, was? Doch diesmal nickte sie auf die Erkundigung hin.
„Nur dann oder passiert es sonst auch?“
„Bisher nur wenn ich ihn kontaktiere. Aber mir ist häufig übel“, gestand sie.
„Sonst irgendwelche Symptome?“
„Naja, ich fühle mich ständig wie durchgekaut und ausgespuckt, aber ich habe auch noch nie so lange auf meinem Arsch gesessen.“
Xandra lachte auf und begann ihren Bauch abzutasten. „Kopfschmerzen oder Fieber? Eventuell neurologische Ausfälle?“
„Nö, nicht dass ich wüsste.“ Auch die anderen Fragen verneinte sie allesamt. „Was machst du jetzt mit mir?“
„Ich möchte nur sicher gehen, dass das Erbrechen keine körperliche Ursache hat. Doch da du eine Elevenderin bist, ist das sowieso sehr unwahrscheinlich. Mir fällt nur ein Grund ein und damit ich den ausschließen kann, brauche ich den Ultraschall, ok?“
Aurelias Herz blieb beinahe stehen. „Du meinst…???“
Xandra langte nach dem Gerät. „Könnte es denn sein?“
Sie überschlug im Kopf die Tage, noch mal und noch mal, in der Hoffnung sich verrechnet zu haben. Doch sie kam immer wieder zum selben Ergebnis. Als sie letztlich nickte, konnte sie kaum mehr atmen.
Während Xandra ihr Shirt nach oben schob und kühles Gel auf ihrem Bauch verteilte, konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Die Dinger hüpften wie Ping Pong Bälle durch ihren Kopf. Das konnte nicht wirklich…! Oder doch…? Was, wenn….? Neeeein…, nie und nimmer! Sie hatte doch nur ein einziges Mal… Aber ein einziges Mal konnte reichen, so was es doch... Also, konnte es möglich sein…?
Der Schallkopf glitschte über ihre Haut. Sie wagte nicht, auf den Monitor zu sehen, starrte nur stumm an die kahle Decke.
„Tja, also eins steht fest, deine Übelkeit und das Erbrechen stammen nicht von Orcus“, hörte sie Xandra wie aus weiter Ferne sagen. Vollkommen neben sich stehend stütze sie sich auf die Ellenbogen und betrachtete das rundliche Teil, auf das Xandra zeigte.
In den abstrakten schwarzen und weißen Formen konnte sie nicht viel auf dem Bildschirm erkennen. Aber da war ein kleiner Kreis, mit etwas darin, das man auch für einen Alien hätte halten können. Es machte winzige Bewegungen, so klein, dass sie sie nur erahnen konnte.
„Herzlichen Glückwunsch! Du bist schwanger.“
Evrill begutachtete die Informationen, die sie zusammengetragen hatten. Obwohl sie den Anschlag am Morgen wieder einmal nicht verhindern hatten können, wussten sie jetzt ganz sicher, dass sie Orcus hinterher jagten. Wie immer waren sämtöiche Kameras in der Umgebung ausgefallen und die Polizei konnte sich nicht erklären, wie eine Bombe in den kleinen Kiosk gelangt war. Unter den gebotenen Umständen war es jedoch ganz praktisch, dass die Menschen im Dunkeln tappten, jetzt, da Evrills Team wusste, mit wem sie es tatsächlich zu tun hatten. Nun mussten sie nur noch herausfinden, wozu Orcus die Verbrechen begehen ließ oder ob sie überhaupt nur einem einzigen Zweck dienten oder gleich mehreren.
Und was Evrills andere Probleme anging, auf dem Feld konnte er derzeit die Füße hoch legen. Xandra war in Sicherheit, dank Christian, und dafür hasst sie ihn auch noch. Besser hätte es gar nicht laufen können. Sein Gegner trieb ihm die Beute ja geradewegs in die Arme. Er konnte wirklich heilfroh sein, nicht an Chris‘ Stelle gewesen zu sein. Er hätte wohl ähnlich reagiert und dann hätte sie jetzt ihn gehasst anstatt des blonden Schönlings. Verrat war nun mal etwas, das sich nicht leicht vergessen ließ.
Folglich standen die Vorzeichen gut für seine Verabredung heute Abend.
Cat saß neben ihm im Computerraum und sah zum hundertsten Mal die Videos vom Tag des Verschwindens ihrer Eltern an. Seit sie immer deutlichere Hinweise darauf gefunden hatten, dass die Campbells sich abgesetzt hatten, hatte sich die kleine Elevenderin an dieser Hoffnung festgeklammert. Das hatte sie jedoch nicht vom Suchen abgehalten.
„Das gibt’s doch nicht!“, murmelte sie tief in Gedanken. „Die können sich doch nicht einfach in Luft auflösen! Wie vom Erdboden verschluckt…“
„Kannten sie vielleicht einen Teleporter?“, hakte er automatisch ein. Cat zuckte zusammen und starrte ihn dann an, als hätte sie ihn eben erst bemerkt.
„Ähm, kann ich mir nicht vorstellen.“ Ihre Augen wanderten wieder zum Bildschirm, wo die Bilder in schnellem Tempo abgespielt wurden.
„Könnten sie von jemandem weggeschmuggelt worden sein? Haben sie enge Freunde?“
„Ha. Die würden nie…“, plötzlich stockte sie. „Ich werd‘ verrückt…!“
Auch er lehnte sich vor, um einen besseren Blick zu haben. Cat hatte die Aufnahme eine Verkehrsüberwachungskamera angehalten und spulte zurück. „Was ist?“
Wieder stoppte sie das Video. Das Standbild zeigte einen Mann hinter dem Steuer eines silbernen Toyotas im dichten Verkehr. Trotz der kühlen Temperaturen trug er ein T-Shirt, besaß dichte Augenbrauen und einen breiten Mund.
„ Ich werd‘ nicht mehr!“, hauchte Cat. „Das ist… das ist Eddi!“
„Wer ist Eddi?“
„Eduardo Marquez. Er war mein Sozialarbeiter. Und dieses Tape stammt von dem Tag als meine Eltern verschwunden sind. Es wurde eine Querstraße weiter aufgenommen.“
Sozialarbeiter??? Er fragte nicht nach, denn dahinter steckte sicher eine längere Geschichte. Zumal sie ziemlich blass um die Nase geworden war. „Kannte er deine Eltern?“
„Bis heute hätte ich felsenfest behauptet: nein.“
„Sollen wir ihn besuchen fahren?“
Die kleine Elevenderin sprang auf. „Ja. Aber wir müssen Dareon mitnehmen. Sonst macht er mir die Hölle heiß. Seit das Militär überall herumschwirrt, ist er noch fürsorglicher geworden.“
„Er ist eben dein Gegenstück.“
„Schon. Aber auch eine Glucke!“; stellte sie nachdrücklich klar, lächelte jedoch fröhlich.
„Naja, du bist winzig. Wer kann‘s ihm verdenken?!“
„Ihr Männer seid wirklich in jeder Hinsicht von der Größe besessen, was?“
Evrill hob schmunzelnd die Hände und ergab sich. „Ok, den habe ich verdient… Übrigens könnten wir bei einer Drogerie vorbeifahren, wenn du möchtest.“ Er deutete auf Cats Haaransatz. Offensichtlich war sie in letzter Zeit nicht dazu gekommen, die dunkelbraune Färbung zu erneuern und da ihre eigene Haarfarbe irgendwo zwischen Blond und Kupfer rangierte, wirkte der Kontrast besonders krass.
„Danke, sehr aufmerksam von dir“, sagte sie ein wenig verwundert. „Aber nicht nötig. Ich lasse die Tönung rauswachsen.“
„Wieso denn?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich brauche sie nicht mehr.“
Keine zehn Minuten später saßen sie zu dritt im Wagen und waren erneut auf dem Weg nach Ceiling. Sie hatten ein unauffälliges Modell mit getönten Scheiben gewählt, da sie zurzeit nicht vorsichtig genug sein konnten. In der Stadt wimmelte es von Soldaten und seit heute Morgen hatte sich die Lage nur noch verschärft.
Sie mussten einige Straßensperren umfahren, um den Kontrollen zu entgehen, weshalb die Fahrt länger dauerte als erwartet. Vor einem verwitterten Gebäude aus grauem Beton angekommen, sah Evrill sich aufmerksam um. Sie befanden sich in einer Wohngegend mit vielen Hochhäusern. Es war mitten am Nachmittag und ziemlich kalt, weshalb sich wohl kaum jemand auf den Straßen herum trieb.
„Das ist es?“, fragte Dareon und lehnte sich zu Cat hinüber. Die blickte stumm aus dem Fenster, nickte schließlich.
Daraufhin machten sie sich zur Tür auf und klingelten. Eine tiefe Männerstimme ertönte und Dareon stellte sich als Lieferant vor. Sie wollten sich nicht ankündigen. Nachdem der Summer ertönt war, betraten sie das rustikale Mehrparteienhaus und suchten die richtige Wohnung.
Die einfache Türe schwang auf und ein Typ in T-Shirt und Jeans erschien im Rahmen. Seine dichten Brauen zogen sich zuerst verwirrt zusammen, doch als er die kleine Elevenderin entdeckte, hoben sie sich erstaunt.
„Cat???“ Für einen Moment schien er erfreut, doch im nächsten zog er die Haustür hinter sich bis auf einen Spalt zu. „Wo zum Teufel bist du gewesen??? Weißt du eigentlich, wie viele Sorgen ich mir gemacht habe???“
Die Angesprochene zog den Kopf ein und wirkte im Allgemeinen wie jemand, der gerade von einem Elternteil gerügt wurde. Und so langsam dämmerte Evrill, in welchem Verhältnis die beiden zu einander standen.
„Es tut mir leid…. Aber seitdem ist ziemlich viel passiert…“
„Ach tatsächlich?! Warst du in einem dreimonatigen Funkloch? Oder auf einem Urlaub im Bermudadreieck? Oder im Dschungel, wo es keine Telefone gab???“
Cat seufzte. „Ok, schon klar! Du bist sauer. Und du verdienst Antworten. Aber…
„Aber was? Noch so eine mysteriöse Geschichte? Du bist aus dem Sanatorium ausgebrochen, Cat! Schon mal auf die Idee gekommen, dass ich nur dein Bestes wollte? Und wer sind diese beiden Gestalten überhaupt???“
„Jetzt hör‘ mir doch mal zu! Meine Eltern sind verschwunden und ich mache mir wirklich Sorgen um sie. Ich glaube, sie sind da in was reingeraten. Auf einer Überwachungskamera habe ich gesehen, dass du an dem Tag, an dem sie verschwunden sind, ganz in ihrer Nähe warst. Ich dachte, vielleicht hast du sie gesehen?“
Eduardo Marquez‘ Augen waren während des Wortschwalls immer größer geworden. Er starrte den ehemaligen Schützling noch einen Moment lang an.
„Ach, verdammt…“, murrte er dann und stieß die Tür hinter sich auf.
Sie glitt zur Seite und machte den Blick in ein direkt angrenzendes Wohnzimmer frei. Auf einem altertümlichen taubenblauen Samtsofa saßen zwei Menschen vor zwei Tassen Tee und schauten schuldbewusst drein.
„Da hol mich doch…“, stieß Dareon ungläubig hervor, während Cat mit so ziemlich demselben Ausdruck im Gesicht in die Wohnung tapste. Mit einem Mal blieb sie stehen und drehte sich zu Eddi um.
„Du kennst sie??? Wie lange schon??? Warte, sag es mir nicht, ich kann’s mir schon vorstellen… Hast du… hast du etwa die ganze Zeit Bericht erstattet??? Und ihr….“, wutentbrannt wandte sie sich dem Paar im mittleren Alter zu. „Wie lange habt ihr ihn schon bezahlt? Von Anfang an, nicht wahr?“
Ok, sie waren offensichtlich fündig geworden, wurde Evrill da klar. Und nun fiel ihm auch die Ähnlichkeit zwischen Cat und der Frau auf dem Sofa auf. Sie war kaum von der Hand zu weisen.
„Wie habt ihr‘s gemacht, hm??? Lagt ihr in seinem Kofferraum? Oder auf der Rückbank?“
Der Mann stand auf und hob beschwichtigend die Hände. „Catlynn, beruhige dich. Übrigens ist es schön, dich zu sehen.“
„Oooh, nicht auf die Tour!“, fauchte sie. „Weißt du eigentlich, dass ihr es immer wieder schafft, dass ich mir vorkomme wie in einer Endlosschleife aus Lügen? Selbst wenn ihr es gut meint, lügt ihr! Was an unserem Leben war eigentlich real? Und dann fliegt euer Haus in die Luft und ihr verschwindet einfach? Schon wieder? Könnt ihr euch vorstellen, wie sich das anfühlt? …Schon wieder???“
Die beiden Campbells wirkten nicht annähernd so aufgebracht wie ihre Tochter und Evrill erkannte in dem Menschen einen kühlen Geschäftsmann. Er war der strategische Kopf, während seine Frau, ganz die würdevolle Aristokratin, etwas von einer Elfe im Chanel Kostüm hatte.
Dareon hatte die Tür inzwischen hinter ihnen geschlossen und trat nun zwischen die Kontrahenten. An Cats Vater gewandt fragte er: „Wieviel weiß er?“ Dabei nickte er mit dem Kopf in Richtung Eddi.
Ein Schatten huschte über das Gesicht des Mitfünfzigers. „Nicht alles.“
„Dann sollten wir uns vielleicht woanders weiter unterhalten.“
„Moment. Worum geht’s hier plötzlich?“, fiel der Sozialarbeiter ein und schaute verwirrt in die Runde. Auch Evrill verlor immer mehr den Faden, ahnte aber, dass das Gespräch sich jetzt um den Elevender-Kram drehte.
Dareon ignorierte die Unterbrechung. „Wir können Ihnen Schutz bieten, egal wovor Sie weglaufen.“
„So einfach ist das nicht. Wir wollen Cat auf keinen Fall mit hineinziehen“, widersprach Campbell reserviert.
„Ich stecke doch schon mittendrin! Du hast keine Ahnung, was ich in den letzten Monaten erlebt habe! Immerhin wurde ich mehrfach angegriffen, entführt und habe herausgefunden, dass ich…“, sie stockte und warf Eduardo einen besorgten Blick zu, wobei ihr wohl erst aufging, dass die Menschen sie mit entsetzten Gesichtern anstarrten.
„Kommen Sie, Mann.“ Evrill legte dem großen Typen mit der kernigen Ausstrahlung die Hand auf die Schulter. „Ich glaube, wir beide sollten jetzt in die Küche gehen und für Tee-Nachschub sorgen. Vielleicht vermischt mit etwas Stärkerem? Wir könnten wohl alle einen vertragen.“
Es hatte Cat wohl einiges an Überredungskunst gekostet, jedenfalls saßen die beiden Menschen nun in Ferrocs Büro und berichteten dem Großteil des Teams ihre Geschichte. Seit einer Stunde lauschte Xandra Campbells Worten und wurde immer aufgeregter.
Von Catlynn wusste sie, dass sie als junges Mädchen in die Klapsmühle eingeliefert worden war, nachdem sie einen Jungen mit einem Kuss getötet hatte. Damals hatte sich ihre Gabe zum ersten Mal gezeigt und sie war natürlich völlig überfordert von den Geschehnissen gewesen. Da sie die Geschichte auch genau so der Polizei erzählt hatte, hatten die Menschen sie für verrückt erklärt und ihre Eltern hatten ihr daraufhin den Rücken zugekehrt. Nachdem sie dann Jahre später herausgefunden hatte, dass sie eine Elevenderin war, hatte sich herausgestellt, dass die Campbells davon wussten. Und da sie mit einem gefährlichen Elevender zusammenarbeiteten, der ihre Familie bedrohte, sollten sie nicht tun, was er von ihnen verlangte, hatten sie damals die Gelegenheit genutzt, um sich von Cat zu distanzieren. Jedoch nicht aus Scham und Verachtung, wie diese ihr halbes Leben lang geglaubt hatte, sondern aus Sorge um ihr Wohlergehen.
Und wie sich jetzt zeigte, hatten sie von Anfang an dafür gesorgt, dass Cat einen Schutzengel hatte. Eduardo Marquez war dafür bezahlt worden, als Sozialarbeiter auf die Tochter aufzupassen und stetig Bericht zu erstatten. Die Campbells selbst hatten nicht gewagt, Kontakt zu dem einzigen Sprössling aufzunehmen.
Und das aus gutem Grund.
Denn die Beschreibung von Robert Campbells Geschäftspartner passte tatsächlich genau auf Orcus.
Endlich hatten sie handfeste Beweise. Xandra konnte es kaum fassen und in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken, während der Mensch fortfuhr.
„Sie müssen verstehen. Ich lernte Mr. Warburg als junger Mann kennen. Er sorgte für meinen Aufstieg. Unser gesamtes Dasein basierte auf seinem Wohlwollen. Als ich begriff, wer… oder besser was er ist, war es schon zu spät. Wir waren voll und ganz abhängig von ihm. Und dann kamst du.“ Er schaute seine Tochter direkt an.
„Als Cat uns vor ein paar Wochen besuchte, wurde mir klar, dass es so nicht weiter gehen konnte.“ Er nahm die Hand seiner Frau, eine verwirrend warme Geste für den sonst so distanziert wirkenden Mann. „Wir hatten verpasst, wie unsere Tochter aufgewachsen war. Wir hatten das Wertvollste bereits verloren, der ganze Reichtum konnte das nicht mehr aufwiegen. Das wurde uns damals klar. Und als wir das einmal begriffen hatten, konnten wir nicht mehr zurück. Wenn sogar unsere Tochter es schaffte, aufrecht durchs Leben zu gehen, dann wollten wir das auch. Ich wusste, dass sie jetzt in Sicherheit ist, also habe ich Warburg gesagt, dass ich kündige. Dass er von mir nichts mehr bekommen wird.“
„Was hat er denn bis dahin von ihnen bekommen?“, hakte Evrill nach.
„Es ist eine sehr seltene Verbindung, die wahrscheinlich nicht natürlich auf der Erde vorkommt. Wir haben es in Meteoritengestein gefunden. Er will geheim halten, was wir für ihn getan haben. Deshalb hat er unser Haus und unser Lager dem Erdboden gleich gemacht. Alle geschäftlichen Dokumente wurden dabei vernichtet. Wahrscheinlich hat er vorher versucht, unsere Vorräte an sich zu bringen, aber da hat er Pech gehabt.“
Campbell griff in die Brusttasche an der Innenseite seiner Anzugjacke und zog ein kleines Samtsäckchen heraus. „Das ist der Rest. Mehr konnten wir bisher nicht finden.“
Der ganze Raum war mucksmäuschenstill und alle beäugten aufmerksam, was er ihnen präsentierte.
„Woher wussten Sie, dass sie verschwinden mussten?“, erkundigte sich Xandra schließlich.
„Sagen wir, bei unserem letzten Telefonat hat er mir überaus deutlich zu verstehen gegeben, dass ich keinen Wert mehr für ihn habe. Und ich weiß, was mit Dingen passiert, von denen er nicht mehr profitieren kann. Cat hat Ihnen sicher berichtet, dass ich des Öfteren die Einrichtung besucht habe, die Mr. Warburg in Ceiling betrieb? Die Wesen dort wurden einfach beseitigt, abgeschlachtet wie Vieh, wenn er mit ihnen fertig war. Und auch diesen Ort hat er übrigens verschwinden lassen. Ich habe es überprüft. Er hinterlässt keine Spuren.“
„Das wissen wir bereits.“ Xandra nickte nachdenklich. „Könnte es sein, dass er jetzt nach dem Rohstoff sucht?“
„Das denke ich auch. Ich habe ihm gesagt, dass er nur das richtige Meteoritengestein finden muss, um auf die Verbindung zu stoßen. Das stimmt zwar nicht, aber er scheint es mir abgekauft zu haben. Denn an vier von den neun Orten, die in den letzten Wochen in die Luft gesprengt wurden, wurden Meteoriten gelagert. Im Einkaufszentrum fand eine Gesteinsausstellung statt, genau wie in der Galerie in diesem Bürogebäude im Westend. Und auch die naturwissenschaftlich-technische Fakultät der Uni sowie dieses Labor im Gewerbegebiet Nord besaßen eine Mineraliensammlung. Die anderen fünf waren Orte, wo ich Unterlagen deponiert hatte. In einem Bürogebäude saß mein Steuerberater, im nächsten mein Anwalt usw.“
Xandra ging auf, dass das Team auf der richtigen Spur gewesen war, aber sie hätten nicht nach Verbindungen zwischen den Anschlagszielen untereinander und zu Orcus fahnden sollen, sondern nach Zusammenhängen zu den Campbells. Doch wahrscheinlich hatte Orcus mit dem Vernichten der geschäftlichen Unterlagen alle Hinweise verschwinden lassen.
„Das heißt, er weiß nicht, dass Sie ihn angelogen haben“, schloss Pareios. „Wir können folglich davon ausgehen, dass er Sie nicht infiltriert hat.“
„Wie bitte?“
Dareon erklärte seinem Schwiegervater in Spe die Sachlage und der nahm die Nachricht verblüffend unberührt auf. So abgeklärt, wie er auch den Rest vorgebracht hatte. Xandra konnte gut nachvollziehen, dass Cat ihren Eltern nicht so richtig über den Weg traute. Denn auch ihre Mutter machte einen verdächtig gefassten Eindruck. Sie saß kerzengerade und mit elegant gekreuzten Knöcheln in ihrem chicken Kostüm auf der Ledercouch und hatte sich während der ganzen Zeit kaum bewegt. Obwohl sie von der Art her ganz anders war als Cat, konnten sie die Verwandtschaft nicht verleugnen.
Nachdem man sich Gegenseitig aufgeklärte hatte, brachte Cat ihre Eltern in eines der Gästezimmer auf Blackridge. Die zurückbleibende Gruppe war von Ungeduld erfüllt. Sie begriffen alle, dass die Ergreifung ihres Feindes nicht mehr bloß eine vage Vorstellung war. Orcus hatte jeden Angriff genutzt, um Einbrüche und Diebstähle zu verdecken. So wie sie es schon vor einer Weile vermutet hatten. Sie mussten nur herausfinden, wo es sonst noch Meteoriten oder Unterlagen der Campbells gab und die Orte überwachen lassen. Früher oder später würden ihnen seine Leute ins Netz gehen.
Nachdem die Aufgaben verteilt waren, löste sich die Versammlung auf.
Xandra bemühte sich, Christians Blick nicht zu begegnen und wartete bis er das Zimmer verlassen hatte. Sie konnte ihn im Augenblick noch nicht mal ansehen. Die Wut meldete sich brennend in ihrem Bauch. Sie wusste, dass ihre Reaktion unprofessionell und bis zu einem gewissen Grad ungerecht war, aber egal wie sehr sie sich zuredete, sie konnte diesen Vertrauensbruch nicht verzeihen. Wie sie es drehte und wendete, er war ihr in den Rücken gefallen, obwohl er sie angeblich liebte. Und das irgendwie jetzt auch schon mehrmals. Immerhin hatte er mit Evrill über sie getratscht, als sei sie ein Preis, den es zu erobern galt.
Und das alles empfand sie schon, wenn sie die noch viel bösere Vermutung zur Seite schob. Kurz bevor er sie niedergeschlagen hatte, hatte sie ihm schließlich gestanden, dass sie noch an Evrill hing.
Eine solche Boshaftigkeit wollte sie Chris nicht unterstellen, doch ganz verdrängen ließ sich die Befürchtung nicht. Weshalb sie ihn noch viel weniger sehen wollte. Und noch weniger wollte sie sich eingestehen, dass sich eine gewisse Befriedigung bei ihr einstellte, wenn sie an den heutigen Abend dachte. Chris hatte sie verletzt, geschah ihm nur recht, wenn es umgekehrt auch so kommen sollte.
Was sie zu dem Kerl brachte, der im Türrahmen auf sie wartete. Er lächelte charmant und reichte ihr die Hand. „Bereit für unser Abenteuer?“
„Kann’s kaum erwarten.“
„Ich hole dich in einer halben Stunde vor deiner Tür ab. Ich werde übrigens einen Anzug tragen. Vielleicht wählst du etwas Passendes?“
„Oho. Da fährt aber einer auf.“
„Und wie. Wirst schon sehen.“ Er zwinkerte ihr zu und beugte sich über ihre verschränkten Finger, um einen weichen Kuss auf ihre Haut hauchen. Dann verabschiedete er sich mit einem intensiven Blick, der ihre Knie weich werden ließ.
Kaum war er um die Ecke verschwunden, räusperte sich jemand hinter ihr.
„Glaubst du wirklich, du hast das im Griff?“
Sie wandte sich zu Ferroc um, der sie mit seinem vorwurfvollen Gesichtsausdruck bedachte.
„Wie meinst du das?“
„Du weißt genau, was ich meine. Seit wann stiftest du Chaos? Du warst nie jemand, um den ich mir Sorgen machen musste.“
Erstaunt erkannte Xandra, dass ihr langjähriger Freund wie so oft den vollen Durchblick hatte. Wegen seiner Gabe konnte er das Anwesen nicht verlassen und dementsprechend entging ihm nichts, was innerhalb der Mauern Blackridges geschah.
„Ich bin bereits dabei, die Sache zu klären.“
„Ach, wirklich? Wieso ist dein Freund dann am Boden zerstört und wieso schmeißt du dich dann an diesen Europäer ran?“
„Er… wir kennen uns schon lange.“
„Wir kennen uns auch schon sehr lange und du hast ihn nie erwähnt.“
„Du musst nicht alles über mich wissen.“
„Nein. Aber irgendjemand sollte es.“ Damit wandte er ihr den Rücken zu. „Du kannst gehen.“
Wie vor den Kopf gestoßen verharrte Xandra an der Tür und betrachtete die Silhouette des großen Elevenders vor dem Panoramafenster. Er war die Gutmütigkeit in Person, derart harsche Worte hatte er noch nie an sie gerichtet. Und da sie ihn für den kompetentesten Menschen überhaupt hielt, wog sein Urteil über ihr Verhalten besonders schwer.
Draußen neigte sich der Tag dem Ende und das letzte Sonnenlicht fiel in das große Büro. Und während sie in sich aufnahm, wie sehr alles dabei war sich zu verändern, wurde ihr klar, dass sie diejenige war, die stillstand. Die nicht erwachsen wurde, wie Evrill so treffend formuliert hatte.
Wortlos verließ sie das Büro. Sie musste endlich ihr Leben auf die Reihe kriegen und ein weiteres Gespräch darüber, wie sehr sie es bereits versuchte, brachte sie auch nicht weiter. Dabei wollte sie doch nur glücklich sein, auch wenn ein Teil von ihr anscheinend der Meinung war, dass sie es nicht verdiente und ihr deshalb immer wieder einen Strich durch die Rechnung machte. Vielleicht hatte dieser Teil von ihrem Vater gelernt, dass sie wahrer Liebe nicht würdig war und jetzt sabotierte er all ihre Pläne im Auftrag von jemandem, der schon längst tot war.
