Cover

The Quorum Sensing

Wenn Carry-Ann in die Umkleidekabine kam, war sie immer die Letzte. Der Schneematsch in ihren Schuhen und die Klamotten in der Kloschüssel war sie gewohnt.

Ihre Mitschüler lachten, wenn sie in den Unterrichtspausen an ihren Comic-Figuren malte. Sie nahmen ihr die Zeichnungen weg und verhöhnten sie, aber Carry-Ann begriff nicht warum.

Der Anti-C.A.-Club ging regelmäßig zusammen essen, sie hatte keine Ahnung, was da diskutiert wurde, sie wusste nur, dass fast die ganze Klasse der Gruppe angehörte. Ständig fragte sie sich, was wohl an ihr falsch war, aber eine genaue Antwort bekam sie nicht. Vermutlich, dass sie sich nicht anpasste, nicht mit dem Strom schwamm. Also wurde sie ausgeschlossen, doch Menschen verkümmerten ohne soziale Kontakte.

Als Carry-Ann nicht mehr zur Schule gehen wollte, hatte ihre Mutter beim Klassenlehrer angerufen. Im Unterricht hatten sie daraufhin über Mobbing geredet, der Lehrer hatte sogar versucht, die Rädelsführer Mandy und Sue zu stellen. Am Ende war nichts dabei herausgekommen, die Peinigungen wurden nur schlimmer.

Seitdem hatte sie sich durch die Tage gequält und es über sich ergehen lassen.

Doch an einem grauen Montagmorgen kam ein neues Mädchen in die Klasse und weil sich der einzige freie Platz neben Carry-Ann befand, setzte der Lehrer sie dort hin. Sie verstand sich mit Lauren und lud sie zu sich ein. Zusammen verbrachten sie einen lustigen Nachmittag, spielten im Hof bei Carry zu Hause. Ihre Mutter freute sich riesig, dass sie endlich eine Freundin hatte und diese auch noch zu Besuch kam. Die nächste Woche war die schönste in ihrem Leben, aber auch Lauren geriet ins Visier der Leute, die auf Carry-Ann herumhackten.

Am Freitag sagte ihre einzige Freundin, dass sie nicht mit ihr befreundet sein könne, weil sie nicht auch gemobbt werden wollte. Carry-Ann verstand das, aber die Dunkelheit verschlang sie ein für alle mal. Sie wollte nicht mehr.

An diesem Abend, dem 14. Dezember 1999, ging Carry-Ann mit einem Vorsatz zu Bett, der sie von all dem befreien sollte.

 

 

 

Zwei Jahre später hatte sich die Lage völlig verändert. Die Anführer des Anti-C.A.-Clubs hatten die Klasse verlassen, weil sie durchgefallen waren. Carry-Ann hatte zwei beste Freundinnen und wenig später lernte sie auch ihren ersten Freund kennen, mit dem sie vier Jahre lang zusammen sein sollte. Sie verliebten sich während einer Kuppelaktion. Aus der Sache wurde nichts, aus ihnen beiden dagegen schon. Er war ziemlich beliebt und Carry-Ann wurde in seinen Freundeskreis aufgenommen. Eine ganz neue Welt eröffnete sich für sie. Sie erlebte eine ausgeflippte Jugend mit allem Drum und Dran und in dem Jahr vor ihrem Abschluss wurden ihr Freund und sie zu Schülersprechern gewählt.

Während ihres Jurastudiums lernte sie dann schließlich ihren späteren Mann kennen und er zog sogar mit ihr in eine andere Stadt, als sie endlich ihren Traumjob bekam.

 

Eines Nachts öffnete sie ihr Facebookprofil und entdeckte eine neue Freundschaftsanfrage. Sie war von Mandy. Carry brachte es nicht über sich, sie zu bestätigen, denn egal wie gut es ihr seither ging, sie trug die Erniedrigung für immer in ihrer Seele. Sie fragte sich, ob Mandy vergessen hatte, was sie ihr angetan hatte, oder ob sie nach Vergebung suchte. Das war ihr persönlich egal. Für sie war es dennoch eine Art Abschluss.

Carry lächelte, als sie auf ‚Ablehnen‘ klickte, dann stand sie auf und ging zurück ins Bett zu ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter.

 

 

 

Mandy hielt einen riesigen Lilienstrauß in ihren Händen, während sie über den knirschenden Kiesweg liefen. Man musste sie vorwärts schieben, da sie nicht hier sein wollte. Vor einem großen, neuen Grabstein kamen sie zum Stehen und legten die Blumen ab. Ihr Blick verschwamm, als sie auf die eingravierten Lettern hinunter sah.

 

 

 

 

Carry-Ann Bates 17.2.1987 - 14.12.1999

 

Epilog

Als Quorum sensing wird die Fähigkeit von Einzellern bezeichnet, über chemische Kommunikation die Zelldichte der Population messen zu können. Sie erlaubt es den Zellen einer Suspension, bestimmte Gene nur dann zu aktivieren, wenn eine bestimmte Zelldichte über- oder unterschritten wird.

An sich stammt der Begriff "Quorum" aus der Zeit des römischen Reiches und bezeichnete im Senat die für eine Abstimmung benötigte geringste Zahl an Mitgliedern.

Impressum

Texte: Aven Miles
Tag der Veröffentlichung: 03.02.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für dich, Carry-Ann, denn alles kann sich jederzeit ändern.

Nächste Seite
Seite 1 /