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Das Mädchen mit dem Pfauenfederkleid

Wie jeden Morgen erwachte Anthony Dalton durch seinen Tageslichtwecker, ein teures Hightechgerät, das Vogelgezwitscher von sich gab, während ein sanftes Licht immer heller gedreht wurde. Laute Musik oder ähnliches hätten ihn viel zu sehr aufgeregt.

Er schwang die Beine aus dem Bett, um sein Morgenritual zu vollziehen. Dafür stand er auf und machte dann sofort sein Bett. Die Kissen wurden aufgeschüttelt und minutiös auf Kante zu einander positioniert, sodass sie auf exakt derselben Höhe lagen. Nachdem er das Laken straffgezogen, die Überdecke genau im Neunzig-Grand-Winkel zur Bettkante gefaltet und auch diese dann glatt gestrichen hatte, machte er sich auf den Weg ins Badezimmer.

Exakt 90 Sekunden putzte er jede Zahnreihe gründlich, danach gurgelte er neun Mal mit Wasser und spuckte aus. Das Nassrasieren dauerte etwas länger, das konnte er nicht kontrollieren, weswegen er es nur alle drei Tage tat. Es gab ihm kein gutes Gefühl, wenn er morgens im Bad seine Neunen nicht durchziehen konnte.

Auch in der Dusche verbrachte er anderthalb Minuten mit dem schamponieren, dieselbe Zeit verwendete er auf das Ausspülen des Schaums. Sein kurzes schwarzes Haar war in 5400 Millisekunden trocken geföhnt und noch mal so lange brauchte er, um sich anzuziehen. Den schwarzen Anzug und das perfekt gebügelte, weiße Hemd hatte er zu diesem Zweck wie jeden Abend vorher bereit gelegt.

Anthony verließ sein Schlafzimmer und betrat die Küche, in der nichts herumlag und von deren Boden man hätte essen können. Die Sauberkeit war ein wichtiges Prinzip in seinem Leben, weswegen die Schränke der dunklen Zeile aus Stahl hauptsächlich mit Putz- und Scheuermittelchen vollgestellt waren.

Aus dem kleinen Kühlschrank beförderte er eine von neun Milchpackungen zu Tage, tat neunzig Gramm Müsli in eine Schüssel und füllte mit neunundneunzig Millilitern Milch auf. Zum Essen nahm er sich neun Minuten Zeit, dann spülte er die Schüssel und den Löffel ab und räumte alles an seinen angestammten Platz zurück. Nun wies nichts mehr in dem kleinen Raum darauf hin, dass er da gewesen war. Er mochte es, wenn er keine Spuren hinterließ, fühlte sich leicht, wenn er sich wie ein Geist in seinen Räumen bewegte.

Die Wohnung zu verlassen kostete ihn ein wenig Überwindung, weil die Türe sich nicht richtig abschließen ließ. Es existierte einfach kein Schloss auf dieser Welt, in dem man den Schlüssel neun Mal umdrehen konnte. Zum Ausgleich drückte er neun Mal gegen die Haustür, um sicher zu gehen, dass sie fest verschlossen war, sonst hätte er bei der Arbeit keine Ruhe gehabt.

Mit seiner Aktentasche, einem klassischen Mantel und einem Schirm bewaffnet, nahm er den Aufzug, um aus dem neunten Stock ins Erdgeschoss zu kommen. Der Portier des Vielparteienhochhauses grüßte ihn höflich und reichte ihm seine Zeitung, die er gleich im Taxi lesen würde. In der Großstadt lohnte sich kein eigenes Auto und die öffentlichen Verkehrsmittel waren ihm zu schmuddelig und zu bevölkert. Generell hatte er kein Problem mit anderen Menschen. Nur wenn sie ihm zu nahe kamen, oder ihn daran hinderten, seine Rituale zu vollziehen, wurden sie zur echten Plage. Aus diesem Grund lebte er lieber allein, so konnte alles nach seinem Willen laufen.

Seine Mutter war seit ein paar Jahren tot, seinen Vater kannte er kaum und sonst besaß er keine Verwandten. Insgesamt ein angenehmer Zustand, denn es zwang ihn keiner Rechenschaft darüber abzulegen, wie er sein Leben führte.