Ganz recht. Ihr Vater war tot.
Er. War. Tot.
Endlich konnte sie den Satz denken! Bei der Erkenntnis fiel ihr beinahe ein Stein vom Herzen. Es war beklemmend gewesen, sich dieser Tatsache nicht stellen zu können.
Als sie unter die Dusche glitt und das heiße Wasser über ihren Kopf rauschte, wurde sie von Minute zu Minute klarer. Chronos war gestorben und sie musste sich jetzt all die Antworten selbst geben, die sie von ihm nicht mehr bekommen würde. Das gab ihr allerdings auch die Möglichkeit, diese Antworten so ausfallen zu lassen, wie sie sich wünschte. Vielleicht hatte zwischen ihnen nicht das beste Verhältnis bestanden, aber er hätte ihr nie etwas Böses gewollt.
Während sie in ihrem Kleiderschrank nach einem geeigneten Kleid stöberte, verspürte sie den wahnwitzigen Drang heute über die Stränge zu schlagen. Sie langte nach einen Bügel und grinste in sich hinein. Was Evrill wohl zu dem guten Stück sagen würde?
Er war sprachlos.
Xandra lächelte fröhlich über seine Reaktion und drehte sich einmal adrett im Kreis, damit er sie von allen Seiten begutachten konnte. Sie trug ein langes Kleid aus flüssigem Silber, so schien es. Es umschwebte ihren herrlichen Körper und lag dennoch genau an den richtigen Stellen an. Doch als er die Rückseite erblickte, raubte ihm das Outfit nicht nur die Sprache, sondern auch noch den Atem.
Das Teil war rückenfrei und der Ausschnitt reichte bis knapp über ihren herzförmigen Po. Nur einen Zentimeter mehr, und er hätte den Ansatz der verführerischen Rundung erspähen können. Außerdem trug sie offenbar keinen BH…
Himmel, Herrgott! Sie wollte ihn wohl umbringen!
„Genau den Ausdruck wollte ich in deinem Gesicht sehen“, raunte sie und ihres leuchtete auf vor Freude.
Es dauerte einen Moment bevor er wieder sprechen konnte. „Mission erfüllt. Zufrieden?“
„Noch nicht. Aber das werde ich.“
Mit diesem Versprechen im Ohr griff er nach den Mänteln, nahm ihre Hand und zog sie mit sich. Sie begegneten niemandem, aber allein dass sie die Berührung zuließ, bedeutete einiges.
Er hielt vor dem Arbeitszimmer des Stützpunktleiters. Xandra sah ihn erstaunt an und sie wäre nicht Xandra gewesen, hätte da nicht auch ein klein wenig Misstrauen in ihrem Blick gelegen. Doch insgeheim stand sie auf diesen harmlosen Nervenkitzel, da war er sich sicher, auch wenn sie das vehement abstritt.
„Was hast du vor?“
„Vor etwa 32 Jahren haben uns unsere Eltern zu Weihnachten in dieses furchtbare Theaterstück geschleppt. Du warst untröstlich, weil am selben Abend Schwanensee in der Stadt aufgeführt wurde und du lieber dorthin gehen wolltest. Du hast die vollen drei Stunden vor dich hingeschmollt… und sahst dabei zum Anbeißen aus.“
„… Der Vorfall scheint sich bei dir eingeprägt zu haben.“
Wie so ziemlich jeder Moment, den er mit ihr verbrachte. Aber das würde sie schon noch früh genug merken.
Er öffnete die Türen und drinnen warteten bereits Ferroc und Ruben, ein Jäger aus dem früheren Gefolge von Evrills Vater, mit dem er sich schon vor Jahrhunderten angefreundet hatte. Er begrüßte den alten Kumpel mit einem Schulterschlag und reichte dann auch Ferroc die Hand, den er vorhin um den Gefallen gebeten hatte.
„Xandra, das hier ist Ruben, er ist ein Teleporter und wird uns bringen und abholen.“
„Hast du nichts Besseres zu tun?“, erkundigte die sich bei dem großen Elevender in voller Jägermontur. Der grinste jedoch nur vieldeutig.
„Nicht, wenn Ev anruft.“
„Hmmm, kryptisch… Und du machst da mit?“
Der angesprochene Ferroc verschränkte die Finger auf dem Tisch. Seine dunklen Augen blieben einen Moment lang an Evrill hängen. Er nickte schlicht. „Dazu konnte ich doch nicht nein sagen.“
„Dann lass uns gehen.“ Er streckte ihr den Ellenbogen entgegen und als sie sich untergehakt hatte, berührte der Teleporter sie beide an den Schultern. Ferroc öffnete sein Schild, das er um das Anwesen gelegt hatte und das alle Anwohner vor Schaden und Entdeckung schützte, damit sie hindurch schlüpfen konnten.
Schon spürte Evrill den kraftvollen Sog, der an einem Körper zerrte, wenn er sich durch Raum und Zeit bewegte. Das Büro um sie herum löste sich auf, verschwamm in einem Wirbel aus Farben. Es fühlte sich an, als ob er durch einen Orkan gezogen wurde.
Ein kleiner Ruck ging durch seinen Körper, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Die Umgebung hörte langsam auf sich zu drehen, kam zum Stillstand.
Es war helllichter Tag und sie standen in eine Gasse zwischen ein paar Müllcontainern und dem Hintereingang eines Chinarestaurants.
Xandra sah sich aufmerksam um. „Wo sind wir?“
„San Francisco.“
„San Francisco???
„Jap.“ Er verabschiedete sich von Ruben, der eine galante Verbeugung andeutete und dann verschwand.
„Was machen wir hier?“
„Wir sehen uns Schwanensee an.“ Evrill führte sie hinaus auf die Straße, wo gegenüber ein kleines Theater wartete. Sie traten aus der Gasse und die Sonne blendete sie.
„Aber es ist hier doch mitten am Nachmittag. Läuft da schon eine Vorstellung?“
„Naja, da ich kurzfristig einen Ort finden musste, wo das Stück zur passenden Zeit aufgeführt wird, musste ich ein wenig erfinderisch werden.“
„Was soll das heißen?“
„Wart’s ab“, meinte er nur, konnte sich das Grinsen aber kaum verkneifen.
Die ratlose Xandra ließ sich von ihm über die Straße begleiten und sie betraten das in die Jahre gekommen Gebäude durch einen großen bogenförmigen Eingang mit Glastür. Als sie den roten Samtvorhang dahinter passiert hatten, standen sie plötzlich in einer heiter schwatzenden Menschenmenge.
„Oh, von draußen sah es so leer aus“, flüsterte sie überrascht.
„Ist auch mehr eine Privatvorstellung.“
Er bekam einen weiteren fragenden Blick, doch da erreichten sie den Verkaufsschalter, wo er bei einem Typen mit bunter Weste zwei Karten löste. Sie waren mit Abstand am chicksten gekleidet und wurden von allen Seiten angestarrt. Aber das konnte auch an dem mörderischen Kleid liegen, das Xandra zur Schau trug. Er platzte fast vor Stolz, während auch er sie verstohlen bewunderte.
Sie ließen sich vom Gedränge in den kleinen Saal treiben, wo sich eine Bahn aus dunkelblauen Samtsesseln an die nächste reihte. Sie beschrieben einen Halbkreis um die Bühne, die noch von einem weiteren schweren Vorhang verborgen wurde.
Als das Licht gedimmt wurde und die Musik losging, legte er den Arm um ihre zarten Schultern und zog sie an sich. Der Vorhang hob sich und ...
Etwa zehn kleine Mädchen im rosa Tutu hüpften auf die Bühne.
Xandra kicherte, sodass er von ihren Bewegungen durchgerüttelt wurde. „Oh, mein Gott. Die sind so niedlich, ich könnte sie alle auffressen! Und guck mal die Kleine in der ersten Reihe!“
Ihre Begeisterung löste seine Anspannung. Er atmete ihren warmen Duft ein und fühlte sich wie der König der Welt. Einfach weil er ihr nah sein durfte. Ihr Lachen hören durfte. Und weil er wusste, dass der Abend, oder besser der Nachmittag, noch lange nicht vorbei war.
Xandra schob sich einen Löffel Sorbet in den Mund und blickte über die Bucht der untergehenden Sonne entgegen. Das kleine Restaurant im Fisherman‘s Wharf hatte sie mit köstlichem frischem Fisch versorgt - ihr Lieblingsrezept mit Kräuterkruste - und der mystische Nebel war langsam unter der Golden Gate Bridge hindurch übers Wasser gekrochen, wie es zu dieser Jahreszeit typisch für die Gegend war. Nun versank der rote Feuerball in den Dunstschwaden und tauchte den Nebel in ein leuchtendes Flammenmehr. Dieses leckte alsbald an der kleinen Insel Alcatraz, umschloss sie wie ein sagenumwobenes Monster aus alten Zeiten, verschlang sie schließlich ganz.
Xandras Augen wanderten zu ihrem Begleiter hinüber, der ebenfalls das Spektakel am Firmament betrachtete. Das Licht tauchte auch sein Gesicht und das weißblonde Haar in warme Töne.
Da fing er ihren Blick auf und hielt ihn. Ein elektrisierendes Knistern entstand, prickelte über ihren Körper und sie musste die Lippen öffnen, um besser Luft zu bekommen. Es war, als ob er sie mit den Augen verschlang, wie Finger glitten sie über ihre plötzlich erhitzte Haut.
Darin stand ein Versprechen. Sie brauchte nur zuzugreifen.
Der Kellner trat an den Tisch und unterbrach den intimen Blickkontakt. Er servierte schmale hohe Gläser, in denen Eiswürfel und eine goldbraune Flüssigkeit schwappten.
„Hast du das bestellt?“
„Wer sonst?!“
Sie nippte vorsichtig… und schmeckte samtige Aromen in einer vertrauten Kombination. Da waren Whiskey, Orange und Vanille, aber auch ein Hauch Pfirsich und… „Ich fasse es nicht! Du hast ein Restaurant gefunden, das noch Southern Comfort führt? Die Produktion ist schon vor einer Ewigkeit eingestellt worden.“
„Wer kann, der kann.“
Und sie wussten beide, dass sie sich Xandras letzte Flasche, ein Stück, das sie Jahrzehnte aufgespart hatte, vor zwei Jahren in jener ersten Nacht geteilt hatten, als… naja.
Evrills Sinn für Details schmeichelte ihr ungemein. Als hätte er all die Jahre jede beiläufige Bemerkung aufgesogen und abgespeichert, nur um ihr eines Tages den perfekten Abend zu bereiten. Nach der Ballett-Aufführung der Tanzschule „Joyful“ San Francisco, die ein voller Erfolg gewesen war – Mann, die kleine Goldige in der ersten Reihe war mit ihren vier Jahren bereits ein echtes Naturtalent - waren sie mit einer Cable Car zur Bucht hinab gefahren. Ein weiterer Punkt auf der Liste der Dinge, die sie immer schon mal machen wollte. Sie hatten ganz vorne gestanden und beobachtet wie das glitzernde Blau immer näher gekommen war. Xandra hatte sich an Evrills großen Körper gelehnt und dieselbe Aufregung gespürt, wie damals auf dem Anwesen bei Warschau.
„Dein Timing ist diesmal ziemlich optimal“, sagte sie jetzt und stütze die Ellenbogen auf dem Tisch ab.
Er kam ihr mit einem sexy Grinsen entgegen. „Wieso das?“
„Heute sind zwei Dinge geschehen, die dazu geführt haben, dass das hier das perfekte Date ist. „Will ich wissen, was diese Dinge sind?“ Er lächelte noch breiter. Wahrscheinlich nahm er an, er hätte eine ziemlich genaue Vorstellung von einem der beiden Gründe. Doch sie meinte nicht Chris.
„Eins davon kann ich nicht verraten, aber die Aufführung von den Kids hat genau zu meiner Stimmung gepasst.“ Seit sie am Nachmittag die wohl freudigste Nachricht überbracht hatte, die man als Ärztin überbringen durfte, empfand sie bei dem Gedanken an Kinder Nostalgie.
„So?“ Sein Gesicht leuchtete auf, obwohl die Sonne längst untergegangen war. Auf seinen Wangen bildeten sich diese hinreißenden Grübchen.
„Mhm. Und außerdem… Das Teleportieren hat mich sehr an meinen Vater erinnert. Und das ist heute zum ersten Mal was Gutes. Es hat mir gefallen.“
„Was hat sich verändert?“
„Ich kann es nicht genau sagen, aber… Ich denke ich war sehr lange wütend auf meinen Vater. Ich habe mich von ihm distanziert, soweit ich konnte. Ich brauchte einen gewissen Abstand. Weil ich mich in Wahrheit von ihm abhängig gemacht habe. Von seinen Plänen. Von seinen Wünschen. Von seiner Meinung über mich. Er wollte ein Ebenbild von sich. Stark, unnachgiebig und klug. Doch gleichzeitig auch unnahbar. Du hattest Recht als du sagtest, ich wollte von niemandem abhängig sein. Und Christian hatte Recht, als er sagte, ich könnte nicht lieben, weder mich selbst, noch andere…“
„Das hat er gesagt?“
„Ja. Aber der Punkt ist, dass das alles deshalb so ist, weil ich schon abhängig bin, oder war, ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich so lange versucht die Ideale meines Vaters zu erfüllen, habe mich für ihn so verbogen, ich konnte mich nicht nach noch jemandem ausrichten… Ich habe mein Leben lang um seine Liebe gekämpft und habe sie bis zu Letzt nicht bekommen, ich schätze ich habe irgendwann verinnerlicht, dass ich sie letztlich auch nicht verdiene… Und dann, nach seinem Tod… befand ich mich plötzlich im freien Fall. Ich glaube, ich wusste ohne ihn gar nicht mehr, wer ich bin…“ Sie strich mit den Fingern nachdenklich über den Rand ihres Glases und ein heller Ton erklang. Evrills Hand legte sich sachte über ihre.
„Und jetzt weißt du es?“
Sie lachte trocken auf. „Nein. Wenn ich das behaupten wollte, müsste ich lügen. Aber ich habe erkannt, dass ich nicht mehr die sein muss, die mein Vater sehen wollte. Ich kann endlich meine eigenen Entscheidungen treffen. Mich so verändern, wie ich es möchte.“
„Kathartisch. Ist dir eigentlich klar, wie sehr wir uns in diesem Punkt ähneln? Ich habe auch immer versucht es meinen Eltern recht zu machen. Sie wollten mich nicht in der Nähe der Legion, also hab ich dran gehalten. Aber irgendwann kommt ein Tag, eine Gelegenheit, in der du dich plötzlich selbst fragen musst, wer du bist. Und manchmal führt uns die Antwort darauf zunächst einmal von unserer Familie fort. Das heißt nicht, dass es kein Zurück mehr gibt. Deswegen nennt man es ja Familie.“
„Stimmt. Und nicht alles an meinem Vater war schlecht. Durch die letzten paar Stunden ist mir wieder eingefallen, dass es auch gute Momente gab. An diesem Abend, an den du dich erinnert hast, also als unsere Eltern uns in dieses groteske Theaterstück geschleift haben, obwohl ich lieber Schwanensee sehen wollte. Da hatte ich ihn am Nachmittag zum ersten Mal im Zweikampf besiegt – damals haben wir noch zusammen trainiert. Und ich meine nicht nur besiegt, er landete auf der Matte wie ein gefällter Baumstamm.“ Sie musste schmunzeln, als ihr der Anblick erneut durch den Kopf schoss. „Ich habe mich ziemlich erschrocken. Ich hatte wohl angenommen, er wäre sauer auf mich. Stattdessen ist er wieder aufgestanden und hat mir die Hand gereicht. Er wollte dass ich mein Bestes gab und wenn ich besser als er war, dann war es eben so. Ich schätze, er war sogar ein wenig stolz auf mich.“
„Mit Sicherheit. Wie könnte er auch nicht?!“, entgegnete Evrill und musterte sie demonstrativ.
„Wenn du mich so ansiehst, gibst du mir das Gefühl, als wäre ich die schönste Frau auf der Welt.“
„Genau das sehe ich nun mal… Seit ich denken kann, sehe ich das in dir.“
Xandra blieb die Luft weg. Wieder spürte sie, wie dieses berauschende Kribbeln in ihrer Magengegend aufzog und diesmal hatte sie keine Zweifel mehr. Es waren Schmetterlinge, die in ihrem Zwölffingerdarm Tango tanzten. Die sie dazu brachten, breiter zu Lächeln als sie je gelächelt hatte. Die sie dazu bewegten, ihr Herz zu öffnen.
„Du hast nie etwas gesagt… Ich meine, bevor wir damals im Bett gelandet sind.“
Er rubbelte sich durchs Haar, das danach vollkommen verstrubbelt war, deswegen aber nicht weniger attraktiv auf sie wirkte. Am liebsten hätte sie ihm das Rubbeln abgenommen und selbst die Hände in den seidigen Strähnen vergraben.
„Hm, wahrscheinlich war ich noch nicht so weit. Ich wollte dir gewachsen sein.“
Xandra spürte, dass das Eingeständnis nicht leichtfertig offenbart wurde. Und auch er schien ein wenig irritiert, als hätte er es eben erst vor sich selbst zugegeben. Wodurch sie sich ihm nur noch verbundener fühlte.
„Schlauer Zug. Ich weiß, ich kann… forsch sein.“
„Nur eine der Eigenschaften, die ich an dir…“, er brach ab und warf ihr einen besorgten Seitenblick zu. Unvermittelt stand er auf und zog sie an den verschränkten Händen ebenfalls auf die Beine. „Lass‘ uns tanzen. Dieses Kleid verdient seinen Auftritt.“
Sie lauschte auf die leise Radiomusik, die im Hintergrund das Lokal beschallte. Die wenigen anderen Gäste musterten sie verstohlen. Auch hier waren sie völlig overdressed, doch das kümmerte Xandra nicht. Vor allem weil sie selten etwas Heißeres gesehen hatte, als Evrill in dem dunklen Anzug mit passender Weste und Krawatte.
Sie lehnte sich an ihren Begleiter, schmiegte die Nase in seine Schulterbeuge. Sein warmer Körper an ihrem fühlte sich genau richtig an, während sie sich zu den gedämpften Klängen eines der neuen Popsternchen wiegten. Xandra hoffte immer noch, dass er den Satz von vorhin beendete. Ganz anders als bei Christian, wollte sie es diesmal unbedingt hören. Verwundert erkannte sie, dass sie beinahe darauf gierte. Doch Evrill blieb still.
„Ich habe das hier vermisst“, flüsterte sie irgendwann.
„Wem sagst du das.“
Die Hitze seines Körpers drang durch den dünnen Stoff des Kleides. Seine Arme umschlossen sie fest, drängten sie noch näher an den harten Torso. Die angenehme Reibung weckte ein zartes, unschuldiges Begehren, das langsam durch ihre Adern kroch. Sie aufreizend träge verführte. Ein Seufzen schlüpfte über ihre Lippen und sie hob benommen den Kopf.
Evrills verhangene Silberaugen fanden ihre. Sein Blick hielt sie gefangen, rief nach ihr. Die Magie des Moments hatte sie beide in ihren Bann gezogen und Xandra tat zum ersten Mal, was sie wirklich wollte.
Sie legte die Finger um seinen Nacken, zog ihn heran und küsste ihn.
Die Schmetterlinge in ihrem Bauch stoben auf und sie wurde förmlich entzündet wie eine Fackel. Wahrscheinlich hätte sie sich völlig vergessen, wenn nicht plötzlich verhaltener Applaus ertönt wäre.
Der anderen Gäste dankten ihnen wohl für die Show.
Aurelia tigerte wie ein gefangenes Tier durch ihre Zelle. Der Raum schien kleiner denn je und die weißen Wände wollten sie offenbar erdrücken. Seit sie die erschütternde Nachricht erhalten hatte, zitterte sie wie Espenlaub. Sie hatte keine Ahnung, wie sie darüber denken sollte, wie sie sich fühlen sollte.
Aber sie wusste, es war eine Tatsache, vor der sie nicht weglaufen konnte.
Und sie wusste, dass sie nicht wollte, dass Orcus von diesem Kind erfuhr.
Doch das würde er. Früher oder später. Sie glaubte nicht, dass es möglich war, ein Geheimnis dieser Größenordnung vor ihm zu verbergen. Immerhin war es von seinem Blut. Zumindest nahm sie das an. Dante war ihr Gegenstück gewesen. Obwohl sie kurz vorher mit Pareios geschlafen hatte, so ging sie doch davon aus, dass ihr Seelenverwandter der Vater des Kindes war, so wie es bei Elevendern üblich war.
Die Vorstellung war extrem merkwürdig. Dass da dieses kleine Wesen in ihrem Bauch sein sollte. Sie konnte es noch gar nicht richtig glauben. Sie wurde langsamer, blieb schließlich stehen. Zögerlich hob sie das Shirt an und begutachtete die Region um ihren Nabel. Noch sah man es überhaupt nicht. Der Bauch war so flach und durchtrainiert wie eh und je, dabei versteckte er diese monströse Veränderung, die Aurelias Leben ohne Zweifel auf den Kopf stellen würde. Ihre Hand wanderte wie von selbst nach unten und legte sich immer noch zitternd über die verborgen Fracht. Sie spürte nichts, natürlich, aber dennoch hatte sie das Gefühl, als wäre da etwas. Ein Ziehen, ganz sacht und leise…
In dem Moment ging die Tür auf und Pareios kam herein.
Aurelia ließ eilig das T-Shirt los und zog es unauffällig wieder in Form, erst dann wandte sie sich ganz zu ihm um. Er hatte tatsächlich die Muffins aufgetrieben, nach denen sie in letzter Zeit so oft gegiert hatte, wobei nun klar sein dürfte warum. Die Köstlichkeiten spitzelten unter dem Tuch hervor, das den großen Korb bedeckte, der an Pareios Arm baumelte.
Gemeinsam setzten sie sich und da bemerkte sie erst, dass er in einer äußerst guten Stimmung war.
„Gibt es etwas zu feiern?“
Es konnte sich nicht um Aurelias kleine Überraschung drehen, Xandra hatte in guter alter Arztmanier etwas von Patientengeheimnis gefaselt und versprochen, dicht zu halten.
„Exakt. Du weißt ja, ich kann dir nicht verraten was, aber deine letzte Tour in Orcus‘ Kopf hat sich wirklich ausgezahlt.“
„Das freut mich.“
Er langte nach dem Tuch und wollte es aufschlagen, als sein Blick auf ihre Miene fiel.
„Oh, mein Gott, was ist los? Warst du noch mal bei Orcus? Hat er etwas Schlimmes getan? Hat er dir wehgetan???“
„Was? Nein! Wie kommst du denn darauf?“
„Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“ Seine Hände wanderten automatisch zu ihrem Gesicht und umfassten es fürsorglich. „Und du zitterst. Hat Xandra bei der Untersuchung irgendwas gefunden?“
Einen Moment lang war sie versucht, ihre Last zu teilen. Doch irgendwie brachte sie es nicht über die Lippen. Sie musste die Sache erst selbst verarbeiten, bevor sie sie Pareios erzählen konnte. Vor allem ihm. Nicht nur, dass die winzige Chance bestand, dass das Kind von ihm war, sie würde ihm dann auch beibringen müssen, dass sie mit Dante nicht nur Händchen gehalten hatte. Pareios ahnte es wahrscheinlich, aber bisher war es nie offen ausgesprochen worden. Und es zu tun, würde mit Sicherheit kein Zuckerschlecken werden.
Alles um sie herum war so verfahren. Und nun wollte sie auch noch ein Baby zu diesem Chaos addieren?
„Nein. Keine Sorge, es geht mir gut. Ich habe nur die Orcusitis, weißt du doch.“
„Hm, schlimm genug. Konntest du dich inzwischen ein wenig erholen?“
„Fit wie ein Turnschuh!“
Er brummte und scannte sie durchdringend von oben bis unten. „Wenn du es noch ein paar Mal sagst, dann glaubt es dir vielleicht auch deine blasse Nase und nimmt wieder Farbe an.“
„Das nennt man Autosuggestion.“
„Und? Funktioniert’s?“
„Ich lasse es dich wissen, wenn ich es herausgefunden habe.“
Sein warmes Schmunzeln füllte den Raum und in seinen Augen glitzerte die Sommerdämmerung mit den glühenden Kohlenstücken am Samthimmel. Beides umhüllte sie mit Geborgenheit und milderte den Schock, der ihr in den Knochen steckte.
„Allmählich fällt mir die Decke auf den Kopf. Ich glaube, ich fange an, für jeden Tag hier unten einen Strich an die Wand zu malen, sonst verliere ich den Überblick.“
„Es sind jetzt 14.“
„Oh. Dann ist ja schon November… Wie ist das Wetter draußen?“
„Sonnig, aber kalt. Morgens ist der Boden gefroren. Er knirscht unter den Sohlen“, beschrieb Pareios und lehnte sich zurück. Sie ließ sich auf das Bild ein, das er zeichnete, und machte es sich an seiner Seite bequem.
„Wie riecht die Luft?“
„Frisch…, nach Winter. Ich denke, es wird bald schneien.“
„Wirklich? Das würde ich gern sehen…“
Wehmut senkte sich über sie beide und es blieb eine ganze Weile still. Die Vorstellung von der Welt da draußen, die so schön war… in der aber dennoch so viele Gefahren lauerten. Vor denen sie jetzt ein Leben mehr beschützen musste. Ein ganz besonderes Leben.
„Hast du dir je eine Familie gewünscht? Also, ich meine Kinder?“, fragte sie unvermittelt und schielte vorsichtig nach Pareios Reaktion. Der schien jedoch nichts zu ahnen und lächelte versonnen in sich hinein.
„Na, klar. Als Nuria und ich geheiratet haben, dachte ich schon, dass wir eines Tages Kinder bekommen würden. Das ist doch ganz normal für Gegenstücke.“ Seine Augen sahen in ihre, aber sie blickten in eine andere Zeit zurück. „Ich mochte den Gedanken“, murmelte er.
„Die Vorstellung ist befremdlich. Vor allem bei dir.“
Bevor sie sich näher gekommen waren, war Pareios ziemlich egal gewesen, wer neben… oder besser unter ihm gelegen hatte. Aber sie wusste ja weshalb. Nachdem er als junger Mann sein Gegenstück Nuria bei einem Angriff der Hegedunen verloren hatte, war alles andere nur ein fader Ersatz gewesen. Bis sie sich in einander verliebt hatten. Und jetzt konnte sie tatsächlich nachempfinden, wie er sich so lange Zeit gefühlt hatte.
