"Die Strafe dessen, der sich sucht,
ist, daß er sich findet."
Nicolás Gómez Dávila
„Gib‘ mir mal Feuer, Alter!“, kicherte Aron neben ihm auf dem Beifahrersitz.
Martin genehmigte sich einen tiefen Zug, dann reichte er die Kippe weiter. Ein großer Schluck eiskaltes Bier spülte den scharfen Geschmack im Mund optimal weg. Er seufzte zufrieden und ließ sich tiefer ins Leder sinken.
Jemand hatte in der untergehenden Sonne ein Lagerfeuer angezündet, Bierfässer waren heran geschafft worden und jetzt brüllte einer: „Mach‘ lauter, Mann!“
Lässig drehte er die Anlage seiner Karre, ein aufgemotzter, mattschwarzer Mazda M3, sein ganzer Stolz, noch ein wenig auf. Schwere Rap-Rhythmen drangen aus den offenen Türen des Wagens und beschallten die gesamte Wiese vor dem Badesee, auf der nicht nur sein Auto, sondern auch einige Andere seiner Klassenkameraden standen.
Ein paar Leute waren bei dem bekannten Lied aufgesprungen und tanzten ausgelassen über das von der Sommerhitze ausgetrocknete Gras. Im Takt reckten sie die Arme zum wolkenlosen Himmel oder wirbelten durch die laue Abendluft.
Ein paar Meter weiter, umrandet von einigen Bäumen und Sträuchern, lag der See. Auf der glatten Oberfläche spiegelte sich die untergehende Sonne und tauchte das Wasser in flammendes Orangerot. Sein Kumpel Scott scheuchte gerade ein paar Mädchen ins kühle Nass, zwei weitere Freunde folgten lauthals lachend und schon ziemlich angetrunken.
Martin grinste gelöst in sich hinein und beglückwünschte sich zu der Idee, den Schulabschlussball an diesem Ort gebührend ausklingen zu lassen.
Es war ein heißer Tag gewesen und nach der förmlichen Veranstaltung des frühen Abends war das hier genau das Richtige. Nur das Hemd hatte er anbehalten, allerdings hatte er es aufgeknöpft und mit bequemen Shorts kombiniert. Sein Anzug lag jetzt zerknüllt im Kofferraum, das Abschluss-Zeugnis direkt darunter, einer der besten Anlässe für eine Party, wie er fand. Schließlich hatte ihn Daddy von klein auf dazu getrimmt, etwas aus sich zu machen, wenn er nicht enden wollte wie seine Eltern, die für immer in ihren kleinen miesen Jobs am Band feststecken würden. Führungspositionen waren rar gesät und in seiner Generation zählte einzig und allein Leistung.
Umso wertvoller waren die Gelegenheiten zum Feiern. Mit der festen Absicht, jeden Moment auszukosten, schob er sich seine Fliegersonnenbrille auf die Nase, legte die Beine hoch und drehte das Gesicht den letzten Sonnenstrahlen entgegen. Zu seiner Rechten zappelte sein Freund auf dem Sitz herum, eine jungfräuliche Zigarette zwischen den Lippen, die Glimmende von Martin in der Hand. Aron hatte so seine Schwierigkeiten, die Eine mit der glühenden Spitze der Anderen zu treffen, doch schließlich gelang es ihm nach mehreren Fehlversuchen.
Martin schnappte sich den Zigarettenstummel, bevor der zwischen Arons Fingern verwaiste, dann ließ er den Blick über die Köpfe der Leute schweifen, mit denen er die letzten acht Jahre zur Schule gegangen war.
Sein persönliches Reich… er hatte es sich nicht selbst ausgesucht. Es war einfach so gekommen, da er beliebt und sportlich war, vielleicht auch ein wenig oberflächlich, aber vor allem Eines: Voll und ganz von sich überzeugt.
Jeder seiner Mitschüler kannte ihn und redete über ihn. Sein Aussehen verschaffte ihm Aufmerksamkeit, mit der er umzugehen wusste. Die Mädels rissen sich um ihn, während sich die Kerle in seinem Abglanz sonnten, es war alles viel zu einfach.
Sein träumerisches Grinsen wurde noch breiter, als er Pete erblickte, dem er eine seiner Verflossenen vermittelt hatte. Die beiden saßen am Feuer, Beth redete und warf dabei die blonde Mähne zurück, wobei Pete wie ein hypnotisiertes Kaninchen unentwegt auf ihren Vorbau glotzte. Martin schüttelte den Kopf. Seinem Kumpel war einfach nicht zu helfen, er hatte es ihm schon tausend Mal eingebläut.
„Augen immer aufs Ziel, Kumpel“, tippte er in sein Smartphone und versandte die Nachricht.
Pete zog seines kurz darauf aus der Hosentasche und nachdem er gelesen hatte, schaute er sich verwirrt um. Als sich ihre Blicke trafen, schob Martin seine Brille etwas tiefer, sodass sie sich in die Augen sehen konnten. Er hob eine Braue und sein Freund verstand ziemlich schnell. Daraufhin wandte der sich wieder Beth zu, jetzt bemüht, nicht erneut in ihr üppiges Dekolleté abzuschweifen.
Und was für ein Dekolleté, erinnerte sich Martin fröhlich.
Ja, Beth war heiß, aber nicht so heiß, wie seine aktuelle Nummer Eins auf der Kurzwahlliste. Leider war es bei ihr nicht ganz so einfach, sie um diese Uhrzeit irgendwohin zu kriegen. Sie war zwei Jahre jünger und stammte aus gutem Haus, was hieß, dass sie nicht gerade viel Auslauf bekam. Dieser Umstand machte vielleicht einen Teil des Reizes aus.
Sie war nicht immer verfügbar und zu zurückhaltend, um sich ihm an den Hals zu werfen, wie es so viele Andere taten. Außerdem hatte sie etwas Zartes und Unberührtes an sich, was sie wahrscheinlich auch war. Denn ihn ließ sie, bis jetzt zumindest, nicht ran, egal wie sehr er sich abmühte.
Er biss sich auf die Lippen, während er an das dichte, rotblonde Haar und den rosigen Mund dachte. Scheiße, was hätte er nicht gern alles damit angestellt.
Neben ihm knackte eine Verschlusskappe. Aron öffnete den Chivas, ein Geschenk von seinem alten Herren, und sie teilten sich gut ein Viertel der Flasche, wobei sein Kumpel eine Kippe nach der anderen rauchte. Der süße Geschmack machte das Getränk gefährlich, schon bald hingen Martins Lider auf Halbmast.
Er musste hier raus, bevor er zu voll für diese Party wurde. Entschlossen schwang er die Beine aus dem Wagen.
„Ey, Alter! Willst du mich hier etwa alleine trinken lassen?! Ich kann nicht versprechen, dass noch was von dem edlen Zeug da ist, wenn du wieder kommst“, empörte sich Aron breit grinsend. „Ich meine, kein Problem, mehr für mich. Aber du verpasst was!“
Er klopfte seinem besten Freund auf die Schulter. „Ich schicke dir Ersatz, versprochen.“
Auf dem Weg zum nächsten Bierfass lief er Scott in die Arme.
„Na Keule, wo hast du deine Flamme gelassen?“, erkundigte sich der, als er ihnen beiden Bier ausschenkte.
„Keine Ahnung, ob sie kommt. Danke.“ Er nahm den randvollen Becher entgegen und schlürfte etwas von dem Schaum ab.
„Falls nicht…“ Scott grinste anzüglich, während er seinen eigenen füllte und zum Ufer nickte. „Da findest du bestimmt Eine, die dich tröstet.“
„Mal sehen. Die Nacht ist noch jung.“
Sie prosteten sich zu und er setzte zum Trinken an. Dann hielt er plötzlich inne.
Er hatte sie nur aus den Augenwinkeln wahrgenommen, aber er kannte das bunt gemusterte Sommerkleid und die schillernden Farben des Haarschopfes.
Tatsächlich, da stand sie. Nicht weit vom Feuer entfernt. Sie sah sich um und hatte beide Arme vor dem Brustkorb verschränkt. Dabei wirkte sie auf den ersten Blick selbstsicher. Nur dass sie ihre Hände unter den Armen knetete, verriet, dass sie sich inmitten der vielen älteren Leute wohl etwas verloren fühlte. Ihre wachen, grünen Augen suchten in den verschiedenen Grüppchen nach etwas… oder jemandem.
„Ich glaube, das hat sich erledigt!“, murmelte er schon halb abwesend und fixierte die Erscheinung mit seinem Blick. Scott folgte diesem und entdeckte sie ebenfalls.
„Gibt’s ja, nicht, wie hat es Rapunzel denn aus dem Turm geschafft?“
Martin zuckte nur mit den Schultern, während sich Vorfreude in ihm breit machte. Besser hätte der Abend gar nicht laufen können. „Du entschuldigst mich bestimmt!“, sagte er dann mit rauer Stimme und nahm Scott dessen Becher aus der Hand. „Übrigens, Aron sucht dich. Er sitzt in meinem Auto.“
Damit wandte er sich ab und stapfte quer durchs Gras auf das einzige Mädchen zu, für das er im Moment Augen hatte.
Bald bemerkte sie ihn und ein scheues Lächeln zeigte sich auf ihren viel zu verführerischen Lippen. Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr und ließ die Arme sinken.
„Hey. Bombe, dass du kommen konntest.“ Er beugte sich vor und nahm sie kurz in einen Arm. Das hätte er eigentlich gerne ausgiebiger getan, aber er hatte immer noch die Getränke in den Händen. Gentlemanlike reichte er eins davon weiter und stieß mit ihr an.
„Auf dich. Du siehst wirklich scharf aus“, raunte er und nippte an dem kühlen Gebräu, wobei er sie über den Becherrand hinweg nicht aus den Augen ließ. Sie hielt den Blick, während sie ebenfalls einen zaghaften Schluck nahm und versuchte, ein aufkommendes Erröten zu verbergen. Einfach zum anbeißen, dachte er bei sich.
„Wie hast du es geschafft, zu Hause raus zu kommen?“
Jetzt war sie es, die breit grinste. „Das Spalier an der Hauswand hält mich noch aus…. Ähm und Glückwunsch zum Abschluss.“ Die Stimme mit der kratzigen Note gefiel ihm, genauso wie ihre Sommersprossen, die sich über den zierlichen Nasenrücken und die Wangen erstreckten.
„Haben deine Freunde alle bestanden?“
„Schätze schon“, erwiderte er. „Bis auf Aron vielleicht, der war in Englisch ziemlich breit, wenn ich mich richtig erinnere. Ahh nein, warte, ich glaube er war sogar besser als ich…“ Ihr schönes Lachen ertönte. „Hast du vielleicht Hunger? Ich glaube, die Irren da drüben fangen gerade an zu grillen.“ Martin wies mit dem Daumen über die Schulter in Richtung Lagerfeuer.
Sie schüttelte den Kopf, stattdessen sah sie zum Wasser hinunter. Das ließ er sich nicht zwei Mal sagen und legte den Arm um sie, während sie sich auf den Weg zum Seeufer machten.
Zuerst wurde das Gras unter ihren Füßen glitschig, dann bohrten sich ihre nackten Zehen in morastigen Untergrund. Er blieb am Ufer stehen, aber sie löste sich von ihm, raffte den bodenlangen Stoff um die Knie und tapste auf die sanft am Ufer leckenden Wellen zu. Sie watete ein paar Schritte hinein, drehte sich lächelnd. Dabei versprühte sie diesen unerfahrenen, aber gefährlich betörenden Charme und auch eine gewisse unschuldige Naivität. Eine Kombination, die ihn immer wieder in ihren Bann zog. Gefangen von dem Anblick folgte er ihr. Das Seewasser war warm, nachdem es sich den ganzen Tag über durch die Sonne aufgeheizt hatte.
Als er neben ihr stand, sahen sie eine Weile dem untergehenden Feuerball entgegen und tranken ihr Bier, bis sie schließlich fragte: „Und was hast du jetzt vor? Studieren, oder so?“
„Keine Ahnung. Ich hab‘ noch nicht darüber nachgedacht und heute Abend will ich eigentlich auch nicht damit anfangen. Mein Dad plant schon für Zwei. Meine Bewerbung für Princeton hatte er bereits fertig, als ich gerade laufen konnte. Für mich kommt jetzt erst Mal der Sommer, Freiheit, Leben….“
Sie stupste ihn neckend gegen die Brust. „Du willst mich neidisch machen. Das ist aber nicht nett…“
Er umfing sie mit einem Arm, um sie an sich zu ziehen. „Wir haben alle frei. Wer sagt denn, dass ich dich nicht dabei haben will?“
Und wie er das wollte, merkwürdiger Weise.
Er war kein Aufreißer, das hatte er nicht nötig, aber bisher hatte ihn keines der vielen Mädchen so gefesselt wie dieses hier. Und das, obwohl er noch nicht einmal etwas mit ihr gehabt hatte, kein Kuss, kein Garnichts. Doch heute Abend schien ihm ein gebührender Anlass, dies zu ändern.
Er neigte sich zu ihr herunter, sie war bestimmt anderthalb Köpfe kleiner als er, und sah ihr in die Augen. Wieder Mal wunderte er sich über das ungewöhnlich helle Grün, so leuchtend, dass er es höchstens mit den Polarlichtern vergleichen konnte, die er auf Bildern im Internet gesehen hatte. Sie lächelte verschmitzt, aber bevor er ihrem Gesicht zu nahe kommen konnte, wand sie sich geschickt aus seiner Umarmung. Wie eine rothaarige Fee tanzte sie durch die seichten Wellen und als sie sich zur Oberfläche herab beugte, ließ sie das Kleid los. Der Saum fiel wallend ins Wasser und bauschte sich oberhalb des Randes, der sich mit Nässe voll sog.
Zuerst kapierte er nicht, warum sie das tat, doch dann bekam er eine ordentliche Ladung Wasser ab.
Martin blinzelte erstaunt und während ihm die Tropfen das Gesicht hinunter liefen, von seinem Kinn fielen, stand er einen Moment lang da wie ein begossener Pudel. Damit hatte er zwar nicht gerechnet, sie war sonst eher reserviert, jedoch hatte er schon geahnt, dass noch mehr unter dem Puppengesicht und dem distinguierten Gehabe schlummerte.
Schließlich überwand er den ersten Schock und grinste. Der Becher flog über seine Schulter davon und schon stürzte er sich mit Gejohle auf seine Herausforderin. Da diese mit ihrem Kleid im Wasser nicht sonderlich flott vorankam, rettete sie sich nach ein paar Metern ans Ufer und rannte los.
Martin joggte an ihr vorbei, als sie schon fast die Menge rund ums Lagerfeuer erreicht hatte. In seiner Ausgelassenheit wandte er sich um und packte sie unter den Achseln, um sie mit ihrem gemeinsamen Schwung herum zu wirbeln. Er drehte ein paar Runden, ihre Beine schwangen weit aus, der Becher wurde davon katapultiert. Bier spritzte und sie lachte ausgelassen. Einige weibliche Zuschauerinnen wichen ihnen und dem Alkoholschauer konsterniert aus, andere warfen seinem Mädchen neidische Blicke zu. Früher hätte er sich die eifersüchtigen Gesichter genauer angesehen, hätte seine Befriedigung daraus gezogen, oder sie sich gemerkt, um sie vielleicht später klar zu machen.
Heute jedoch ließ ihn all das kalt. Das Einzige, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog, war das zarte Wesen, das Martin jetzt an sich drückte und dann langsam zu Boden gleiten ließ. Eine äußerst erotische Bewegung, wie er selbstsüchtiger Weise eingestehen musste. Ob sie auch dieses Knistern in der Luft und das erregende Prickeln auf der Haut fühlte?