Im Taxi durchforstete er die Wirtschaftsnachrichten, überflog Artikel über Politik und Gesellschaft und informierte sich wie ein braver Bürger. Dieses Verhalten hatte er von seiner Mutter übernommen, genauso wie die politische Einstellung und die Religion. Eigentlich interessierte ihn das nur am Rande, aber wie hatte seine Mutter immer gesagt: „Das macht man so.“ Außerdem musste er sich auf diese Weise keine Blöße im Büro geben, wenn ein Kollege ihn auf ein aktuelles Ereignis oder Ähnliches ansprach.

 

Als das Hochhaus in Sicht kam, schaute er von seiner Zeitung auf. Die Straßen waren überfüllt mit Leuten und zuerst begriff er nicht warum. Doch ein Blick nach oben beantwortete ihm die Frage. Aus dem riesigen Turm aus sterilem Stahl und Glas stiegen Rauchschwaden auf. Dicke dunkle Wolken schwebten von der Mitte des Gebäudes aufwärts.

Als der Taxifahrer für die Löschzüge zur Seite fuhr, wurde Anthony nervös und bat den Fahrer, ihn trotzdem direkt vor dem Gebäude abzusetzen. Es dauerte eine Weile, bis sich das leuchtend gelbe Auto durch die gaffende Menge geschlängelt hatte, doch als er den vertrauten Asphalt vor seinem Bürogebäude unter den Sohlen spürte, war ihm gleich viel wohler, obwohl es brannte.

Um ihn herum wimmelte es von umherirrenden Kollegen, alle im angebrachten Business-Look, die Sekretärin seines Vorgesetzten saß am Bordstein und weinte. Er betrachtete sie einen Moment und sah dann zur schwelenden Fassade hinauf. Er konnte ihre Trauer verstehen. Das Haus war einfach wundervoll gewesen. All die genau gleich langen Abstände, die strengen, geraden Linien, dieselbe Anzahl an Fenstern auf jeder Seite. Und es hatte dreiunddreißig Stockwerke, wahrhaftige Perfektion für Anthony.

Er musste hinein gehen, fiel ihm da ein. Das tat er jeden Tag, also sollte es heute genau so laufen. Ihm war bewusst, dass er dann nicht drin bleiben konnte, aber er musste wenigstens kurz in sein Büro. Das war wichtig. Wenn zur Arbeit kam, ging er immer dort hin. Seine Beine marschierten von selbst im gewohnten Trott Richtung Eingang, er hätte sie nicht davon abhalten können. Er verspürte einen inneren Zwang, in sein Büro zu gelangen, was sollte er denn auch sonst tun?

Zügig näherte er sich den Glastüren, jemand rief etwas, aber er hörte es nicht, in Gedanken war er schon oben, da wo er sein sollte. Er war sowieso schon spät dran, was ihm auch noch einen verstimmten Magen bescherte.

Nur noch ein paar Meter brauchte er. Von hinten winkte ein Feuerwehrmann. Er ignorierte ihn und ging schneller.

Ein letzter Blick über die Schulter und….. da sah er sie.

Er blieb stehen.

 

Mitten in dem Meer an grauen Anzügen und schwarzen Kostümen stand eine Frau in einem schulterfreien, bodenlangen Ballkleid in leuchtendem Blau. Das Dekolleté war mit Pfauenfedern geschmückt, sie zogen sich schräg über den Bauch und weiter dem wallenden Rock hinunter, als ob die Federn sich auf den Boden ergießen wollten.

Die Frau war zu recht gemacht, wie für einen Gala-Abend und um dem Ganzen die Krone auf zu setzen, hielt sie ein passendes Täschchen in Händen.

Alles an ihr… störte ihn. Es regte ihn maßlos auf, um genau zu sein. Es war früher Morgen. Da trug man keine Abendgarderobe. Dies war die Zeit für gestärkte Hemden und sorgfältig gebügelte Stoffhosen in gedeckten Farben und angemessenem Schnitt.

Ihr Kleid schrie förmlich, schillerte mit all dem Glas um die Wette und der Ausschnitt war schlicht unerhört. Nirgends gab es klare Linien, das Gewand war eine Explosion der Materialien. Noch dazu trug sie an diesem zwar sonnigen, aber kühlem Novembertag keine Jacke. Was wollten sie denn damit bezwecken? Es war kalt, es machte überhaupt keinen Sinn, mit nackten Armen im Freien unterwegs zu sein. Was dachte sie sich bloß dabei? Alle anderen Menschen trugen Mäntel oder hatten wenigstens lange Ärmel.