Er schüttelte den Kopf. „Hast wohl Recht. Was soll’s. Es sollte eben nicht sein. Und was ist mit dir?“
„Ich?? Ähm…, ich weiß nicht. Dieses Thema schien mir irgendwie unerreichbar. Wahrscheinlich habe ich den Wunsch danach deshalb gar nicht erst richtig aufkommen lassen. Trotzdem… es gab Zeiten, da habe ich schon ein, zwei Mal darüber nachgedacht.“
„DIE Vorstellung ist nicht weniger befremdlich. Statt eines Teddybären, hätte dein Kind von dir wahrscheinlich eine Walter P38 zum ersten Geburtstag bekommen.“
„Mit Munition!“, präzisierte Aurelia seine Weissagung. „Und deine hätten dir bestimmt nicht nur einmal die Augenbrauen weggebrutzelt, wenn sie deine Gabe geerbt hätten.“
Er lachte unbeschwert. „So lange es nur die Augenbrauen gewesen wären… Mit 15 habe ich den Abort eingeäschert. Das Ding ist quasi explodiert, giftige Dämpfe und so.... Ich fand es unglaublich lustig, mein Vater eher weniger. Seine Verdauung war danach nie wieder dieselbe.“
„Saß er etwa…???“
„Ich wusste nicht, dass er da drin war! Viktor war auch ziemlich sauer auf mich. Er hatte schon immer diese nervige Angewohnheit das Richtige zu tun.“
„Stimmt…“ Beide versanken sie in den Gedanken an Viktor und Aurelia konnte nur hoffen, dass sie ihn rechtzeitig finden würden, bevor er endete wie all die anderen Sklaven von Orcus. „Weißt du, das habe ich immer an ihm bewundert. Dieser untrügerische Blick für Ungerechtigkeit. Und seine Sturheit, immer wieder aufzustehen und dagegen zu kämpfen.“
„Das habe ich auch. Lange Zeit war er mein größtes Vorbild. Dann erkannte ich, dass das Richtige nicht immer das Richtige ist, wenn du weißt, was ich meine.“
Aurelia schaute nur verständnislos zu ihm auf.
„Naja, wenn man immer das Richtige tut, wird man nie Fehler machen. Man wird immer auf Nummer sicher gehen. Aber die Dinge, die es wirklich wert sind, bei denen gibt es nun mal keine Sicherheit und deswegen wird man sie immer verpassen. Man würde sich nie so lebendig fühlen, wie jemand, der das Risiko eingeht, auch mal einen Fehler zu begehen.“
„Hm… wenn dem so wäre, müsste ich mich sehr lebendig fühlen.“
„Ist das nicht so?“
„Eine Zeit lang schon. Aber seit Dante… Jetzt weiß ich nicht mehr, was ich fühlen soll.“
Pareios schob den Arm unter ihre Schulter und lehnte seine Wange auf ihren Scheitel. „Das wird vorbei gehen. Jeden Tag wird es ein bisschen leichter werden. Zuerst merkst du es kaum, aber irgendwann fällt dir auf, dass du seine Stimme nicht mehr ständig im Ohr hast. Sein Gesicht und sein Lachen nicht mehr ständig vor Augen. Und noch ein wenig später musst du dich schon sehr konzentrieren, um dich zu erinnern, wie sie gerochen hat.“
„Du meinst: er.“
„Hm?“
„Du meinst, wie er gerochen hat.“
„Ja… Genau.“
Aurelia sah lange in sein gut aussehendes Gesicht und wünschte sich, dass alle Glücksgötter sich vereinten, damit sie ihm eines Tages sagen könnte, dass dieses Kind von ihm war. Damit sie ihm das Leben geben konnte, um das er so schändlich von den Hegedunen betrogen worden war.
Sie konnte Dante nicht zurück bringen. Natürlich wäre es schön gewesen einen Teil von ihm zu haben. Doch da war so viel, das die Vorstellung, er wäre der Vater, überschattete. Zum einen, dass er nun mal tot war. Aber auch, dass sie nichts über Dante wusste. Sie hatte ihn gerade mal drei Tage gekannt, bevor er gestorben war. Noch dazu eine Version von ihm, die bereits vollkommen von Orcus verformt gewesen war. Vielleicht würde sie ihrem Kind niemals sagen können, wie sein Vater überhaupt wirklich geheißen hatte. Stattdessen würde sie es aber eines Tages darüber aufklären müssen, wer sein Großvater war.
Die ganze Situation erschien so viel leichter, wenn Pareios….
„Ich glaube, ich bin noch nicht so weit“, sagte sie schließlich und ihre Hand wanderte wieder zu ihrem Bauch.
Pareios nickte nur. „Ich weiß.“
In dicke Mäntel gehüllt schlenderten sie Hand in Hand am Pier entlang. Dann und wann blieb Evrill stehen, zog sie zu einem heißen Kuss heran und sie stand darauf, wie er danach jedes Mal keuchte. Ihr ging es nicht anders. Trotz der winterlichen Temperaturen, war sie von Frühlingsgefühlen erfüllt und konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich so anfühlen musste, wenn man frisch verliebt war.
Schmetterlinge. Dauergrinsen. Süchtig nach zwei weichen Lippen und den Kopf voll erotischer Tagträume. Alles sprach dafür.
Und es fühlte sich so verdammt gut an.
Auch Christian hatte ihr diese Freiheit vermittelt, aber bei Evrill war es anders. Es war nicht nur frei und aufregend. Nicht nur leidenschaftlich und mitreißend. Es war vertraut, flauschig mit rosa Wolken und irgendwie surreal. Es war alles zusammen und auf einmal. Genau wie vor zwei Jahren.
Sie hatte gewusst, dass sie ihn in Warschau in ihr Herz gelassen hatte. Doch jetzt musste sie sich fragen, ob sie es nicht bereits damals an ihn verloren hatte.
Als sie zu ihm hinüberschaute, hüpfte besagter Muskel in ihrer Brust.
Evrill sah alles, wusste alles über sie, sogar Kleinigkeiten, denen sie nie eine Bedeutung beigemessen hätte. Für ihn waren auch die Details wichtig. Bei jedem anderen hätte sich beobachtet gefühlt, entlarvt. Doch da Evrill ihr das Gefühl vermittelte, sie sei die tollste Erfindung seit es Schokolade gab, obwohl er all die großen und kleinen Unzulänglichkeiten an ihr kannte, spürte sie mehr Erleichterung als Beklemmung. Und auch Erleichterung darüber, dass sie endlich fühlen konnte, was sie wirklich fühlte.
Irgendwie schien es ihr, als sei sie bis zum heutigen Abend davon abgeschnitten gewesen, doch Evrill war es gelungen, sie wieder mit sich selbst zu verbinden. Sie hatten nicht nur eine Reise in die Vergangenheit gemacht, sondern auch eine begonnen, vor der Xandra ihr halbes Leben lang weggelaufen war.
Denn war es letztlich nicht einfacher gewesen, die großen Entscheidungen ihrem Vater zu überlassen? Hatte sie sich nicht insgeheim auf sein Urteil verlassen und sich gefügt, selbst wenn sie nicht seiner Meinung gewesen war? Ja, es hatte schon was, wenn man für sich selbst keine Verantwortung übernehmen musste.
Doch diese Feigheit wollte sie ablegen und sich selbst kennen lernen. Zum ersten Mal seit sie sich erinnern konnten, wollte sie ihrem Bauch folgen und nicht ihrem Kopf.
Und im Augenblick schrie ihr Bauch: Evrill…
Diesmal blieb Xandra stehen und zerrte ihn an sich. Zärtlich strich sie ihm eine Strähne aus der Stirn und spürte, wie ihr Herz beinahe überlief vor Zuneigung.
„Was?“, flüsterte er an ihren Lippen.
„Ich überlege nur, was mein Vater zu uns gesagt hätte.“
„Und?“
„Und dann ist mir eingefallen, dass es nicht von Belang ist.“ Sie lachte befreit auf und küsste ihn stürmisch.
Eisiger Wind pfiff in der Gasse, in der sie auf Ruben warteten. Sie standen nah bei einander und wärmten sich gegenseitig. Allmählich spürte Xandra den Winter in ihrem dünnen Abendkleid und den hochhackigen Pumps.
„Puh, in Ceiling ist es mittlerweile ein Uhr morgens.“
„Zum Glück sind wir in Nullkommanichts zu Hause…“
Bevor sie die Unterhaltung fortsetzen konnten, hallte der Klingelton von Evrills Handy von den kahlen Hausmauern wider.
„Das ist er!“
„Wer?“
„Pst!“ Dann hob er ab.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Xandra begriff. Evrill hatte den Hegedunen am Apparat, auf dessen Anruf sie schon seit zwei Wochen warteten.
Das Gespräch bestand aus wenigen knappen Sätzen und als er auflegte, wirkten die zuvor entspannten Gesichtszüge plötzlich hart.
„Wir müssen sofort zurück. Keine Zeit mehr für einen Zwischenstopp auf Blackridge. Ozwald Morgan landet gleich auf dem Ceilinger Flughafen und hat nur eine Stunde Aufenthalt, bis er den Anschlussflieger nimmt.“
„Du triffst ihn am Flughafen?“
„Sicheres Terrain. Er denkt, dass es unmöglich ist, Waffen ins Gebäude zu schmuggeln, deshalb trifft er sich gerne mit seinen Geschäftspartnern dort. Oder feiert rauschende Partys in der Bar.“
„Ich komme mit“, erklärte sie fest und rechnete mit vehementem Widerspruch. Doch sie würde sich nicht abwimmeln lassen. Dieses Vorhaben bereitete ihr immer noch Bauchschmerzen.
„Natürlich kommst du mit. Du bist die beste Ablenkung überhaupt.“
„Für dich, oder für ihn?“
Evrill kam nicht mehr zu einer Antwort, denn da tauchte auch schon Ruben vollkommen lautlos wie aus dem Nichts auf. Sie klärten ihn so weit wie möglich über die Sachlage auf und er bot sogleich seine Hilfe an.
Erneut transportierte er sie im Bruchteil einer Sekunde quer durch die USA und als Xandra die zugekniffenen Augen wieder öffnete, fand sie sich mit den beiden Kerlen in einer Kabine des Männerklos auf dem Ceilinger Flughafen wieder.
Ruben reichte ihnen seine Waffen und verließ sie dann. Er würde Verstärkung einsammeln und dann zurückkommen. Und da sie auf diese Weise nicht durch die Metalldetektoren mussten, würden sie bei dem Treffen massive Feuerkraft im Rücken haben. Das, und dass sie Evrill begleiten konnte, bändigte Xandras wilde Sorge ein wenig.
Sie raffte das silberne Kleid, schnallte sich den Waffengurt des Jägers um den Oberschenkel und schob die SIG Sauer in die Halterung. Als sie aufschaute, bemerkte sie Evrills sengenden Blick auf ihrem entblößten Bein. Er schluckte vernehmlich.
„In dem Kleid warst du vorher schon gemeingefährlich. Aber mit der Waffe bist du eine verdammte Atombombe.“
Xandra kicherte. „Na, hoffentlich! Und immerhin habe ich für beides einen Waffenschein.“
„Oh ja, den hast du“, flüsterte er mit verruchtem Tonfall und küsste sie unvermittelt mit ganzer Leidenschaft.
Dann hakte sie sich bei ihm unter und sie verließen die Männertoilette. Das restliche Team würde gleich folgen. Auf dem Weg durch die Halle voller Menschen verpasste Evrill ihr ein kurzes Briefing. Ozwald Morgan betrieb Investment und gehörte zum eher unbedeutenden Teil seines Klans. Doch obwohl er ein kleines Licht bei den Hegedunen war, besaß er dank seiner Herkunft beste Verbindungen. Immerhin war das Oberhaupt der Morgans ein Klerusmitglied.
„Wie hast du ihn kennen gelernt?“, erkundigte sie sich, kurz bevor sie die Bar erreichten. Ihr Begleiter blieb stehen und sah sich suchend um.
„Er war gierig und ich hatte eine Menge Geld zu investieren. Ich konnte ihm weismachen, dass ich ein freischaffender Elevender bin, der zwar nicht zu den Hegedunen gehören, aber dennoch ein Stück vom Kuchen abhaben will.“
Apropos… „Über diese Nebenbeschäftigung müssen wir uns noch mal unterhalten, wenn das hier vorbei ist.“
Er seufzte. „Naja, man sagt ja, dass man sich jemanden aussucht, der einem Elternteil ähnelt. Morgan glaubt übrigens, dass ich Thomas Hutchinson heiße.“
„Du siehst gar nicht aus wie ein Thomas“, meinte sie und musste lächeln, als sie zu ihm aufsah. „Aber Hutch passt ganz gut.“
Im bunten Treiben, das in der Flughafenbar herrschte, entdeckte er bald den Hegedunen an einem der hinteren Tische. Er hatte sich mit seinem Gefolge in die Ecke verzogen, sodass sie die Lokalität im Blick hatten. Dementsprechend fiel ihr Erscheinen sogleich auf.
Ozwald Morgan grüßte schon von weitem und erhob sich, während Evrill seine bezaubernde Begleiterin durch die Menge bugsierte. Natürlich bekam sie die gesamte Aufmerksamkeit, vor allem als die den Mantel öffnete und von den Schultern gleiten ließ.
Er nahm ihr das Kleidungsstück ab und hängte dann auch seinen an die Garderobe, bevor sie zu der kleinen Versammlung traten.
„Oz…“ Er verpasste dem Kerl seinen kräftigsten Handschlag und auch Xandra stellte sich vor… als Miranda Hutchinson, Thomas‘ Frau.
Bei der Vorstellung wurde er sofort steif und nahm eilig Platz, um die unbezwingbare Reaktion seines Körpers zu verbergen. Die Verursacherin der süßen Qual ahnte davon nichts, ließ sich auf den Stuhl neben ihm gleiten und überschlug die ellenlangen Beine effektvoll. Ihre betörende Ausstrahlung fesselte alle Anwesenden und obwohl Evrill darauf gebaut hatte, war ihm dennoch kotzübel. Bei dem Gedanken, wie diese Typen Xandra mit den Augen auszogen, hätte er gern ein paar Knochen gebrochen. Unter der weißen Tischdecke ballte er beide Hände zu Fäusten, bis der scharfe Schmerz, verursacht von seinen eigenen Fingernägeln, ihn wieder zur Raison brachte.
„Hätte nicht gedacht, dass du verheiratet bist. Aber mir ist klar, weshalb du deine Frau versteckt hast“, säuselte Morgan, während er sie lüstern taxierte.
Die Jägerin zuckte nicht mit der Wimper, stattdessen warf sie sich die blonde Mähne über die aufreizend nackten Schultern. „Süßer, mich kann man nicht verstecken.“
„Das glaube ich gern, Baby. Hätte ich gewusst, dass du auch dabei sein würdest, hätte ich mich schon früher bei deinem Göttergatten gemeldet.“
Xandra stupste Evrill frech von der Seite an. „Siehst du, Hutch? Hab ich dir das nicht schon tausend Mal gesagt?! Da hörst du’s; ich bin ein Verkaufsschlager.“
Mit Sicherheit, dachte er bei sich, wollte den anderen aber nicht zu weiteren Komplimenten animieren. Sonst hätte hier vielleicht jemand seine Zähne verloren.
„Du kannst deine Zunge wieder einrollen, Morgan. Ich will Geschäfte machen.“
„Schon klar, du geiziger Sack. Du sagtest was von einer bombensicheren Investitionsmöglichkeit?“
„200 Prozent Rendite garantiert. Mit Optionskauf ist noch viel mehr drin.“
Die Gier grinste ihm aus dem Gesicht des Hegedunen entgegen. Er war einer dieser Möchtegern-Yuppies, die alles dafür taten, sich in der Hierarchie nach oben zu scharwenzeln. Er war dermaßen geil auf Reichtum und Macht, dass er dafür seine eigene Mutter verkauft hätte. Was ihn sehr berechenbar machte.
„Und wie soll dieses überaus lukrative Geschäft aussehen?“
Die Kellnerin kam heran und unterbrach die Unterhaltung. Der Hegedune bestellte für alle Getränke. Sogar die beiden Bodyguards, die ihn stets begleiteten bekamen ein Wasser. Während sie auf die Bestellung fixiert waren, sah sich Evrill unauffällig in der Bar um. Vorne am Tresen entdeckte er Roman und an einem Tisch gar nicht weit von ihnen setzten sich gerade Rowena und Quentin. Die Verstärkung war eingetroffen.
Sobald sie wieder allein waren, lehnte sich Evrill über dem gestärkten Leinen nach vorn.
„Ist ein Insider-Tipp.“
„Deswegen also das persönliche Treffen….“ Morgan musterte ihn abschätzend. „Wie lautet er? Komm‘ schon, ich werd’s schon nicht der Börsenaufsicht stecken.“
„Du musst die Kuh schon kaufen, wenn du an die Milch willst.“
„Wieviel?“
„20 Prozent.“
„Halsabschneider! Fünf.“
Bevor Evrill antworten konnte, schaltete Xandra sich ein. „Und jetzt sind‘s schon 25. Glaub‘ mir, Süßer. Es lohnt sich! Dieser Tipp ist heißer als ich.“
„Das kann ich mir kaum vorstellen…“, brummte er anzüglich. „Aber jetzt bin ich wirklich neugierig... Zehn.“
„Zehn???“, empörte sich Xandra. „Komm‘ Hutch, wir gehen! Meine Schuhe sind mehr wert, als dieses Angebot. Wir finden ein Besseres.“
Sie war drauf und dran auf zu stehen, aber Morgan schritt ein. „Hey, hey hey, komm‘ wieder runter Süße und setz dich hin. Wir haben noch nicht fertig verhandelt, nicht wahr, Tom?“
„Kommt ganz darauf an, ob du weiterhin versuchst, mich zu verarschen.“
„Wer ist sonst noch alles dabei?“
„Du bist der Erste. Ich wollte dir den Vorzug geben. Lass‘ es mich nicht bereuen…“
Ozwald trank von seinem Singlemalt und zerbiss gemächlich einen Eiswürfel, während er das Für und Wider abwog. Man konnte in seinen Augen sehen, wie er mit sich focht. Doch schließlich gewann der Raffzahn in ihm.
„Fünfzehn Prozent. Mein letztes Wort. Und dieser Deal sollte wirklich verdammt gut sein.“ Er streckte Evrill die Hand hin und der schlug ein.
„Sehr schön. Also?“
Evrill setzte eine verschwörerische Miene auf und lehnte sich noch weiter vor. Die Stimme senkte er zu einem heimlichtuerischen Flüstern. „Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass ein Warburg seinen Aufstieg plant. Er wird den Klerus auf den Kopf stellen und mit ihm auch die Märkte.“
„Ich soll also in Warburg Firmen investieren.“
„Mit Option auf die Talfahrt der Aktien der Unternehmen der anderen Klerusmitglieder. Danach bist du ein gemachter Mann. Sie werden dir aus der Hand fressen….“
„Wenn das wahr ist… stehen wir kurz vor dem nächsten schwarzen Freitag…“, murmelte der Elevender nachdenklich, als ihm langsam die Tragweite der Information aufging.
„Und der hat einige von uns sehr reich gemacht“, erinnerte Evrill, doch er wusste, er hatte sein Ziel schon erreicht. Egal ob Morgan auf das Geschäft einging oder nicht, der Samen dieses Gerüchts war gepflanzt und würde sich verbreiten wie ein Lauffeuer.
„Pass‘ auf, ich kann dich nicht zwingen, mir zu glauben, aber dann halte wenigstens deinen Rand, damit ich andere Inverstoren an Land…“ Sein Telefon unterbrach seinen Wortschwall und er hob unter den Augen der anderen ab.
Romans Stimme drang merkwürdig gehetzt durch den Äther. „Wieso geht Xandra nicht an ihr Telefon???“
„Sie hat es zu Hause gelassen. Was ist denn?“
„Sagen wir so, es wäre äußerst ungünstig, wenn sich irgendjemand in dieser Bar plötzlich für den Fernseher überm Tresen interessieren würde.“
Irritiert warf Evrill einen unauffälligen Blick über die Schulter. Auf dem Monitor liefen gerade Nachrichten. Ein Frau sprach sparsam gestikulierend in die Kamera, während im Hintergrund Videos von den verwüsteten Schauplätzen der Attentate in den letzten beiden Wochen gezeigt wurden und links oben im Bild sah er…
…Xandra???
Xandra!
„Was hat das zu bedeuten?“, flötete er so fröhlich wie es ihm nach diesem Schock möglich war, um die Aufmerksamkeit der Hegedunen nicht auf sich zu ziehen. Die waren zum Glück noch mit der echten Xandra im Gespräch vertieft.
„Jemand hat unsere Teams gefilmt, als wir nach den Anschlägen die Tatorte aufgesucht haben. Und dabei konnte derjenige Xandras Gesicht aufzeichnen, als der Hegedune ihr die Sturmhaube vom Kopf gerissen hat. Das Material stammt angeblich von einem anonymen Zeugen. Und anscheinend ist dann auch noch eine Aufnahme von einem Handy aufgetaucht, das sie heute Morgen vor dem Kiosk zeigt, der in die Luft geflogen ist.“
Verfluchte… Scheiße…!
Wie war das bloß möglich?
„Sie bringen die vermummte Gruppe mit den Anschlägen in Verbindung und das einzige bekannte Gesicht ist ihres.“
Evrill legte abrupt auf.
„Wir sollten jetzt gehen.“
Xandra hob überrascht die Augenbrauen. „Ok… Wenn du meinst, Babe…“
Er drängte sie zum Aufstehen und verabschiedete sich mit irgendwelchen Floskeln von Morgan und seinen Gorillas. Ihm war herzlich egal, wie der überstürzte Aufbruch aufgenommen wurde. In seinem Kopf schwadronierte dieser Duracellhase mit dem Becken, der aus der Werbung, und schlug unaufhörlich und lautstark Alarm.
Xandra war soeben zur meistgesuchtesten Terroristin Nordamerikas avanciert und wenn man sie hier in diesem Gebäude entdecken sollte, dann war das ihr Todesurteil.
„Du musst es tun!“, forderte Pareios fiebrig.
„Aber ich…“ Sie konnte ihm doch nicht sagen, dass sie sich nicht traute noch mal in Orcus Kopf zu reisen, weil sie jetzt ein kostbares Geheimnis hatte. Und sie würde den Teufel tun und dieses ungeborene Wesen in Gefahr bringen. Mit der Übelkeit hatte es, oder ein Instinkt, ihr doch bereits deutlich gemacht, dass ihr diese Ausflüge nicht gut taten. Ganz zu schweigen davon, dass sie sich dabei allmählich in Orcus verwandelt hatte.
Das konnte sie auf keinen Fall mehr riskieren. Jetzt ging es nicht mehr nur um sie.
„Ich kann wirklich nicht.“
Er wirkte fassungslos, wie er da versteinert mitten in der Zelle stand. Mit einer frischen Ladung Muffins und einem neuen Buch in der Hand.
„Wieso nicht? Du wolltest ihn doch unbedingt kriegen!“
„Mein Körper weigert sich, das hast du doch gesehen.“
„Das hat dich noch nie aufgehalten! Rück‘ schon raus mit der Sprache!“
„Ich habe dir gesagt, dass ich Angst habe wie er zu werden. Beim letzten Mal war es verdammt knapp. Was ist, wenn es diesmal passiert? Dann nütze ich euch gar nichts mehr.“
Er setzte sich vor ihr auf die Hacken, sodass sie ihm nicht mehr ausweichen konnte. „Und ich habe dir gesagt, dass ich dich nicht gehen lasse… Hör‘ zu, ich würde nicht fragen, wenn es nicht um Leben und Tod ginge.“ Sein ernster Gesichtsausdruck bereitete ihr nun doch Sorgen.
„Wie schlimm ist es?“
„Schlimmer als schlimm. Mit Potential zur Katastrophe. Und mit Katastrophe meine ich ein Weltuntergangsszenario biblischen Ausmaßes.“
„Wow. Effektvolle Wortwahl.“
„In diesem Fall unumgänglich. Wenn ich es dir abnehmen könnte, wenn ich das Risiko tragen könnte, ich würde es tun. Doch wie die Dinge liegen, muss ich dich darum bitten; und glaub‘ mir, ich hasse es, dich darum zu bitten. Das Allerletzte, was ich will, ist dich in Gefahr zu bringen. Aber diesmal kann ich nicht egoistisch sein.“
„Du weißt nicht, was du verlangst…“
„Doch. Das Unmögliche. Aber wenn ich eine Person nennen müsste, die Unmögliches wahr werden lassen kann, dann fiele mir nur dein Name ein.“
Das verschlug ihr die Sprache. Außerdem, war es nicht so, dass wenn sie Orcus nicht loswurde, ihr Kind niemals in Sicherheit sein würde?
„Ich glaube, es wäre mir lieber, wenn Xandra dabei wäre.“
Misstrauen blitzte in seinen Zügen auf. „Wieso?“
„Falls die Orcusitis überhandnimmt, deshalb.“
Er wirkte, als hätte sie ihm ans Bein gepisst und erst da wurde ihr klar, wie er ihre Worte interpretiert hatte. Nämlich, dass sie ihm nicht zutraute, sie vor dem Abgleiten bewahren zu können. Nichts lag weiter von der Wahrheit entfernt, leider war die für den Augenblick in jeder Hinsicht keine Option.
„Sie ist nicht abkömmlich.“
„Ich weiß, ihr habt viel zu tun, aber…“
„Es ist unmöglich. Tut mir leid.“
Sie verstummte. Offenbar war wirklich das Chaos ausgebrochen und man konnte auf kein Teammitglied verzichten. Alle setzten in diesem Krieg ihre Leben aufs Spiel, durfte sie sich da wirklich entspannt zurück lehnen und in ihrer Zelle Däumchen drehen?
„Dann lass uns anfangen, bevor ich es mir anders überlege.“
Sein ernster Gesichtsausdruck erhellte sich und er setzte sich zu ihr. Plötzlich hielt er unschlüssig inne. „Warte, ich hole lieber gleich den Eimer her.“
Kein schlechter Einfall, musste sie zugeben. Gesagt, getan und als sie sich neben ihn an die Wand lehnte, nahm er ihre Hand. Auch sie hielt es für klüger, ihn diesmal nicht direkt im Schussfeld zu haben. Immerhin hatte sie schon wieder eine riesige Portion Muffins intus.
Wieder aktivierte sie die Verbindung zu Orcus und da sie auf die Übelkeit vorbereitet war, gelang es ihr diesmal, sich durchzukämpfen, selbst wenn ihre Eingeweide ächzten und sie für die Schnappsidee bestraften. Da schoss ihr durch den Kopf, dass es vielleicht das Kleine war, das sich auf die Weise bei ihr beschwerte.
„Alles gut, Baby“, dachte sie. „Wir zwei müssen nur noch ein paar Dinge erledigen. Wenn du mitmachst, geht es ganz schnell.“
Als wäre sie verstanden worden, wurde die ständige Attacke auf ihren Magen weniger und schließlich fand sie sich in Orcus‘ Bewusstsein wieder. Der Ort, der ihr inzwischen viel zu vertraut war und mit Sicherheit der letzte, an dem sie sich im Moment aufhalten sollte.