Auch wenn sie ihm vorher entwischt war, er konnte nicht widerstehen, sich abermals zu ihr herunter zu beugen. Jetzt, da sie sich so nah waren, ihre Arme auf seinen Schultern lagen und er sie am ganzen Körper spüren konnte.
Das breite Lächeln in ihrem Gesicht verschwand. Übrig blieben leicht geöffneten Lippen, über die sie kurz leckte. Ihre Katzenaugen wurden groß, weil er die rosa Zunge fixierte und immer näher kam. Als wäre sie zu einer abschließenden Deutung seiner Gesten gekommen, huschte ein fiebriger Ausdruck über die feinen Gesichtszüge und während er ihr eine Strähne aus der Stirn strich, klappte sie eilig die Lider nach unten. Vorsichtig neigte sie sich ihm entgegen.
Martin konnte es nicht fassen, dass es jetzt gleich so weit sein sollte. Sein Atem ging stoßweise, er fing ihren süßen Duft ein, der ihm sogleich in den Kopf stieg. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen und ein nie gekannter Hunger bemächtigte sich seines Verstandes.
Er hatte sich nach ihren Lippen, ihrem Körper, allem an ihr gesehnt. Aber das, was er jetzt verspürte, übertraf alles, was er jemals gefühlt hatte. Er hätte sie hier und gleich mit Haut und Haaren verschlingen können. Jedoch war ihm klar, dass er sie damit wahrscheinlich überfordern würde. Dieser Gedanke ließ ihn stutzen und zügelte seine Libido besser als ein hereinplatzendes Elternteil.
Also nahm er sich selbst an die Leine und legte ihr eine Hand unters Kinn, wobei er die letzten Zentimeter überwand. Nun schloss auch Martin die Augen, er wusste es würde gut werden. Besser als alles, was er bisher gekannt und zu wissen geglaubt hatte.
Trotzdem war er überrascht, als sich ihre Lippen schließlich berührten.
Das Zirpen der Grillen und die Rufe der Vögel, sowie die Stimmen der Leute, ja sogar die laute Musik um sie herum verschwanden. Nichts davon drang mehr zu ihm durch. Ihre weichen Lippen schmiegten sich an seine und ihr Geschmack gelangte auf seine Zunge. Er breitete sich rasend schnell in seinem Mund aus, nein, nicht nur in seinem Mund! Er drang ihm in die Lungen, ins Blut, von da aus ins Herz und weiter in jede Zelle. Martin erspürte mit den Geschmacksknospen Erdbeeren und Sahne, roch Vanille und Biskuit. Für einen Sekundenbruchteil flackerte ein Bild in seinem Geist auf.
Eine wohlige Erinnerung, die ihr Geruch heraufbeschworen hatte – Erdbeerkuchen, lange Wochenenden, sonnige Sommertage. Einen Augenblick lang empfand er diesen tiefen Frieden, den man nur als kleines Kind erfuhr, wenn einen die Eltern abends zudeckten, in die Schränke und unters Bett schauten und man tatsächlich glaubte, sie könnten alles Schlechte von einem fernhalten.
Die damit verbundene Geborgenheit durchflutete Martin und er zog seine Elfe noch näher heran. Die Sinneseindrücke verstärkten sich nur und machten ihn zu einem willenlosen Süchtigen. Er ließ sich ganz in den Strudel der Verzückung sinken und da kam ihm plötzlich ein verschrobener Gedanke: Nun gab es kein Zurück mehr.
Gerade als er glaubte, der Rausch, ausgelöst von ihren Lippen, könne nicht mehr atemberaubender werden, da fiel ihm auf, dass er tatsächlich keine Luft bekam. Ein Umstand, den er zunächst billigend in Kauf nahm. Keine zehn Pferde, nicht mal eine Naturkatastrophe hätte ihn dazu gebracht, diesen absolut denkwürdigen Kuss zu unterbrechen.
Ohne Vorwarnung ereilte ihn ein merkwürdiger Ansturm. Es fühlte sich an, als wollte sich sein Körper aufbäumen, als ob seine gesamte Muskulatur kurz vor einem Krampfanfall stand, allerdings blieb er reglos an Ort und Stelle. Die Furcht, sich von ihren Lippen zu lösen, dominierte seine körperliche Reaktion. Er wollte einfach nur mehr, immer mehr!
Schließlich kam der Anfall. Martin begann sich zu winden, bewegte sich aber doch nicht vom Fleck, rührte sich keinen Zentimeter. Das Brennen in seinen Lungen und dass sein Herz mehrfach stolperte, waberte nur schwach durch seinen Hinterkopf. All das konnte ihn nicht genug ablenken. Er wollte nur immer mehr von ihrer Süße und hoffte noch, sie würde die spastischen Zuckungen nicht bemerken, die seinen Körper schüttelten. So glaubte er zumindest.
Überraschend gaben seine Beine nach und er fiel zu Boden wie ein nasser Sack, diesmal tatsächlich. So löste er sich schließlich doch von seinem Mädchen. Er landete im Gras und sah hoch in ihr entsetztes Gesicht. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie sich einige seiner ehemaligen Klassenkameraden um sie beide scharten.
Stotternd kam sein Herz zum Stillstand. Das Fehlen des steten Pochens ließ ihn kurz stutzen, aber es gab ja so viel Wichtigeres. Zarte, rosige Lippen zum Beispiel. Als der Sauerstoff knapp wurde, war ihm vage bewusst, dass er gleich den Löffel abgeben würde, doch das Gesicht seines Rotschopfes sah so erschrocken aus. Alles, was er wollte, war sie glücklich zu sehen und… sie vielleicht noch ein Mal zu küssen.
Also lächelte er sie an, während er dahin schied und fragte sich gleichzeitig, ob er wohl wie ein verträumter Volltrottel aussehen mochte.
Beschissen, dass er so jung sterben musste, dachten ein paar besonders langlebige Hirnzellen, aber sein stillstehendes Herz jauchzte trotzdem voller Euphorie. Sein sterbender Körper bebte ein letztes Mal. Vor Freude.
Mann, was für ein Kuss!
Dann ging es zu Ende.
Cat schaltete den Staubsauger ab, rollte das Kabel ein und stellte ihn an die Wand. Mit Lappen und Polierspray bewaffnet rückte sie den hübsch lackierten Armstützen von aberhundert Sesseln zu Leibe. Ihre geübten Finger trugen das Pflegemittel auf und arbeiteten es sanft mit dem Tuch ein. Zwar mochte sie den Geruch nicht, jedoch war sie jedes Mal wieder erstaunt, wie sich das Zeug durch gemächliches Wischen von trüb zu klar veränderte und sich quasi in Luft auflöste. Gleich einem Zauber, der keiner war.
Physikalisch erklärbar, kein unlösbares Geheimnis und das gefiel ihr noch mehr. Regelmäßig polierte sie hunderte von Armstützen, staubte Kronleuchter und Kerzenlüster ab, saugte endlose Quadratmeter an rotem Samtteppich. Entgegen ihrer anfänglichen Erwartung gefiel ihr der Job wirklich. Und das nicht nur, weil es eigentlich der erste war, den sie länger als ein paar Monate behalten hatte.
Die gleichbleibende Arbeit war beruhigend. Das Opernhaus, in dem sie nun beinahe vier Jahre lang putzte, hatte sich seither kaum verändert. Unverwüstlich stand es schon fast ein halbes Jahrhundert an Ort und Stelle, umgeben von einem kleinen gepflegten Park, aber trotzdem unweit vom Stadtzentrum entfernt. So verlässlich, so sicher.
Von dem bescheidenen Lohn konnte sie die Miete ihrer Wohnung bezahlen, auch wenn die sich in einem eher heruntergekommenen Viertel befand. Sie konnte sich genug zu essen und hin und wieder ein paar Freizeitaktivitäten leisten, nichts Großes. Aber für sie war es schon ein enormer Fortschritt. Ihr Kapital war ohnehin das Netzwerk an Freunden und Bekannten, das sie sich in der Zeit ihrer Freiheit aufgebaut hatte.
„Cat? Wir wollen Feierabend machen, bist du fertig?“ Sam steckte den Kopf durch den Spalt in der großen zweiflügeligen Eichentür. Sie hatte einen albernen Partyhut auf, der mit ihren Wangen in Lila- und Rottönen um die Wette schillerte. In der einen Hand hielt sie eine halb geleerte Pikkoloflasche.
Mit bedauernder Miene schüttelte Cat den Kopf. „Nein, tut mir Leid. Ich brauche wahrscheinlich noch eine halbe Stunde.“
Sam schnalzte ärgerlich mit der Zunge und hob den Zeigefinger. „Ich habe doch vorhin extra gesagt, dass du dich heute beeilen sollst, weil wir noch feiern gehen wollen. Du brauchst immer länger, als alle anderen und gehst als Letzte, nur heute hatte ich dich gebeten, ein bisschen schneller zu machen.“
Der vorwurfsvolle Ton wurde von dem besorgten Blick aus sanften braunen Augen abgemildert. Sam war nur ein wenig älter als Cat, doch sie kümmerte sich um ihre Angestellten, die allesamt weiblich, aber verschiedensten Alters waren. Die Jüngeren sowie die Älteren bemutterte sie, wenn sie es für nötig hielt. Dabei hatte sie grundsätzlich nichts dagegen, dass Cat sich bei der Arbeit Zeit ließ. Ihre Chefin vertraute ihr und überließ ihr das Abschließen, wenn sie als Letzte mitten in der Nacht nach Hause ging.
Doch gefiel es Sam nicht, dass Cat somit ihre Nachmittage, Abende und Nächte damit verbrachte, buntbemalten Stuck abzustauben und den Müll der Zuschauer einzusammeln. Für ein Mädchen in Cats Alter hatte sie andere Vorstellungen. Wie zum Beispiel, einen oder mehrere Kerle kennen zu lernen, jugendlichen Leichtsinn auszuleben und hin und wieder deswegen früher von der Arbeit zu verschwinden.
Cat hatte sich nicht bemüht, der gutmütigen Frau zu erklären, dass das in ihrem Fall niemals funktionieren würde. Es hatte keinen Sinn, sie würde ihr sowieso nicht glauben. Keiner hatte das getan.
Stattdessen zog sie jetzt nur entschuldigend die Schultern hoch. „Ich weiß, tut mir Leid. Aber ich mache dir einen Vorschlag. Zu Ehren deines Geburtstages lege ich noch einen Zahn zu und komme dann nach. Ihr könnt ja schon mal losziehen.“
Sam zögerte kurz und rümpfte dabei nachdenklich die Nase. „Na gut. Aber beeil‘ dich. Wir warten bei Fiorentino, die haben heute Cocktailabend.“ Schon beim letzten Teil des Satzes war ihre ungetrübte Laune zurückgekehrt. Sie kicherte leicht angetrunken. „Und extrem extrem süße Kellner.“
Cat nickte lächelnd, aber ihre Chefin verabschiedete sich erst, nachdem sie ihr das Versprechen abgenommen hatte, auf jeden Fall noch vorbei zu kommen. Sie wussten beide, dass das nicht nötig war. Cat liebte es, auszugehen, Leute um sich herum zu haben. Alles war besser, als allein zu Hause zu sitzen. Da war viel zu viel Raum für schlechte Erinnerungen.
Nachdem sie gehört hatte, wie die gackernde Meute sich durch die Eingangshalle bewegte und schließlich durch die großen, gläsernen Drehtüren abzog, legte Cat den Turbogang ein. Eigentlich war sie weder langsam, noch trödelte sie unabsichtlich herum. Schon vom ersten Tag an hatte sie aus reiner Berechnung gehandelt. Denn wenn sie so tat, als sei sie eben lahm, blieben ihr jede Nacht ein paar Stunden, in denen sie zuerst in Windeseile ihre Pflichten erledigte und sich dann im großen Vorführungssaal einschloss.
Auch heute zitterten ihre Finger vor Freude, als sie den aus Messing gefertigten Riegel vorschob und sich zur Bühne umdrehte. Von ihrem Standpunkt aus musste sie die Treppen hinuntergehen, um die gut ausgeleuchtete Fläche zu erreichen. Zunächst blieb sie jedoch am obersten Treppenabsatz stehen und schaute hinab auf ihre Zufluchtsstätte.
Der kleine Hocker hinter dem riesigen, schwarzglänzenden Flügel gab ihr ein ganz besonderes Gefühl. Als ob alles möglich wäre. Einen kurzen Augenblick betrachtete sie das Instrument, das seitlich auf der Bühne platziert war und freute sich darüber, dass es wie jeden Abend auf sie wartete. Es reagierte auf sie genau gleich, wie auf jeden Anderen, der mit den Fingern über das weiße Elfenbein streifte. Eine Taste brachte immer denselben Ton hervor, egal wie oft man sie anschlug.
Von der anmutigen Eleganz des schwarzen Holzes angezogen, glitten Cats Füße die mit weichem Teppich bedeckten Stufen hinunter. Lautlosen Schrittes schlängelte sie sich durch die anderen Instrumente des Orchesters, das allabendlich im großen Konzertsaal auftrat. Zur Zeit spielten die Musiker eine Zusammenstellung der Werke von Bach, viel Romantik.
Meist kam Cat auch ein wenig früher, denn im Pausenraum der Putzkräfte konnte man die Töne von den Aufführungen immer noch vernehmen und den atemberaubenden Melodien folgen. Sie mochte Musik im Allgemeinen, aber klassische Stücke waren ihr am liebsten. Die Verflechtung der vielen Instrumente und Tonlagen zu vollkommenen Klangerlebnissen faszinierte und fesselte sie.
Vorsichtig ließ sie sich auf das weiche Polster des Klavierstuhls sinken. Erst nach einem Moment der Andacht hob sie die Hände und strich mit den Fingern zögerlich über die glatten, weißen Flächen. Mit geschlossenen Augen spürte sie die Ritzen zwischen den kleinen Planken, erklomm die Erhebung der schwarzen Tasten. Dann begann sie zu spielen.
Die zarten Töne erklangen nach ihrem Willen, formten die Melodie, die sie im Kopf hatte. Sie kannte viele Lieder auswendig, komponierte aber auch eigene Passagen. Die entstanden manchmal von selbst, wenn sie eine Weile gespielt und sich ganz auf die Musik eingelassen hatte. Dann übertrugen sich ihre Empfindungen und ihre Stimmung auf ihre Hände. Ihr Herz leitete die Finger und es fühlte sich an, als ob sie über weißes Elfenbeinparkett tanzten.
Sie spielte heute erst ein wenig Chopin, ließ sich mitreißen und entspannte sich zusehends. Dies waren ihre glücklichsten Augenblicke. Dann war sie im Reinen mit sich, war von schlechten Gedanken abgelenkt und all ihre Makel wurden belanglos.
Letztendlich war das Klavierspielen die einzige Errungenschaft ihrer Erziehung, die sie heute noch pflegte. Der Rest war, freundlich ausgedrückt, einfach den Bach runtergegangen. Gesellschaftliche Umgangsformen und Knigge füllten weder das Portmonee, noch den Magen. Außerdem interessierte in ihrem jetzigen Umfeld keinen, dass sie Prada, Gucci und Lacoste auf einen Blick erkennen und unterscheiden konnte. Für ihre Freunde war solche Kleidung allenfalls etwas, das man im Schaufenster bewunderte, von dem man träumte, aber sich wahrscheinlich niemals in seinem Leben leisten konnte. Cat dagegen kannte alle Kollektionen seit sie fünf Jahre alt gewesen war und bei der Wahl ihrer Garderobe war es niemals um Geld gegangen. Eher darum, ob ihre Mutter sie für standesgemäß befunden hatte.
Cat raffte die Ärmel der schwarzen Strickjacke und schob sie bis zu den Ellenbogen hinauf, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Das Lied, das sie anstimmte, bestand aus tragenden Mollklängen. Die hervorragende Akustik des Konzertsaals intensivierte die Melodie und sie umgab Cat, durchdrang sie, trug sie.