Und dann, dann stand sie da einfach nur so und starrte das Gebäude an. Hatte sie etwa vorgehabt, in diesem Aufzug zur Arbeit zu gehen?

Sie befand sich ziemlich nah am Haus, genau wie er, und sah nach oben, nur dass ihr Blick erwartungsvoll war. Sie weinte nicht wie die Sekretärin und lief auch nicht weg, wie die anderen Mitarbeiter. Sie wirkte, als warte sie auf etwas.

Plötzlich wurde sie von einem Feuerwehrmann an den Schultern gerüttelt und dann weggezerrt und bevor Anthony weiter stürmen konnte, wurde auch er von hinten gepackt. Die Berührung ließ ihn zusammenzucken und er sprang zurück. Mühevoll unterdrückte er die Panik darüber, dass ihn jemand angefasst hatte. Sein Chef schrie ihm durch das Johlen der Sirenen zu, dass sie alle für heute nach Hause gehen sollten und während er redete, kamen noch mehr Feuerwehrmänner und trieben sie beide zurück zur Straße.

Anthony wurde immer unwohler, je weiter er sich vom Gebäude entfernte. Er war seiner Bestimmung beraubt. Er konnte nicht hingehen, wo er sein sollte. Verzweiflung machte sich in ihm breit. Es würde bestimmt irgendetwas ganz Schlimmes passieren, immer wenn etwas aus den Bahnen geriet passierten schreckliche Dinge.

Da die Mitarbeiter des Löschzuges ihn nicht mehr in die Nähe des Eingangs ließen, musste er sich schließlich zurück ziehen. Es dauerte lange, bis er wieder ein Taxi gefunden hatte, überall herrschte Flucht- und Aufbruchsstimmung, alle wollten weg.

Nur er eigentlich nicht. Es gefiel ihm überhaupt nicht, von seinen Plänen abweichen zu müssen und wieder nach Hause zu fahren, das lief alles fasch.

Er stieg ein und wollte die Türe schließen, aber jemand hielt ihn erneut auf.

Es war das Mädchen im Pfauenfederkleid.

„Fahren sie Richtung Downtown?“ Sie hatte auch noch eine unerträglich schrille Stimme, ihr ganzer Auftritt war empörend. Einen Fremden zu belästigen, empfand er als extrem aufdringlich.

Er nickte ohne sie anzusehen und hoffte, sie würde seine stille, abweisende Art als unhöflich empfinden und ihn in Ruhe lassen.

So viel Glück hatte er nicht. Diese impertinente Person drängelte sich ungefragt neben ihn, wobei er seiner Angst vor Kontakt gehorchte und vor ihr zurück wich, wodurch sie einen freien Sitzplatz bekam. Anthony drückte Tasche und Schirm an seine Brust und presste sich in die Ecke auf der anderen Seite der Rückbank. Mit ihr zusammen war es dort viel zu eng und er dachte, er bekäme zu wenig Luft. Drei im Taxi einer zu viel war, sie würde ihm den Sauerstoff weg atmen.

„Sie können doch nicht einfach…“, empörte er sich. Nicht laut, er hatte Angst vor der merkwürdigen Frau.

„Haben sie sich nicht so. Es gibt keine Taxis mehr und ich beiße schon nicht.“ Sie drückte dem Taxifahrer einen 50-Dollar-Schein in die Hand und wies ihn an loszufahren, bevor Anthony weiter protestieren konnte.

Mit zittrigen Händen schnallte er sich an und fingerte an dem Druckknopf für die automatischen Fensterheber. Luft, er brauchte Luft.

„Entschuldigung, könnten sie… die… die Fenster gehen nicht auf. Ich will, dass das Fenster geöffnet wird.“ Mit wachsender Panik zerrte er an dem kleinen Hebelchen.

„Immer mit der Ruhe, Alter“, brummelte der Taxifahrer und ließ die Scheibe auf seiner Seite des Rücksitzes herunterfahren. Anthony tat einen tiefen Atemzug und noch einen.