Durch seine Augen erblickte sie das Büro, in dem sie bei ihrem letzten Besuch die weibliche Geisel getötet hatte. Nein, Orcus hatte das getan. Nicht sie. Sie hatte es nur aus seiner Warte miterlebt, das durfte sie nicht vergessen.
Jedenfalls waren die Plastikplane und die Folterinstrumente verschwunden. Orcus stand an einem Kamin mit vergoldetem Sims. Er stützte sich daran ab und sah hinunter ins prasselnde Feuer.
„Sir, Mr. Warburg hat angerufen und das Treffen mit Johnathan Rothschild bestätigt.“
Er grinste selbstzufrieden und nickte, bevor er den menschlichen Diener mit einer Handgeste verscheuchte.
Alles lief nach Plan und lange musste er sich nicht mehr in Geduld üben. Zum Glück war er ein hervorragender Schachspieler, der sich schnell auf neue Begebenheiten einstellen und diese zu seinem Vorteil nutzen konnte. Jetzt befanden sich alle Figuren auf dem richtigen Feld und er stand kurz davor, seine Gegner Schachmatt zu setzen. Dass ihm der Lauf der Dinge aber auch derart zugetan war, hätte er nicht gedacht.
Doch letztlich hatte er auch dafür gesorgt, dass er sich Zufälle zu Nutze machen konnte. Man musste breit aufgestellt sein, das hatte er vor langer Zeit begriffen.
Aurelia folgte seinen Gedankengängen. Es zeichnete sich ab, dass das Vorhaben, das er bei ihrem letzten Besuch vorbereitet hatte, ein voller Erfolg gewesen war und sich das andere Klerusmitglied jetzt mit ihm treffen wollte.
Orcus wandte derweil dem Kamin den Rücken zu und schaltete den Fernseher an, der zu seiner Rechten an der Wand mit Goldtapete befestigt war. Er zappte durch die Kanäle, bis er einen Sender gefunden hatte, der die aktuellen Nachrichten ausstrahlte. Orcus wartete voller Erregung auf einen bestimmten Bericht und stellte das Gerät lauter, während die Moderatorin über den Besuch des Papstes in Paris referierte.
Das Bild im Hintergrund wechselte. Mehrere Videos liefen dort jetzt nebeneinander ab und zeigten verschiedene Orte, an denen offenbar etwas in die Luft gesprengt worden war.
Orcus rieb die Hände an einander und stieß ein triumphales Geräusch aus.
„Die Polizei hat inzwischen bestätigt, dass die Videoaufnahmen von der vermummten Gruppe, die angeblich an allen neun Verbrechensschauplätzen in und rund um Ceiling gesehen wurde, echt sind. Außerdem ließ der Polizeipräsident verlauten, dass man alles menschenmögliche unternehmen werde, um die Verursacher der Katastrophen so schnell wie möglich festsetzen zu können. In diesem Kontext bittet die Polizei um Hinweise zum Aufenthaltsort einer Verdächtigen, die ebenfalls zu besagter Gruppe gehören soll.“
Als die Sprecherin eine kurze Pause einlegte, wurde ein weiteres Foto eingespielt.
Es zeigte einen riesen Krater vor einem Hochhaus, das ebenfalls beschädigt schien. Mitten in einem dicht bebauten Gebiet, vielleicht war es die Fußgängerzone oder das Stadtzentrum. Überall irrten Verletzte durch die Trümmer, andere beugten sich über die Toten oder versuchten, erste Hilfe zu leisten. Ganz am Rand der Aufnahme hatte die Abteilung für graphische Bearbeitung einen roten Kreis um das Gesicht einer Person gezeichnet.
Aurelia kniff die Augen zusammen und… erschrak heftig.
Nein! Das… Xandra???
Wie zum Teufel war denn das passiert?
Jetzt kapierte sie auch, warum die Kollegin nicht abkömmlich war, um sich um Aurelias Probleme zu kümmern.
Sie hatte selbst viel größere.
Wie war es Orcus bloß gelungen, das hinzukriegen, wo Aurelia sich doch gänzlich rausgehalten hatte? Irgendwie hatte er diesen Krieg in die Öffentlichkeit gezerrt und es dabei auch noch geschafft, die Menschen auf die Mitglieder der Legion zu hetzen.
Als wären sie die Kriminellen.
Sie fluchte innerlich und war noch damit beschäftigt, die Wendung in ihrem Drama, diesen alles verändernden Tabubruch, zu verarbeiten, als Orcus zu einem Spiegel hinüber ging und sich dort zufrieden sein Ebenbild besah. Er war verdammt stolz auf sein Werk und freute sich auf den neuen Gast, den ihm seine Pläne bald in die Hände spielen würden. Wie sich die Dinge entwickelten hatte sich die Schlinge um dessen Hals schneller zugezogen als erwartet.
Aurelia stutzte. Wollte er Xandra nun auch noch entführen, nachdem er ihr offenbar schon diese grausamen Verbrechen angelastet hatte, die eigentlich auf sein Konto gingen?
Sie musste die anderen dringend warnen…
Orcus brachte sein Haar in Form. Für ihn war es Zeit die Schlinge mit einem Ruck ganz zu zu zurren. Er grinste in den Spiegel und sah sich direkt in die Augen.
„Hallo, Aurelia.“
Aurelia erstarrte. Mit einem Schlag wurde ihr eiskalt. Das konnte sie jetzt nicht wirklich gehört haben…
„Ich weiß, dass du da bist“, sagte er wieder zu seinem eigenen Abbild und diesmal hatte sie tatsächlich das Gefühl, als hätte er sie in seinem Kopf entdeckt.
Aber… Das war unmöglich…. Oder etwa nicht?!
Ein Schauer rieselte über ihren Körper. Wäre es möglich gewesen, wäre sie wahrscheinlich vor Schock in Ohnmacht gefallen. So konnte sie nur stoßweise atmen und versuchen, die Panik zu bezwingen, die sich ihrer unaufhaltsam bemächtigte.
„Ich kann deine Angst spüren. Es hat keinen Zweck, sich zu verstecken. Hast du wirklich geglaubt, du könntest meine eigene Gabe gegen mich verwenden?“
Das hatte sie. Und sie musste seinem mitleidigen Tonfall rechtgeben, dachte sie bitter. Sie war verdammt töricht gewesen. Wieder einmal zerfiel vor ihren Augen jede Hoffnung darauf, diesem Ungeheuer irgendwie beikommen zu können. Und das gerade jetzt, da sie…
Sie stoppte den Gedankengang, wo sie doch davon ausgehen musste, dass er alles hören konnte. Oder zumindest erahnen. Verdammt, wie weit reichte diese übernatürliche Verbindung überhaupt?
„Tiefer, als du es dir vorstellen kannst“, beantwortete er die Frage mit einem überlegenen Ausdruck im Gesicht. „Deshalb weiß ich auch, dass ich Großvater werde.“
Bei dieser Offenbarung blieb ihr Herz endgültig stehen. Die Vorstellung, er bekäme dieses Baby in die Hände, war der schlimmste Horror, dem sie sich bisher hatte stellen müssen und jetzt war die bloße Vorahnung greifbare Realität geworden. Sie konnte nicht atmen, Tränen brannten in ihren Augen und ihr ganzer Körper schien weh zu tun. Rohe Angst lähmte ihren Geist.
„Oh ja, dieses Geheimnis war besonders pikant nicht wahr? Aber im Gegensatz zu dir, bin ich mir ziemlich sicher, wer der Vater ist. Es ist von meinem Blut und… ein Kind gehört nun mal zu seiner Familie.“
Nur über ihre Leiche! Niemals, nicht in hundert Jahren würde sie…
„Ach, Aurelia. Eigentlich ist dir doch klar, dass es kein Entrinnen gibt“, konkretisierte er ihre entsetzlichen Befürchtungen. „Oder muss ich dir noch mehr Beweise liefern?“
Er wies zum Fernseher hinüber, wo immer noch über Xandra gesprochen wurde, die nun in der Menschenwelt als Terroristin galt.
„Ich kann jeden den du kennst, jeden, der mit dir in irgendeiner Weise in Kontakt steht, beseitigen. Wann immer es mir passt. Mach‘ dir nichts vor, die Blondine ist nur der Anfang, wenn du nicht tust, was ich dir sage. Ich hetze euch die gesamte Menschheit auf den Hals. Die werden euch für mich lynchen, allen voran diesen Fatzken, mit dem du meinen Sohn zu ersetzen versuchst. Erinnerst du dich, wie leicht ich auch ihn schon mal zu fassen bekommen habe?“
Mittlerweile regierte die Panik in Aurelia. Ihr sonst so analytischer Verstand setzte aus und überantwortete sich dem gewaltigen Gefühl. In ihrem Kopf herrschte eine Leere, die ihr ihre Ausweglosigkeit nur verdeutlichte. Da waren keine Ideen mehr, die sie aus diesem Desaster heraus führen konnten. Sie hatte alle bereits ausgeschöpft und wenn es dem Feind gelang, ein so großes und starkes Team wie das von Xandra zu überlisten, wie sollte Aurelia ihn dann übers Ohr hauen?
„Siehst du, was ich meine?! So langsam kapierst du es. Du kannst mich nicht besiegen. Niemand kann das. Ich will dich und dieses Kind, wir drei haben noch so viel mit einander vor. Und du wirst mir ein kleines Gastgeschenk mitbringen…“
Er zeigte ihr ein flüchtiges Bild und erklärte ihr die Anweisungen, aber sie konnte nicht richtig folgen. Die Worte drangen wie durch einen Schleier zu ihr hindurch und ehe sie sich darauf konzentrieren konnte, drängte er sie mit einem heftigen Schubs aus seinem Kopf. Vollkommen unvorbereitet fiel sie, wie immer wenn sie von Orcus zurückkehrte. Ihr Herzschlag schien die Schallmauer durchbrechen zu wollen, obwohl sie sich in einer Starre aus Entsetzen und Nichtwahrhabenwollen befand.
Erst als sie wieder in ihrer Zelle landete, die Augen aufschlug und Pareios‘ besorgtes Antlitz erblickte, lichtete sich das Chaos ein wenig. Wenn auch nur so weit, dass sie begriff, dass sie vollkommen ausgeliefert war.
Mein Gott, nichts auf der Welt konnte Orcus stoppen!
Und sie schon gar nicht! Was hatte sie bloß gedacht? Dass sie die Menschheit retten könnte, wie ein verkappter Messias?
Der Macht dieses Gegners war sie nicht gewachsen. Möglicherweise war es niemand und wenn sie diese bedrohliche Tatsache anerkannte, dann blieb nur noch eines zu tun. So grausam die Schlussfolgerung auch war.
Aurelia konnte vielleicht nichts gegen Orcus ausrichten, aber ihr Kind würde diesem Krieg nicht zum Opfer fallen!
„Diesmal ist dir gar nicht übel“, meinte Pareios verwundert, als sie sich aufsetzte.
Ha. Wenn er sich da mal nicht täuschte. Sie war nur vor Entsetzen erstarrt, sonst hätte sie ihm garantiert die Muffins in halbverdauter Form präsentiert. „Es hält sich in Grenzen.“
„Und?“
Was sollte sie darauf bloß antworten? Ihr wäre sicher eine Menge eingefallen, aber letztlich war nichts davon mehr von Belang. Alles, was sie geplant oder sich erhofft hatte, war in der vergangenen zehn Minuten in Schall und Rauch aufgegangen.
„Ich habe gesehen, warum Xandra keine Zeit hat her zu kommen.“
„Oh…“
„Orcus hat euch in eine Falle gelockt, nicht wahr?“
Er zögerte, aber dann nickte er betreten. „Was hast du noch gesehen?“
„Nicht viel… Er hat ferngesehen und sich über die Nachrichten gefreut, in denen die Menschen darüber informiert wurden, dass Xandra als Tatverdächtige für neun Bombenanschläge gesucht wird. Das ist also in den vergangenen Wochen da draußen passiert?“
„Ja, leider. Die Dinge geraten außer Kontrolle. Ceiling befindet sich im Ausnahmezustand und das Militär patrouilliert durch die Stadt.“
„Wo ist sie jetzt?“
Darauf sagte er nichts und sie konnte sich schon denken, dass es ohnehin keinen Unterschied machte. Ihre Kollegin war jetzt eine geächtete Flüchtige, die sich nirgends mehr bewegen konnte, ohne sofort entdeckt zu werden. Sie war weltweit bekannt wie ein bunter Hund. Selbst wenn Orcus Xandra noch nicht hatte, am Ende würde er sie irgendwie kriegen, so wie sie alle.
„Konntest du Hinweise darauf finden, wo er sich aufhält? Jede Kleinigkeit könnte uns weiter bringen.“
„Nein“, log sie mit einem Knoten im Magen und verschränkte die Hände vor ihrem Bauch. So unwohl sie sich auch fühlte, sie würde noch viel mehr lügen müssen. „Aber ich habe gehört, dass er jetzt das Treffen mit einem weiteren Klerusmitgleid kriegt.“
„Die Vermutung lag nahe. Der Kioskbesitzer und die Bombe waren der Beweis für die Hegedunen, dass Orcus jeden infiltrieren kann. Nehmen sie ihn jetzt bei sich auf?“
„Sieht ganz so aus…“
„Keine gute Entwicklung. Dann ist er in seinem Plan weiter fortgeschritten, als ich dachte…“, murmelte Pareios in Gedanken. Sie spürte bei ihm dieselbe Ratlosigkeit und Sorge, wie auch bei sich selbst. Obwohl, nicht ganz…
„Was für Pläne?“
„Ach, nicht wichtig.“
Jetzt hätte sie ihn darüber aufklären müssen, dass es nicht mehr von Nöten war, etwas vor ihr zu verbergen, doch auch das behielt sie für sich.
„Tut mir leid, dass ich nicht mehr herausfinden konnte.“
„Schon gut. Es scheint dich nicht mehr ganz so fertig zu machen. Vielleicht kannst du es später noch mal versuchen.“
„Klar.“ Sie würde sagen, was auch immer nötig war.
Er erhob sich ächzend von der Matratze. „Ich bin ehrlich beeindruckt, dass du es so lange hier drin aushältst.“
„Habe ich denn eine Wahl?!“
„Nein“, stimmte er zu und massierte sich frustriert den Nacken. „Aber ehrlich gesagt hatte ich nicht mit so viel Vernunft gerechnet.“
Dem Lob zum Trotz hätte sie am liebsten vorgebracht, dass sie das auch nirgends hin geführt hatte. Und wer wusste schon, wie lange diese Meinung bei ihm noch vorherrschen würde… Voller Gewissensbisse griff sie nach ihrer Intuition und warf die Gabe an. Sie kam nur stotternd in Fahrt, wie ein Muskel, den sie lange nicht benutzt hatte.
„Ich sollte jetzt dem Team zur Hilfe kommen. Die wissen im Moment kaum wo oben und unten ist. Falls du was brauchst, weißt du ja, wie du mich erreichen kannst.“ Er deutete auf dem Rufknopf neben der Tür und öffnete sie.
„Pareios!“
Er hielt inne und drehte sich zu ihr um. „Hm?“
„Ich wollte nur… danke sagen.“
„Wofür? Dass ich dein Gefängniswärter bin?“
Das rang ihr ein trauriges Lächeln ab. „Ja, dafür. Aber auch dafür, dass du immer zu mir gehalten hast. Dass du immer da warst. Dass du mein Freund warst.“
„Ich bin dein Freund… Und wir wissen doch beide, dass da nicht nur Freundschaft zwischen uns ist“, meinte er mit schiefgelegtem Kopf.
Aurelia stand auf und kam langsam auf ihn zu. „Es tut mir Leid, dass ich dich in dieses Schlamassel rein gezogen habe. Euch alle. Aber für dich tut es mir besonders leid. Ich will, dass du glücklich bist.“
Die Wärme in seinen Augen tröstete ihre geschundene Seele und sie genoss die Zuwendung in vollen Zügen, als er sie in die Arme zog und fest hielt.
„Was nicht ist, kann ja noch werden. Und solange du da bist, bin ich zumindest nicht unglücklich.“
Das war ihr klar, ein weiterer Grund, der Reue aufkommen ließ. Aber ihr Entschluss stand fest.
Sie hob den Kopf, legte die Hand auf Pareios‘ Schulter und streckte sich seinen Lippen entgegen. Als sie ihn küsste, riss er erstaunt die Augen auf, doch dann schloss er sie eilig. Im nu war sein Körper von Stahl zu Gummi mutiert und er schlang sich willig um sie, als hätte er nur darauf gewartet, dass sie den ersten Schritt machte.
Auch Aurelia stieg der Kuss sofort zu Kopf. Er war erfüllt von dem mächtigen Gefühl, das sie an Pareios band, so fest, dass nicht mal ihr Gegenstück die Verbindung hatte zerstören können. Was wohl hieß, dass das nichts und niemandem gelingen würde. Sie hatte unterschätzt, wie sehr sie an Pareios hing. Wie schwer ihr dieser letzte Schritt fiel. Seine Liebe bedeutete ihr mehr, als sie in Worte fassen konnte und es brach ihr das Herz.
Vom Kuss abgelenkt bemerkte er nicht, wie sie ihre Hand in seine Hosentasche schob und sein Handy und die Schlüssel klaute. Auch dass sie sich leicht mit ihm drehte, entging ihm völlig, was ihre Intuition vorausgesehen hatte.
Sie nahm allen Mut zusammen, dann schubste sie ihn mit voller Kraft in den Raum hinein und hechtete zur Tür.
„Was?!...Hey! Was soll der Scheiß?!“, hörte sie ihn hinter sich aufbrüllen und wiederstand nur knapp den Drang, zurück zu blicken.
Als sie die Türschwelle überschritt, dachte sie, sie hätte es geschafft. Doch da wurde sie am Handgelenk gepackt.
Verflucht! Pareiso war schnell… zu schnell!
Er ließ ihr keine Wahl.
Mit einem Ruck entwand sie sich ihm und rief die Gabe zur Hilfe. Die leitete ihre Gliedmaßen auf vertraute Weise, neu war nur, dass sie sie diesmal gegen Pareios wandte und das nicht nur im Rahmen eines Trainings. Sein ungläubiger Gesichtsausdruck glich einem Tritt in den Magen und ihr war hundeelend zumute, als sie zum Schlag ausholte.
Er wich aus und versuchte erneut, nach ihr zu greifen.
Sie war wohl eingerostet,… oder hatte Skrupel, ihn wirklich umzunieten.
„Du hast mich angelogen“, stieß er wutentbrannt durch die Zähne hervor, bekam sie am Shirt zu fassen und warf sie mit einem heftigen Ruck gegen die Wand bei der Tür. „Was hast du bei Orcus gesehen???“
Die Erschütterung ließ Aurelias Zähne auf einander schlagen und auch wenn sie sich nicht wehgetan hatte, plötzlich wusste sie wie er sich fühlen musste. Aus ihrem Fluchtversuch wurde gerade ein Zweikampf, den sie nie für möglich gehalten hätte. Nie.
Er würde sie nicht freiwillig entkommen lassen, also ging sie erneut zum Angriff über. Sie musste auch das letzte Zaudern ablegen, wenn sie dem Weg folgen wollte, für den sie sich entschieden hatte.
Endlich kam die Intuition richtig in Gang und sie ließ die Fäigkeit fließen, überließ sich der übernatürlichen Führung.
Flink wie ein Wiesel drehte sie sich durch seine Deckung, tauchte unter zwei Schlägen hindurch, die sie mit Sicherheit ausgeknockt hätten. Dabei versuchte sie zu ignorieren, wie sehr die Tatsache schmerzte. Das hier war bitterer Ernst und sie musste es beenden.
Behände zog sie ihm die Füße weg, nagelte ihn am Boden unter sich fest und drückte ihm die Luft ab.
Seine Arme, die sie mit den Knien fixierte, versuchten sie abzuwerfen. Aber ihre Intuition wusste bereits, dass es ihm nicht gelingen würde.
Das schien auch Pareios aufzugehen, als er in dumpfem Begreifen in ihre Augen starrte. Seine waren vor Entsetzen geweitet und ruckte hin und her, während sein Hautton immer bläulicher wurde.
„Tu‘… tu‘…. das nicht….“, presste er hervor. „Du hast… es versprochen…“
„Ich weiß, es tut mir leid!“ Ihre Stimme klang genau wie seine, obwohl sie objektiv gesehen genug Luft zum Atmen hatte. Dennoch fühlte es sich nicht so an. „Bitte, glaub mir, ich wollte nicht, dass es soweit kommt.“
Sie begann zu weinen, als er den Blick schließlich von ich abwandte.
Deutlicher hätte die Botschaft selbst in dieser Situation nicht sein können.
Er war fertig mit ihr.
Und das war auch gut so, redete sie sich ein.
Das Aufbäumen seines Körpers verebbte unter ihr, gleich würde er das Bewusstsein verlieren.
„Ich liebe dich, hörst du?!“, schluchzte sie, weil er es wissen musste. Sie würde die Gelegenheit dazu nicht noch ein Mal bekommen, wenn alles so lief wie sie es sich vorstellte. „Ich liebe dich und ich hoffe, dass du irgendwann einen Weg findest, mir zu verzeihen… damit du glücklich werden kannst.“
Seine Lider wurden schwerer, er blinzelte, aber schließlich blieben sie geschlossen und die Gegenwehr erstarb. Aurelia verharrte in der Position, um sicher zu gehen, dass er auch wirklich ohnmächtig war, dann stand sie mit wackeligen Knien auf. Sie zitterte am ganzen Körper und der Schock hatte sie noch voll im Griff.
Merkwürdig entrückt sah sie auf den Mann hinunter, der ihr alles bedeutete. In ihren Gedanken liefen all die Szenen ab, die sie bereits mit ihm erlebt hatte, all die Gründe, warum sie zu ihm gehörte, in diesem Leben und im nächsten, wie er einst gesagt hatte.
Doch zumindest für dieses, dürfte sich die Sache wohl erledigt haben…
Mit tauben Fingern tastete sie nach seinen Waffen. Er trug keine. Schlauer Kerl.
„Leb‘ wohl“, flüsterte sie und wandte sich zum Gehen.
Sie schloss Pareios in ihrer Zelle ein und da er in der Regel der einzige war, der sie besuchte – aus Sicherheitsgründen – würde so schnell niemand auf ihn aufmerksam werden.
Ihre Intuition lenkte Aurelias Schritte durch die dunklen Flure. Im Untergeschoss von Blackrigde waren nur LED Lämpchen für die Beleuchtung zuständig, sodass sie froh war, die Gabe an ihrer Seite zu haben. Diese warnte sie vor den wenigen Passanten, die ihren Weg kreuzten, während sie den Aufzug nahm, nach oben fuhr und Ferrocs Büro ansteuerte.
Wie früher war die Aufgabe ein Leichtes. Kein Wunder, diesmal funkte ihr Orcus schließlich auch nicht dazwischen.
Hinter einer Ecke wartete sie, bis Cat und Ferroc besagten Raum verließen und die Luft rein war. Dann schlich sie hinein.
… Doch die Luft war gar nicht rein. Dareon saß auf dem Sofa und betrachtete das Säckchen auf dem Couchtisch nachdenklich. Als er sie entdeckte, sprang er erschrocken auf.
Warum zum Teufel hatte ihre Gabe nicht vor ihm gewarnt?
„Was machst du denn hier?“
„Ähm,…“
„Wie bist du rausgekommen?“ Er verschränkte die Arme und bedachte sie mit einem tadelnden Blick. Seine reservierte aber lockere Haltung zeigte, dass er noch nicht erkannt hatte, was Aurelia im Sinn hatte.
Lässig schlenderte sie zum ihm herüber. „Ich wollte mir nur die Beine vertreten. Pareios begleitet mich. Er kommt gleich. Unterhält sich nur noch mit Ferroc und Cat.“
„Ach so… Trotzdem solltest du nicht hier drin sein.“ Er schob sich vor den Couchtisch, verdeckte ihr somit die Sicht auf das Säckchen und machte Anstalten, Aurelia in den Flur zu drängen.
Sie versuchte mit ihrer Intuition eine Lösung zu finden, doch im Bezug auf Dareon wollte die nichts ausspucken. Als wäre er ein blinder Fleck in ihrem Sichtfeld…, wie das wohl kam?
Belanglos. Und jetzt vor allem äußerst ungünstig. Dareon hatte mit Sicherheit weniger Vorbehalte, sich gegen sie zu wehren als Pareios. Zusätzlich musste sie bei ihm anscheinend auf ihre Elevenderfähigkeit verzichten und sich auf ihre Ausbildung verlassen.
Also blieb ihr nur das Überraschungsmoment und gnadenlose Härte.
„In Ordnung. Du hast ja Recht.“ Aurelia gehorchte und ließ sich von ihm durch den Raum begleiten.
Als sie unvermittelt zu ihm herum fuhr, konnte sie noch den verdatterten Ausdruck in seinem Gesicht erkennen und er enttäuschte ihre Erwartungen nicht. Dem ersten Schlag entging er flink, aber den Sockel der Lampe, die sie sich unterdessen von Ferrocs Schreibtisch gegriffen hatte, sah er nicht kommen.
Der Aufprall auf seinem Schädel ging ihr durch Mark und Bein. Er sackte bewusstlos zu Boden und sie musste sich eingestehen, dass sie trotz ihrer Vergangenheit offenbar ein guter Mensch geworden war. Bei einem Hegedunen ging ihr die Gewalt nicht annähernd so schwer von den Händen, wie bei ihren Verbündeten. Und jetzt war sie im Begriff, all ihre Errungenschaften wieder zu zerstören.
Doch ihr Baby war jeden Preis wert.
Entschlossen schüttelte sie die Beklemmung ab und griff sich das Säckchen. Danach auch Dareons Waffen und seinen Autoschlüssel.
Hinunter in die Garagen zu gelangen war kein Problem und wenig später fuhr sie mit dem geborgten Wagen hinaus in die Nacht. Blackridge und alles was damit zusammenhing verschwand im Rückspiegel bald in der Dunkelheit.
„Wieso gehen wir?“, erkundigte sie sich flüsternd bei Evrill, der sie mit hartem Griff zwischen den Stühlen hindurch schob.
Er erwiderte ihren Blick und schien zu zögern, dann schüttelte er den Kopf. „Schau dir mal den Fernseher überm Bartresen an.“
Sie gehorchte… und kriegte den Mund nicht mehr zu. „Das bin…“ Das Entsetzen brachte sie zum Stottern.
„Ja, das bist du. Und deswegen machen wir jetzt die Biege. Zieh gefälligst den Kopf ein, oder bist du lebensmüde?!“
Gefangen im Schock und unfähig zu denken, folgte sie abermals seinem Befehl.
Warum zum Teufel war ihr Gesicht im menschlichen Fernsehen? Und wie war es dort hin geraten?