Sie wurde in die Stimmung zurückversetzt, in der sie gewesen war, als sie sich die Tonfolge ausgedacht hatte. Obwohl das Stück traurig klang, hatte es einen entschlossenen Unterton, ein Abschied gepaart mit einem Anfang, die Wehmut des Verlustes und die Vorfreude auf die Zukunft. Ein Aufbruch.
Genau so war ihre Gefühlslage in jener Nacht gewesen, als sie zum zweiten Mal an diesem Flügel gesessen und eine Katharsis durchgemacht hatte. Sie spürte wieder die Befreiung, die das Lied für sie bedeutet hatte. Leise spielte sie die letzten Akkorde und lauschte dem schönen Nachhall im Saal. Ja, so wie es jetzt war, war ihr Leben ihr wesentlich lieber, obwohl sie sich oft fragte, ob alles doch nur ein schöner Traum war.
Cat traf im Fiorentino’s ein, als ihre Kolleginnen gerade den Hauptgang beendet hatten und eine weitere Runde Prosecco ausgeschenkt wurde. Sie setzte sich neben Sam an die Stirnseite des Tisches und nahm das Glas entgegen, das ihr gereicht wurde. Während die fünf Frauen einander zuprosteten, wurde der Raum plötzlich abgedunkelt und Cat hätte am liebsten gekichert. Ihr Timing hätte für die von ihr geplante Überraschung nicht besser sein können.
Die Mitarbeiter ihres Stammlokals traten gesammelt aus der Küche und begannen „Happy Birthday“ zu singen. In vorderster Front befand sich Fiorentino, der Besitzer des Lokals, und balancierte eine riesige dreistöckige Torte auf beiden Händen. Bei seiner Statur hätte man meinen können, dass sein Bauch, auf dem das Backwerk ruhte, seinen Teil der Last trug.
Die Frauen am Tisch stimmten mit ein, genauso wie einige Gäste. Der Chor schwoll an, bis die letzten Verse beendet waren und wurde dann von vielfachen Geburtstagswünschen und Gratulationen von allen Seiten abgelöst.
„Oooohhh, danke an euch alle!“, rief Sam, als Fiorentino die Torte vor ihr abstellte und sie persönlich beglückwünschte. Über die Spitze der obersten Schicht hinweg konnte man gerade noch ihren dunklen Haarschopf erspähen.
„Prego Signora. Buon anniversario.“ Der Restaurantchef stellte sich hinter Cats Stuhl und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie blickte auf und begegnete seinem Zwinkern, was sie unwillkürlich zum schmunzeln brachte. Er hatte keinen einzigen Cent von ihr Verlangt, als sie mit ihrer Bitte zu ihm gekommen war. Sie kannten sich jetzt seit ein paar Jahren und Cat hatte ihm oft genug etwas besorgt, das er gebraucht hatte, es aber aus irgendwelchen Gründen nicht anderweitig herbeischaffen konnte. Es gab nur noch wenige selbstständige Wirte in der Stadt, fast alle waren von Restaurantketten verdrängt oder aufgekauft worden. Diese Ketten kauften die Produkte, die sie verarbeiteten in großen Mengen, wodurch die Preise erschwinglich waren. Für Kleinunternehmer wie Fiorentino dagegen, war es schwer die laufenden Kosten und Einkäufe mit dem Erlös aus dem Restaurant zu decken. Wenn etwas Größeres kaputt ging, entstand bereits ein kaum lösbares Problem. Nicht nur dass die Reparatur oder der Ersatz ein Loch in die Haushaltskasse gerissen hätte. Es gab keine Haushaltskasse. Jeden Monat gingen Plus und Minus gerade so auf, es reichte knapp zum Leben.
Cat kannte viele Leute und die meisten steckten in ähnlichen finanziellen Situationen, ob privat oder geschäftlich. Was sie schließlich auf die Idee gebracht hatte. Das, ihre direkte Art und ihre Erfahrung mit dem Handeln… auch wenn es zunächst um andere Ware gegangen war. Aber das gehörte der Vergangenheit an. Sie hatte ihr Netzwerk immer weiter ausgebaut und es zu einer Tauschbörse für Dienstleistungen und Gegenstände gemacht, unentgeltlich. Man bot etwas an und bekam dafür Hilfe aus der Gemeinschaft, wenn man sie brauchte. Keine Bedingungen, keine Zwänge, alles beruhte auf freiwilliger Basis.
In nur drei Jahren war die Sache immer größer geworden, bis man nahezu alles vom Netzwerk bekommen konnte.
Sam erhob sich, um die Zuckergussschrift auf der weißen Kuvertüre zu lesen, dann lächelte sie zufrieden.
„Gott sei Dank!“ Sie wirkte erleichtert und freute sich nun noch mehr.
Fiorentino beugte sich vor und raunte in Zimmerlautstärke: „Keineee Sorrrgeee. Die Kerzeee ‘abeee ich weggelasseee.“ Wieder zwinkerte er, aber dann griff er in die Tasche und holte etwas heraus. Schwungvoll steckte der Restaurantbesitzer eine dicke, fette Dreißig aus Wachs oben auf die Torte und zündete den Docht an. „Adesso auspusteee.“
Vereinzeltes, verhaltenes Prusten war im Raum zu vernehmen, während Sams Lächeln etwas verrutschte. Doch dann wandte sie sich Cat zu und sah sie vorwurfsvoll an.
„Chef, da hat sich meine kleine Freundin hier eindeutig im Jahr geirrt! Ich bin heute 25 geworden“, beharrte sie stur. „Gut, vielleicht zum fünften Mal, aber aller guten Dinge sind fünf, oder nicht?“
Jetzt konnten sich die Geburtstagsgäste nicht mehr halten und Gelächter löste die vorsichtig gespannte Stimmung.
Schließlich wurde angestoßen, der Kuchen wurde angeschnitten und verteilt, überall bildeten sich schwatzende Grüppchen. Mary, eine von Cats Kolleginnen setzte sich auf den Nachbarstuhl und kaute genüsslich auf der süßen, klebrigen Masse.
„Danke fürs organisieren, Cat. Das war super!“ Mary grinste mit vollgestopften Backen. „Und die Torte ist einfach spitze. Weiße Schokolade-Buttermilch, mmmmhhh.“ Eine weitere Gabel verschwand in ihrem Mund. Mary war eine kleine Frohnatur und aß sehr gerne, was man ihr auch ansah. Ihr freundliches, rundliches Gesicht und das kastanienbraune Haar verrieten ihr Alter von Mitte Dreißig jedoch nicht.
„Gern geschehen“, gab Cat zurück und meinte es auch so. Zu helfen wo sie konnte, war ihr ein inneres Bedürfnis geworden.
„Apropos… ähm… mein Bruder hat doch eine Backstube… du weißt schon, ich habe ihn vor ein paar Monaten hierher mitgebracht.“ Mary stocherte verlegen in den Kuchenresten herum, bevor sie vorsichtig wieder aufsah.
„Jaaa, ich erinnere mich. Dan, oder?“ Cats hervorragendes Namensgedächtnis hatte ihr schon viele Punkte bei den Leuten verschafft.
Mary nickte und lächelte erleichtert darüber, dass Cat sich so genau erinnerte und somit ein Gefühl von Nähe vermittelte. Mit psychologischen Taktiken kannte sie sich aus, auch wenn sie das nicht gerne zu gab, nicht mal vor sich selbst. Trotzdem machte sie oft Gebrauch davon. Sie hatte ja nichts Schlechtes dabei im Sinn.
„Er und seine Frau haben erst kürzlich ihr zweites Kind bekommen, ein Mädchen.“ Mary stellte ihren Teller auf dem Tisch ab, fummelte ihre Geldbörse aus der Handtasche und reichte Cat stolz ein kleines Foto von einer vierköpfigen Familie.
„Seit Dad tot ist, kümmert sich Danny um den Familienbetrieb, aber… es ist schwer. Die Preiskonkurrenz ist hart.“
Bäckereien waren ein aussterbendes Handwerk. Genau wie private Restaurants hatten sie Schwierigkeiten, mit großen Backwarenkonzernen und ihren Selbstbedienungsshops mitzuhalten. Während Leute wie Danny Moreno jeden Morgen frische Brötchen und anderes Gebäck herstellten, wurde in den Shops der Ketten halbfertige, tiefgefroren gelieferte Ware in Schnellbacköfen aufgebacken. Gerade in der Masse lohnte sich letzteres Konzept.
So wurden die benötigten Arbeitskräfte reduziert und größtenteils in die Produktion verlagert, wo sich heut zu Tage die meisten Jobs fanden. Cat selbst hatte mit aller Macht vermeiden wollen, in einer Fabrik zu landen, denn dies hätte auch bedeutet, nicht nur für sich selbst zu arbeiten. Zusätzlich zu den Steuern, die der Staat vom Volk schröpfte, ohne dass dieses jemals wieder einen Penny davon sah, mussten Fabrikarbeiter einen gewissen Prozentsatz ihres Lohns an eine Zeitarbeitsfirma abtreten. Denn bei dieser waren sie eigentlich angestellt. Die Gesetze schützen diese Form von Sklavenhandel und ein Mal drin, war es nahezu unmöglich, wieder heraus zu kommen.
„Ich habe Angst um ihn. Die Bäckerei hat schließlich auch Daddy in sein frühes Grab getrieben.“ Mary zog die Schultern hoch und versuchte, aufkeimende Tränen hinunter zu schlucken. Cat wurde sofort weich und legte einen Arm um ihre Arbeitskollegin. Sie selbst hatte sie auf die Beerdigung ihres Vaters begleitet, weil Mary nicht alleine hatte gehen wollen. Damals hatten sie sich noch nicht lange gekannt, aber Marys liebevolle Familie war Cat gleich sympathisch gewesen, obwohl sie zu dieser Zeit große Trauer litten. Ohne das Familienoberhaupt war zunächst unklar gewesen, wie es mit dem Betrieb, der schon damals in finanziellen Schwierigkeiten gesteckt hatte, weiter gehen und die zurück gelassene Ehefrau versorgt werden sollte. Die staatliche Witwenrente war auch nicht mehr das gewesen, was sie zu Anfang einmal versprochen hatte, weswegen alle ratlos gewesen waren. Cat hatte den Freund eines Freundes vorbei geschickt, der sich mit Buchhaltung und Unternehmensführung auskannte, so hatten sie es gemeinsam ermöglicht, das Überleben des Familienbetriebs zu sichern. Kein Wunder also, dass Mary sich auch jetzt wieder an ihre Freundin wandte. Cat strich fürsorglich über Marys Arm, was diese dazu ermuntern sollte, weiter zu sprechen.
„Rück‘ schon raus mit der Sprache, Mary.“
„Also, wir dachten, dass vielleicht ein modernerer Verkaufsraum mit Tischen und Kaffee oder Coffee-to-go mehr Kunden anlocken würden. Aber Danny kann es sich nicht leisten, extra für eine Renovierung ein paar Tage zu schließen, außerdem reicht das Budget gerade für die Materialien, aber nicht für ein paar Helfer.“ Die rundliche Frau steckte sich ein braunes Haarbüschel in den Mund und kaute darauf herum. Ein Zeichen dafür, dass es ihr unangenehm war, Cat darum zu bitten. „Weißt du vielleicht ein paar Leute, die bereit sind, ein oder zwei Nächte für lau durch zu arbeiten?“
Cat ließ erleichtert die Schultern sinken, dabei bemerkte sie erst, dass sie sie angespannt hatte. Wie Mary sich benommen hatte, hatte sie schon erwartet, um ein achtes Weltwunder ersucht zu werden. Das hier war leicht. Ein paar helfende Hände, vielleicht sogar Sachkundige, konnte sie problemlos organisieren.
„Mach‘ dir keine Sorgen. Ich kümmere mich darum.“
„Ehrlich?“ Ihre Kollegin drehte erstaunt den Kopf herum. „Meinst du nicht, das ist zu teuer?“
„Süße, die Leute, die ich fragen werde, interessieren sich nicht für Geld. Zumindest nicht für eures!“
Mary warf sich erleichtert in Cats Arme, sie wurde fest an den weichen, üppigen Körper gedrückt. „Oohhh, danke, danke, danke, Cat!“
„Schon gut.“ Cat befreite sich aus der stürmischen Umarmung. „Du musst mir nicht danken. Seid nett zu meinen Freunden, das genügt.“
„Natürlich! Und solltest du irgendwann unsere Hilfe brauchen, egal wann, sag einfach nur Bescheid. Wir stehen in deiner Schuld!“ Marys Augen starrten ihr groß und aufrichtig entgegen. Sie meinte jedes Wort ernst.
„Ihr steht nicht in meiner Schuld“, widersprach Cat vehement. „Meine Freunde helfen und geben was sie können, weil sie es gerne tun und so solltet ihr es auch halten, falls ich jemals auf euch zu kommen sollte. Fühlt euch nicht gezwungen, das ist nicht der Sinn der Sache. Mit Schuld hat das nichts zu tun, klar?“
Entschlossen schnitt sie noch zwei Stück von der pompösen Torte ab und reichte eines der ehrfürchtigen Freundin. Diese nahm es glücklich entgegen und schob sich schnell eine weitere volle Gabel zwischen die Zähne.
„Geht klar“, antwortete Mary schließlich zwischen zwei großen Happen und verdrückte die cremige Leckerei in Rekordzeit, als wäre ihr Appetit sofort zurück gekehrt, nachdem ihr diese Last von den Schultern genommen worden war. „Das wird toll! Ich rufe gleich meinen Bruder an!“
Noch kauend sprang sie von ihrem Stuhl auf und entfernte sich in Richtung Toiletten, die Torte immer noch in Händen, um in Ruhe telefonieren zu können.
Cat sah ihr belustigt hinterher und wünschte sich, dass alle Probleme in ihrem Leben so leicht zu kitten wären.
Wie immer, wenn sie sich mit Freunden traf, hätte sie noch Ewigkeiten bleiben können. Doch gerade am nächsten Tag musste sie ausnahmsweise früh raus, um sich bei einem Umzug nützlich zu machen. Sie hatte es versprochen und sie hielt ihre Versprechen. Alles was beständig war, gefiel ihr, besonders in Anbetracht des Irrsinns, der ihre Vergangenheit regiert hatte. Und wenn sie sich ausgiebig um andere kümmerte, musste sie sich schon nicht mit sich selbst beschäftigen. Sie hatte eine Art Friedensvertrag mit sich und ihrer Geschichte geschlossen. Ob er von Dauer sein würde, mochte nur der Himmel wissen, aber er hielt jetzt schon eine ganze Weile. Wenn sie gewisse Themen mied und sich Beschäftigungen suchte, konnte sie den Teil von sich, der sie beunruhigte, verdrängen.
Unter heftigem Protest ihrer Freunde und Kolleginnen verabschiedete sich Cat und verließ das Fiorentinos. Nach der stickigen Luft drinnen atmete sie tief ein und lächelte versonnen darüber, wie lächerlich es war, sich erst über die frische Kühle der Nacht zu freuen, nur um sich dann eine Zigarette anzuzünden, was sie umgehend tat. Ein blödes Laster, das war ihr klar, aber sie konnte es nicht lassen. Sie blies den ersten Zug wieder aus und inhalierte erst den Zweiten. Irgendwo hatte sie Mal gehört, dass es schädlich sei, das Feuerzeuggas einzuatmen. Auch das war dämlich, als ob das beim Rauchen noch eine Rolle spielen würde.
Die Zigarette reichte den Weg bis zur Straßenbahn und Cat kramte ein Buch hervor, das sie auf dem Heimweg beschäftigen würde. Ihre Wohnung lag an einer dicht befahrenen Straße im ersten Stock eines rustikalen Hauses mit dem Charme einer alten Kaserne.