„Was ist denn mit dir? Bist du klaustrophobisch, oder so?“ Die Frau betrachtete ihn wie einen Außerirdischen und er hasste es, wenn die Leute das taten. Seine Beklemmung wuchs von Sekund zu Sekunde und es war ihm unmöglich zu antworten.

„Hast du in dem Gebäude gearbeitet?“

Anthony rückte die Aktentasche auf seinem Schoß gerade und strich den Mantelaufschlag glatt. Vielleicht wenn er sie ignorierte, würde er sie vergessen und konnte dann besser atmen. Dazu hätte sie aber still sein müssen.

„Da hast du ja gerade noch Mal Glück gehabt, dass du nicht drin warst, als das Feuer ausgebrochen ist.“ Sie klappte ihr kleines Täschchen auf und holte eine winzige Flasche heraus. „Willst du den Schock runterspülen? Ist mein Lieblingstropfen.“

Alkohol am frühen Morgen? Generell hatte er nichts übrig für das Gesöff, aber auch noch um diese Uhrzeit? Er schnaubte.

„Dann eben nicht. Ich trinke ihn gerne.“ Sie kippte das ganze Fläschchen in ihren Mund, ein paar Tropfen gingen daneben, liefen über ihr Kinn und fielen in ihr Dekolleté. Ein weiteres Fläschchen folgte kurz darauf dem Beispiel des ersten.

„Sie sehen verspannt aus, ich wette, sie könnten einen vertragen.“

„Ich wollte nur abreiten“, sagte er lediglich, denn er war immer noch damit beschäftigt, sich mit der Anwesenheit dieser Frau abzufinden. Sie war wie ein kreischender Papagei in seine unifarbene und angenehm ruhige Welt eingebrochen, er fühlte sich von ihrer zutraulichen Art bedroht und wollte am liebsten vor ihr fliehen. Aber sie hatte sich in sein Taxi geschummelt. Wie konnte sie sich so etwas einfach herausnehmen, das tat man doch nicht. Man benutzte ja auch nicht fremde Zahnbürsten. Er hatte das gelbe Auto zuerst Bestiegen, von Rechtswegen war es sein, also warum verschwand sie nicht, wie es sich gehörte?

„Wirklich? Gefällt es ihnen, in diesem Hochhaus in einem winzigen Schuhkarton zu sitzen?“

Das war kein Schuhkarton! Er mochte sein Büro, es sah jeden morgen so aus, wie er es zurück gelassen hatte.

„Ich sage ihnen, das könnte ich nicht!“ Sie nahm sich noch ein kleines Fläschchen. „Die vom Amt wollten mich auch in sowas stecken, aber ich hab‘ gesagt, nur über meine Leiche! Bin ich denn wahnsinnig, mich jeden Tag acht Stunden lang einsperren zu lassen? Nichts für ungut, Süßer!“ Ein weiterer Schluck und sie hatte auch dieses alkoholische Getränk geleert.

„Was für eine groteske Verschwendung an Lebenszeit. Als würde man sich später noch an ein einziges Papier erinnern.“

Wie bitte? Dinge waren in seiner Welt erst dann real, wenn man sie zu Papier gebracht hatte. Briefe, An- und Verträge mussten schriftlich eingereicht werden, um rechtsgültig zu sein.

„Es muss doch alles seine Ordnung haben“, wisperte er in dem schwachen Versuch, seine Ansichten zu verteidigen.

„Erinnerst du dich… wie heißt du noch mal?“

Er hatte seinen Namen nicht genannt und war sich auch nicht sicher, ober er ihn dieser komischen Lady anvertrauen sollte. „Anthony.“

„Also, sag mir, Anthony. Erinnerst du dich, um wen es auf dem letzten Blatt Papier ging, das du bearbeitet hast?“ Sie beugte sich neugierig herüber und Anthony wäre gern noch weiter zurück gewichen, aber da war kein Platz mehr, was ihn unwillkürlich an die prekäre Sauerstoff-Lage im Innern des kleinen Taxis erinnerte. Er drehte den Kopf zum offenen Fenster und erhaschte ein wenig Frischluft vom Fahrtwind. Das half seinem Magen, sich zu entkrampfen.