Sie ließen die Mäntel Mäntel sein, auch wenn das vielleicht auffällig war und suchten sich den kürzesten Weg aus der Bar. Aus den Augenwinkeln bemerkte Xandra, dass sich auch die Kollegen erhoben und ihnen folgten. Alle schienen in äußerster Alarmbereitschaft. Was nur heißen konnte, dass der Fernsehbericht nichts Gutes über sie zu sagen hatte, vor allem da im Hintergrund die Bilder von den Attentatszielen abgespielt wurden.
Du liebe Güte!
Das bedeutete doch, dass man sie irgendwie damit in Verbindung brachte…
Auf einen Streich wurde sie zur Geächteten. Da hatte sie sich stets in Bezug auf ihren Vater irgendwie in der Rolle der Rebellin gesehen und erst kürzlich missmutig entdeckt, wie sehr sich da geirrt hatte, nur um jetzt erkennen zu müssen, dass ihr die Rolle eigentlich überhaupt nicht gefiel. Ganz und gar nicht!
Noch dazu ging ihr siedend heiß auf, dass sie sich auf einem Flughafen befand, wo es zufälliger Weise von Polizisten und Wachpersonal nur so wimmelte. Hervorragend! Sie konnte es einfach nicht fassen.
„Steckt er dahinter?“
„Würde mich nicht wundern“, raunte Evrill neben ihr, wobei er das Handy aus der Hosentasche zerrte. Er verständigte Ruben, damit er sie dort abholte, wo er sie abgesetzt hatte.
Auf dem Weg durch die Halle erwies sich das Kleid, das sie noch vor zwei Minuten für eine geniale Idee gehalten hatte, als echter Griff ins Klo. Das Ding erregte wahrhaft Aufmerksamkeit und im Gegensatz zu vorher konnte sie die jetzt nicht mehr gebrauchen. Sie wollte es nicht glauben, aber rächte sich so ihre Unbeschwertheit? Dass sie heute Abend irgendwie morallos gewesen war?
Sie richtete den Blick auf den Boden, obwohl sie wusste, dass das die Menschen nicht zum Wegsehen brachte. Eine namenlose Furcht bemächtigte sich ihrer und es stellte sich wieder dieses Gefühl ein, dass die Schatten Augen hatten und sie verfolgten. Oh Gott, nie hätte sie sich träumen lassen, jemals in eine solche Situation zu geraten.
Von den Hegedunen zum Freiwild erklärt und auf der Flucht.
Sie hatten die Toiletten beinahe erreicht, als sich ihre fatalistische Erwartungshaltung bewahrheitete.
Eine Frau, die ihr zunächst konsterniert ausgewichen war, blieb stehen und beäugte sie neugierig. Dann begann sie zu schreien.
„Lauf!“, brüllte Evrill und stieß sie vorwärts, während er hinter ihr eine Mauer bildete, gegen alles was da kommen mochte. Zum ersten Mal hatte sie nicht das Bedürfnis zu bleiben und sich dem Kampf zu stellen. Vermutlich, weil sie sich der Aussichtslosigkeit dieses Vorhabens bewusst war. Ihre einzige Chance zu überleben war, es hier raus zu schaffen.
Xandra nahm die Beine unter die Arme und rannte los. Die Absätze der Stöckelschuhe schlugen hart auf den Fliesen auf, waren aber dennoch nicht zu vernehmen. Von überall ertönten plötzlich Rufe, es wurde lauter und lauter, anscheinend befand sich die Kavallerie auf dem Vormarsch.
Da fiel der erste Schuss.
Diesmal zog Xandra wirklich den Kopf ein. Immer mehr Schüsse hallten ohrenbetäubend in der Abfertigungshalle wider, Menschen schrien durch einander und die Situation eskalierte zusehends.
Die Tür der Toilette kam in Sicht, sie streckte die Hand aus, es fehlten nur noch Zentimeter…
Ein großer Körper takelte sie von der Seite und warf sie auf den kalten Fliesenboden.
Sie rollte sich ab und kam sofort wieder auf die Füße, aber der Zugang zum Männerklo war jetzt versperrt. Der Fluchtweg abgeschnitten.
„Der Notausgang!“, hörte sie Evrill von irgendwo wieder rufen und sie lief erneut um ihr Leben.
Mehrere Polizisten kamen ihr entgegen. Sie zog die Waffe und schoss einem in die Schulter. Jetzt Menschen zu töten, war sicher keine gute Idee. Die Behandlung ließ einem weiteren Kerl angedeihen, doch es waren zu viele, um sie alle auf die Weise beiseite zu schaffen.
Zum Glück kam ihr Rowena zur Hilfe. Sie rannte einen Widersacher über den Haufen, zwei weitere belegte sie mit einem Hagel aus Hieben und Tritten, sodass eine Schneise für Xandra entstand.
Im Dauerlauf schlüpfte sie hindurch, schlug noch eine umherirrende Hand weg, dann winkte die Freiheit in Form des Notausgangs.
Gott sei Dank ging das Scheißding nach außen auf, dachte sie, als sie mit voller Wucht gegen die Tür krachte und sie dabei aufstieß. Evrill war direkt hinter ihr und wäre ihr beinahe auf die Hacken getreten. Eiskalte Nachtluft empfing sie draußen und ein Blick zurück zeigte ein wahres Chaos in der Abfertigungshalle.
Doch ihnen blieb keine Zeit für Zweifel. Von irgendwo ertönten Sirenen, was nur bedeuten konnte, dass das Militär in den nächsten Minuten eintrudeln würde.
„Sie schaffen es schon da raus.“ Evrill schien ihre Gedanken erraten zu haben. Dennoch zog er sie am Arm weiter. „Wir müssen weg.“
Xandra riss sich am Riemen und schluckte die Widerworte hinunter. Sie konnte nichts tun, außer sich auszuliefern und das kam nicht in Frage.
Sie joggten über einen Streifen Rasen und dann über eine Landebahn. Weiter vorn startete ein Flugzeug in die andere Richtung, ein weiteres rollte zur freigewordenen Startposition. Als sie einen verlassen wirkenden Hangar erreichten, machten sie in dessen Schatten Halt.
Evrill versuchte wieder, Ruben anzuklingeln, doch der ging nicht ran. Xandra konnte sich vorstellen, womit er gerade beschäftigt war. Ihr Begleiter legte resigniert auf.
„Kann uns jemand abholen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich bezweifle, dass sie jetzt noch durch die Straßensperren kommen. Es war vorher schon schwer, aber nun ist es mit Sicherheit unmöglich. Vor allem hier in der Gegend.“
„Ok. Du kennst dich aus. Wo können wir hin?“
Xandra überlegte fieberhaft. Ihre gängigen Anlaufstellen und Verbündete befanden sich alle in anderen Stadtteilen und bei manchen bezweifelte sie zudem, dass sie ihr im Licht der neusten Ereignisse noch Unterschlupf gewährten.
„Gib‘ mir dein Telefon.“
„Wen rufst du an?“
„Den Venus-Orden.“
Er trank einen kräftigen Schluck Whiskey und hoffte auf die beruhigend Wirkung, die allerdings zu wünschen ließ, als sie schließlich eintrat. Noch ein Schluck sollte den Missstand beheben. Doch auch der hielt das Versprechen nicht.
Verdammter Fusel!
Evrill drehte die Flasche bis das Etikett sichtbar wurde, wobei ihm aufging, dass das Problem nicht auf Seiten des Stoffs lag. Vermutlich gab es Ausnahmezustände, die kein Alkohol der Welt besänftigen konnte. Und folglich befand er sich gerade in einem solchen. Ja, so musste sein.
Jedenfalls wirkte alles um ihn herum verzerrt und unwirklich.
Wie hatte dieser Abend, der mit diesem perfekten Date begonnen hatte, nur so schief laufen können?
So vieles hatte sich innerhalb von ein paar Stunden geändert und es schien ihm kaum möglich, dass der status quo jemals wieder hergestellt werden konnte. Zumindest nicht für alle von ihnen. Wenn nicht ein Wunder geschah und sie die Vorwürfe gegen Xandra entkräften konnten, würde sie sich nie wieder frei in der Öffentlichkeit bewegen können. Auch die Gesichter der anderen waren jetzt bekannt. Obwohl Jordan schnell geschaltet und die Videoüberwachung auf dem gesamten Flughafengelände lahmgelegt, sowie die Aufzeichnungen des ganzen Tages gelöscht hatte, waren nun auch die Gesichter der anderen Elevender bekannt, die versucht hatten Xandra zu beschützen. Der modernen Kommunikationsgesellschaft sei Dank waren schon bald nach den Vorfällen Handyvideos im Internet aufgetaucht.
Glücklicherweise hatte Orcus der Presse nicht auch noch Christians Foto zugespielt, das zweifellos existieren musste, da Xandra bei der Explosion des Kiosks gefilmt worden war und Chris sich dort mit ihr zusammen aufgehalten hatte.
Auch im Flughafen waren sie mit einem blauen Auge davon gekommen. Ruben war es gelungen, Dareon und Roman raus zu teleportieren bevor er verletzt und damit zum Rückzug gezwungen worden war. Rowena war durch einen anderen Notausgang entkommen und hatte sich in ein weiteres Versteck des Venus Ordens gerettet, genau wie er und Xandra.
Die Sorge um die Frau an seiner Seite war heute Nacht das Schlimmste gewesen, musste er sich unumwunden eingestehen. Nicht auszudenken, wenn er sie verloren hätte…
Er nahm ein weiteres Glas aus dem Schrank und goss eine beachtliche Menge goldene Flüssigkeit hinein, ehe er es vor Xandra auf dem Tisch abstellte und sich zu ihr setzte. Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben und sie starrte apathisch ins Leere. Vor dem Hintergrund der winzigen Küche des schäbigen Apartments wirkte sie in dem zerrissen Abendkleid und mit seiner Anzugjacke über den Schultern zum ersten Mal klein und verloren auf ihn. Er konnte sich kaum vorstellen, wie es jetzt in ihr aussehen musste. Allerdings hatte auch er Orcus‘ Macht bereits am eigenen Leib erfahren.
Der Gegner schlug schnell und heftig zu und meist speziell dann, wenn man am wenigsten damit rechnete.
„Trink“, forderte er sie auf, doch es kam keine Reaktion.
„Komm. Danach wird’s dir besser gehen.“
Die saphirblauen Augen richteten sich mit einem irren Blick auf ihn. „Danach wird’s mir besser gehen?! Glaubst du wirklich, dieses Zeug kann das alles ungeschehen machen? Oder mir vielleicht ein neues Gesicht schenken? Ich glaube ich spinne! Verdammte, Scheiße!!!“ Plötzlich sprang sie auf, packte das Glas und pfefferte es gegen die nächstbeste Wand. Dort zerbarst es in einer Wolke aus Glasscherben und Alkoholspritzern. Der Whiskey lief in bräunlichen Schlieren an der ausgebleichten Tapete herab.
Ok… Doch der Gefühlsausbruch war ihm lieber, als der Zombie, der eben noch auf dem Stuhl gesessen hatte.
„Mit besser meinte ich nicht in Ordnung“, versetzte Ervill ruhig und holte ein neues Glas.
Xandra atmete heftig und ging in dem kleinen Raum auf und ab, bevor sie schließlich annahm, was er ihr reichte.
Nach dem ersten Schluck schloss sie die Augen und blieb stehen. Nach einem weiteren beruhigte sich auch ihre Atmung. „Ok, jetzt geht’s wieder.“
„Sage ich doch.“
Die Tür hinter ihnen wurde geöffnet. „Ich weiß, du hattest eine beschissene Nacht, aber deswegen musst du nicht gleich meine Einrichtung zerlegen.“
„Tut mir Leid, Syn“, seufzte Xandra kleinlaut. „Ich stehe in deiner Schuld. Du nimmst ohnehin schon ein großes Risiko auf dich, indem du mich versteckst. Ich sollte wirklich ein besserer Gast sein.“
Der Mensch, den Evrill von dem Treffen zwischen Rat und Orden im Bunker kannte, kramte eine Kehrschaufel und Lappen unter der Spüle hervor und machte sich an die Beseitigung der Überreste des Drinks.
„Kein Sorge. Dir sei verziehen. Da du jetzt eine Schwerkriminelle bist, gilt für dich Welpenschutz.“
„Siehst du mich lachen?“, entgegnete sie trocken.
„Vielleicht solltest du das. Was bleibt dir auch anderes übrig?“
Evrill hätte ihm sicher beigepflichtet, aber Xandras Gesichtsausdruck hielt ihn davon ab. Ein Monsun war nichts gegen die Regenwolken, die metaphorisch gesprochen über ihrem Kopf schwebten.
„Schon gut, schon gut“, lenkte Syn ein. „Ist offensichtlich noch zu früh für Scherze. Kann ich euch stattdessen etwas zu essen anbieten? Wann werdet ihr denn abgeholt?“
Er wechselte einen kurzen Blick mit Xandra bevor er die Antwort übernahm. „Es wird wohl noch ein paar Stunden dauern.“ Zumindest so lange, bis Ruben wieder fit genug für eine Teleportation war. Die Straßensperren bestanden nach wie vor und eine Flucht per Auto war indiskutabel.
„Dann mache ich euch meine berühmten Spaghetti Carbonara und ihr könnt unterdessen unter die Dusche hüpfen, wenn ihr möchtet. Ich hätte auch Ersatzkleidung, falls ihr nicht noch was vorhabt.“ Er wies mit einer eindeutigen Geste auf Xandras Kleid und Evrill gefiel überhaupt nicht, wie seine Augen dabei über ihren Körper glitten. Er sollte sich wohl daran gewöhnen, dass Männer im Allgemeinen so auf sie reagierten, aber irgendwie bezweifelte er seine Erfolgsaussichten bei diesem Unterfangen. Bei Xandra wurde er besitzergreifend, was sonst nicht zu seinen Charakterzügen zählte, und auch Vernunft war im Umgang mit ihr nur schwer beizubehalten. Er führte das darauf zurück, dass sie wohl seine größte Schwäche war, im positiven, wie im negativen Sinne.
Beide bejahten sie das Angebot und Xandra verschwand als erstes in Richtung Badezimmer. Evrill konnte nicht anders, als auf ihr davon eilendes Hinterteil zu glotzen und versank dabei in den Erinnerungen an ihre Verabredung. Bevor alles im Chaos untergegangen war.
Erst heute abend hatte er ihr und auch sich selbst eingestanden, dass er lange Zeit davon ausgegangen war, ihrer nicht würdig zu sein. Die Annahme aus seiner Kindheit, dass sie nicht in seiner Liga spielte, hatte sich klammheimlich in seinem Kopf festgesetzt. Und als Xandra ihrerseits beschrieben hatte, dass sie jetzt die Verstrickungen in ihrem Verstand kannte, die ihr Verhalten bestimmten, war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen.
Sie hatten beide in der Vergangenheit gelebt. Sich Regeln unterworfen, die einst für zwei Versionen von ihnen gegolten hatten, die jetzt nur noch im Damals existierten. Sie hatten sich verändert und ihre Annahmen über sich selbst trafen heute nicht mehr zu. Es war an der Zeit, diese Konstrukte loszulassen, nicht nur für Xandra sondern auch für ihn.
Sicher, er hatte sich schon vor einiger Zeit gegen seine Eltern durchgesetzt, doch es war etwas ganz anderes, damit seinen Frieden zu schließen. Er lag mit ihnen nicht direkt im Klinsch, aber hatte er seitdem zu Hause angerufen, außer, wenn er Informationen von seinem Vater brauchte?
Nicht, dass er sich erinnerte… Noch nicht mal, damit sie wussten, dass es ihm gut ging. Er war sich nämlich sicher, dass sein Vater als ehemaliges Ratsmitglied sowieso über alles auf dem Laufenden gehalten wurde, was in der Legion vor sich ging. Insofern fiel das als Grund aus.
Kurzerhand nahm Evrill das Smartphone von Tisch und wählte. Als sich die bekannte Stimme an anderen Ende meldete und ihn mit Herzlichkeit überschüttete, musste er unwillkürlich lächeln. Bei allen Umbrüchen, manche Dinge änderten sich Gott sei Dank nie. Und er konnte sich glücklich schätzen, dass seine Familie auf wundersame Weise zu diesen Dingen zählte.
Besorgt trat Blaise von einem Bein aufs andere und sah sich in dem übervollen Büro von Ferroc um. Der Morgen brach bereits an und erstes Tageslicht fiel durchs Fenster auf die Versammlung.
Sie hatte noch nie an einer Krisensitzung teilgenommen. Das konnte vielleicht aber auch daran liegen, dass es auf Blackridge noch nie eine Krise von diesem Ausmaß gegeben hatte. Ferroc hatte die Reste des verstreuten Teams um sich versammelt und obwohl er sonst die Ruhe in Person war, wirkte er jetzt neben der Spur, als er seine Worte an die Gruppe richtete.
„Ihr habt sicher bereits mitbekommen, dass wir Aurelia und die Rohstoffe der Campbells verloren haben und Xandra, Rowena, Roman und Quentin sich in einer prekären Lage befinden.“
Blaise musste vor Kummer schlucken. Irgendwie hatte sie ihre beste Freundin immer für jemanden gehalten, der alles schaffen konnte. Es schien ihr beinahe unglaubwürdig, dass ausgerechnet sie in dieser Gefahr schwebte. Doch Blaise hatte die Berichte im Fernsehen mit eigenen Augen gesehen und die ließen keinen Zweifel zu. Und seit der Sache im Flughafen gab es jetzt auch Bilder von ihren „Komplizen“.
„Das einzig Positive an der Sache ist, dass die Menschen nicht kapiert haben, dass wir Elevender sind. Sobald Ruben sich erholt hat, wird er unsere verlorenen Schafe nach Hause holen, aber jetzt stehen wir vor dem Problem, dass wir Orcus nicht nur aufhalten, sondern auch noch einen Weg finden müssen, wie wir unsere Kollegen von dem Verdacht des Terrorismus entlasten können. Was Aurelia angeht…“ Ferroc pausierte und warf dem finster drein blickenden Pareios den Gesprächsball zu.
„Ich denke, sie will zu Orcus.“
„Aber warum?“, warf Dareon ein, dem Cat eine Kompresse an den Hinterkopf drückte. „Ist sie plötzlich aufgewacht und hat sich gedacht, ich haue mal alle meine Leute um?“
Pareios schaute nachdenklich zur Seite. „So in etwa. Kurz vorher ist sie zu Orcus gereist. Sie muss dort irgendwas gesehen haben, das sie aufgeschreckt und dazu gebracht hat, alles zu verraten…“ Er stockte und war sich wahrscheinlich nicht bewusst, dass er sich wie ein Irrer übers Stoppelhaar rieb. „Jedenfalls ist sie weg.“
„Womit sie uns einen entscheidenden Vorteil gegeben hat“, hakte Ferroc ein. „Dank Blaise können wir ihrer Spur folgen und wir hoffen, dass sie uns direkt zum Gegner führt.“
Sie erröte, als ihr Name fiel. Sie konnte sich immer noch nicht mit der Rolle in diesem Plan anfreunden. Die ganze Jäger-Geschichte war ihr suspekt, da sie sich doch als Küchenfee wohler fühlte, als als mutige Kriegerin. Aber diese Bedenken würden sie nicht dazu bewegen, den Schwanz einzuziehen.
Seit sie mit Slater geschlafen hatte, hatte sie das Gefühl sie konnte alles schaffen. Wirklich alles. Gemessen an dem Erfolg und der Denkwürdigkeit des Ereignisses, schien nichts mehr unerreichbar. Berge versetzen, eine Schneise durchs rote Meer ziehen, Wasser in Wein verwandeln, nur her mit den Herausforderungen.
Sie schwebte wie auf Wolken, wenngleich die Welt um sie herum in Flammen aufging, im wahrsten Sinne des Wortes.
Obwohl sich seither keine Gelegenheit zu einer Wiederholung ergeben hatte, hatte sich die alte Distanz nicht wieder eingestellt. Alle paar Tage kam er in die Küche und sie aßen spät nachts zusammen. Tranken dabei aus den Bechern, die sich gegenseitig geschenkt hatten. Blaise hatte die kleine Tradition eingeführt und Slater hatte es so wortlos zur Kenntnis genommen, wie auch die Zeit mit ihm stets verlief. Daran hatte sie sich inzwischen ja gewöhnt. Sie hatte ohnehin das Gefühl, mit ihm auf einer anderen Ebene zu kommunizieren, so oft, wie er ihre Gedanken zu erraten schien. Und manche Dinge mussten nicht ausgesprochen werden.
Denn obwohl Slater sich mit Händen und Füßen gegen die Nähe gewehrt hatte, die sie bei ihm suchte, mit körperlicher Zuneigung hatte er offenbar keine Probleme. Sie durfte ihn küssen und anfassen, wann sie wollte und genoss es auch in vollen Zügen. Immerhin war sie die einzige Person, von der sich Slater auf diese Weise berühren ließ. Oder generell.
Jetzt schielte sie vorsichtig nach ihm, während die anderen weiter über die Pläne sprachen. Er stand wie üblich hinten bei den Bücherregalen, so weit weg von den Teammitgliedern, wie nur möglich. In der Öffentlichkeit hatte sich sein Gebaren nicht verändert. Gegenüber den anderen war er der Eisklotz, der er immer gewesen war und Blaise beachtete er dann ebenso wenig.
Er verlangte nicht von ihr, dass die Sache zwischen ihnen nicht bekannt werden dürfe, doch dank seines Verhaltens in dem Bereich kam es dennoch so rüber. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er hier eine Grenze zog. Eigentlich hätte sie sich ärgern müssen, sein kleines schmutziges Geheimnis zu sein. Aber der ganze Kerl war ein einziges Mysterium und so fühlte sie sich beinahe ein wenig zugehörig. Auf seine verkorkste Weise. „Wenn wir Aurelia finden, glaubst du, du kannst sie dann zurückholen?“, fragte Ferroc an Pareios gerichtet.
Der zuckte mit den Schultern. Die lapidare Geste konnte die Last, die auf ihm lag jedoch nicht verbergen. „Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht.“
„Es hat möglicherweise etwas mit Xandra zu tun. Vielleicht erpresst er sie mit der Drohung uns alle auszuliefern“, mutmaßte Blaise, selbst überrascht von ihrem strategischen Gedankengang.
„Dann kriegen wir sie wieder, wenn sie weiß, dass wir eine Lösung für das Debakel haben. Dass Orcus uns noch nicht komplett in der Hand hat.“ Ferroc wanderte hinter seinen Schreibtisch und gab etwas über die digitale Tastatur in den Computer ein. „Der Venus Orden hat uns seine volle Unterstützung zugesichert und ich gedenke, sie auch zu nutzen.“ Er winkte sie heran und Blaise spürte förmlich Slaters Gegenwart in ihrem Rücken, als er sich zu der kleinen Gruppe am Schreibtisch gesellte. Auch Christian, der sich neben sie stellte, fiel Blaise auf. Er wirkte nachdenklich und etwas schien ihm über die Leber gelaufen zu sein. Obwohl beides so gar nicht zu dem leichtlebigen Elevender passte, konnte Blaise sich denken, was ihm durch den Kopf ging.
Nicht nur, dass Xandra in höchster Gefahr schwebte, auch die Beziehung der beiden schien am Seidenen Faden zu hängen. Ganz Blackridge wusste, wo Xandra und Evrill gestern Abend gewesen waren, bevor das ganze Kartenhaus über ihnen eingestürzt war. Blaise hatte sich mit ihrer Meinung zurückgehalten, schließlich reagierte Xandra nicht gut auf ungefragte Einmischung. Außerdem kannte sie die emotionale Not, in der sich ihre Freundin befand. Diese hegte Gefühle für zwei Männer und musste zudem das Vakuum füllen, das der Tod ihres Vaters hinterlassen hatte.
Ungeachtet dessen, wieviel zwischen ihnen im Argen lag, schien Christian jedoch fest entschlossen, an der Aktion teilzunehmen, was Blaise ihm hoch anrechnete.
„Was meint, ihr? Wie lange wird es dauern, bis unser Plan B endlich greift?“, fragte er in diesem Moment. Keiner schien eine Antwort darauf zu haben, weshalb es stumm im Raum blieb. Evrill hatte den Stein ins Rollen gebracht, aber wann dieser Orcus erreichen würde, stand in den Sternen. Wer wusste schon, wie schnell die hegedunischen Mühlen mahlten.
Ferroc ließ den Computer ein Hologramm mit einer Karte produzieren. „So oder so. Wenn es so weit ist und der Klerus Orcus ins Visier nimmt, haben wir unser Zeitfenster für den Angriff.“
Xandra hatte kein Auge zugetan. Das Leben als Staatsfeind Nummer eins gestaltete sich alles andere als angenehm. Die Beklemmung wuchs von Minute zu Minute, gleichzeitig aber auch ihre Entschlossenheit, den Kerl dranzukriegen, der ihr das eingebrockt hatte. Und das nicht nur für sich selbst.
„Glaubst du, sie hat uns verraten?“, fragte sie in die Dunkelheit. Syn hatte ihnen ein Schlafzimmer überlassen und die Rollläden schlossen das Licht des anbrechenden neuen Tages noch aus.
Evrill, der neben ihr lag, aber die ganze Nacht über Abstand gehalten und ebenso wenig Schlaf gefunden hatte wie sie, schnaubte verdrießlich. „Ich kenne Aurelia nicht als Verräterin. Es hat mich sehr überrascht, davon zu hören. Ich glaube, sie hatte triftige Gründe.“
„Triftig genug, um Pareios und Dareon zu überwältigen, uns zu bestehlen und dem Feind das auszuhändigen, wonach er die ganze Zeit gesucht hat?“ Ihr ironischer Tonfall schien ihm nicht zu entgehen.
„Wir wissen doch eigentlich gar nicht, was sie vorhat“, wandte Evrill in seiner überdachten und ein wenig altklugen Art ein. „Vielleicht will sie die Rohstoffe vernichten, oder …“
Das war für Xandras Geschmack zu viel der wohlwollenden Betrachtung der Ereignisse. „Und sie verschwindet im selben Moment, in dem ich zur Terroristin deklariert werde? Komischer Zufall, nicht?“
„Du weißt, dass Orcus Mittel und Wege hat, zu bekommen, was er will.“
„Ich will dir etwas sagen“, gestand sie. „Ich will es allen sagen, aber ich kann nicht.“
Er sah sie verständnislos an.
„Ich denke du hast Recht. Aurelia hatte ihre Gründe, aber nicht die, die du glaubst.“
Das schien ihn nur noch mehr zu verwirren. „Seit wann bist du zur Sphinx geworden? Ist das ein Rätsel?“
Xandra gab einen ungeduldigen Laut von sich. Doch dann entschied sie, dass dies ein Zeitpunkt war, der einen Regelbruch erforderte und sie musste einfach mit jemandem drüber sprechen. „Ok, aber du musst mir versprechen, dass du dicht hältst, bis ich es Pareios gesagt habe.“
Evrill nickte ernst.