Als sie das Wohnzimmer betrat legte sie die Taschen ab und wanderte langsam ins Schlafzimmer, wo sie sich ihrer Kleidung entledigte. Der Schrank enthielt nur Schwarz, das meiste davon in neutralem Stil oder im Gothlook gehalten. Weiter hatte sie sich nicht von Chanel entfernen können.
Der Raum, in dem ihr Bett stand, war nicht allzu groß, aber sie hatte es sich gemütlich eingerichtet. Warme Farben und viele flauschige Kissen hießen sie willkommen. Das Fenster war das einzige in ihrer Wohnung, das nicht zur Straße ausgerichtet war, weswegen sie hier schlief. Nachts brauchte sie ein offenes Fenster, um sich wohl zu fühlen. Deshalb war eine Wohnung im Erdgeschoss für sie nicht in Frage gekommen.
Im Bad wusch sie sich den Schmutz des Tages ab und betrachtete ihr tropfendes Antlitz im Spiegel. Jedes Mal, wenn sie das tat, war sie froh, dass sie sich zu den ganzen Veränderungen durchgerungen hatte. Und heute waren ihr die vielen Accessoires, die sie sich über die Jahre zugelegt hatte, richtig ans Herz gewachsen. Sie konnte sich ihr Spiegelbild gar nicht mehr ohne vorstellen. Langes, dunkles Haar umrahmte das schmale Gesicht, in Unterlippe und rechter Augenbraue prangten kleine silberne Ringe, der linke Nasenflügel, die Zunge und die Ohren waren ebenfalls gepierct. Sie trug auch diverse Tätowierungen am Körper, hatte aber bei deren Anfertigung darauf geachtet, dass sie leicht von Kleidung verborgen werden konnten.
Nachdem sie ihre Katzenwäsche mit dem Zähneputzen beendet hatte, holte sie sich auf dem Weg ins Bett noch ein Glas Wasser aus der Küche. Sie hatte den Hahn gerade aufgedreht, als es an der Tür klopfte.
Mitten im Harpers‘Quarter, dem Zentrum der Großstadt Ceiling, spazierte MichamDevereaux eine Straße entlang und atmete die kühle Nachtluft. Es war Spätsommer, die Tage waren noch heiß, die Luft staute sich in der Stadt bis zum Abend auf und erst in der Nacht fielen die Temperaturen ein wenig, sodass man es draußen aushalten konnte.
Ein Königreich für eine Klimaanlage, dachte er an solchen Tagen. Doch das war nicht der Grund warum er zu dieser späten Stunde, seine digitale Armbanduhr zeigte genau ein Uhr, noch unterwegs war. Er zog den Rucksack enger an seinen Rücken und sah sich unauffällig um. Es war Samstagabend, also waren noch einige Nachtschwärmer unterwegs und pilgerten zwischen den Bars und Diskotheken und anderen Amüsierbetrieben hin und her.
Wie immer kam er sich fremd unter all den Normalos vor, die einem Job nachgingen, abends die Langeweile ihres trostlosen Lebens in einem Bier ersäuften und schließlich jede Nacht in dem Wissen zu Bett gingen, dass der nächste Tag genau gleich aussehen würde.
Nein, er beneidete sie nicht um ihre Autos und ihre Häuser, deren Kosten sie zur stetigen Arbeit antrieben. Eine Hypothek wollte letztlich bezahlt werden. Handschellen, die sich die Leute freiwillig anzogen. Eigentlich musste man eingestehen, welch grandioser Schachzug den Hegedunen mit dem Zinseszins gelungen war. Einfach bezaubernd, der Tanz von Bürokratie und Finanzwesen, der die Menschen unbemerkt in die Schuldknechtschaft trieb. Erstaunlich, welche Auswüchse Genialität haben konnte und kaum vorstellbar, was alles möglich wäre, wenn man diese Ressourcen zum Wohle der Bevölkerung einsetzen würde, anstatt zu ihrer Ausbeutung.
Micham konnte es kaum erwarten, bis er den Job endlich hinter sich gebracht hatte. Sicher, er boykottierte das System und war bemüht, sich so weit davon fernzuhalten, wie es nun eben ging, aber Geld brauchte er doch. Der Fluch des Kapitalismus. Wenigstens würden seine Leute und er das Dreckszeug einem guten Zweck zuführen.
Der Venus-Orden war der Ort, den er jetzt sein zu Hause nannte, waren die Menschen, die er jetzt als seine Familie bezeichnete, unter denen er sich endlich zugehörig fühlen konnte. Nach so vielen Jahren der Suche hatte er doch Gleichgesinnte gefunden, mit denen er seine Gedanken und Befürchtungen teilen konnte, die ihn nicht als Schwätzer oder Verschwörungstheoretiker etikettierten. Gemeinsam trugen sie Informationen zusammen, um die weltpolitische Lage und das System der Hegedunen besser zu verstehen.
Die Existenz von Elevendern; stärkeren, übermenschlichen Wesen mit einer individuellen Gabe; hatte selbst er nicht geahnt. Aber schon seit seiner frühen Jugend ließ ihn der Verdacht nicht los, dass alles um ihn herum ein Gefängnis war. Nicht nur für seinen Körper, sondern auch für seinen Verstand.
In der Schule hatten die Lehrer versucht, sein junges ungestümes Interesse zu beschneiden. Sein Drang nach Wissen, das Bedürfnis immer wieder zu hinterfragen, das ‚Warum‘ zu ergründen, hatte ihn schnell zum Problemschüler gemacht. Er hatte als frech und aufwieglerisch gegolten und wenn die Pädagogen mit ihrem Latein am Ende gewesen waren, hatte es eben schlechte Noten geregnet.
Trotz guter Klassenarbeiten hatte der Tag der Zeugnisvergabe nie ein gutes Ende genommen. Seinen Eltern war das natürlich ziemlich übel aufgestoßen, was nur der Anfang des Entfremdungsprozesses gewesen war, den er daraufhin durchgemacht hatte. Sie hatten nicht verstanden, dass er nicht versuchte, die Lehrer lächerlich zu machen, wenn er mit der tausendsten Frage nachgebohrt hatte. Sie hatten nicht sehen können, dass diese Fragen aus seiner Sicht durchaus eine Berechtigung hatten. Und dass er keine Antworten erhalten hatte, hatte die Sache nur noch schlimmer gemacht.
Er hatte sich zu einem Spürhund entwickelt und sich in die Themen verbissen, über die niemand mit ihm sprechen hatte wollen. Schon im Alter von zwölf hatte er begonnen, selbst zu recherchieren, hatte Tagebücher und Dokumentensammlungen angelegt, die die große Verarschung belegten, der die Weltbevölkerung anheim gefallen war. In einer Welt, in der es von allem genug für alle gab, wurde von höchster Stelle künstliche Verknappung geschaffen, um Preise oben zu halten und die Kluft zwischen Arm und Reich zu vergrößern. Gleichzeitig wurde der moderne Bürger zum konsumierenden Fachidioten erzogen, der in seiner knappen Freizeit garantiert nicht anfing, sich mit Politik und Wirtschaft zu beschäftigen und im Allgemeinen lieber über den Sonntagabend-Krimi diskutierte, als Systemkritik zu betreiben. Aber Micham wollte mehr, er war immer auf der Suche. Wie hieß es so schön: Um zur Schafherde zu gehören, musste man ein Schaf sein.
Er überquerte die Straße und ging einen Park entlang. Bald würde er sein Ziel erreichen und so langsam packte ihn doch die Nervosität. Sein Unbehagen rührte nicht daher, dass er so etwas noch nie getan hätte, leider hatte er Übung in dieser Tätigkeit. Nein, es kam davon, dass er auf dem Weg zum Appartement eines Hegedunen war.
Nach einer langen Beobachtungsphase hatte der Orden schließlich alle Hintergründe bestätigt und ihm grünes Licht für den Auftrag gegeben. Er hatte nicht die Absicht zu kneifen, denn er sah ein, warum es nötig war und sein Opfer würde ein paar Scheine wahrscheinlich noch nicht Mal vermissen. Doch bei jemandem einzusteigen, der übermenschliche Kräfte besaß, auch wenn er keine große Nummer auf der Gehaltsliste der Hegedunen war, versetzte seinen Körper ohne sein Zutun in den Alarmzustand. Er bemühte sich, die Aufregung niederzuringen, scheiterte jedoch kläglich.
„Blutiger Anfänger!“, beschimpfte er sich selbst flüsternd und zog seine Baseball-Cap tiefer in die Stirn. Er richtete die Augen auf die Gehwegplatten, zählte die Schritte und versuchte, nicht auf die Fugen zu treten. Das half ihm sich abzulenken. Der Nachteil an der Sache war, dass er nicht so richtig sehen konnte wo er hinlief. Deshalb hätte es ihn eigentlich nicht so überraschen dürfen, dass er schon nach kurzer Zeit etwas Großes mit den Ausmaßen und der Widerstandsfähigkeit eines Baumstammes rammte, davon abprallte und schließlich auf dem Hosenboden landete.
Benommen sah er auf und stellte fest, dass er sich definitiv bei den Ausmaßen geirrt hatte. Vor ihm stand ein mittelgroßer Mann, er maß vielleicht 1,78 Meter und war etwa um die 25. Trotz seiner drahtigen Statur schien es aber, als könnte er einem Tornado trotzen und dieser Eindruck wurde einzig und allein durch seine tödlich wirkende Ausstrahlung hervorgerufen. Sein dunkelbraunes Haar war an der Seite gescheitelt und einige Strähnen verdeckten die linke Gesichtshälfte bis zum Mundwinkel, selbst als er sich vorbeugte und Micham die Hand entgegenstreckte.
Er hatte wirklich Schiss das Angebot des Mannes anzunehmen, denn dessen Gesichtsausdruck sprach Bände, in denen lang und breit von Michams langsamen, grausamen Tod berichtet wurde. Also blieb die Hand des Fremden unergriffen zwischen ihnen in der Luft hängen, während Micham sich aufrichtete.
Sein dunkel gekleideter Gegenüber zuckte nur mit den Schultern und musterte ihn eindringlich. Dabei erhaschte Micham eine gute Sicht auf dieses eine dunkle Auge, das andere war ja unterm Haar versteckt. Schon im ersten Moment fröstelte es ihn, als hätte sich durch den Blickkontakt Kälte in ihn ergossen. Der Mann schien sie förmlich auszustrahlen, wie eine Aura umgab sie ihn. Schockiert wich Micham zurück.
Bevor der Fremde noch etwas sagen konnte, nahm er die Beine unter die Arme und machte sich davon. So etwas Unheimliches hatte er noch nie erlebt, nicht mal bei einem Hegedunen. Er glaubte nicht an das Übernatürliche, er wusste, dass es existierte… und dass das Wesen, dem er gerade begegnet war, eindeutig dazu gehörte. Vielleicht war es sogar etwas noch Schrecklicheres als ein Hegedune.
Na, was für ein Omen!
Micham blickte nicht zurück, während er sich schnellen Schrittes entfernte und den Rest der Strecke hinter sich brachte. Das Intermezzo mit dem Sensenmann-Typ hatte seine Stimmung nicht gerade verbessert, aber er würde sich nicht die Blöße geben, den Coup abzusagen. Als das große steinerne Wohnhaus in einer wohlhabenden Gegend in Sicht kam, sah er sich nach einem Gebäude in der Nähe um, das eine Feuerleiter besaß. Nachdemer eins gefunden hatte, war es ein Leichtes, diese zu erklimmen und seinen Weg über die Dächer fortzusetzen. Zu seinem Glück waren die Gassen zwischen den Häusern schmal, was es ihm ermöglichte von einem zum nächsten zu springen, bis er endlich neben dem Wassertank des Gebäudes stand, das er suchte. Er befestigte Haken und Seilwinde und trat an die Brüstung.
Während er sich in der atemberaubenden Höhe von sieben oder acht Stockwerken über die Begrenzungsmauer schwang, überkam ihn plötzlich eine Gänsehaut. Er hielt inne und versuchte zu ergründen, ob der frische Wind dafür die Verantwortung trug.
Aber er spürte, dass da noch mehr war. Irgendwie fühlte er sich beobachtet.
Schon an seinem Seil hängend zog er den Kopf ein und spähte zurück. Rund um den Ausgang zum Dach gab es jede Menge Schatten, in denen sich ein ungebetener Voyeur verstecken konnte. Michams Augen versuchten das Dunkel zu durchdringen, er lauschte. Eine Minute verging, dann zwei weitere. Als sich immer noch nichts rührte, setzte er seinen Weg fort. Jetzt jedoch um einiges aufmerksamer.
Am Fenster des Appartements im fünften Stock verwendete er geraume Zeit auf die Überbrückung der Alarmanlage, doch dann ging alles ganz schnell. Da er wusste, dass niemand zu Hause war, bewegte er sich zügig, stopfte alles, was sich zu Geld machen ließ, von Schmuck über Skulpturen und Besteck, in einen großen Seesack und fand sich wenig später im Arbeitszimmer wieder, wo er den Safe vermutete. Er klopfte die Wände ab und voilà: Hinter dem Schreibtisch befand sich ein Hohlraum unter der teuren Mahagonivertäfelung. Micham war fast traurig, sie beschädigen zu müssen.
Er strich mit den behandschuhten Fingern über die ebenmäßige Maserung und hätte am liebsten das Licht angemacht, um die Farbschattierungen schimmern zu sehen. Stattdessen beseitigte er das Tropenholz mit einem Hammer und entzündete dann den Schneidbrenner. Seine Lederhandschuhe würden die Haut vor dem Funkenflug schützen. Die Methode war langwierig, aber effektiv und so hatte er sich bald durch das Metall der Vorderwand des Safes gearbeitet.
Wie erwartet stieß er auf einen kleinen Schatz. Der 50 x 50 Zentimeter große Stahltresor barg neben Wertpapieren und Aktien, mit denen er leider nichts anfangen konnte, auch eine große Summe Bargeld, zwei unbezahlbare Uhren und sechs große Goldbarren. Im hinteren Eck befanden sich mehrere dicke Dokumentenmappen und eine externe Festplatte.
Das Edelmetall, Elektronik und die Papiere wanderten in seinen Rucksack, der Rest gesellte sich zu der Beute im Seesack und schon war er auf dem Rückzug.
Die elektrische Seilwinde ächzte, als er sich mit dem schweren Gepäck aus dem Fenster ließ. Nur widerwillig zog sie ihn nach oben, weswegen er erst den See-, daraufhin auch seinen Rucksack über den Rand des Hausdaches wuchtete. Er verschnaufte kurz und kroch dann hinter her, zog sich hoch, bis er sich auf die mit Kies bestreute Dachterrasse fallen lassen konnte. Seine Oberarmmuskulatur brannte und er keuchte schwer.
Ein paar Augenblicke später richtete er sich auf, um seine Sachen zusammen zu packen, aber…
Micham drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse.
Sein Rucksack war weg, wie vom Erdboden verschluckt.
Das Seil lag noch über dem Seesack, er zerrte ihn zur Seite, doch es kam kein weiteres Gepäck zum Vorschein. Verwirrt blickte er sich in der näheren Umgebung um, sah schließlich sogar über die Brüstung nach unten auf die Straße. War es möglich, dass ihm der Rucksack unbemerkt runter gefallen war?
Nirgends konnte er etwas entdecken und in Anbetracht der Tatsache, dass Gegenstände sich normalerweise nicht in Luft auflösten, sondern Leute wie er dafür sorgten, dass sie plötzlich verschwanden, gab es nur eine naheliegende Schlussfolgerung.
Er war von einem Langfinger beehrt worden! Einem verdammt schnellen noch dazu! Eine echte Hoodini-Nummer, die der- oder diejenige da abgezogen hatte.