Ihre Frage zu beantworten, war ihm ein Leichtes. Er hatte ein fabelhaftes Ordnungssystem und konnte sich die Zahlen gut merken. Er räusperte sich, bevor er sich traute, zu sprechen.

„Es war die Steuererklärung 42871049379 02.“

Die Frau lachte laut. Der penetrante Klang stach ihm in die Ohren. Das mit dem Ignorieren würde auf keinen Fall funktionieren. Sie war mit ihrer Art raumgreifend und das nervte ihn auf eine Weise, die er nicht verstand.

„Ich meine wen, nicht eine Ziffernfolge. Wie war der Name?“

Er brauchte nicht zu überlegen, er wusste es nicht. Sein System richtete sich nach Zahlen, war ordentlich und logisch. Nach der 21 kam die 22 und so weiter. Das lief gut, jeder verstand es. Es ging um Steuern, die nach mathematischen Formeln errechnet wurden, was spielte es da für eine Rolle, um wessen Steuern es sich dabei handelte? Sein Job war das Ausrechnen, das tat er, das beherrschte er. Und er mochte es, speziell die Neunen. Er hatte immer gewissenhaft alles kontrolliert, er… er war gut in seinem Job und er begriff nicht was, daran falsch sein sollte.

Als er nicht reagierte, schnipste sie mit den Fingern. „Siehst du? Du hast keinen blassen Schimmer! Aber ich sag‘ dir Mal was…“ Sie beugte sich noch weiter vor. „Wenn dein letzter Tag gekommen ist und du an dein Leben zurück denkst, dann denkst du nicht an Zahlen, du denkst nicht an etwas! Du erinnerst dich an jemanden.“

Durch ihre Nähe fühlte er sich gefangen und zappelte unruhig, so würde seine Kleidung zerknittern und der Aktenkoffer drohte, von seinem Schoß zu rutschen. Die junge Frau musterte ihn kritisch und ließ sich dann in den Sitz zurück fallen.

„Mal im Ernst, das ist es doch. Wenn wir gehen, bleibt nichts zurück als ein Haufen vermodernder Knochen. Doch wenn du geliebt wurdest, dann lebst du weiter. Du bist in ihren Gedanken und Herzen, wenn dein Körper längt zu Staub zerfallen ist.

Die ganze Zeit machen wir uns Gedanken darüber was andere denken, wie man sich am besten verhält, wie man es allen recht machen kann. Ich meine, sieh‘ mich an. Heute ist ein wirklich wichtiger Tag für mich und was mache ich? Ich denke monatelang drüber nach, was ich tragen könnte.“

Sie strich mit der Hand langsam über die schimmernden Federn und fuhr die einzelnen Härchen nach.

„Seit ich klein war, wollte ich so ein Kleid. Ich dachte, es wäre wichtig für mich, aber jetzt, wo ich es anhabe ist es doch nur eine Menge Stoff. Jetzt wünschte ich mir stattdessen einen Begleiter, jemanden, der meine Hand hält.

Also, erzähl mir, Anthony, bist du in jemandes Herz? Gibt es jemanden in deinem?“

Anthony fand die Frau mehr als komisch, was er jedoch begriff, war, dass sie wohl mittlerweile betrunken sein musste. Für ihn war das, was sie tat, Zeitverschwendung. Er mochte es allein zu sein und ihm war nie die Idee gekommen, das zu ändern. Er wollte keine Leute um sich, genauso wenig wie sie in diesem Augenblick. Die Vorstellung jemand wäre in seinem Herzen, fand er zudem gruselig. Herzen konnten schlagen und Blut befördern, nicht jemanden beherbergen. Angewidert schüttelte er den Kopf.

„Das ist aber schade! Willst du keine Kinder? Das kann ich nachvollziehen. Sie sind laut und quengeln immer und im Alter allein zu sein hat schon was, keine nervigen Erbstreitereien, nicht war? Und am Ende gehen wir sowie so allein, genauso wie wir gekommen sind, stimmt’s? So kann dich auch keiner vermissen! Du hast recht, das ist ein tröstlicher Gedanke.“

Sie lehnte sich an Fenster und kontrollierte sie ihr Aussehen in ihrem Spiegelbild, dann sah sie hinaus.

„Uhh, das hier ist gut! Halten sie an, bitte!“

Der Fahrer fuhr rechts ran und sie öffnete die Tür.