„Aurelia ist … sie ist … schwanger.“
Seine Augen weiteten sich verblüfft. „Hat sie verraten, wer der Vater ist?“
„Nein. Aber allmählich reime ich es mir zusammen.“
„Du meinst ihr Gegenstück?!“ Er schien nachzudenken und eine Weile lang hatte es ihm wohl die Sprache verschlagen. „Das würde ihre Entscheidung natürlich erklären und gleichzeitig bedeuten, dass wir sie vielleicht nie zurück kriegen oder sie sogar ab jetzt zu unseren Feinden zählen müssen. Deine Entscheidung, es nicht mehr für dich zu behalten war richtig. Sag‘ es Pareios und den anderen. Die Wahrheit werden wir aber wohl erst erfahren, wenn wir sie gefunden haben. Außerdem solltest du dir im Augenblick wirklich mehr Gedanken über deine eigenen Probleme machen.“
Womit er gar nicht so falsch lag. Für den Moment waren sie zwar beim Venus-Orden untergekommen und würden bald nach Blackridge zurückkehren, doch langfristig blieb Xandra trotzdem eine Persona non grata. Sie würde sich nicht mehr in der Öffentlichkeit bewegen können, wenn sie nicht einen Weg fand, sich und ihre Komplizen zu entlasten.
Ihre Kehle fühlte sich erneut wie zugeschnürt an. Wut und Sorge brachte ihre Händen zum Zittern. Evrill griff nach ihnen und hielt sie fest.
„Ich … ich habe Angst“, gestand sie leise und dabei wurde ihr bewusst, dass sie das zum ersten mal in ihrem Leben laut aussprach.
„Ich auch“, kam die überraschende Antwort. Evrill drehte sich auf die Seite und stützte sich auf die Ellenbogen. Im Dunkeln fanden sich ihre Augen.
„Wegen mir, wirst du jetzt genauso gesucht.“
Er lächelte verschmitzt. „Du hättest dasselbe getan. Außerdem hat es doch was. Wie sind beinahe wie Bonnie und Clyde.“ Da sie seine Erheiterung nicht teilen konnte, wurde er wieder ernst. „Ich kann dich nicht verlieren. Wir haben doch gerade erst angefangen.“
Ihr Timing schien dem Drehbuch einer Tragödie zu entspringen. Sie hatten sich beide so lange vor den Gefühlen für einander verschlossen und als das Schicksal sie endlich wieder zusammengeführt hatte und Evrill sich darüber klar geworden war, was er wollte, war sie in einer Art Beziehung gewesen. Und nun, da auch Xandra sich innerlich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte, waren sie in dieses Chaos hineingezogen worden.
„Küss‘ mich“, bat sie flüsternd, weil sie nicht imstande war, das zu erbitten, was sie eigentlich brauchte.
Doch Evrill verstand sie wie so oft auf allen Ebenen. Ohne Zögern erfüllte er ihren Wunsch. Weiche Lippen pressten sich auf die ihren, auch seine Zunge gesellte sich bald dazu. Gleichzeitig hielt er sie fest mit seinen Armen umschlossen, gab ihr die Sicherheit, um die sie nicht bitten konnte.
Die intensiver werdenden Berührungen verführten sie sanft und wahrscheinlich wären sie bald weiter gegangen, wenn Xandra nicht ein Gedanke durch den Kopf geschossen wäre. Vorsichtig löste sie sich von Evrill.
„Ich will dich. Wirklich. Aber ich habe da noch etwas zu klären.“
„Christian.“
Sie nickte.
Evrill legte sich wieder neben sie und zog sie an sich. „Du hast Recht. Ich finde auch, dass er wissen muss, dass du zu mir gehörst.“
Sie bemerkte die spezielle Wortwahl. Ein anderer Mann hätte vermutlich behauptet, dass sie ihm gehöre. Doch Evrill wusste, wie sie gestrickt war und dass sie niemals irgendwem gehören würde.
„Mach dir keine Sorgen“, meinte er. „Er wird es schon verkraften. So wie der aussieht, wird er nicht lange alleine bleiben.“
Xandra boxte ihm auf die Schulter. „Du überschätzt seine Oberflächlichkeit.“ Sie hatte Christian zuvor nie so erlebt, wie er mit ihr umgegangen war. Ja, vielleicht hatte er sich sogar zum ersten Mal in seinem überlangen Leben tatsächlich verliebt – wie er behauptet hatte - und sie hasste es, diese Seite an ihm vielleicht zu zerstören. Aber sie wollte ihn auch nicht weiter quälen.
„Sobald wir zurück sind, werde ich mit ihm sprechen. Und dann …“ Sie langte hinüber und strich mit den Fingern über die harte Muskulatur an Evrills Brust, dann hinab zum Bauch. Unter dem T-Shirt zuckte er unwillkürlich, als Xandra verwegen den Bund seiner Boxer-Shorts schnalzen ließ. „Dann werde ich mich ganz dir widmen.“
Keuchend packte er sie an der Hüfte, zog sie mit einem Ruck an sich heran und gab ihr mit kreisenden Bewegungen einen Vorgeschmack auf dieses Dann.
Ein Klopfen unterbrach sie unwirsch und Syns Stimme drang durch die geschlossene Tür. „Ich störe ja nur ungern, aber ich habe vielleicht eine Lösung für euer Problem. Ich warte in der Küche auf euch. Es gibt sogar Frühstück.“
Als sie sich wenig später in besagtem Raum einfanden, warteten wie versprochen zwei dampfende Kaffeebecher und zwei Schalen Müsli auf sie. Syn telefonierte, während Xandra und Evrill sich setzten.
„Nein. Ich habe verstanden. Ich kümmere mich darum. Du weißt, was du zu tun hast.“ Damit legte er auf, schenkte auch sich selbst Kaffee ein und kam zu ihnen herüber.
„Die Polizei wird in zehn Minuten hier sein. Wahrscheinlich hat uns gestern Nacht zufällig ein Überwachungs-Drohne aufgenommen.“
Xandra hatte sich gerade Müsli in den Mund schieben wollen, als ihr vor Schreck der Löffel aus der Hand fiel. „Und da schenkst du dir erst mal seelenruhig Kaffee nach?“
Auch Evrill war aufgesprungen und hatte bereits sein Smartphone in der Hand. Ihrer Entgeisterung zum Trotz nahm Syn entspannt Platz.
„Locker bleiben, meine Freunde. Sie werden uns nicht finden. Ihr habt noch genau sechs Minuten für das Müsli. Esst.“
Beide starrten sie den Menschen schockiert an.
„Bald sind es nur noch fünf“, erinnerte Syn und band sein langes blondes Haar im Nacken zusammen.
Xandra und Evrill tauschten einen langen Blick. Dann taten sie wie geheißen, schaufelten das karge Mahl in sich hinein und folgten anschließend ihrem Gastgeber aus dem Zimmer.
Xandra hatte erwartet, dass sie das schlichte Reihenhaus, in dem ihr Gastgeber residierte per Auto verlassen würden, doch Syn führte sie in den Keller, wo jedem Mieter ein eigenes Abteil zugedacht war. Er öffnete eines davon und nachdem das Gitter hinter ihnen verschlossen war, rollte er zwischen belanglosem Krimskrams, mit dem das Abteil beinahe vollgestellt war, einen Teppich zur Seite. Darunter kam eine Falltür zum Vorschein. Ein Seil war mit dem Teppich verbunden. Vermutlich, um ihn auch von unten über die verräterische Luke ziehen zu können.
„Die sind doch nicht bescheuert“, warf Evrill ein. „Sie werden uns auch da unten finden.“
Syn bückte sich und langte nach der schweren Klappschnalle, an der man die Holzpanelen hochziehen konnte. „Das Kellerabteil gehört der Nachbarin über mir. Da ich ihre Einkäufe erledige lässt sie es mich mitbenutzen. Und wie ihr gleich sehen werdet. Ist „da unten“ kein passender Begriff für den Ort, an dem wir uns verstecken werden.“
Immer noch skeptisch folgten sie dem Menschen eine Leiter hinunter ins Dunkle. Zunächst erkannte sie ihre Umgebung nicht, aber ihre Füße spürten betonierten Untergrund, die Geräusche ihrer Schritte hallten lauter wider als sie es in einem kleinen Verschlag getan hätten.
Erst nachdem Syn den Eingang verschlossen und an dem Seil gezogen hatte, das den Teppich wieder in Position brachte, knipste er das Licht an.
Vor ihnen erstreckte sich ein langer Gang, dessen Ende sie nicht erblicken Konnte. LED-Lämpchen sorgten, ähnlich wie im Untergeschoss von Blackridge, entlang der Betonwände für eine spärliche Beleuchtung. Ohne Zweifel hatte Syn sie zum Eingang eines unterirdischen Labyrinths geführt, das sie schnell außer Reichweite bringen würde.
Staunend hängten sie sich an seine Fersen, als er den Weg fortsetzte. Sie wanderten gut eine viertel Stunde gerade aus, wobei sie immer wieder Kreuzungen passierten, an denen sich das Gangsystem verzweigte. Auch begegneten sie immer wieder Stellen, die dem Einstieg, den sie genommen hatten, ähnelten.
Syn ging mal links, mal rechts. Manchmal war der Weg abschüssig, von Zeit zu Zeit gab es aber auch Stufen, die sie hinaufstiegen. Er schien sich problemlos zurecht zu finden, während Xandra bald schon den Überblick verloren hatte. Sie hatte noch versucht, sich die Abzweigungen zu merken, aber nach einer Weile gab sie auf. Es waren einfach zu viele.
Anhand, der Strecke, die sie bereits zurückgelegt hatten, reimte sie sich zusammen, dass das Ganze größere Dimensionen hatte, als sie zunächst angenommen hatte. Genau wie der Venus-Orden, der diesen Ort offenbar geschaffen hatte.
„Habt ihr das erbaut?“, erkundigte sie sich, als sie an einer Tür ankamen, wo Syn seine Hand auf eine elektronische Vorrichtung legte, die mit neongrünem Licht seinen Abdruck nahm. Ein zischen ertönte und die Tür schwang zur Seite.
„Teile davon. Wir haben die Katakomben, die schon vor Jahrhundert unter Ceiling errichtet worden sind, erweitert und renoviert.“ Er machte den Weg frei und lud sie mit einer Geste ein, hindurch zu treten.
Evrill und Xandra standen auf einer Plattform, von der aus eine Treppe entlang der Wand hinab führte. Jenseits der Brüstung ging es bestimmt vier Meter in die Tiefe. Sie wurden von Stimmengemurmel empfangen, das von dort unten herauf drang. Der riesige Raum schien eine Art Hauptquartier zu sein. Er wurde von Trennwänden unterteilt, große Bildschirme waren hier und da angebracht worden und überall wuselten Menschen herum. An den anderen Wänden gab es auf verschiedenen Höhen weitere Gänge und Türen, die klar machten, dass hier nur die Zentrale des Unterschlupfes lag.
„Dafür hast du also unseren Generator gebraucht“, hauchte Xandra, als Syn sich neben sie stellte. Vor ein paar Monaten hatte er im Austausch gegen das Stehlen einer Drohne einen Generator der KeShe-Foundation von der Legion verlangt – ein Gerät, das aus dunkler Materie Energie gewann. Diese Energiequelle war unbegrenzt, da sie überall um sie herum war, ohne sichtbar zu sein. Ein gut gehütetes Geheimnis, für das die Hegedunen viele Menschen getötet hatten, schließlich musste die Lüge, dass kohlenstoffbasierte Rohstoffe, Atomenergie sowie Wind und Wasser nach wie vor die Einzigen Methoden waren, um Strom herzustellen, zugunsten des Profits aufrecht erhalten werden. Nicht auszudenken, wenn die Menschheit begriffen hätte, dass es nicht mehr von begrenzten Mitteln abhängig war und sich schon lange aus dieser subtilen Form von Sklaverei befreien hätte können.
Syn nickte stolz. „Du hast noch nicht die neue Hydroponik-Anlage gesehen. Dank eurem Generator gedeihen die Pflanzen prächtig. Bald können wir hier nahezu autark leben.“
Er machte sich an den Abstieg und winkte ihnen, damit sie nachkamen.
„Ich wusste, dass der Orden zu einigem fähig ist und ich habe auch schon ein paar ihrer Geheiverstecke gesehen, aber das hier …“, Evrill pfiff leise durch die Zähne, nachdem er ihr zugeraunt hatte. „Ich habe sie unterschätzt.“
Da musste sie ihm wohl oder übel Recht geben. Die Größe der Herberge ließ darauf schließen, dass die Menschen-Vereinigung mehr Mitglieder umfasste, als sie geahnt hatte. Und dass diese über herausragende Fähigkeiten verfügten. Obwohl sie gerade ihre eigenen Sorgen hatte, wusste sie um die Bedeutung dieser Entdeckung. Nach so einem Partner in der Menschenwelt suchte die Legion schon seit Jahrhunderten. Endlich schien sie zu existieren – eine Gruppierung, die stark genug war, um den Kampf gegen die Hegedunen aufzunehmen.
Und dass Evrill und sie diesen Ort betreten durften, bedeutete noch viel mehr.
Es signalisierte Vertrauen.
Aurelia war die Nacht hindurch gefahren. Eine Art innerer Kompass – oder besser gesagt Orcus – gab ihr die Richtung vor. Im Radio hatte sie ein paar Mal die neusten Berichte aus Ceiling gehört, bis sie sich außerhalb der Reichweite des Lokalsenders befand. Dennoch hatte sie genügend Informationen erhalten. Xandra und wahrscheinlich weitere Mitglieder von Aurelias Team waren am Flughafen gesehen worden und es war zu einer Auseinandersetzung gekommen, die jedoch nicht zu deren Festsetzung geführt hatte. Die Elevender waren entkommen, ohne sich durch den Einsatz ihrer Kräfte zu verraten, doch ihre Gesichter waren nun Landesweit, wenn nicht sogar weltweit bekannt.
Aurelias Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten. Die Jagd hatte begonnen. Orcus machte seine Versprechen wahr, was ihren Entschluss nur noch bekräftigte. Sie tat das Richtige und das aus den verschiedensten Gründen. Dennoch wünschte sie sich, es hätte einen anderen Weg gegeben.
Sie vermisste Pareios jetzt schon schrecklich. Er wäre ein guter Vater geworden, dachte sie traurig und fuhr mit der Hand über ihren Bauch. So wie sie ihn einschätzte, hätte er ihr Kind angenommen, egal von wem es war. Er hätte es geliebt …
Tränen traten in ihre Augen. Bald war sie nicht mehr fähig, die Straße zu erkennen, weswegen sie mitten im Nirgendwo auf den Standstreifen fuhr und anhielt. Dort weinte sie um die Familie, die sie niemals haben würde und um ihr Schicksal, das ihr stattdessen eine Aufzwang, die sie verabscheute. Doch wenn das nötig war, um ihr Kind in Sicherheit zu bringen, war sie bereit, den Preis zu zahlen. An diesen Gedanken klammerte sie sich und nur durch ihn gelang es ihr, allmählich wieder ruhig zu werden. So emotional kannte sie sich gar nicht – wahrscheinlich eine Nebenwirkung der Schwangerschaft.
Es kostete sie einige Überwindung, den Weg wieder aufzunehmen, doch sie spürte, dass Orcus Geduld sich bald zuneige gehen würde. Der Highway füllte sich gegen sechs Uhr mit Pendlerverkehr, sodass sie zunächst langsamer vorankam. Dann leitete Orcus sie von der breiten Straße herunter und nach kurzer Zeit passierte sie weite Felder und grüne Landschaft, bis sie endlich eine ausladende Auffahrt hinauffuhr, die sie bereits aus ihren Traumreisen kannte.
Sie hatte Orcus‘ Domizil erreicht.
Aurelia war kaum ausgestiegen, öffneten sich die beiden Flügel des großen Eingangsportals und da stand er mit ausgebreiteten Armen, als ob er eine geliebte Person begrüßen wollte. Ihr drehte sich der Magen um.
„Iubitӑ, ich habe dich schon erwartet.“ Der Kosename, den er ihr vor Jahrhunderten gegeben hatte, klang aus seinem Mund beinahe zärtlich, was in Aurelia aber nur Ekel hervorrief und natürlich unwillkommene Erinnerungen wachrief. Daran, wie sie ihn als junges Mädchen vergöttert hatte, wie leichtgläubig sie sich in seine Ideologie hineinziehen hatte lassen … und wie sie ihre Schwester für ihn getötet hatte. Das Wort Hass schien ihr nicht auszureichen, um ihre Gefühle für Orcus zu beschreiben.
Wie ein Kaiser schritt er unterdessen die Eingangsstufen hinab und wollte die Hand auf ihre Schulter legen, doch Aurelia schlug sie rabiat weg.
„Ich bin nicht hier, um mit dir Familie zu spielen.“ Stellte sie mit eisiger Stimme klar. „Es sieht aus, als würdest du diesen Kampf gewinnen und ich will, dass mein Kind auf der Siegerseite steht. Das ist der einzige Grund.“
Er betrachtete sie eine Weile, bevor er kalt lächelte. „Vielleicht jetzt noch. Doch du hast mich einmal geliebt. Ebenso meinen Sohn. Siehst du es nicht? Wir sind untrennbar verbunden. Und irgendwann wirst auch du das akzeptieren müssen.“
„Jede Verbindung zu dir macht mich krank“, stieß sie hervor und wollte ihm ins Gesicht spucken, doch das Monster in ihr – sein Monster – ließ es nicht zu. Sie dagegen konnte ihn nicht daran hindern, ihr eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Tinnitus setzte in ihrem linken Ohr ein und ihre Wange brannte wie Feuer, als sie ihn hasserfüllt anstarrte.
„Du wirst lernen, wo dein Platz ist, iubitӑ. Du willst dein Baby doch aufwachsen sehen.“ Womit er verdeutlichte, dass ihr Kind zwar bei ihm sicher war, sie jedoch nicht denselben Schutz genoss. Sie war entbehrlich. „Versteh mich nicht falsch. Ich habe großes für uns im Sinn – uns alle drei. Aber solltet du Probleme machen, wirst du dir noch wünschen, du wärst zusammen mit meinem Sohn gestorben.“
Sie fauchte erbost. „Tötest du mich dann, genauso, wie du ihn getötet hast?“
„Hüte deine Zunge!“, herrschte er sie an. „Du solltest doch am allerbesten wissen, was ich mit überflüssigen Frauen mache.“
Aurelia dachte daran, wie er die Ehefrau des Kioskbesitzers gefoltert und dann erschossen hatte. Wie sie sie erschossen hatte. Orcus schien zu wissen, dass Aurelia seine Taten hautnah miterlebt hatte. Dass es sich angefühlt hatte, als hätte sie das Blut vergossen.
„Ich habe keine Angst vor dir“, sagte sie fest, während sie die Hände zu Fäusten ballte.
„Du kannst mich nicht belügen, Aurelia. Das solltest du doch inzwischen begriffen haben.“ Ein süffisantes Lächeln erschien in seinem alterslosen Gesicht. Das blonde Haar wurde von einer kühlen Brise zerzaust und sein langer Mantel wogte, als er mit einer Handbewegung zwei seiner Schergen herbeizitierte.
„Du hast die Wahl, Aurelia. Entweder du lebst von nun an als Königin, … oder als Gefangene.“
Da sie nichts erwiderte, nickte er zufrieden und legte ihr einen Arm um, wodurch er sie hinein dirigieren konnte. Nur widerwillig ließ sie es geschehen. „Nun, komm‘. Ich habe ein Zimmer für dich bereitmachen lassen. Es wird dir hier gefallen. Apropos, wo ist denn mein Gastgeschenk?“
Diesmal war sie es, die grinste. „Ich habe es nicht.“
Orcus blieb in der großen Eingangshalle aus hellem Marmor gespickt mit allerlei Prunk stehen. „Was soll das heißen?“, fragte er in bedrohlichem Tonfall.
„Dass ich es nicht habe.“ Kurz darauf spürte sie, wie er in ihrem Kopf herumfuhrwerkte. Ihre Gedanken absuchte und sie wusste, was er finden würde.
„Ich habe alle paar Kilometer angehalten und so getan, als würde ich das Säckchen am Straßenrand vergraben.“ Deswegen hatte sie auch so lange für die vergleichsweise kurze Strecke gebraucht. „Nur, wo habe ich es nicht wieder ausgegraben? Oder habe ich den Inhalt ganz wo anders gelassen? Ich bin mir nicht mehr sicher …“
Er würde Stunden brauchen, um das herauszufinden, denn manchmal war sie auch wieder zurückgefahren und das Spielchen hatte von vorn begonnen. Von diebischer Freude erfüllt verschränkte sie die Arme vor der Brust und stellte ihr Ultimatum.
„Du hast die Wahl, Orcus. Entweder verschwendest du deine Zeit mit der Suche oder du gibst mir, was ich will.“
Die Paraphrasierung seiner eigenen Drohung schien Orcus nicht minder in Rage zu versetzen, als umgekehrt. Er versuchte, den lodernden Zorn zu verstecken, aber diese Verbindung – so widerwärtig und unnatürlich sie auch war – funktionierte nun mal in beide Richtungen. Sie spürte, dass er sie für diesen Ungehorsam am liebsten in der Luft zerfetzt hätte.
„Hast du vergessen, dass ich diese Information auch anders aus dir herauskriegen kann? Wie viel Schmerz kannst du ertragen, Aurelia?“ Obwohl er nur flüsterte, schickte er Schauer des Grauens über ihre Haut.
Doch sie blieb hart. „Vielleicht. Aber du möchtest doch nicht, dass deinem Enkelkind irgendetwas zustößt, oder?“
Nun sah sie seine Emotionen offen in seinem Gesicht. Er war hin und her gerissen, konnte sich nur mit Mühe beherrschen. „Was willst du?“, knurrte er.
„Ich will Viktor.“
Syn hatte Xandra und ihn eine Weile herumgeführt, sodass sie sich ein genaueres Bild der Anlage des Ordens machen konnten. Evrill entging jedoch nicht, dass er ihnen bestimmte Winkel vorenthielt. Beide respektierten sie diese Entscheidung, immerhin hatte Syn bei seinem Besuch auf Blackridge die Anreise mit einem Sack überm Kopf verbringen müssen. So gesehen, kam er ihnen ohnehin schon entgegen.
Nachdem sie der Rundgang beendet hatten, waren sie in einen Konferenzraum mit einem großem, ovalen Tisch und verglasten Wänden gebracht worden, durch die man den Rest der zentralen Halle beobachten konnte. Ihr Gastgeber war noch in ein Gespräch mit einem anderen Menschen vertieft und Xandra nutzte die Gelegenheit, um auf Blackridge anzurufen. Dazu musste sie das Telefon in der Mitte des Tisches benutzen, denn Handys hatten hier unten keinen Empfang. Ein Störsender, hatte Syn erklärt.
Währenddessen besah sich Evrill die Menschenmenge, die da draußen ihr Tagwerk verrichtete. Einige lebten in diesem Gemäuer, andere kamen nur zum Arbeiten her und wieder andere versteckten sich, wie er und Xandra. Er fühlte sich stark an den Bunker – eine Einrichtung der Legion - erinnert, der wegen Orcus‘ Machenschaften enttarnt worden war und evakuiert werden musste.
Die Menschen hatten sich eine Basis geschaffen und sich weitestgehend vom System gelöst, sie waren aufgeklärt. Und offensichtlich wehrhaft, stellte er fest, als er eine Frau betrachtete, die eine Bazuka reinigte. Mit geübten Fingern baute sie anschließend das Gehäuse in Rekordgeschwindigkeit wieder zusammen. Da entdeckte sie, dass sie beobachtet wurde und lächelte ihn an. Diese Reaktion unterschied sich nicht vom Verhalten der anderen Menschen, denen sie bisher begegnet waren. Sie überschlugen sich nicht mit Annäherungsversuchen, doch man konnte sie durchaus als freundlich bezeichnen.
Plötzlich klatschten kleine Finger gegen die Scheibe. Evrill schaute hinab und entdeckte ein Mädchen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, die ihn mit großen, blauen Augen musterte wie ein Tier im Zoo und dabei verstohlen auf ihren kastanienbraunen Locken herumkaute.
„Na, wer bist du denn?“, erkundigte er sich durch das Glas und brachte sich auf die Höhe des Kindes.
„Kannst du zaubern?“, fragte sie statt einer Antwort.
„Hm, vielleicht ein bisschen“, gab er lächelnd zu.
Aufgeregt klatschte das Kind in die Hände und ihr kleines Gesicht leuchtete vor Freude. „Zeig‘ mal!“
Ganz abgesehen davon, dass er eine Leiche für seine Art von Zauber benötigte, wäre das Ergebnis bestimmt kein beeindruckendes Kunststück für eine Fünfjährige. Bedauernd schüttelte er den Kopf. „Tut mir Leid, aber ich kann meine Kräfte nur in bestimmten Situationen einsetzen. Wenn etwas Ungerechtes geschehen ist, versuche ich damit Gerechtigkeit zu erreichen. Verstehst du?“
Das Kind starrte ihn nur weiter an. Also offenbar nicht. „Kannst du malen? Ja? Dann kannst du es zwar generell, aber du brauchst trotzdem Papier und Stift, oder? Mir fehlt im Augenblick Papier und Stift für meinen Zauber.“
„Soll ich dir welche bringen?“, hakte das Kind ganz hibbelig vor Aufregung nach und ihre Korkenzieherlocken wippten fröhlich auf und ab.
Er lachte, sodass die Scheibe beschlug. „Nein, das würde auch nichts bringen. Aber danke, sehr freundlich von dir.“
„Für einen Zauberer siehst ganz normal aus.“
„Ich bin ja auch ein besonderer Zauberer – ein Elevender“.
„Hast du deswegen keine krumme Nase und keine Warzen, wie die Hexen im Märchen?“
„Die hat er sich weggezaubert“, sagte Xandra hinter ihm und kicherte. „Da lässt man dich fünf Minuten aus den Augen und schon flirtest du mit einer anderen.“ Der letzte Teil galt offensichtlich ihm.
Er richtete sich auf und legte einen Arm um sie. „Darf ich vorstellen, das ist Xandra. Sie ist eine Hexe.“ Hinter seinem Rücken kniff ihn besagte Hexe in den Po, sodass er einen kleinen Satz machte.
„Du bist aber hübsch“, flüsterte das Mädchen.
„Und von Geburt an ohne Warzen und krumme Nase“, ergänzte die Elevenderin lächelnd. „Du bist aber auch sehr hübsch. Wie heißt du?“
„Ihr Name ist Violette.“ Syn war unbemerkt neben sie getreten und winkte die Frau heran, die die Bazuka gereinigt hatte. In wenigen Sekunden kam sie der Aufforderung nach und nahm das kleine Mädchen auf den Arm.
„Komm‘, mein Schatz. Wir schauen mal, was die anderen Kinder spielen“, flötete sie, dann zogen sie gemeinsam von Dannen.
Nachdem sie verschwunden waren, ging Syn zum Tisch und nahm Platz. Während Xandra und Evrill es ihm gleich taten, schenkte er Wasser für alle in große Gläser ein.