Schöne Scheiße.Leise fluchend raffte er seinen Kram zusammen.
Welch Ironie. Ein Dieb, der bestohlen wurde. Das nannte er mal Karma.
Cat erstarrte.
Nachdem sie keinen Mucks von sich gab, klopfte es noch ein Mal. Verdammt, wie war der Störenfried nur ins Treppenhaus gelangt?
Sie schlich auf die Tür zu und als sie an der Küchentheke vorbei kam, griff sie sich ein langes Messer aus dem Block. Auch wenn sie sich generell durch ihren Fluch sicher fühlte, hatte eine scharfe Waffe durchaus etwas für sich, wenn Unbekannte nachts an die Tür pochten. Mist, jetzt hatte sie doch daran gedacht. Das erste Mal seit langem. Sie nahm das als schlechtes Vorzeichen, was sie aber nicht davon abhielt, sich lautlos vor die Eingangstüre zu schieben und das Auge vor den Spion zu positionieren. Leider konnte sie kaum etwas erkennen.
Entweder war es dunkel im Hausflur, oder der- oder diejenige stand so nah vor der Linse, dass sie nur dunkles Haar oder Stoff erblicken konnte. So oder so, das Ganze war ihr nicht geheuer. Freunde hätten sich angemeldet oder sich zumindest sofort zu erkennen gegen, wenn sie ihr schon nächtliche Besuche abstatten mussten.
In Zeitlupe lege sie die Kette in die Schiene, um ja kein Geräusch zu machen. Sie schob sie bis zum Anschlag in Richtung Verankerung, so fühlte sie sich schon etwas sicherer. Dann nahm sie allen Mut zusammen.
„Wer ist da?“
„Cat?“, kam es heiser von der anderen Seite der Tür. Mehr ein Stöhnen, denn eine Antwort. Allerdings klang es nicht obszön, sondern eher schmerzverzerrt. Bevor sie noch reagieren konnte, rumpelte es im Flur. Cat stellte sich erneut auf die Zehenspitzen und untersuchte das Geschehen durch den Spion. Nun sah sie im Halbdunkeln lediglich das Treppengeländer und die Tür gegenüber, keine Menschenseele weit und breit. Da sich kaum jemand mit einem Rumpeln in Luft auflösen konnte, fiel Cat nur ein einziger möglicher Grund dafür ein und dieser brachte sie dann doch dazu, schnellstens zu öffnen.
Zunächst ließ sie die Kette noch an Ort und Stelle und schob die Tür nur einen Spalt weit auf. Wie befürchtet lag jemand auf ihrer Schwelle und rührte sich nicht. Ein männlicher Jemand mit dunklem Haar und dunkler Haut, der Größe nach ausgewachsen. Das Gesicht lag nach unten, weshalb sie ihn nicht identifizieren konnte. Cat sah sich im Flur um, aber der war außer dem Lumpenhaufen auf ihrer Willkommen-Matte wie leergefegt.
„Hey, du!“, raunte sie im lauten Flüsterton. „Hey, geht’s dir gut?“
Als keine Reaktion folgte, seufzte sie, verärgert darüber, immer noch nicht zu wissen wer er war und ob er hier nur eine äußerst überzeugende Show ablieferte. Sie umklammerte den Stahlgriff des langen Küchenmessers fester und hob vorsichtig den Fuß. Zu Hause trug sie nie Socken, aber jetzt wünschte sie sich, ihre Wahl wäre auf Gummistiefel als Hauspantoffeln gefallen, oder vielleicht auch Springerstiefel mit Stahlkappen. Vorsichtig stupste sie mit den Zehen die Schulter des Unbekannten an.
Nichts. Ein weiterer Versuch brachte den Körper am Boden zum wackeln, weckte ihn aber nicht auf. Fluchend ging Cat in die Hocke und streckte den Arm nach dem Kerl aus, um ihn umzudrehen. Dabei vergaß sie keine Sekunde die Gefahr, oder das Messer, das ihr Sicherheitsnetz darstellte.
Siebrauchte wenig Kraft, um den schlaffen Rumpf zur Seite zu rollen, ein Gesicht unter einem zerzausten schwarzen Haarschopf wurde sichtbar.
„Jayce?“ Ihre Stimme klang ihr ungläubig in den Ohren. Beinahe hätte sie ihn nicht erkannt, nur ihr fabelhaftes Namens- und Gesichtergedächtnis stellte die Verbindung her. Vollkommen überrascht entriegelte sie die Tür und ließ sich zu Boden sinken. Das Messer glitt ihr aus der Hand, fiel auf den Teppichboden. Es war schon vergessen, als sie die Finger nach der Stirn des Kerls ausstreckte. Ein paar Strähnen strich sie sanft zur Seite, sodass sie das jugendliche Gesicht besser betrachten konnte.
Es war Jayce, älter und größer zwar, aber sie konnte ihn zweifelsfrei identifizieren.
Während sie sich noch über dieses unverhoffte Wiedersehen wunderte, wich ihre Angst der Sorge um ihren alten Kumpel und Kunden. Schnell und ohne weitere Gedanken daran zu verschwenden, dass er eine Bedrohung für sie darstellen könnte, griff sie ihm unter beide Achseln und zog ihn in ihr Wohnzimmer, das direkt hinter der Haustür lag. Sobald sie beide und das Messer drin waren, verschloss sie die Schlösser leise und sorgfältig, erst dann widmete sie sich der Aufgabe, den Jungen aufs Sofa zu wuchten. Es war leichter als gedacht und in ihr keimte der Verdacht auf, dass sein magerer Körper viel zu wenig für diese Größe wog.
Gerade als sie ein Kissen unter seinen Kopf schieben wollte, rührte sich ihr nächtlicher Gast.„Cat?“, krächzte Jayce leise.
Cats Herz stockte, dieses einzige Wort genügte, um ihr klar zu machen, dass es ihrem Freund wirklich nicht gut ging. Es klang verzweifelt, angstvoll.
„Ja, du bist bei mir. Wie geht es dir?“ Cat sprach leise und beruhigend. Sie setzte sich aufs Sofa, neben den ausgestreckten… Kerl. Ja, er war merklich gewachsen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Erst jetzt nahm sie sich die Zeit, ihn genauer zu betrachten. Und obwohl ihr Besucher aussah, als ob er bald den Hungertod sterben würde, konnte man erkennen, dass er zu einer stattlichen Statur gekommen war. Wäre die Situation nicht so bizarr gewesen, hätte Cat sich für ihn gefreut.
Unvermittelt schrak Jayce auf und kam mit einem Ruck in eine sitzende Position. Er blickte sich mit gehetztem Ausdruck im Raum um, seine Augen suchten die Fenster ab. „Welcher Stock ist das?“
„Was? Du…“
„Welcher Stock ist das? Bitte!“ Flehentlich packte er sie an den Schultern und schüttelte sie ein wenig, als könnte er so eine Antwort aus ihr heraus bekommen.
„Hey, ist ja schon gut!“ Bestimmt befreite sie sich aus seinem Griff, ließ seine Hände aber nicht los. „Meine Wohnung liegt im ersten Stock. Du bist in Sicherheit. Es ist alles ok.“
Vorsichtig strich sie ihm über den langen Rücken und er ließ sich unvermittelt auf ihre Oberschenkel fallen, faltete sich auf ihrem Schoß zusammen wie ein kleines Hündchen und zitterte nur noch heftiger. Es dauerte eine Weile, bis Cat begriff, dass er weinte. Herzzerreißend weinte. Die tiefen Schluchzer schüttelten sie beide auf dem Sofa und Cat konnte nichts anderes tun, als ihn festzuhalten. Er war nun an die zwanzig Jahre alt und sein großer Körper drückte sie in die Polster, dennoch war er viel zu leicht. Sie flüsterte immer wieder irgendwelche beruhigenden Worte, nahm aber gar nicht wahr, was genau sie eigentlich sagte. Dabei strich ihm unermüdlich über Schulter und Rücken, wiegte ihn sachte hin und her wie ein kleines Kind.
Nach einiger Zeit wurde er ruhiger und döste auf ihrem Schoß ein. Er klammerte sich an ihrer Hand fest, als wäre sie sein Anker im Sturm und Cat gedachte nicht, sich zu bewegen, damit sie ihn ja nicht aufweckte, auch wenn sie das zwang, in dieser nicht gerade bequemen Haltung zu verharren.
Ihr unerwarteter Besucherwirkte nicht nur einfach fertig mit sich und der Welt, nein, er schien ihr fast… gebrochen. Das Antlitz war eingefallen, die Schädelknochen stachen deutlich unter der fahlen Haut hervor. Sein Hals und seine Handlenke waren wundgescheuert wie von… Fesseln! Und der Nackenansatz, der aus dem zerschlissen Kragen des zerlumpten olivgrünen T-Shirts hervor blitzte, wies rote Striemen aber auch ältere wulstige Narben auf.
Du großer Gott, in was war Jayce da nur hinein geraten?
Gut, er hatte sich noch nie mit harmloser Gesellschaft umgeben, sonst hätten sie sich damals wahrscheinlich auch nicht kennen gelernt. Während Cat den jungen Mann in ihrem Schoß festhielt und versuchte, ihm Geborgenheit zu geben, dachte sie an ihr erstes Treffen. Es lag sehr lange zurück. In ihrer Zeitrechnung hatte sie selbst damals noch in den Kinderschuhen gesteckt. Nach ihrer Entlassung war sie einfach in der Welt umher geirrt, hatte in ihrer Unerfahrenheit irgendeinen Weg gesucht, sich über Wasser zu halten. Das Dealen bot schnelles Geld und sie dachte, dass, wenn sie gewisse Regeln aufstellte und es im Rahmen hielt, sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte.
Weit gefehlt, nach nicht mal einem Jahr hatte sich diese Fehleinschätzung auf die schlimmste vorstellbare Weise gerächt. Das war der echte Wendepunkt gewesen, bei dem sie ihren Job und ihr Aussehen und einiges mehr hinter sich gelassen hatte.
Jayce hatte zu den jüngeren Kunden gehört, damals war er 16 gewesen. Zuerst hatte sie nicht gewusst, was sie an ihm mochte,… und warum sie ihm überhaupt etwas gegeben und ihren einzigen Vorsatz, nämlich den, nicht an unter 18-Jährige zu verkaufen, gebrochen hatte. Er hatte so etwas an sich. Er war groß gewesen und breit wie ein Athlet, markierte immer den Harten. Aber gleichzeitig hatte er zerbrechlich gewirkt und… verloren. Einsamkeit hatteaus seinen traurigen Augen gesprochen.
Zunächst hatte sie sich ihr Handeln so erklärt, dass sie ihn schützen wollte, denn nach gewisser Zeit hatte sich gezeigt, dass sich Menschen von der Sucht nicht abhalten ließen. Sie hatte Jayce immer nur eine winzige Dosis gegeben und gehofft, dass sie somit verhindern konnte, dass er an einen anderen Dealer geriet, der nicht auf Qualität und Menge achtete. Sie verstand sein Bedürfnis nach Betäubung, obwohl sie nicht genau wusste, worum es ging. Sie fühlte sich ihm unbewusst nahe, weswegen sie ihm auch so weit vertraut hatte, ihn ein oder zwei Mal auf ihrer Couch übernachten zu lassen. Dann, kurz bevor sie diese Arbeit endgültig an den Nagel gehängt hatte, war er verschwunden.
Sie hatte noch eine ganze Weile nach ihm Ausschau gehalten, hatte all ihre Kontakte abgeklappert. Keiner hatte ihn gesehen, als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst. Daraufhin hatte sie die Vermisstenanzeigen in der Zeitung und im Internet geprüft, aber scheinbar schien ihn niemand zu suchen. Schließlich hatte sie aufgegeben und sich in den Gedanken gerettet, dass er einfach in sein normales Lebens zurückgekehrt war, die Straße und die Drogen hinter sich gelassen hatte. Sie hatte es sich so sehr gewünscht, dass sie es tatsächlich geglaubt hatte, bis er heute Nacht vor ihrer Türe aufgetaucht war.
Schließlich schlängelte sie sich unter ihrem Gast hervor und bettete ihn sanft in den bunt bestickten Kissen des Sofas. Er rührte sich nur wenig, wurde auch gleich wieder still, als sie ihn zudeckte. Leise schlich sie in die Küche und beschloss, etwas zu kochen, um sich zu beschäftigen. Mit einem Blick auf die Uhr über der alten Küchenzeile in dunklem Eichenholz entschied sie sich für Frühstück.
Sie machte Pancakes für Jayce und sich selbst und sorgte in der Küche für ordentliches Geklapper, damit er sie hörte, falls er erwachte. Der süße Geruch von Butter und Teig erfüllte schnell die kleine Wohnung und sie hatte kaum den zweiten Fladen gebacken, stand Jayce auch schon in der Tür. Sein Gesicht war zerknautscht, die Haltung seines Körpers verriet, wie abgekämpft er war und unter seinen Augen leuchteten tief violette Ringe.
Aber als er das Gebäck entdeckte, geriet Bewegung in seine müden Glieder. Er stürzte sich auf den Teller, den sie gerade auf den Tisch gestellt hatte und verschlang daraufhin alles, was sie ihm vorsetzte samt einem halben Liter Sirup. Es war beinahe lustig, ihm dabei zuzusehen, während sie Ladung um Ladung Teig in die Pfanne goss.
Als er fertig war und sich den Mund mit der Serviette abwischte, sagte er das erste Mal etwas, seit er ihren Namen gekrächzt und sich nach der Lage ihrer Wohnung erkundigt hatte.
„Danke.“ Seine Stimme war tiefer geworden, ihr Klang völlig ungewohnt. Er stand auf und gestärkt von der Mahlzeit richtete er sich zu voller Größe auf, die beträchtlich war. „Danke. Ich danke dir für alles, aber ich muss jetzt gehen.“
Als er sich umdrehen wollte, sprang Cat vor und packte ihn am Arm. „Moment, Moment, zumindest eine Erklärung habe ich verdient.“
Jayce wollte sich losmachen, aber Cat konnte ihn bändigen. Erstaunt schob sie ihn gegen die Wand und drückte eine seiner Hände fest gegen die eierschalenfarbene Tapete. Dass es ihr möglich war, einen so großen jungen Kerl festzunageln, schob sie auf seine gegenwärtige Konstitution.
„Also, hast du ein Verbrechen begangen?“
Unvermittelt hielt er inne und wehrte sich nicht mehr gegen ihren Griff. Er starrte sie aus den dunkelbraunen Augen heraus an, als versuchte er, etwas in ihrem Blick zu finden. Cat bemühte sich, ihre Aufrichtigkeit in ihren Gesichtsausdruck zu legen. „Vertrau mir. Ich weiß, wie das ist.“
Erneut nahm ihre Stimme diesen beruhigenden Ton an, den sie vorhin schon benutzt hatte und wieder schien er zu funktionieren. Diesmal starrte Jayce sie wie hypnotisiert an, dann plötzlich beugte er sich vor.
Im Nu ließ Cat ihn los und trat zurück. Der große Dunkelhaarige riss die Augen auf und blickte sie an, als hätte er einen Geist gesehen. Eine Sekunde später war der Ausdruck von seinem Gesicht verschwunden. Verlegen standen sie sich gegenüber, Jayce räusperte sich schließlich und steckte die Hände in die Taschen. Er musterte sie aufmerksam und irgendwie… wissend. Die ganze Situation war ihr mit einem Mal unheimlich. Der Eindruck verstärkte sich, als er höhnisch zu lachen begann, als wäre ihre Frage das Lächerlichste, das ihm je zu Ohren gekommen war.