„Danke, für das Gespräch Anthony! Und mach dir keine Sorgen, ab jetzt bist du in meinem Herzen und du wirst sehen, deins wird sich auch an mich erinnern.“

Damit war sie ausgestiegen und lief auf einen weiteren Wolkenkratzer zu. Es gab viele hier in Downtown und es war ein schönes Gebäude, neun Fenster in jeder Reihe.

„Hey Kumpel, die Lady hat ihre Handtasche vergessen.“ Der Taxifahrer wies auf das glitzernde Ding mit Paillettenbesatz. „Wollen sie ihr nicht hinterher?“

Anthony zog verärgert die Schultern nach oben. Das wurde ja immer schöner. Diese Frau hatte sich einfach in sein Taxi gesetzt, sich sein Territorium genommen, ihm die Luft zu Atmen gestohlen und jetzt sollte er ihr ihre Handtasche hinter her tragen?

Solche Dinge tat er normalerweise nicht und das hieß, es war nicht gut für ihn. Sonst hätte er es ja häufiger getan. Die Logik war bezwingend, dachte er, aber dann fiel ihm ein, dass die Tasche auf dem Rücksitz neben ihm ein genauso blinkender Farbfleck war wie sie. Eine Hinterlassenschaft dieser aufdringlichen Frau, um ihn auch noch in ihrer Abwesenheit zu verhöhnen.

Nein, zumindest das würde er sich nicht gefallen lassen.

 

Er griff nach dem Abendtäschchen, seinen Schirm und die Aktentasche in der anderen Hand. „Warten sie hier“, sagte er zu dem Taxifahrer, dann folgte er dem blauen Kleid ins Gebäude.

Er sah, wie sie in den Aufzug stieg, aber er konnte sie nicht rechtzeitig erreichen, bevor sich die elektronischen Türen schlossen. Unter der Anzeige beobachtete er, wie die Zahlen nach einander aufleuchteten und anzeigten, in welchem Stockwerk sich die Kabine gerade befand. Auf die Nummern zu starren gab ihm etwas Vertrautes in der ungewohnten und deshalb verstörenden Umgebung.

Die letzte Zahl in der Reihe leuchtete länger auf, als alle anderen und als der Aufzug zurück kam, nahm er ihn, um ihr ins oberste Stockwerk zu folgen. Dort angekommen, stellte er fest, dass er sich bereits auf dem Dach befand und als er ausstieg und sich umsah, wurde ihm klar, dass das hier die Dachterrasse war.

Suchend drehte er den Kopf, hielt Ausschau nach der merkwürdigen Lady.

Als er sie schließlich entdeckte, war seine Geduld schon gefährlich strapaziert und er wollte nur noch die Tasche los werden und dann in sein geordnetes Dasein zurück kehren.

Sie bemerkte ihn nicht, da sie sich räkelte und das Gesicht in die Sonne hielt. Sie strich erneut über ihr Kleid und schien die schillernden Farben im Licht zu begutachten.

 

Dann stieg sie auf die hüfthohe Begrenzungsmauer, holte Schwung und sprang.

Als sie sich in der Luft befand, breitete sie die Arme weit aus, der Rock flatterte, die Pfauenfedern raschelten im Wind. Einen Augenblick lang sah es aus, als könnte sie sich in eben diesen prächtigen Vogel verwandeln und der Sonne entgegenfliegen.

Aber dann griff die Schwerkraft mit ihren unnachgiebigen Klauen nach ihr und sie stürzte ab, fiel vom Himmel wie ein Stein.

 

Als ihm klar wurde, was das Mädchen mit dem Pfauenfeder Kleid getan hatte, musste er an ihre Worte im Taxi denken und ihr unwillkürlich widersprechen. Sie hatte sich geirrt.

Er blieb nur mit ihrer Handtasche zurück.

 

 

 

- Ende -

Impressum

Texte: Aven Miles
Bildmaterialien: http://www.fotocommunity.de/search?q=Pfauenfedern&index=fotos&options=YToxOntzOjU6InN0YXJ0IjtzOjI6IjQwIjt9&pos=40&display=31729024
Tag der Veröffentlichung: 08.01.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für das Mädchen mit dem Pfauenfederkleid

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