„Violettes Eltern waren Ordensmitglieder. Sie sind bei einem Hegedunen-Überfall gestorben. Wir kümmern uns hier um viele Waisen und Menschen, die ihre Familien verloren haben.“
Dieses Konzept kannte Evrill aus der Legion. Eine starke Gemeinschaft brauchte ein Auffangnetz für die, die sich nicht selbst helfen konnten. Sie musste ihren Mitgliedern Sicherheit bieten – und ein gemeinsames Ziel. Aber vor allem – und dafür war Violette der beste Beweis – musste sie Generationen übergreifen, um gegen die Hegedunen bestehen zu können.
„Was ihr hier geschaffen habt, ist beeindruckend“, gab Xandra unumwunden zu.
Syn nahm das Kompliment ohne Kommentar zur Kenntnis. „Wir tun, was wir tun müssen, um uns von den Hegedunen zu befreien und weitestgehend unabhängig vom System zu sein. Der Kapitalismus wird immer wieder an die Wand fahren und die Menschheit dabei verarmen lassen, während die Reichen im reicher werden und Profit aus von ihnen verursachten Katastrophen schlagen. Dies ist schon lange keine Nutznießer-Beziehung mehr. Es ist unverhohlene Sklaverei. Nur dass die meisten Menschen den ganzen Quark schlucken, der ihnen tagtäglich im Fernsehen und in den Nachrichten vorgesetzt wird. Wir dagegen, bereiten uns auf einen Krieg vor.“
„Der Krieg ist schon lange im Gange“, entgegnete Xandra trocken. „Und im Augenblick haben wir ein dringlicheres Problem.“
„Das ist mir schon klar, Süße.“
Bevor Evrill seiner plötzlich aufflammenden Wut Luft machen konnte, wurde er unter dem Tisch getreten, was Syn natürlich nicht entging. Er zog amüsiert eine Augenbraue in die Höhe.
„Ich meine nicht, dass ich in allen Nachrichten zu sehen bin“, fiel Xandra ein und unterband das Geplänkel. „Seit geraumer Zeit arbeitet ein Hegedune Namens Orcus Warburg an einem perfiden Plan. Da du uns so viel Vertrauen entgegen gebracht hast, möchte ich diese Geste jetzt erwidern.“
So knapp wie möglich erläuterte sie die ganze Geschichte und schilderte auch die aktuelle Lage. Der Anführer des Venus Ordens hörte sich alles wortlos an, setzte nur hier und da eine nachdenkliche Miene auf. Für Evrills Geschmack war er viel zu ruhig, angesichts dessen, was ihm gerade offenbart wurde.
Als Xandra endete, sprach er seinen Verdacht aus. „Die Sache scheint dir nicht neu zu sein.“
„Nicht vollkommen“, räumte der Mensch zögernd ein. „Ob ihr es glaubt oder nicht, wir haben auch Kontakt zu anderen Elevendern, die nicht der Legion angehören. Kenne deinen Feind. Sagt man das nicht so?“
„Wer?“
„Kein Hegedune. Das muss euch reichen.“ Sein Gesichtsausdruck verdeutlichte, dass sie nicht mehr zu dem Thema von ihm erfahren würden. „Warum lasst ihr diesen Orcus nicht den Klerus ausschalten? Dann bleibt er als einziger übrig und kann leicht beseitigt werden.“
„Weil er sie nicht ausschalten sondern kontrollieren wird. Er will ihre Macht für sich und wir befürchten, dass wir ihn irgendwann nicht mehr stoppen können. Außerdem bedroht er damit die gesamte freie Welt.“
„Die Welt ist aber nicht frei. Wir würden nur einen Herrn gegen den anderen tauschen. Mein Kontakt sieht das anders als ihr. Er befürwortet, den Dingen ihren Lauf zu lassen und obwohl ich euch vertraue, vertraue ich ihm dennoch mehr. Einen Keks?“ Unbekümmerte öffnete er eine Schublade des Sideboards, das hinter ihm stand und beförderte eine große Metalldose voll hausgemachtem Gebäck zutage.
Der Kerl nervte Evrill allmählich gewaltig und das nicht nur wegen dem Süßholzgerasple. „Er hat Xandra den Wölfen zu Fraß vorgeworfen und mehrere Kollegen befinden sich in seiner Gewalt. Wir können nicht mehr warten, selbst wenn deine Informationen zuträfen.“ Er stand auf und stützte sich auf dem Tisch ab, um sich zu Syn vorzubeugen. „Du sprichst von Krieg, aber ihr verschanzt euch hier, putzt eure Waffen und wartet auf das Startsignal? Das hier ist es, kapiert?! Es ist Zeit, in die Schlacht zu ziehen und ihr müsst euch entscheiden, auf welcher Seite ihr steht.“
Nun schien Syn doch ein wenig verärgert. Er klappt die Keksdose mit einem schnappenden Geräusch wieder zu und erhob sich ebenfalls. „Wir haben euch zwar einen Schulterschluss angeboten, aber die Legion besitzt weder das Recht, noch die Macht, den Orden zu irgendetwas zu zwingen. Wir haben uns euch gegenüber überaus zuvorkommend verhalten und auch jetzt bin ich bereit, euch zu helfen. Nur nicht in diesem Punkt.“
Obwohl er den anderen Mann aufgrund der aufgestauten Frustration gerne ein paar verpasst hätte, begann er, Respekt für ihn zu empfinden. Bevor er etwas erwidern konnte, spürte er Xandras Hand auf der Schulter, die ihn ermahnen sollte, sich zurück zu halten.
„Was meinst du damit? Wie willst du uns dann helfen?“, hakte sie schnell ein und warf ihm dabei einen Seitenblick zu.
Syn lächelte bei der Frage siegesgewiss. Er genoss sichtlich, dass die Legion im Augenblick in der Rolle des Bittstellers auftrat. Sie waren vielleicht Verbündete mit einem gemeinsamen Ziel, aber wie viel wussten sie denn tatsächlich über die Menschen-Vereinigung?
Evrill war sich da nicht ganz sicher, als er deren Anführer aufmerksam beobachtete.
Großspurig breitete Syn beide Arme aus. „Nun, zumindest kann ich euch die Menschen vom Hals schaffen.“
Als Pareios auflegte, war er kreidebleich und sogar durch seinen Eispanzer spürte Slater die tiefe Erschütterung seines Kollegen, der sich gerade benommen setzte. Das Telefonat hatte wohl keine guten Nachrichten gebracht.
„Was ist los?“ Blaise war sofort mit ihrer fürsorglichen Art zur Stelle und schenkte ihm ein Glas Wasser ein. Slater konnte immer noch nicht nachvollziehen, warum sie das Bedürfnis hatte, sich um alles und jeden zu kümmern – insbesondere deswegen, weil sie sich auch um ihn kümmerte, obwohl er es ganz sicher nicht verdient hatte. Mittlerweile konnte er es akzeptieren, weil er genau wusste, wie sie für ihn empfand, auch wenn sie es niemals erwähnte. Was ihm nur recht war, er hätte nichts erwidern können. Da teilte er sich lieber auf einer anderen Ebene mit. Sein Blick wanderte über ihren Körper und Erinnerungen an jene Nacht im Wald und dann auch bei ihm zu Hause blitzten Reihenweise auf. Bisher hatte er körperliche Nähe verabscheut, doch bei ihr begann er sich danach zu sehnen. Keine gute Entwicklung, aber nicht aufzuhalten.
Wenn er abends im Bett lag, dachte er seither an sie. Wie sich ihre Brüste angefühlt hatten und wie es war, in ihr zu sein. All die Eindrücke, die er von Blaise aufgesogen hatte. Ihre Lust, ihre Leidenschaft, ihr Glück. Die Gedanken marterten ihn und raubten ihm den Schlaf, wenn es auch eine süße Qual war.
Slater kniff entschlossen die Augen zu, um die Erinnerungen abzuschütteln. Momentan brauchte er seine ganze Konzentration, um die Gefühle der vielen Elevender im Raum abzublocken. Ferroc, Dareon und Cat strotzen nur so vor Anspannung. Christian war das pure Chaos und nun auch noch Pareios, der gerade einem schwarzen Loch glich. Nur Blaise war ruhig. Klar, sie war besorgt, aber nicht außer sich.
„Was ist passiert?“, fragte sie noch einmal sanft.
Pareios übersah das angebotene Wasserglas völlig und vergrub das Gesicht in den Händen. „Aurelia … sie ist … sie bekommt ein Kind“, kam es gedämpft durch die Handflächen.
Schock durchschnitt die Atmosphäre im Raum und traf Slater wie ein Hieb in die Magengrube. Blaise schien seine beinahe körperliche Erfahrung dessen, was die anderen fühlten, zu bemerken, denn sie kam zu ihm herüber und stellte sich neben ihn. Ihre stumme Art, ihn zu unterstützen. Als er ihre Nähe spürte, sich auf sie konzentrierte, wurde der Sturm um ihn herum leiser, verlor an Kraft, bis er zu einem Hintergrundrauschen mutierte. Blaises Persönlichkeit und ihre Gefühlswelt waren angenehm und er hielt sich gern darin auf. Und anscheinend schien es ihn ähnlich wie sein Eispanzer zu schützen. Erstaunt warf er ihr einen Seitenblick zu.
„Sie denkt, es ist von Dante“, schlussfolgerte Dareon irgendwann.
„Heißt das, sie ist freiwillig gegangen?“ Cat sah sich unsicher um.
„Sie ist nicht freiwillig gegangen“, kam es da wütend von Pareios. Er hatte sich aufgerichtet und funkelte die kleine Elevenderin aus zusammengekniffenen Augen an. „Das passt gar nicht zu ihr. Wenn du sie kennen würdest, wüsstest du das.“
Da war sich Slater nicht so sicher, immerhin hatte sie sich mit Gewalt befreit. Seiner Einschätzung nach war Pareios von seinen widersprüchlichen Gefühlen für die geflohene Elevenderin geblendet - und das, obwohl sie das Kind eines anderen Mannes bekam. Slater verstand die Leute einfach nicht.
Dareon stellte sich vor sein Gegenstück. „Immer mit der Ruhe, Cowboy. Wir wissen nicht, was vorgefallen ist, aber wir sollten jede Möglichkeit in Betracht ziehen, sonst laufen wir am Ende noch in eine Falle. Das ist die Spezialität von Orcus, habt ihr doch gesagt.“
„Schluss jetzt“, fiel Ferroc mit seinem tiefen Bariton ein. „Ich denke, wir sind uns alle einig, dass Sicherheit vorgeht. Blaise, du wirst mit Slater die Spur verfolgen. Sobald ihr Aurelia findet, macht ihr Meldung, dann beobachten wir die Lage. Wir greifen erst ein, wenn wir wissen, woran wir sind und wenn Orcus auf der Abschussliste des Klerus steht.“
Nachdem die restlichen Aufgaben verteilt worden waren, wurde das Ende der Krisensitzung eingeläutet. Blaise und Slater machten sich in Richtung Garage auf und Pareios folgte ihnen ohne Kommentar.
Xandra saß mit Evrill im riesigen Speiseraum der unterirdischen Zentrale des Ordens, oder wie sie die Bewohner nannten: der „Kaninchenbau“ – sehr passend, fand Xandra. Der Raum lag unweit von der großen Haupthalle entfernt und wurde von vielen Menschen bevölkert, die ein einfaches, aber gesundes und nahrhaftes Mittagessen zu sich nahmen. Es gab einen Tresen, an dem die Gerichte ausgegeben wurden, links daneben befanden sich große Getränkespender. Die Wände des Raumes waren wie überall im Bau aus Beton, jedoch hatte sie ein besonders begabter Künstler mit bunten Graffitis besprüht. Das Werk konnte sich sehen lassen. Es zeigte eine ziemlich verlockend wirkende Karibik-Landschaft in exotischen Farben nebst stilisierten Tieren, die mit tribal-artigen Zeichen kombiniert worden waren. Auch das Inventar wurde mit einbezogen. Beispielsweise waren die meisten Tische ebenfalls besprüht, manche waren sogar in Tierform gefertigt, was vor allem bei den Kleinsten helle Begeisterung hervorzurufen schien.
Xandra beobachtete die Kindermeute, wie sie den Rüssel eines Elefantentischs, der wie eine Rutsche geformt war, herunter sausten. Hier gab es viel mehr Nachwuchs, als bei den Elevendern. Romans und Yumis Zwillinge waren genau genommen die einzigen Kinder auf Blackridge. Im Kaninchenbau dagegen hatten sie einen Kindergarten und eine Schule eingerichtet, die sich einer großen Besucherzahl erfreuten.
„Verrückt nicht wahr?“, meinte Evrill, als er ihren Blick bemerkte. „Die Menschen glauben, wir hätten es durch unsere Kräfte und unser langes Leben so viel leichter. Sie wissen gar nicht, was für ein Glück sie haben, dass sie eine dermaßen fruchtbare Spezies sind.“
„Das musst du gerade sagen. Wie viele Geschwister hast du noch mal?“
„Bloß weil du keine hast, musst du dich nicht über die Sieben lustig machen.“ Seine silbernen Augen leuchteten auf, als er ihr zuzwinkerte. Xandra biss sich auf die Unterlippe, weil der Anblick eine Hitzewelle auslöste, was ihm nicht zu entgehen schien. Er räusperte sich und rutschte unruhig auf der Bank hin und her. „Trotzdem, im Durchschnitt haben meine Eltern alle zwanzig Jahre ein Kind bekommen und bevor das erste unterwegs war, waren sie schon ein paar Jahrhunderte zusammen. Die Ausbeute ist im Vergleich zu den Menschen nicht sonderlich groß.“
„Wahr“, stimmte sie zu und schob sich einen Löffel voll dampfendem Eintopf in den Mund. Er war nicht so gut, wie der von Blaise, aber dennoch nicht übel.
„Sie haben dich übrigens eingeladen.“
Xandra fiel der Löffel aus der Hand. Zum Glück war er gerade leer. „Sie haben was?“
„Als ich gestern mit ihnen telefoniert habe, da meinte meine Mu…“
„Du hast es schon deiner Mutter erzählt?!“, unterbrach sie und fasste sich unwillkürlich an die Stirn. Denn wenn die es wusste, dann auch ihre Mutter … und bald schon die gesamte Legion.
„Sie freut sich für uns. Entschuldige, aber ich platze vor Stolz, ich musste es jemandem erzählen. Außerdem habe ich sie beschworen, das indische Lammcurry zu kochen, das du so magst.“ Seine treuherzige Miene und das Eingeständnis erreichten sogleich ihr Herz und sie lächelte automatisch. Wie er das bloß machte, sich all die Kleinigkeiten zu merken?
„Meinetwegen“, gab sie mit einem Schmunzeln in den Mundwinkeln nach. „Aber würdest du sie wenigstens so lange zügeln, bis ich mit Christian geredet habe? Und das könnte noch eine Weile dauern.“
Er sah überrascht auf und stellte das Glas wieder hin, welches er eben zum Mund führen wollte. „Wieso das?“
„Ich denke, wir sollten behaupten, dass Ruben uns noch eine Weile nicht abholen kann. Dann bekommen wir Gelegenheit uns hier alles etwas genauer anzusehen.“
„Glaubst du, sie schaffen es wirklich, die Anschuldigungen gegen uns zu entkräften?“
Xandra nickte und schaute sich unauffällig um, um sicher zu gehen, dass sie nicht belauscht wurden. „Eben das gibt mir zu denken. Der Orden hat uns schon des Öfteren mit seinen scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten überrascht. Und jetzt dieser geheimnisvolle Elevender-Kontakt, dem sie mehr vertrauen als uns?! Woher weiß diese Person so viel über Orcus?“ Es stellten sich so viele Fragen, dass sie gar nicht wusste, wo anfangen. Im Augenblick war ihr Team auf der Suche nach Aurelia und wie sie Blaise kannte, würden sie sie bald finden. Doch ein Angriff zu diesem Zeitpunkt war zu riskant, immerhin konnte es sich um eine Falle handeln.
Evrill lehnte sich weiter nach vorn und senkte die Stimme. „Du traust ihnen nicht?“
„Ich denke, Syn ist undurchschaubar. Ich hatte von Anfang an ein komisches Gefühl bei ihm. Er war so großspurig, so überaus selbstsicher. Damals wurde meine Meinung über ihn maßgeblich durch Marcus geprägt. Er hat bei dem ersten Treffen gesagt, dass der Mensch kein einziges Mal gelogen habe. Aber …“
„Wie wir jetzt wissen, arbeitete Marcus für Orcus“, schloss Evrill und sah sie anerkennend an.
Xandra tippte sich an die Nase. „Selbst wenn nichts dahinter steckt, sollten wir uns die Strukturen unserer Verbündeten genauer ansehen. Zwei Fliegen mit einer Klappe.“
„Wäre ich dir nicht schon heillos verfallen, hättest du mich spätestens jetzt gekriegt“, raunte er in anzüglichem Tonfall und streckte eine Hand über den Tisch, um ehrfürchtig über ihre Wange zu streichen. Sein Daumen berührte leicht ihre Lippen. „Ich weiß nicht, ob ich warten kann, bis du dieses vermaledeite Gespräch geführt hast.“
Nach einem kurzen Blick nach links, dann nach rechts, nahm sie seinen Daumen zwischen die Zähne und schloss die Lippen darum.
Evrill zischte vernehmlich und starrte wie hypnotisiert auf ihren Mund. „Du bist wirklich eine Hexe.“
Unter seinem erhitzten Blicken begann ihr Unterleib zu pulsieren, sodass sie die Schenkel zusammen presste. Allein bei der Vorstellung stieg Verlangen in ihr auf. Bevor sie ihn über den Tisch zerren konnte, brachte sie sich zur Raison und entließ seinen Daumen.
„Nur ein kleiner Vorgeschmack.“
Evrills Atmung hatte sich beschleunigt und er fuhr sich sichtlich um Fassung bemüht mehrmals durchs Haar. „Also jetzt müssen wir noch ein bisschen sitzen bleiben.“
Sie musste einfach lachen. „Jetzt platze ich vor Stolz.“
Bevor er etwas erwidern konnte, trat Syn mit der Frau an den Tisch, die vorhin das kleine Mädchen weggebracht hatte. Sie hatten Rowena im Schlepptau. Er klopfte zur Begrüßung zweimal auf die Holzplatte.
„Stören wir?“
Evrill hustete und lief puterrot an, was Xandra nur noch mehr zum Kichern brachte. Um seine Ehre zu retten, riss sie sich aber bald zusammen. „Nein, … bitte setzt euch doch.“
Dann erhob sie sich und nahm die Kollegin erleichtert in die Arme.
Evrill folgte ihrem Beispiel. „Geht’s dir gut?“
Rowena nickte. „Aber es war knapp.“
Sie sowie die Frau mit dem Rabenschwarzen Bubikopf und den ebenso dunklen Augen nahmen neben Xandra Platz. Mit ihren Cargo-Hosen und dem olivgrünen T-Shirt, das sich über eine beachtliche Oberweite spannte, wirkte sie wie eine Soldatin.
„Darf ich euch Torry vorstellen?“, begann Syn, nachdem er sich zu Evrill gesetzt hatte. „Ich habe ihr schon von euch berichtet. Sie ist bei uns für die Einführung der Neulinge zuständig. Bis ihr abgeholt werdet, kümmert sie sich um euch.“
Xandras Augen streiften Evrills. Er nickte unmerklich. „Leider wird das noch eine Weile dauern. Unsere Abholgelegenheit ist ernster verletzt, als wir dachten.“ Ein kurzer Blick zu Rowena und auch sie verstand und hielt sich bedeckt.
Der Anführer des Ordens zögerte nur ein paar Sekunden, aber sie wusste, dass er die Aussage analysierte. „In diesem Fall, umso besser, dass Torry hier ist. Sie zeigt euch die Gästezimmer und wird dann eine Aufgabe für euch finden. Jeder hilft mit.“
Auf Blackridge war das freiwillig, doch sie kannte keinen, der sich nicht beteiligte. Daher stimmten sie zu und folgten dann ihrer neuen Führerin, nachdem sie die Tabletts mit dem leeren Geschirr zurück zur Theke gebracht hatten.
Die Gästezimmer grenzten direkt an die große Halle, allerdings auf Höhe des dritten oder vierten Stockes, wenn man es vom Boden der Zentrale aus betrachtete. Durch Glasfenster konnte man die Menschenmenge von oben beobachten. Ausfahrbare Jalousien sorgten für Privatsphäre, wenn man diese wünschte. Die einzigen Möbel waren schmale, schlichte Betten und eine Kombination aus Kommode und Schreibtisch. Die circa zehn Quadratmeter wirkten nur deshalb größer, weil auch hier Graffitis die Grenzen der Wände verschwimmen ließen und LEDs die Räume kunstvoll von allen Seiten erhellten.
Da Xandra sich mit Medizin auskannte, wurde sie auf die Krankenstation gebracht, Evrill sollte dagegen bei einem Problem in der Server-Farm behilflich sein. Er hatte ein Händchen für Technik und Computersysteme. Rowena sollte ihn dabei unterstützen. Sie wussten alle drei, was sie zu tun hatten und würden die Augen offen halten.
Die medizinische Abteilung entsprach einer herkömmlichen Arztpraxis mit einem Wartebereich und mehreren Behandlungszimmern. In einem größeren Raum standen einige Betten durch Paravents getrennt, an den Wänden lauter technische Gerätschaften, wie man sie in einem Krankenhaus oder sogar auf einer Intensivstation vermutet hätte. Der Venus-Orden schien voll ausgestattet.
Sie wurde einem groß gewachsenen Mann mit kahlrasiertem Kopf vorgestellt.
„Das ist Caruso, unser Arzt. Er wird dir alles zeigen“, erklärte Torry freundlich und ließ sie dann zurück.
Caruso war ein unkomplizierter Zeitgenosse und vermittelte ihr knapp und präzise, wo sie das Lager fand, wie die Schränke in den Untersuchungszimmern eingeräumt waren.
„Du bist auch Ärztin?“, erkundigte er sich mit tiefer Stimme, als sie zurück in den Wartebereich kamen und dort zwei Patienten vorfanden.
„Zugegeben, mein Studium ist schon eine Weile her, aber ich kann ein paar Jahrhunderte Berufserfahrung vorweisen.“
Er betrachtete sie interessiert aus klugen, dunklen Augen. „Ja, das habe ich schon gehört. Ich hoffe, du hast auch Menschen behandelt?“
„Mit unter.“
„Na, dann. Ich entscheide, um wen du dich kümmerst. Elise, unsere Krankenschwester hat heute leider ihren freien Tag, deshalb wirst du alleine zurechtkommen müssen. Wenn’s Probleme gibt, ich bin in Raum eins.“
Er stellte Xandra bei einer Frau vor, die ein weinendes Kind auf dem Schoß hatte. Die Hand des etwa sieben Jahre alten Jungen war in mehrere Mullbinden eingewickelt. Gemeinsam gingen sie in einen Behandlungsraum und Mutter und Kind setzten sich auf die obligatorische weiße Liege. Beide schienen dem neuen Gesicht im Kaninchenbau nicht übermäßig misstrauisch zu begegnen. Wechselndes Personal war eventuell nicht ungewöhnlich, aber dennoch musste sich herum gesprochen haben, dass sie eine Elevenderin war, was nicht immer zu positiven Assoziationen führte. Vielleicht hatte Syn den Bewohnern aber auch klar gemacht, dass sie von der Legion kam und somit eine Verbündete war.
Xandra wagte nicht, danach zu fragen. Stattdessen entfernte sie die durchgebluteten Verbände, während der Junge tapfer die Tränen zurückhielt.
„Klasse machst du das“, versicherte sie ihm sanft. „Schon wie ein ganz Großer.“
Der Schnitt befand sich auf der Handinnenseite, war mehrere Zentimeter lang und klaffte weit auseinander. Die Mutter berichtete, dass ihr Sohn mit einem Glas in der Hand hingefallen und sich dann an den Scherben geschnitten habe. Die Verletzung erzählte dieselbe Geschichte und Xandra prüfte zunächst Durchblutung, Motorik und Sensibilität, bevor sie die Wunde säuberte und desinfizierte.
„Willst du etwas total Cooles sehen, Noah? Wenn du möchtest, kann ich den Schnitt einfach verschwinden lassen.“ Er wie sie holten sich aber erst bei der Mutter mit einem Blick die Erlaubnis. Mit gespanntem Gesichtsausdruck willigte sie ein und beobachtete Xandra mit Argusaugen. Sie hob ihre Hand über die des Jungen, ließ ihre Gabe wirken. Wie immer dauerte es ein paar Sekunden, bevor ihre Haut zu glühen begann. Das weiche, warme Licht tauchte die Umgebung in einen sanften Schimmer und der Kleine machte einen freudigen Jauchzer.
Sie wartete darauf, dass der Schnitt ebenfalls zu leuchten begann und sich verschloss … doch nichts passierte.
Während sie weiter ihre Kräfte auf die Wunde konzentrierte, wurde sie immer verwunderter. Auch nach über einer Minute gelang es ihr nicht, die Verletzung zu heilen. Da fiel ihr ein, dass sie vor einiger Zeit versucht hatte, bei Syn einen Cut an der Stirn zu kurieren und auch bei ihm hatte es nicht geklappt. Verblüfft hörte sie auf und zog sich zurück.
„Was ist los?“, fragte Noah und auch seiner Mutter war Xandras besorgte Miene aufgefallen.
Sie bemühte sich um Unbekümmertheit. „Nichts weiter, Kleiner. Wahrscheinlich bin ich ausgelaugt und muss mich erst noch ein wenig erholen. Das heißt, wir werden den Schnitt nähen.“
Das Ganze wurde natürlich ein größerer Aufriss, denn kein Kind mochte Betäubungsspritzen oder Nadeln. Außerdem musste sie alle Utensilien zusammensuchen. Noah schlug sich wacker, dennoch gab es einige Tränen, was nicht verwunderlich war. Sie tat ihr Bestes, um ihn abzulenken, genauso wie seine Mutter, aber am Ende war sie völlig erschöpft, als sie die kleine Familie nach draußen begleitete. Der menschliche Weg war wesentlich anstrengender als der Elevender-Weg.
Nachdenklich sah sie den beiden nach, als sie die „Praxis“ verließen. Der Venus Orden barg mehr Geheimnisse, als er offen legte, so viel war sicher.
Orcus‘ Behausung glich einem Schloss im Antebellum-Stil. Das große, quadratische Gebäude war an allen Seiten von griechisch anmutenden Säulen eingerahmt und das vorkargende Gesims mündete in einem dreieckigen Dach.
Von Aurelias Zimmer aus bot sich eine hervorragende Aussicht auf die große Gartenanlage, die von kleinen Hecken und vielerlei Blumenbeeten geprägt war. Alles war kahl und mit Raureif bedeckt, aber dennoch zu identifizieren. Weiter hinten reckten sich einzelne Bäume gen Himmel, danach kamen freie Felder und in weiter Ferne zeichnete sich der Rand eines Mischwaldes ab. Bereits bei der Herfahrt hatte sie festgestellt, dass die nächsten Nachbarn weit über einen Kilometer entfernt wohnten.