„Nein, habe ich nicht. Ich bin das Opfer eines Verbrechens geworden. Und du wirst es auch, wenn du nicht bald abhaust.“ Zuerst dachte sie, es wäre eine Drohung. Aber der Tonfall war eher besorgt.
„Was soll das heißen?“
„Du bist wie ich. Und das bedeutet, sie werden kommen. Umso schneller, wenn ich hier bleibe.“ Wieder drehte er sich weg und ging durch ihr gemütliches Wohnzimmer, das sich der Küche direkt anschloss, zum Vordereingang. Sie folgte ihm direkt auf dem Fuße.
„Was meinst du mit, ich bin wie du? Und wer sind sie?“ Erschrocken dachte sie noch Mal über ihre Verbrechenstheorie nach. Meinte er mit ‚Sie‘ die Polizei?
„Warte, ich kann dir helfen!“ Sie versuchte sich vor ihn zu drängen, sodass er sie beinahe umrannte. „Ich kann dir helfen, dich zu ändern. Du kannst… das hinter dir lassen.“
Als sich diesmal ihre Blicke trafen, war es als ob sie durch einen Spiegel in ihre eigenen Augen schaute. Sie sah all das Bedauern und die hoffnungslose Traurigkeit, die auch sie selbst manchmal empfand.
„Du weißt, dass wir das nicht ändern können. Wir sind schon so geboren, also hör auf, dir etwas vorzumachen!“ Rüde schob Jayce sie zur Seite und riss die Tür auf. Cat folgte ihm betäubt die Treppe hinunter zur großen Haustür, aber schon im nächsten Augenblick rannte er über die Straße auf den gegenüberliegenden Bürgersteig zu, um dann immer schneller werdend davon zu hasten.
Sprachlos stand Cat im Türrahmen und verfolgte seine entschwindende Gestalt. Sie hatte schon immer hervorragend gesehen und so konnte sie immer noch jedes Detail seine Körpers ausmachen, als er um die nächste Ecke bog. Er wirkte nicht nur besorgt, er schien gehetzt, als sei er auf der Flucht.
Und das bedeutet, sie werden kommen, hallte es durch ihren Kopf und ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Erschrocken befreite sie sich aus ihrer Erstarrung und suchte aufmerksam die Straße von oben bis unten ab, aber nichts und niemand Ungewöhnliches war zu sehen. Es war immer noch mitten in der Nacht, doch die Sonne würde in zwei oder drei Stunden aufgehen.
Entschlossen raste Cat ins Haus zurück, schnappte sich Jacke und Tasche und nahm die Verfolgung auf. Jayce hatte geredet, als ob er etwas über sie beide wusste, etwas das sie nicht ahnte. Sie brauchte Antworten und sie machte sich entsetzliche Sorgen um ihn. Bei der Panik, die er ausgestrahlt hatte, musste sie in Betracht ziehen, dass der Teufel höchstpersönlich hinter ihm her sein konnte. Und laut seiner Aussage, damit auch hinter ihr.
Der dunkelhaarige junge Mann war so schnell davon gespurtet, dass sie bereits keine Spur mehr von ihm entdecken konnte.
Fluchend überlegte sie hin und her und entschied sich letztlich, dass sie dann eben die ganze Stadt nach ihm absuchen musste, oh Freude, Ceiling City war ja nur die drittgrößte Stadt des Landes. Wobei sie einige Plätze kannte, an denen er vielleicht eher auftauchen würde, als an anderen, vor allem um diese Uhrzeit. Sie klapperte ein paar dieser Orte ab und ihre Suche dauerte bis in die frühen Morgenstunden, doch ihre Hartnäckigkeit wurde belohnt.
In der Dreiundachtzigsten gab es einen Laden, der Stützstrümpfe, Bandagen, Windeln und Heizdecken verkaufte. Im Hinterzimmer jedoch gab es gefälschte Ausweise zu einem vertretbaren Preis. Auch Cat hatte ihren eigenen hier erstanden und kannte den Besitzer gut.
„N’Abend Bruce, wie geht’s dir heute?“, begrüßte sie den ehemaligen Preisboxer. Dieser sah vom Ladentisch auf und sein Gesicht strahlte. Er prüfte schnell alle Monitore der Überwachungskamera, aber sie waren allein im Verkaufsraum.
„Cathleen? Gefällt er dir nicht mehr?“
„Doch doch, alles wunderbar.“ Sie lächelte mit einem Kopfnicken zurück. „Aber ich suche jemanden.“ Bruce hob die Augenbrauen.
„So, so. Wen denn?“
„Etwa 20 Jahre alt, vielleicht 1,85 groß, lockiges dunkles Haar, dunkle Augen, dunkler Teint.“ Als er sie nur mit ausdrucksloser Miene betrachtete, versuchte sie ihm weiter auf die Sprünge zu helfen. „Sieht aus, wie ein Kriegsflüchtling…“
Bruce verzog das Gesicht nicht, aber er stand auf und bedeutete ihr, ihm zu folgen.
Er führte sie in den hinteren Teil des Ladens, das Schild „Nur für Personal“ sollte arglose Kundschaft draußen halten. Vor einer eisernen Tür blieb er stehen und wies dann mit dem Kopf auf den dahinter liegenden Raum.
„Wollte einen neuen Ausweis. Jerry macht gerade Fotos mit ihm.“
Cat nickte. „Danke Bruce, hast was gut bei mir.“
Der Ladenbesitzer ließ sie allein und Cat wartete, bis Jayce herauskam. Er hatte seinen neuen Personalausweis in Händen und bemerkte sie erst, als er direkt vor ihr stand. Er fuhr regelrecht zusammen.
„Verdammt, ich habe dir doch gesagt, dass du in meiner Nähe in Gefahr bist“, zischte er verdrießlich, während er erneut versuchte, sich an ihr vorbei zu schieben.
„Du kannst mir so was doch nicht vor den Latz knallen und dann einfach abhauen.“ Jetzt selbst wütend, heftete sie sich sofort wieder an seine Fersen, als er sich aufmachte, den Laden zu verlassen. Im Vorbeigehen grüßte sie den erstaunten Bruce kurz mit erhobener Hand, aber schon rannte sie Jayce hinter her.
„Jayce!“, brüllte sie und versuchte dran zu bleiben, er war so verdammt schnell.
Schon bald keuchte sie heftig, aber sie konnte ihn immer noch sehen, als er in eine Gasse abbog. Vielleicht in der Hoffnung, sie würde an ihm vorbei laufen. Nur ein paar Augenblicke später schlitterte sie selbst in besagte kleine Seitenstraße und sah, dass der junge Kerl auf eine Sackgasse zulief. Keine Türen, nur hohe Häuserwände und am anderen Ende eine drei Meter hohe Mauer. Keine Möglichkeit, sich davon zu stehlen, ohne dass er dabei an ihr vorbei musste.
„Jayce!“, rief sie wieder und er dreht sich verärgert um.
Cat wollte ihn schon weiter beschimpfen, als aus dem Nichts zwei vermummte Gestalten hinter dem großen Kerl auftauchten. Im einen Augenblick war da nichts als Luft, im nächsten standen zwei dunkle Figuren dort.
Die Eine berührte die Andere zunächst an der Schulter, ließ sie aber dann los. Der frei gewordene Mann, Größe und Statur deuteten darauf hin, dass es Männer waren, bewegte sich rasch auf Jayce zu. Es ging alles so schnell, dass Cat keine Gelegenheit hatte, sich aus ihrer Schockstarre zu lösen. Wie versteinert beobachtete sie, wie Rambo sich Jayce schnappte, als wöge er rein gar nichts. Dann stieß er sich samt des zappelnden Bündels vom Boden ab und… und flog!
Um Himmels willen, er stieg einfach so in die Luft auf!
Cat traute ihre eigenen Augen nicht und glaubte ihr Herz würde gleich stehen bleiben. Vielleicht hatte sie auch Flashbacks und erlebte eine der Halluzinationen aus der Zeit ihrer Behandlung? Das Nebenprodukt ihre Geschichte war, dass sie ihrem eigenen Verstand in solchen Sachen nicht traute, obwohl sie selbst schon so einiges erlebt hatte, das gegen die Gesetze der Natur verstieß. Aber sie hatte nie einen Beweis dafür gehabt, nur ihr Gespür, ihre Überzeugung.
Jetzt fühlte sie sich wie im Film, während sie mit Stummheit geschlagen war und sich angstvoll gegen die nächste Hauswand presste.
Sie werden kommen.
Mein Gott, hatte er davon gesprochen?
Das Zweiergespann stieg immer höher und höher, doch plötzlich ließ der Vermummte los und Jayce fiel.
Die Zeit verlangsamte sich, Cat nahm sie nur noch in Zeitlupe wahr.
Sie konnte nicht mehr still sein. Ein spitzer Aufschrei brach aus ihr heraus und sie stolperte vorwärts, ohne zu wissen, was sie eigentlich vorhatte. Auffangen konnte sie ihn auf keinen Fall, sie wäre ohnehin nicht schnell genug vor Ort… und da stand ja auch immer noch der andere Angreifer. Ihr Schrei hatte nicht nur ihn auf sie aufmerksam gemacht, von der Straße her drangen neugierige Stimmen. Bald schon hätten sie Besuch von Schaulustigen.
Währenddessen fiel Jayce, er ruderte mit den Armen und fiel und fiel, bis er mit einem hässlichen dumpfen Geräusch auf dem Asphalt der Gasse aufschlug. Die Laute ließen ihr Blut in den Adern gefrieren.
Der Flieger landete neben seinem Kumpel, welcher ihm erstaunlich ruhig die Hand wieder auf die Schulter legte. Nur Sekunden später verschwanden sie ins Nichts, als wären sie nie dagewesen.
Cat erreichte rutschend Jayces Körper und ließ sich auf die Knie sinken. Sie war so geschockt, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen und dass sich die Gasse hinter ihr immer mehr mit neugierigen Gaffern füllte, bemerkte sie kaum. Wahrscheinlich hätte man direkt neben ihrem Ohr eine Rohrbombe zünden können und sie hätte nicht ein Mal gezuckt.
Mit zitternden Fingern tastete sie an dem verdrehten Hals nach einem Puls, aber sie fand keinen mehr. Ungläubig zerrte sie an der dunklen Jacke und rief seinen Namen, aber er antwortete nicht mehr.
„Nein, Jayce!“, schluchzte Cat leise und beugte sich schützend über den Toten.
Was sie gerade gesehen hatte, nicht nur der Tod, sondern auch das… wie. Was hatte das nur alles zu bedeuten?
Wie konnte der Vermummte einfach so… fliegen? Allein es zu denken kam ihr verrückt vor. Und das war sie doch nach landläufiger Meinung auch. Ihre Psychosen, wie sie die Ärzte nannten, ihr Fluch, wie sie selbst es nannte, hatte sich immer nur an ihr selbst gezeigt. Dass sie etwas verursachen konnte, das eigentlich unmöglich sein sollte und das ihr niemand glaubte, obwohl sie es tief drinnen… wusste.
Aber heute hatte sie mit eigenen Augen gesehen, dass es noch andere Dinge auf der Welt gab, die sich mit ihrem bisherigen Verständnis nicht erklären ließen. Himmel, neben all dem Schrecken und der Trauer bildete sich eine weitere Emotion. Eine merkwürdige Form von Erleichterung gesellte sich zu ihrem Gefühlschaos. Und dafür schämte sie sich, während ihr die Tränen die Wangen runter liefen.
„Ok, ok, ok. Ich geb’s zu. Ich rufe an, weil ich deine Hilfe brauche. Bist du nun zufrieden?“
Zufrieden konnte man das nicht gerade nennen. Eigentlich wünschte sich Xandra, dass sie die Rückspuhl-Taste betätigen konnte, um die dunkle Stimme aus dem Handylautsprecher sagen zu hören, dass er nur anrufe, um sie wieder zu sehen. Vielleicht eine nette Einladung zum Kaffe aussprach, so große Ansprüche hatte sie gar nicht.
„Oh bitte. Wieso war mir das sonnenklar, du Schleimbeutel?!“ Das sagte sie nur, weil sie wusste, dass der Anrufer es verkraften konnte, so hatte alles zwischen ihnen angefangen. Was mit ein paar Neckereien bei ihrem letzten Besuch in Wahrschau auf einem Landsitz ihrer Familie begonnen hatte, mündete nach ein paar Dates und weiteren Flirtereien in einer kurzen Affäre, die Xandra ehrlich gesagt gerne fortgesetzt hätte. Doch wie alles ein Ende hatte, traf das auch auf ihren Heimaturlaub zu und die Gäste ihres Vaters waren ebenfalls bald abgereist.
Es war nicht so, dass sie wütend auf den Kerl am anderen Ende der Leitung war, von Anfang an war beiden bewusst gewesen, dass die Beziehung ein Verfallsdatum hatte. Das war jetzt über den Daumen gepeilt zwei Jahre her, ohne dass sie etwas von ihm gehört hätte. Trotzdem hatte sie oft an ihn gedacht, weil er einer der wenigen Exemplare der männlichen Gattung war, die sich von ihrer Stärke nicht einschüchtern ließen. Und wenn sie Stärke sagte, meinte sie nicht nur die rein physische oder die mentale. Xandra war eine dominante Frau und als solche durchdachte sie ihre Entscheidungen gründlich und das Ergebnis vertrat sie in dem Glauben, dass sie unmöglich im Unrecht sein konnte. Sie war eine schwere Gegnerin, im Beruf wie auchprivat. Um sie umzustimmen, musste man schon triftige Gründe haben und diese auch mit Beweisen untermauern können. Das schreckte viele ab, Menschen wie Elevender.
„Genau genommen rufe ich wegen deinem Vater an“, drang es resigniert aus dem Hörer.
„Reizend. Genau das will ein Mädchen Samstagnacht am Telefon von ihrem Exlover hören, nachdem er zwei Jahre lang wie vom Erdboden verschluckt war.“ Sie konnte sich die kratzbürstige Entgegnung nicht verkneifen, denn bei dem Thema bekam sie auf kurz oder lang schlechte Laune.
Wenn ihre große Klappe und ihr Ego die Männer nicht fernhielten, dann war es ihr Vater, der das liebend gern für sie in die Hand nahm. Vor allem bei Elevendern klappte das hervorragend, da der Name Chronos bis in die letzten Winkel der Welt unter ihrem Volk bekannt war. Er war das älteste lebende Mitglied des Rates, der sich um die Organisation und die Leitung der Legion kümmerte, einer Vereinigung von Elevendern, die seit Jahrhunderten versuchte, der Machtgier der Hegedunen entgegen zu wirken.
Die Hegedunen bestanden aus ein paar Handvoll uralter Elevender-Familien, die danach strebten, die Herrschaft über die Menschen und die restlichen Elevender auf der Welt - die sich entweder der Legion angeschlossen hatten oder unauffällig unter den Menschen lebten, wenn es ihre Kräfte zuließen - zu erlangen. Da sich bei all dem Gerangel bisher doch alle einig gewesen waren, ihre Existenz, die Existenz von Elevendern zu verbergen, hatten die Hegedunen lange Zeit Gelegenheit gehabt, unbemerkt eigene Vertreter an Machtpositionen in der menschlichen Gesellschaft einzuschleusen. Dieser Vorgang war völlig verdeckt von Statten gegangen und die von den Hegedunen installierten Machtstrukturen reichten über Regierungen, Gremien, Öl- und Pharmaindustrie, Militärs, globale Lebensmittel- und Technikkonzerne und beinhaltete als zentrales Kontrollinstrument das Währungs- und Geldschöpfungssystem und damit auch die Finanzindustrie samt den Banken. Die Weltbevölkerung ahnte nichts davon, dass die Spinne sie bereits eingesponnen hatte. Wenn also all das bekannt werden würde, was sollte die Menschen davon abhalten, alle Elevender über einen Kamm zu scheren und die Legion als ihren Feind zu betrachten? Auch Xandra glaubte nicht, dass die Menschen dazu fähig waren, in ihnen etwas anderes als eine Bedrohung zu sehen. Dabei bedeutete ein Elevender zu sein lediglich, dass man etwa im Alter von 15 Jahren eine Begabung entwickelte, die Menschen vielleicht unnatürlich erscheinen mochte. Wie…. Zauberei. Gut, da waren noch die größere Ausdauer und Kraft, die schärferen Sinne und der langlebige Körper, dem Krankheiten oder ähnliches nichts anhaben konnten, doch nichtsdestotrotz waren sie menschlichen Ursprungs, Ergebnis einer verrückten Mutation, die sich vererben ließ. Dass sich die beiden Spezies auf dem Planeten im Aussehen ziemlich ähnelten, erleichterte Xandra ihre Arbeit als Ärztin erheblich. So war sie im Stande beide zu behandeln. Dabei unterschieden sich die medizinischen Fälle nur insofern, dass Elevender lediglich bei schlimmen Unfall- oder Kampfverletzungen ärztliche Hilfe benötigten, sogar Knochenbrüche heilten in Stunden. Menschen waren da um einiges anfälliger.