Seufzend wandte sie sich ab und ging zu dem Kleiderschrank mit zierlichen, verschnörkelten Bemalung hinüber. Er fügte sich nahtlos in das barockartig eingerichtet Zimmer. Die Möbel waren alle aus dunklem Holz gefertigt worden, die Beine wie Schnecken geformt. Der mintgrüne Stoff der Polster war ebenfalls an den Wänden zu finden und beides wies ein reichhaltiges Muster aus goldenem Garn auf. Das breite Bett war ein wuchtiges Teil, dessen vier Eckpfeiler wie korkenzieherförmige Spieße bis zur Decke reichten, wo ein Maler sich mit einem Himmelsgemälde voller Putten verewigt hatte.
Sie hatte im gleichermaßen gestalteten Bad nebenan geduscht und suchte nach frischer Kleidung. Wie vom Gastgeber verspochen, war der Schrank voll davon, leider entsprach rein gar nichts Aurelias Geschmack. Sie bevorzugte einfache schwarze Kleidung, am liebsten ihre Uniform. Hier fand sie nur bunte Farben und einfach war auch nichts.
Widerstrebend griff sie sich irgendetwas – einen indigoblauen Hosenanzug. Hosen schien es zudem überhaupt nur in Stoffform zu geben. Aus purem Trotz schlüpfte sie in die Kampfstiefel, mit denen sie gekommen war und ließ die Armada feinsten italienischen Leders links liegen.
Im Flur erwartete sie bereits der Aufpasser, der ihr zugeteilt worden war. Er war ein außerordentlich großer Elevender, jedoch ziemlich schlaksig, und trug die Uniform eines hegedunischen Wachmanns. Ein Zeichen - ähnlich jenen, die sie damals auf den sechs kleinen Steinchen vorgefunden hatten - prangte links über seinem Herzen und wies ihn eindeutig als Orcus‘ Gefolgsmann aus.
„Ich will mit ihm sprechen“, forderte sie ohne Umschweife. Es war absolut nicht nötig, zu erläutern, wen sie meinte.
Er klärte das durch sein Funkgerät ab. Dann führte er sie hinab ins Erdgeschoss, wo sie schließlich das Büro erreichte, das sie in Orcus‘ Kopf schon öfter gesehen hatte. Der rote Marmorboden wurde von großen orientalischen Teppichen bedeckt, überm Kaminsims hing ein langer Spiegel und der Meister des Hauses saß an dem Schreibtischungetüm, dahinter befand sich ein Gemälde an der Wand – vielleicht ein Rubens.
„Wie lange noch?“, fragte sie sofort, nachdem die den Raum betreten und Orcus‘ Hinweis, sich auf die ausladende Ledercouch zu setzten, ignoriert hatte.
„Er wird gleich hier sein. Du hast sehr viel Glück, dass mein Onkel inzwischen ein recht verständiger Mann ist.“ Mit gönnerhafter Miene betrachtete er sein Spiegelbild.
„Dank dir natürlich.“
Der ätzende Ton in ihrer Stimme schien ihn nur zu belustigen, denn er schmunzelte auf herablassende Weise. „Sieh es doch mal so: Ich vereine unterschiedliche Wesen zu einem Organismus. Wie ein Schwarm, ein Kollektiv, eine wahre Gemeinschaft. Allein durch mich habt ihr alle eine Bestimmung. Ihr werdet Geschichte schreiben.“
„Mit Sicherheit“, erwiderte sie leise. Darauf hätte sie gern verzichtet. Lauter sagte sie: „Wenn du den Inhalt des Säckchens hast, was machst du dann damit?“ Ob er ihren Verdacht bestätigen würde?
„Darüber brauchst du dir nicht dein hübsches Köpfchen zerbrechen.“ Er winkte ab und wandte sich wieder den Unterlagen vor ihm auf dem Tisch zu. „Ich lasse dich holen, wenn er hier ist.“
Als sie sich nicht von der Stelle bewegte, sah er erneut auf. Die zusammengezogen goldenen Brauen verrieten seinen Unmut. „Sonst noch etwas?“
Diesen Moment wählte Aurelia, um sich demonstrativ auf den dick gepolsterten und mit überbordenden Ornamenten versehen Stuhl vor dem Tisch zu setzen. Ohne Informationen würde sie nicht gehen. „Ich will alles wissen.“
Seine Augen verengten sich eine Spur. „Was genau?“
„Was ist mit meinen Eltern passiert?“
Er lehnte sich in dem Ledersessel zurück und führte die Hände zusammen, verschränkte die Finger. „Diese Antwort, iubitӑ, musst du dir schon verdienen.“
Sie machte einen abschätzigen Laut. „Ich gehöre dir doch schon. Was willst du noch?“
Er beugte sich über die Arbeitsfläche und zeigte auf sie. „Es geht darum, dass du es wollen musst.“
„Was?“
„An meiner Seite zu stehen, ohne Wenn und Aber.“ Er sagte es, als wäre die Forderung doch ganz logisch.
Aurelia biss die Kiefer so fest auf einander, dass ihre Zähne vernehmlich knirschten. Ihren Hass auf ihn würde sie nie überwinden können. Sie versuchte die Vorstellung, ihn einfach hier und gleich umzulegen, abzuschütteln. Er war eine Notwendigkeit, der sie Rechnung tragen musste.
„Ich brauche dich“, räumte sie trotz der Abscheu ein. Das Wort fühlte sich wie Kotze in ihrer Kehle an.
„Nun, Beziehungen können auf brüchigerem Fundament aufgebaut sein. Dennoch fürchte ich, dass ich Beweise benötige und das braucht Zeit, nicht wahr?“
Widerstrebend nickte sie.
Sie stand auf, da es nichts mehr zu sagen gab. „Wenn Viktor hier ist, wirst du ihn freilassen. Ich meine wirklich frei. Ich will sehen, wie du dich aus ihm zurückziehst. Dann kriegst du dein Säckchen.“
Orcus berührte sein Kinn, während er abwog. Dabei erinnerte er sehr an den jungen Mann, den sie vor einer scheinbaren Ewigkeit kennen gelernt hatte. Ihm gehörten ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und ihre Zukunft. Er besaß sie ganz und gar, wie er es von Anfang an gewollt hatte.
„Ich habe verloren.“ Und er wusste, dass sie es so meinte.
Schließlich stimmte er zu und schickte sie hinaus. Er wirkte sehr zufrieden mit der Situation.
Sie war gerade dabei, die Tür zuzuziehen, als Orcus‘ Handy klingelte. Ein Blick zurück zeigte, dass er sofort abnahm, nachdem er den Anrufer auf dem Display identifiziert hatte. Auf dieses Telefonat hatte er also offensichtlich gewartet.
Aurelia schloss die Tür, entschuldigte sich bei ihrem Wachmann und bückte sich dann, um ihre Stiefel anständig zu schnüren. Unterdessen spitzte sie ihre Elevenderohren, um auch durch das Holz mithören zu können.
„Sie möchten hier her kommen?“, vernahm sie Orcus‘ erstaunte Stimme.
Offensichtlich brachte er der Person am anderen Ende Respekt entgegen, denn nachdem diese irgendwas geantwortet hatte, beeilte sich Orcus sehr, ihr zuzustimmen.
„Natürlich. Nein, das ist überhaupt kein Problem. Es wird alles bereit sein.“
Dann hörte sie lange nichts, bis ein lauter Knall, gefolgt von einem Scheppern ertönte. Vermutlich war das Handy an die Wand geflogen.
Blaise betrachtete das hübsche Antebellum-Haus durchs Fernglas. Sie war Aurelias Geruch hinaus aus Ceiling gefolgt, dann den Highway in nördliche Richtung und jetzt parkten sie hinter einem Baum auf einem Hügel etwa fünfhundert Meter entfernt von Orcus vermeintlichem Versteck.
Wenn er Aurelia denn dorthin geschickt hatte, oder sie überhaupt zu ihm gegangen war.
Keiner vor ihnen kannte diesen Ort oder konnte sich einen Reim darauf machen, was Aurelia sonst hier wollen sollte.
„Gib mir das Fernglas.“
Da Pareios vermutlich durch seine persönliche Hölle ging, reichte sie den Feldstecher widerstandlos weiter, warf Slater jedoch einen besorgten Blick zu. Er erwiderte ihn emotionslos vom Fahrersitz aus, aber inzwischen konnte sie sogar die kleinsten Nuancen in seinem Gesicht deuten. Eine Augenbraue hatte gezuckt, was wohl zu bedeuten hatte, dass auch er Pareios‘ Zustand bemerkte.
„Glaubst du wirklich, dass sie da drin ist?“, fragte der in diesem Moment.
„Ihre Spur endet dort“, erwiderte sie. „Natürlich könnte sie aber auch anders weiter transportiert worden sein. Wenn ein Teleporter im Spiel ist, kann ich nicht …“
„Da ist sie!“, rief er plötzlich aus.
Ehe sie reagieren konnte, hatte er die Hintertür der SUV aufgestoßen und war hinaus gesprungen.
Blaise sah Slater den Fluch an, der ihm auf der Zunge lag, den er aber aufgrund seiner allgemeinen Wortkargheit nicht aussprach. Er war schneller als sie, während sie dem anderen Elevender hastig folgten. Dieser pirschte sich durchs Gras und im Windschatten von ein paar blattlosen Sträuchern an das Ziel heran.
„Wir müssen erst beobachten, was da los ist!“, raunte sie beschwörend, als sie schon ein gutes Stück Weg zurückgelegt und ihn endlich erreicht hatten.
Slater griff nach Pareios Hand, doch der schüttelte ihn ab. Pareios wandte sich in gebückter Haltung um, was seine zornige Ausstrahlung keineswegs minderte.
„Wenn du es wagst mich aufzuhalten, poliere ich dir die Fresse, Slater!“
Der Angesprochene wirkte vollkommen unberührt. Er schien abzuwägen, dann schaute er Blaise an. Wenn sie zustimmte, würde er den anderen angreifen. Sie schüttelte entsetzt den Kopf. Sich jetzt in die Haare zu kriegen, würde niemandem helfen.
Da Pareios nur durch derartige Maßnahmen zu stoppen gewesen wäre, gab sie nach. Wenn er sich schon nicht aufhalten ließ, konnten sie ihm wenigstens Rückendeckung geben. Wobei Blaise sich ernsthaft fragte, was sie zu diesem Unterfangen beitragen sollte. Sie war noch nicht kampferprobt und beherrschte gerade mal die Grundlagen für den Feldeinsatz. In ihr kochte Aufregung hoch und ihr Herz begann schneller zu schlagen, während die sich immer weiter vor wagten.
Hinter einer Gruppe von kargen Immergrün-Büschen machten sie Halt und betrachteten das Anwesen noch einmal.
„Jeweils zwei Wachen am Vorder- und Hintereingang. Zwei patrouillieren um das Haus“, meldete Pareios. „Aurelia befindet sich hinten im Garten. Einer bewacht sie. Die Zeichen auf den Uniformen kenne ich. Es sind Orcus‘ Männer.“
Alarmiert schlichen sie noch näher heran, bis sie hinter einer Baumgruppe Deckung fanden. Jetzt sah Blaise die geflohene Kollegin ebenso. Sie wirkte putzmunter, trug einen indigoblauen Hosenanzug und schlendert in Begleitung eines hochgewachsenen Mannes in Uniform durch gepflegte Blumenbeete. Sie blieb stehen, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken.
Blaise vermutete, dass sie es genoss, endlich wieder im Freien zu sein.
Nachdem sie gesehen hatte, wie Aurelia Slater im Handumdrehen überwältigt hatte, konnte sie sich nicht vorstellen, was die Kollegin dort hielt. „Sie könnte sich befreien, wenn sie wollte, das weißt du.“
Pareios senkte nur entschlossen den Kopf, ohne die Elevenderin aus den Augen zu lassen, die gerade durch eine rosenumrankte Arkade in einen Ziergarten aus vielerlei Büschen weiterwanderte.
„Eine Patrouille ist gerade vorbei gekommen, das heißt jetzt oder nie.“
Bevor Slater oder sie ihn aufhalten konnten war er in den Garten geschlichen. Blaise wollte hinterher, doch Slater stoppte sie. „Wir bleiben hier.“
Er war in Sachen Strategie sicher bewanderter als sie, daher gehorchte sie und beobachtete Pareios, wie er von Busch zu Busch huschte. Nur noch ein paar Meter von Aurelia entfernt legte er sich hinter einer großen Forsythie auf die Lauer. Zum Glück war das Gestrüpp des Busches trotz der winterlichen Kahlheit dicht genug, um ihn zu verbergen.
Als Aurelias Aufpasser den Fehler machte, zu nah an den Busch zu kommen, schickte Pareios ihn mit einem einzigen gezielten Schlag zu Boden, wo er reglos liegen blieb.
Aurelia war schon herumgefahren, ehe die Auseinandersetzung zu Ende war.
„Was machst du denn hier?“, war das Einzige, das sie in ihrem maßlosen Erstaunen hervor brachte. Ihre Gabe hatte sich nicht bemerkbar gemacht. Aber warum sollte sie sie auch wegen Pareios warnen?
Sein Anblick versetzte ihr einen Stich und ihr Herz begann wie wild zu flattern. Schwer atmend starrte sie ihn an und versuchte zu begreifen, was er hier wollte, nachdem sie ihm mehr als deutlich vermittelt hatte, dass es vorbei war. In jeder Hinsicht.
Sein Gesicht zeigte vielerlei Emotionen, die sie ihm nicht verdenken konnte, allen voran Wut und Enttäuschung.
„Hast du geglaubt, dass du mich so einfach loswirst?“
Für den Bruchteil einer Sekunde wäre sie am liebsten auf ihn zu gerannt und hätte sich in seine Arme geworfen, dann kam sie wieder zu sich. Der Ärger über seine Anwesenheit gewann die Oberhand. Erzürnt verschränkte sie die Arme vor der Brust.
„Einfach habe ich es mir ja wohl nicht gerade gemacht. Ich dachte, ich hätte mich deutlich ausgedrückt.“
Ihr ablehnender Tonfall schien ihn zu verärgern und er kam einen Schritt auf sie zu. „Hast du. Aber das interessiert mich einen Dreck. Du schuldest mir eine Erklärung. Für diesen Mist …“ Er machte eine Geste, die Haus und Garten einschloss, wahrscheinlich auch Orcus an und für sich. „… und für das Kind, das du bekommst.“
Er hätte ihr auch gleich einen Kübel voll Eiswasser überkippen können. Sie erstarrte erschrocken. Xandra musste gepetzt haben, doch damit hätte sie rechnen müssen.
„Es ist nicht deins“, sagte sie wie auf Autopilot. Sie hatte eine Entscheidung getroffen. Wer nicht hören wollte, musste fühlen. „Ich habe mit Dante geschlafen, also ist es höchstwahrscheinlich von ihm.“
Jede Farbe wich aus Pareios Gesicht. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, als er schluckte. Wankend suchte er an ein paar Zweigen des Busches Halt, der die Sicht zum Haupthaus versperrte. Dennoch würden sie nicht viel Zeit haben, bevor sie Gesellschaft bekamen.
„Jetzt weißt du es und kannst gehen.“
Scheinbar unbewusst rieb er sich über die Brust, als ob er dort Schmerzen verspürte. „Dann willst du jetzt bei deiner Familie sein. Ist es das?“
Die Verachtung in seiner Stimme war kaum auszuhalten. „Das ist nicht meine Familie. Ich habe keine, außer dieses Kind. Und es wird diesen Kampf überleben.“
„Das hättest du auch anders haben können.“
„Da scheiden sich wohl die Geister“, sagte sie kalt.
„Bist du denn vollkommen überschnappt?“ Er wurde immer lauter.
Aurelia warf besorgt einen Blick über die Schulter. Noch waren sie allein im Garten.
„Nein. Ich bin endlich vollkommen klar. Dante war für mich bestimmt. Er hätte es sein sollen. Du wirst nie genügen.“ Sie hörte förmlich sein Herz brechen, nachdem sie die schneidenden Worte gesprochen hatte. Gut so, dachte sie nur.
„Was soll das? Willst du die Brücken abbrechen und alles hinter dir in Flammen aufgehen lassen?“, rief er fassungslos.
Die Formulierung belustigte sie irgendwie und sie schmunzelte freudlos. „So in etwa. Ich will, dass du loslässt. Lass los … und geh endlich.“
Pareios machte trotz allem einen weiteren Schritt auf sie zu. „Dazu musst du mich schon zwingen. Es ist mir scheißegal, was für einen gequirlten Mist du da von dir gibst. Ich kenne dich. Ich weiß, wer du bist. Und ich gehe nicht ohne dich.“ Damit griff er mit eiserner Hand nach ihrem Ellenbogen.
„Finger weg“, zischte sie wütend.
„Nein! Du hast gesagt, dass du mich liebst!“, entgegnete er seinerseits scharf. „Du hast es nicht nur ein Mal gesagt.“
„Ich war vernebelt. Ich hätte alles gesagt, was er wollte.“
Das ließ ihn endlich inne halten. „Er wollte, dass …“ Er stockte und versuchte verzweifelt, sie zu durchschauen, während er ihr in die Augen starrte.
„Genau das. Hast du’s endlich kapiert?! Du bedeutest mir nichts! Rein gar nichts.“ Sie sah auf seine Hand hinab. „Und jetzt nimm‘ deine Finger weg, bevor ich sie dir breche.“
Einen Augenblick lang wirkte es, als hätte sie gewonnen. Dann schüttelte er wild den Kopf.
„Nein. Du kommst mit. Ob du willst, oder nicht.“
Er langte mit der anderen Hand nach ihr, da meldete sich ihre Gabe lauthals. Die patrouillierende Wache näherte sich. Aurelia fluchte.
„Du dummer, dummer Idiot!“, presste sie zwischen den Zähnen hervor.
Übergangslos griff sie ihn an. Ihre Intuition war sofort zur Stelle und sie brauchte keine zwei Sekunden, um den ersten Treffer zu landen. Der Upper-Cut warf ihn nach hinten, doch er fing sich schnell.
„Ich will dir nicht wehtun, Aurelia.“
„Aber vielleicht will ich dir weh tun.“ Erneut warf sie sich auf ihn. Da sie Pareios zum Reagieren zwang, schlug er nach ihr. Sie wich aus und sprang ihn an. Er konnte gar nicht so schnell schalten, wie sie sich an einen Rücken klammerte, sich seine beiden Waffen schnappte und ihm eine an den Kopf hielt. Das unterbrach seine Versuche, sie abzuwerfen.
„Hör auf. Es ist vorbei.“ Aus den Augenwinkeln erblickte sie Blaise und Slater, die hinter der kleinen Baumgruppe am Rande des Grundstücks hervorkamen und auf sie zu liefen. Sie spürte die Wache näherkommen, eben geriet Blaise in sein Sichtfeld.
Aurelia richtete die andere Waffe auf sie und schoss.
Die kleine Elevenderin warf sich zu Boden, um dem Schuss zu entgehen. Slater hinter ihr blieb stehen und hob die Hände in die Luft, weil Aurelia bereits auf ihn zielte.
„Die beiden bleiben“, rief sie ihm zu. „Du gehst und richtest der Legion aus, dass ich sie töte, sollte ich einen von euch je wieder zu Gesicht bekommen.“
Der Wächter kam jetzt auf sie zugelaufen. Aufgeregt sprach er in sein Headset. Verstärkung war schon unterwegs.
Sie schoss noch ein Mal. Dabei durchlöcherte sie Slaters Jackenärmel. Dass er nicht einmal zuckte, nötigte ihr Respekt ab. Sie brauchte härtere Bandagen. Erneut richtete sie die Waffe auf Blaise. „Geh, oder sie ist tot.“
Er machte einen zögernden Schritt rückwärts.
„Geh“, flehte Blaise da. „Los, hau‘ ab, Vincent!“
„Ja, Vincent. Hau‘ ab“, wiederholte Aurelia. Die Dämmerung war inzwischen über sie hereingebrochen, erste Sterne glitzerten am Firmament. „Spiel‘ nicht mit dem Feuer, mein Freund.“
Slater fixierte Blaise noch einen Moment lang, dann drehte er sich um und rannte, was das Zeug hielt.
„Sie hat was?“, rief Evrill entgeistert, nachdem Xandra noch mal die ganze Geschichte berichtet hatte, die ihr eben von Ferroc überbracht worden war.
Sie befanden sich in einem der drei Gästezimmer und bevor man sie über den Anruf informiert und Xandra diesen im Konferenzraum entgegen genommen hatte, waren sie in Spekulationen über den Orden und dessen Geheimnisse versunken gewesen.
„Sie dreht vollkommen durch“, kommentierte Row Aurelias Verhalten.
„Mag sein“, räumte Xandra unschlüssig ein.
Evrill hob die Hand, um dem Vorwurf metaphorisch Einhalt zu gebieten. „Moment, Moment. Ich kann es gar nicht glauben, ihr etwa?! Ich meine, ist das wirklich alles? Hat sie sonst irgendetwas gesagt, das darauf hinweisen könnte, dass sie was Bestimmtes vorhat?“
Xandra verstand den Ansatz. „Slater ist nicht gerade von der gesprächigen Sorte. Aber wenn er sagt, er hat nichts bemerkt, das auf diese Theorie hindeutet, glaube ich ihm. Für so was hat er einen Riecher.“
„Evrill hat recht“, stimmte Rowena zu. „Vielleicht hat sie einen Plan.“
„Sie nimmt zwei unserer Leute gefangen und macht sie zu Orcus‘ Geiseln. Und das soll ein Teil eines ominösen Masterplans sein? Klingt nicht sehr wahrscheinlich.“
Evrill warf Xandra einen zornigen Blick zu. Er kannte die geflohene Elevenderin länger und hatte schon einiges mit ihr durchgemacht. Offenbar gefiel ihm Xandras Misstrauen nicht. Wobei sie es eher als Vorsicht bezeichnet hätte.
„Andererseits sind wir uns ja wohl einig, dass sie die Drei hätte töten können, wenn sie gewollt hätte. Das gibt doch zu denken, oder etwa nicht?“
„Wenn das der einzige Anhaltspunkt dafür ist, dass sie noch auf unserer Seite steht, würde ich mich nicht darauf verlassen. Sie hat Orcus höchstwahrscheinlich das Säckchen mit den Rohstoffen gebracht, sodass er jetzt weitere Steine herstellen und seine Macht ausweiten kann.“
Evrill zog die Augenbrauen weiterhin skeptisch zusammen, schwieg jedoch.
„Was wurde aus Plan B?“, warf Row ein.
„Leben in der Lage. Uns läuft die Zeit davon“, gab sie hilflos zurück. „Zumal Orcus jetzt klar sein dürfte, dass wir sein Versteck kennen. Es bleibt uns nichts andres übrig. Wir müssen eingreifen und das bald.“
Da sie nichts zu packen hatten, ging der Aufbruch schnell vonstatten. Sie suchten Syn und fanden ihn mit Torry im Speisesaal beim Abendessen.
Nachdem Xandra die Lage erklärt hatte, musste sie ihn um etwas bitten. „Ich weiß, du willst uns mit der Orcus-Sache nicht helfen, aber wir müssen handeln. Kannst du uns irgendwo außerhalb der Stadt an die Oberfläche bringen und uns vielleicht ein Auto leihen?“
„Seid ihr sicher, dass ihr das Risiko eingehen wollt? Wenn man euch sieht …“
Sie stoppte ihn mit einer Handbewegung. „Danke für deine Sorge, aber wir müssen. Es ist ein Notfall.“
Der Mensch nickte letztlich. Dann organisierte er einen Wagen und leitete sie einen gefühlt endlos langen Fußmarsch durch das unterirdische Gangsystem. Ein Schacht führte sie schließlich an die Oberfläche. Am Rande eines verlassen daliegenden Spielplatzes in einem Außenbezirk von Ceiling krochen sie durch einen Kanaldeckel, der den Zugang als Kanalisation tarnte, ins Freie. Die Sonne war bereits untergegangen und die Wohngegend glänzte eher durch Vernachlässigung als durch gepflegte Vorgärten. Türen und Fenster der meisten Gebäude waren mit Brettern verrammelt worden. Die Laternen, die die Straße säumten, waren ausgefallen. An den Hauswänden prangten Graffitis und irgendjemand hatte den Mülleimer bei einer Parkbank aus der Halterung gerissen. Er war umgekippt und der Inhalt lag verstreut drum herum.
Syn reichte ihr einen Schlüsselbund und deutete auf ein Fahrzeug, das am Straßenrand stand und mit einer Plane abgedeckt war. Dann reichte er ihr auch noch einen Rucksack. Darin fand sie Sturmhauben, Perücken und Sonnenbrillen.
„Danke.“ Sie hielt ihm die Hand hin. „Für alles.“
Er ergriff sie und erwiderte die Geste. „Keine Ursache. Ich wasche euren Namen rein. Versprochen. Es dauert nur ein wenig.“
„Wir werden sehen. Ich bin gespannt, wie du das drehen willst.“
Er schmunzelte. „Das Wie ist doch irrelevant. Was zählt, ist das Ergebnis.“
Xandra rollte die Augen. „Wenn du’s sagst. Wir melden uns.“
Das Auto war alt, aber es tat seinen Dienst zuverlässig und brachte sie nur wenig später zu den Koordinaten, die Ferroc ihnen gegeben hatte.
Das Team wartete bereits Vorort auf Beobachtungsposten. Beinahe alle Jäger von Blackridge hatten sich versammelt, um den Großangriff auf Orcus‘ Versteck durchzuführen. Dennoch waren sie nicht zu sehen, als Xandra, Evrill und Row sich näherten.
Das Aufleuchten eines Lichtes oben auf einem Hügel zeigte ihnen schließlich die genaue Lokalisation. Sie stellten den Wagen neben einem der SUVs der Legion ab.
Ihre Kollegen scharten sich um sie und bekundeten ihre Erleichterung darüber, dass es ihnen gut ging. Roman brachte sie auf den neuesten Stand, Cat und Dareon versorgten sie mit Waffen, Quentin und Slater behielten das Ziel derweil im Auge. Christian hatte sie nur mit einem Nicken begrüßt und sich nach einer kurzen Musterung von Xandra dem Beobachtungskommando angeschlossen.
Sie waren sich anscheinend einig darin, die Klärung ihrer persönlichen Differenzen auf später zu verschieben.
Fortsetzung folgt...
Texte: Aven Miles (Obwohl teilweise von realen Vorkommnissen inspiriert, ist diese Geschichte frei erfunden und stellt weder tatsächliche Personen noch wahre Begebenheiten dar.)
Bildmaterialien: Cover by Glaux
Tag der Veröffentlichung: 14.12.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für all jene, die das Leben in die eigenen Hände nehmen.