„Wenn ich mich richtig erinnere, hatte ich in den zwei Jahren auch keine Nachricht von dir auf dem AB. Meine Nummer hat sich nicht geändert, wie du siehst. Ich dachte, alles war klar zwischen uns.“ Evrill klang aufrichtig, wie er das sagte.
„Das war… ist es auch“, lenkte sie ein. „Hätte nur gern gewusst, ob du noch am Leben bist, oder schon deinen leichtsinnigen Kopf verloren hast.“
Noch mehr Seufzer in der Leitung. „Also wie du hörst, ich lebe noch.“
„Das war mir auch klar, aber ich hab‘ es nicht von dir zum ersten Mal gehört. Du hast mich dazu gebracht, meine Mutter zu fragen! Weißt du eigentlich wie das ist, wenn man die größte Klatschtante der Elevenderschaft mit der Nasen voran in sein Liebesleben reinzieht? Die Frau hat Augen und Ohren wie ein Luchs, natürlich ist ihr unser Flirt nicht entgangen. Sie wollte alles haarklein erfahren und wenn sie es weiß, kannst du davon ausgehen, dass deine Mutter auch im Bilde ist.“
„Du tust ja gerade so, als wäre das meine Schuld. Du hättest mich einfach anrufen und fragen können.“ Spiel, Satz und Sieg.
Evrills logische Argumentation nahm ihr den Wind aus den Segeln. „Ich… hatte mein Handy verloren.“ Glatt gelogen.
„Hast du nicht.“
„Hatte ich doch.“
„Und jetzt hast du’s wieder?“
„Ist ein neues Handy, alte Nummer.“
Evrill schmunzelte und sie konnte sich trotz der vergangenen Zeit vorstellen, wie seine hellgrauen, silbrig wirkenden Augen dabei leuchteten und sich Grübchen auf den hohen Wangen bildeten.
„Also, was willst du von meinem Vater?“ Xandra wählte das kleinere Übel und versuchte, das Thema zu wechseln, wenn auch auf äußerst plumpe Weise, was ihr Gesprächspartner nur mit einem lapidaren Schnauben quittierte.
„Warum hast du nicht angerufen?“, bohrte Evrill nach und war damit etwas auf der Spur, das er wahrscheinlich gar nicht genauer wissen wollte. Laut ihrer und seiner Mutter war Evrill mehr an seinen Geschäften als an Beziehungen interessiert. Er pflegte angeblich allenfalls halblebige Affären zu irgendwelchen Models, obwohl ihm selbst die bald lästig wurden. Was genau er arbeitete und wie er die Bekanntschaft von Frauen dieses Kalibers machte, wusste Xandra nicht, aber da ihre Eltern schon lange befreundet waren und Evrills Vater ein ehemaliges Ratsmitglied war, bezweifelte sie nicht, dass seine Unternehmungen reiche Früchte trugen. Da er sich, nach eigenen Worten, aus den Interessen der Legion weitestgehend heraus hielt, um seiner Mutter einen Gefallen zu tun, musste es aber irgendetwas in der menschlichen Welt sein.
Xandra biss die Zähne zusammen. Sie war eigentlich ganz gut im heraus lamentieren, aber feige war sie nicht.
„Wie du schon sagtest. Zwischen uns war alles klar und ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass ich… ähhh… bedürftig wäre, oder etwas in der Richtung.“ Komisch, bisher hatte sie noch nie gestottert. Vielleicht weil sie erneut log, dass sich die Balken bogen.
Einen Moment lang herrschte Stille in der Leitung, dann lachte der junge Elevender bellend in den Hörer. Es dauerte eine Weile, bis er sich so weit beruhigt hatte, dass er wieder sprechen konnte.
„Entschuldige bitte.“ Noch ein Glucksen. „Bei dir wäre ich garantiert nie auf die Idee gekommen, dass du in irgendeiner Form… bedürftig sein könntest.“ Wieder eine Pause. „Obwohl ich dir, als vollendeter Gentleman, natürlich gerne jeder Zeit bei… allem behilflich wäre, falls du doch… etwas benötigen solltest.“
„Ja, ähhm, danke. Also, zurück zu meinem Vater“, startete Xandra einen zweiten Versuch, das Gespräch wieder in Gefilde zu lenken, die hoffentlich nichts mit ihrem Privatleben zu tun hatten. Die Gründe waren damals dieselben wie heute. Evrill zog sie an, zu sehr, als dass es ihr geheuer gewesen wäre. Und selbst wenn sie auf den reizvollen Flirt eingestiegen wäre, was für eine Zukunft sollte das Ganze haben? Er, wo auch immer er war und sie, die immer noch in den Vereinigten Staaten lebte.
„Wie du willst!“, kam die galante Antwort. „Aber dazu muss ich ein bisschen ausholen.“ Es entstand eine Pause, in der er gedehnt einatmete. „Sagen wir, durch meine Geschäfte konnte ich Kontakt zu einer Gruppierung von Menschen aufbauen, die weitestgehend aufgeklärt sind und gegen die Hegedunen kämpfen wollen. Sie sind zahlenmäßig schwach besaitet, aber sie haben unter den gegebenen Umständen einen hohen Zulauf. Ich decke sie und zusammen mit ein paar Freunden schützen wir einigeihrer Standorte. Dennoch, ohne zusätzliche Unterstützung werden sie sich nicht weiterentwickeln können, etwas in der Größenordnung übersteigt meine Möglichkeiten.“ Sie konnte Bedauern in seiner Stimme hören. „Meinen Vater kann ich nicht fragen, er hat meiner Mutter versprochen, sich aus der Legion zurück zu ziehen. Also dachte ich, dass du vielleicht über deinen Vater vortasten könntest, wie die Haltung des Rats zu dem Thema ist, bevor wir sie offiziell bekannt machen.“
Als dieser Abend begonnen hatte, hatte Xandra sich zurechtgemacht, ihre Ausgehuniform angezogen, die Waffen an strategisch günstigen Plätzen versteckt und war mit ihrer Truppe zur nächtlichen Patrouille durch die Stadt aufgebrochen. Sie hätte mit einigem gerechnet, als sie ihr Zimmer verlassen hatte, aber Evrills Anliegen übertraf ihre wildesten Fantasien.
„Was sind das für Geschäfte, die dir zu solchen Freunden verhelfen?“, erkundigte sie sich misstrauisch. Bisher war sie der Annahme gewesen, Ev engagiere sich nicht politisch.
„Investment. Zunächst waren sie meine Klienten. Wie dir sicher bekannt ist, verkehren in diesem Gewerbe vor allem Hegedunen, darum nehme ich keinen Kunden an, bevor ich einen Hintergrundcheck über ihn habe. Bei ihnen war das besonders schwierig, das hat meine Neugier geweckt.“
„Ich hätte ja nicht gedacht, dass du dich auf dieses Niveau begibst und Geschäfte mit Hegedunen machst. Gefällt das Mommy und Daddy?“ Innerhalb der Legion waren Geldgeschäfte verpönt. Man war sich im Klaren darüber, dass das Finanz- und Kreditsystem das war, was die Menschenwelt letztendlich im Würgegriff hielt und den Hegedunen ihre Herrschaft sicherte.
Evrill lachte kurz auf. „Ha, das gefällt ihnen mit Sicherheit nicht, aber es war das kleinere Übel und mit weniger Risiken verbunden als das, was ich eigentlich wollte.“ Xandra erinnerte sich, dass er immer sehr an ihren Aufträgen interessiert gewesen war. Durch seinen Vater hatte Evrill eine umfassende Ausbildung der Legion erhalten. Genau wie sie hatte er früh das Kämpfen gelernt und war in Geschichte, Wirtschaft und Politik sowie diversen weiteren Disziplinen unterrichtet worden, die man als Jäger brauchen konnte. Ob Ezekiel es mochte oder nicht, er war nicht so dumm gewesen, seinen Kindern keine Waffen an die Hand zu geben, um sich zwischen Hegedunen und Menschen behaupten zu können.
„Wahrscheinlich ist es das wirklich.“ Das zeigte zumindest ihre eigene Erfahrung. „Aber bitte schön, du willst mit dem Feuer spielen? Ich werde meinen Vater anrufen und ihn fragen.“ Wie es aussah, hatte Ev diese Entscheidung schon vor einiger Zeit getroffen, denn seine Bitte wies eindeutig darauf hin, dass er bereits knietief in poltischen Verwicklungen steckte, obwohl er sich bisher geschickt aus dem Visier der Legion herausgehalten hatte, das hätte Xandra sonst mitbekommen. Durch ihre Familie war sie eigentlich immer bestens informiert.
„Danke. Dachte schon, du willst mich betteln lassen.“
„Wir haben noch nicht über den Preis geredet“, warf sie daraufhin betont unschuldig ein und grinste schon bei dem Gedanken an die verschiedenen Möglichkeiten, wie sie den Gefallen einfordern könnte. „Du weißt, eine Hand wäscht die andere.“
„Ich würde dir auch andere Körperpartien waschen, falls dir das vorschwebt.“ Er musste selbst durchs Telefon merken, dass sie rot wurde, denn für einen Moment hatte es ihr die Sprache verschlagen, was bei ihr selten vorkam. Ihre schlagfertige Natur hatte nur eine Schwäche: Evrill.
„Ich dachte eher an einen Besuch, aber…“ dabei konnte er seinen Vorschlag natürlich gerne in Angriff nehmen. „… ich überlasse dir, was du draus machst.“ Tja, die besten Vorsätze hielten der Anziehungskraft nicht stand, die der weißblonde Elevender auf sie ausübte. Sie musste sich sehr konzentrieren, um die aufziehenden Bilder von den breiten, trainierten Schultern und den schmalen Hüften abzuschütteln.
„Kein guter Tausch, Schätzchen. Wenn du nicht aufpasst, zahle ich gar keinen Preis, sondern bekomme sogar eine Gratisprobe obendrauf.“
„Das lass‘ Mal meine Sorge sein.“
„Ich mache mir keine Sorgen. Im Gegenteil freue ich mich schon drauf, diesen Preis zu löhnen.“
„Warte bis du den zweiten Teil hörst.“ Bei aller Freundschaft, veräppeln lassen würde sie sich nicht. „Wenn ich mit meinem Vater gesprochen habe, musst du mir alle Informationen geben, die du hast, egal was er dazu sagt.“ Diese Bedingung schien schon wesentlich schwieriger zu erfüllen zu sein. Evrill zog hörbar die Luft ein. Es rauschte vernehmlich in der Leitung und sie war ein weiteres Mal froh, dass dies auf keinen Fall von einem ungebetenen Zuhörer stammen konnte, da die Legion dafür sorgte, dass ihre Anrufe nicht überwacht werden konnten.
„Gut!“, gab Evrill schließlich nach. „Aber die Tür muss in beide Richtungen schwingen, wenn du verstehst, was ich meine.“
„Schon klar!“
„Also sind wir uns also einig?“
„Absolut.“
„Dann höre ich von dir. Und… bitte lass‘ dir keine zwei Jahre Zeit, ok?“
Xandra kicherte verwegen. „Obwohl der Gedanke doch sehr verlockend ist, hatte ich das nicht vor. Aber jetzt wo du es…“
„Vergiss‘ was ich gesagt habe und ich lege jetzt schnell auf, bevor ich dich noch auf andere dumme Ideen bringe.“ Letzteres hatte er vom ersten Moment an perfekt beherrscht.
„Mach’s gut, Evrill!“, verabschiedete sie sich immer noch glucksend. „Und… pass‘ auf dich auf.“
„Du auch. Wenn ich dich besuche, will ich keinen Kratzer sehen.“ Für Evrill stand es wohl außer Frage, dass es ihm gestattet werden würde, das genau zu überprüfen.
Xandra ließ ihr Smartphone in die Tasche der engen dunklen Skinny Jeans gleiten und sah sich im düsteren Hof des Clubs um, vor dessen Hintertür sie gerade Evrills Anruf entgegen genommen hatte. Das weite Tanktop und die Jacke aus cognacfarbenem Leder verdeckten ihre Glock und die Wurfmesser ganz gut. Am Gürtel, der ebenfalls unter dem Saum des weichen Leders verschwand, hatte sie die nötigsten Erste-Hilfe-Utensilien angebracht, die sie bei den nächtlichen Streifzügen mit ihrem Einsatzteam benötigte.
Ein paar Mal die Woche machten sie sich zu verschiedenen Zeiten auf, um in variierenden Gruppen, die sie als ausgebildete Sanitäterin und Jägerin begleitete, durch Ceiling zu streifen. Immer auf der Suche nach Informationen oder anderen brenzligen Situationen, die ihre Aufmerksamkeit erforderten.
Die geheime Schreckensherrschaft der Hegedunen umfing die Menschen schon seit Jahrhunderten unbemerkt, wie die Luft um sie herum. Und genauso, wie man erst nicht bemerkt, dass eben diese Luft dünner wurde, ihr der gesamte bitter nötige Sauerstoff entzogen wurde, merkten die Menschen nicht, dass sich die Schlinge immer enger um sie zog. Dass alles was sie taten, ob sie arbeiteten, Steuern zahlten, konsumierten, Krieg führten, alles diente letztendlich dazu, das Vermögen und die Macht bei den Hegedunen zu zentrieren.
Durch das ausgeklügelte Wirtschaftssystem fand die Umverteilung des erwirtschafteten Gewinns von unten nach oben statt, von den Menschen zu den Hegedunen. Es war ein Trauerspiel, mit an zu sehen, dass die Menschheit sich buchstäblich wie der Esel verhielt, der der Karotte an der Schnur vor seiner Schnauze hinterherlaufen wollte, aber sie doch nie erreichen würde. Denn das Prinzip, mit dem die Hegedunen ihre Sklaven an der Kandare hielten, war denkbar simpel.
Schon seit Menschengedenken bemühten sich die Hegedunen um Reichtum und Herrschaftspositionen, weshalb sie Monarchien und den Feudalismus einführten. Diese Herrschaftsformen erfüllten ihren Zweck und mehrten die Macht der Unterdrücker, aber in sich waren sie auch schwerfällig und hatten vor allem eine Schwäche: wollte die Bevölkerung aufbegehren, wusste sie ganz genau, wo der Feind saß.
Zudem führte die Kluft zwischen Herrschenden und Untergeben zu einem grundsätzlich vorhandenen Unruhepotential. Durch Ereignisse wie die französische Revolution und den amerikanischen Bürgerkrieg wurde den Hegedunen vor Augen geführt, dass dies nicht der Weg zu ihrem Ziel war. Weshalb sie sich von da an in den Untergrund zurück zogen und nur noch im Verdeckten agierten.
Mit der aufkommenden Industrialisierung und Demokratisierung der Welt boten sich ihnen schließlich völlig neue Möglichkeiten. Wirtschaftliche Macht wurde immer wichtiger und nachdem die Hegedunen endlich das ultimative Unterdrückungsinstrument gefunden hatten, zwangen sie der amerikanischen Regierung ihr eigenes Geldschöpfungssystem in Form der Federal Reserve auf. Von nun an musste der Staat das Geld, das er über seine Banken in Umlauf brachte, bei ihnen unter Zinsen leihen. Dies stellte sicher, dass die Vereinigten Staaten finanziell und volkswirtschaftlich vom Willen der machtgierigen Elevender bestimmt wurden.
Dieses Geldschöpfungssystem trugen sie mittels Kriegen, die sie die Amerikaner zwangen zu führen, in die ganze Welt. Das gesamte zwanzigste und einundzwanzigste Jahrhundert hindurch unterlag ein Saat nach dem anderen der US-amerkanischen Invasion und wurde besetzt, das Gesellschaftsystem demokratisiert und die Bevölkerung klammheimlich durch Werbung und Propaganda nach dem Konsumentenideal der Hegedunen umerzogen. Von da aus infiltrierten sie andere zentrale Wirtschaftszweige, bis ihr Einfluss so allumfassend war, dass er ins Wohnzimmer des letzten Einwohners in Alaska reichte. Es war völlig egal geworden, wer herrschte, wer Krieg führte, alles wanderte in die Taschen der Hegedunen.
Heute, am Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts, war dieser Prozess soweit abgeschlossen und da der technische Fortschritt Arbeitskräfte immer unnötiger machte, wurde die Bevölkerung still, leise und hinterhältig dezimiert. Neben weiteren Kriegen tauchten neue Krankheiten auf, es passierten Unfälle in der Atomindustrie, die eigentlich veraltet war und Umweltunglücke wurden durch die nun mögliche, aber geheim gehaltene, Wetterkontrolle immer häufiger.
Die Legion versuchte von Anbeginn der Zeit, all das zu verhindern. Da sie sich aber nicht der gleichen Mittel bedienen wollten wie ihre Widersacher und wesentlich weniger, als Hegedunen und Menschen waren, konnten sie oftmals nur wenig ausrichten. Meist waren sie damit beschäftigt, die Menschen davon abzuhalten ihre Situation noch zu verschlimmern, oder einen neuen Plan der Hegedunen zur besseren Ausbeutung oder Ausrottung der menschlichen Spezies zu verhindern. Eine echte Chance dieses dunkle Machtgespinst zu zerstören hatte sich nie geboten und so lange die Hegedunen die menschlichen Körper und Geister vergifteten und damit befehligten, würde das auch so bleiben.
Sollte die große Anzahl an Homo sapiens ein Mal aufwachen und sich gegen die Legion wenden, wäre das heimliche Mächteringen ein für alle Mal vorbei. Und es würde sich nicht zu ihren Gunsten entscheiden. Jedoch war das in den letzten hundert Jahren weniger ihre Sorge gewesen. Denn wie sich gezeigt hatte, war die hegedunische Umerziehung des mündigen, ethischen Menschen zu einem in die Glotze starrenden, konsumierenden Neandertaler so effektiv gewesen, dass sie die Wahrheit gar nicht mehr hören wollten. Ihre Bequemlichkeit und Obrigkeitshörigkeit wogen sie in falscher Sicherheit und so weigerten sie sich, all die Ungereimtheiten und gefährlichen Entwicklungen zu sehen, als würden sie sich instinktiv aus Selbstschutz weigern hinzuschauen.
Mit diesem Bild vor Augen dachte Xandra an Evrills Worte. Wenn sie es tatsächlich schaffen sollten, eine Verbindung zu einer aufgeklärten und mächtigen menschlichen Gruppierung aufzubauen, könnte ein entscheidender Wendepunkt erreicht werden. In den Jahrhunderten, die sie jetzt auf der Erde weilte, hatte sie schon viele solche kleineren Gruppen gesehen, die rebelliert hatten, die sich befreien wollten. Aber nie hatten sie Elevendern so weit vertraut, mit der Legion zusammenzuarbeiten, was wahrscheinlich auch ein Grund dafür war, warum sich diese kleinen Strohfeuer nie ausgebreitet und zu echten Veränderungen geführt hatten.
Besorgt kniff Xandra die Augen zusammen und massierte ihre Nasenwurzel. Die Muskulatur dort war von dem ganzen Augenbrauen-Zusammenziehen und Stirn-Runzeln so angespannt, dass sich schon die Kopfschmerzen ankündigten. Dieses Problem hatte sie öfter, wobei sie es als Elevender leider nicht auf ein körperliches Gebrechen schieben konnte. Nein, die Symptome waren psychosomatischer Natur und rührten von der dauerhaften Anspannung, in der sich Xandra befand. Doch sie bemerkte sie erst in solchen Momenten wie jetzt, wenn die Verkrampfung einen Migräneanfall auslöste.
Während sie sich an der Hauswand entlang auf die Hacken ihrer ebenfalls cognacbrauen Lederstiefel sinken ließ, schob sie die langen blonden Wellen zur Seite, um einige Akupressurpunkte an Nacken und Schläfen erreichen zu können. Der Druck auf besagte Stellen erleichterte stets den Schmerz und verhinderte Schwindel und Gesichtsfeldausfälle. Sie presste die vom telefonieren kalten Finger in die Haut und überschlug im Kopf die Zeitverschiebung zwischen Ceiling City und Kaliningrad. Sie beschloss, den Anruf erst zu tätigen, wenn sie von ihrem Rundgang wieder zurück auf dem Anwesen war. Dann wäre ihr Vater wahrscheinlich schon wach.
Nachdem sie eine Weile so vor dem Hintereingang des Techno-Schuppens gekauert und die Migräne mit ihrer Methode erst ein Mal eingedämmt hatte, ging sie zurück zu ihren Kollegen. Laut dröhnende Musik schlug ihr entgegen, als sie die schwere Feuertür aufzog und in die stickige Luft schlüpfte. Einige menschliche Besucher säumten den Flur, der den Hauptraum der Diskothek mit dem Hof verband. Sie standen an den Toiletten Schlange oder befingerten sich im Dunkeln. Die riesige Tanzfläche lag im Zentrum des hallenähnlichen Gebildes, Emporen umkreisten sie im ersten und zweiten Stock, sodass man auf die Tanzenden herabblicken konnte. Im Erdgeschoss wurden Durstige an den lange Bartresen entlang aller vier Wände versorgt und in den Ecken, rund um die Treppen, genauso wie auf den Emporen luden cremefarbene Sitzlandschaften mit dicken Kissen zum Verschnaufen ein.
Xandra erklomm die Stufen zum ersten Stock und suchte nach ihren drei Begleitern. Auf Grund deren schieren Größe und der Ausmaße ihrer Schultern waren sie nicht schwer zu finden. Ihre Jägerstatur hob sie deutlich von der anderen Clubbesuchern ab und Christians hellblondes Haar, sowie sein kinoreifes Aussehen sorgten meist für eine rege Schar an Bewunderinnen.
Sie fand Chris und Dareon, auch liebevoll die Bärenbrüder oder Fix und Foxi genannt, in einer Sitzloge in der Ecke, erwartungsgemäß bereits von zwei angetrunkenen Clubbesucherinnen belagert. Chris versprühte seinen ganzen Charme, aber Xandra hatte schon so oft dabei zu gesehen, dass die Show ihren Reiz verlor. Sie kannte die Abfolge ganz genau. Gerade legte er die Arme auf die Rücklehne der Couch, wie zufällig landete der eine Unterarm hinter der großen Brünetten. Gleichzeitig ließ er sich tiefer ins Polster zurück sinken, als würde er es sich bequem machen wollen. Dabei diente die Bewegung nur dazu, den Oberschenkel an ihren zu drücken. Das hieß, sie hatten das „Ich hab dich hier schon Mal gesehen, du bist mir gleich aufgefallen.“, was erstaunlicherweise in neunzig Prozent der Fälle funktionierte, schon hinter sich gelassen und steuerten geradewegs auf den Ich-bringe-dich-zum-lachen-und-berühre-dich dabei-immer-wieder-‚zufällig‘-Boulevard. Dann kam der ganze Kram mit den Haaren und wenn sein stetig erstrahlendes Lächeln und die leuchtend blauen Augen das Steuer bis zu diesem Zeitpunkt nicht herumgerissen hatten, dann folgte die immer erfolgreiche Ich-tanze-mit-deiner-Freundin-und-schenke-dir-dann-wie-durch-ein-Wunder-wieder-meine-Aufmersamkeit-Attacke, die zu guter letzt auf den Zu-dir-oder-zu-mir-Highway führte. Wobei das Geschäft auch oft vor Ort seinen Abschluss fand.
Bevor Xandra Chris kennen gelernt hatte, hatte sie immer eine hohe Meinung von ihrem Geschlecht gehabt. War der Überzeugung gewesen, dass Frauen vielleicht in körperlicher Kraft unterlegen waren, aber so ziemlich alles andere besser konnten als Männer. Doch offensichtlich war Chris dermaßen gutaussehend, dass selbst die kultiviertesten und gebildetsten Frauen ihren Verstand über Bord warfen, und manchmal ihren Anstand gleich hinterher, und sich ihm mit oder ohne Einladung an den Hals warfen. Chris war in der Hinsicht wie ein Promi. Eine Art Trophäe, mit der sich jede schmücken wollte, egal wie lange der Kontakt gedauert hatte.
Seitdem waren vor allem besagte Vertreterinnen der weiblichen Bevölkerung in Xandras Ansehen rapide gesunken. Was anscheinend hieß, beinahe alle. Zum Teil war das extrem nerv tötend, aber hin und wieder auch höllisch praktisch und… höllisch sexy dazu. Ach zum Teufel, wen sollte sie belügen, einen Blick riskierte auch sie von Zeit zu Zeit, sie war schließlich am Ende auch eine Frau. Zur Hölle.
Der andere Bärenbruder saß neben dem turtelnden Gespann und war bemüht, die Freundin der Brünetten zu bespaßen. Als getreuer Wingman hielt er seinem Kumpel den Rücken frei, war dabei aber immer wenig offensiv. Alle Kollegen kannten den Grund dafür, aber offiziell wurde nicht darüber gesprochen.
Unweit von der Truppe stand Roman am Geländer. Er hatte die Ellenbogen auf das Metall gestützt und sah auf die Tanzfläche hinunter, aber als Xandra sich neben ihn stellte, blickte er auf.
„Was war denn so wichtig, dass es nicht warten konnte?“
„Nur ein Anruf.“
Eine seiner Augenbrauen wanderte in die Höhe. „ Wer war es denn? Nächtliche Anrufer interessieren mich brennend.“
„Oh Mann, du nicht auch noch. Meine Mutter hat das Verhör schon geführt, Officer.“ Frustriert legte sie den Kopf in den Nacken. Sie verspürte nicht die geringste Lust, dieses Thema auch noch vor ihren Freunden und Kollegen breit zu treten.
„Du kannst mit den Augen rollen so viel du willst, du wirst mich nicht los. Als ich Yumi getroffen habe, hast du mich auch nicht in Ruhe gelassen. Das ist nur die Retourkutsche.“
„Der Anrufer war auch nicht mein Gegenstück. Die Situation lässt sich kein Bisschen vergleichen. Wie kommst du überhaupt auf so was?“
„Dein Gesichtsausdruck als du auf den Display geschaut hast.“ Er musste sich einfach breit grinsend einmischen. „Den hätte sogar ein Blinder deuten können.“
Er lehnte sich ausgelassen neben Xandra an die Brüstung im ersten Stock des Techno-Clubs inmitten des Herzens von Ceiling. Heute Abend war seine Laune ausnahmsweise Mal wirklich gut, nicht nur geheuchelt gut. Der Tag hatte zwar beschissen angefangen, im Verlauf aber war dann doch ein kleines Wunder geschehen. Weswegen sein Lächeln heute echt war. Eine Seltenheit in den letzten Jahren.
„Oh bitte, was ist das hier? Gruppentherapie?“ Xandra schnaubte verächtlich. „Ich gebe euch den gleichen Rat wie meiner Mutter: Haltet euch aus meinen Liebesleben raus! Und das meine ich vor allem aus ärztlicher Sicht.“
„Ha, aber du gibst zu, dass der Anruf mit deinem Liebesleben zu tun hatte“, rief Roman erfreut und zwinkert Dareon über Xandras Scheitel hinweg zu.
„Ich gebe gar nichts zu. Und du!“ Sie wandte sich an Dareon. Ihr Zeigefinger bohrte sich in seine Brust, während sie ihn unter gesenkten Augenbrauen anfunkelte. „Solltest du nicht gerade für irgendjemanden jonglieren, oder den Hampelmann machen oder was ein Hofnarr eben so tut?“
Dareon hielt dem Finger stand und wies mit dem Daumen zu dem schnieken Ecksofa, auf dem Chris und seine heutige Eroberung zu Gange waren. „Schon erledigt. Die Andere hat Freunde auf der Tanzfläche entdeckt.“
Einen Moment lang blickten die Drei zu dem all zu bekannten Schauspiel hinüber. Es wurde betreten gehüstelt und Gesichtspartien gerunzelt. Es war wie ein Autounfall. Man mochte eigentlich nicht hinsehen, aber wegsehen konnte man auch nicht. Als die Szene in die ‚Über 18‘-Abteilung rutschte, drehten sich jedoch alle wie auf Befehl um. Es gab einen weiteren Augenblick, in dem keiner etwas sagte, aber schließlich wandten sie sich wieder der Meute unter ihnen zu.
Wahrscheinlich erinnerten sich auch die anderen Beiden gerade, dass sie an diesem Abend nicht zum Spaß hier waren. Zur heutigen Nachtschicht hatte man ausgerechnet ihr Viererteam verdonnert und Ziel ihres Besuches war, den jüngsten Sprössling der Cohen-Familie aufzuspüren. Dieser rotznasige Richie Rich war ein aufgeblasener kleiner Wichtigtuer und würde ihre Eintrittskarte zu seinem Clan bilden. Aber erst ein Mal musste er gefunden und beschattet werden. Wenn sie seine Gewohnheiten und Vorlieben kannten, konnten sie ihn leicht einwickeln und über ihn Zugang zu seinen Verbindungen sowie vertraulichen Informationen der Familie erhalten. Die Cohens zählten zu den kleinsten, aber ältesten Hegedunen-Geschlechtern und platzierten ihre böse Saat in vielen Industriezweigen, womit sie ein beträchtliches Vermögen angehäuft hatten, wenn auch nicht so viel wie manch andere. Klar, dass diese hegedunischen Besitztümer nie auf der Liste der 10 reichsten Menschen im Forbes Magazine auftauchen würden.
„Da bist du gerade noch Mal davon gekommen!“, raunte er Xandra zu und durchsuchte die vielen Gesichter mit seinen scharfen Elevender-Augen.
Bisher hatte Ferroc lediglich ein Bild von dem Jungen auftreiben können. Er war erst 23 Jahre alt und damit wahrscheinlich unerfahren genug, dass sie ihm ohne Probleme folgen konnten. Er hatte ein 08/15-Gesicht, braune Augen, braunes Haar, durchschnittliche Größe, alles in allem nichts Auffälliges, aber Dareon hatte sich die Visage sofort eingeprägt. Sie zeigte diesen Blick, der vor Überheblichkeit nur so strotzte und Lippen, die zu einem selbstverliebten Lächeln verzogen waren. Genau die Sorte Typ, die er gefressen hatte. Verwöhnte Schmarotzer, die sich auch noch für etwas Besseres hielten. Mit so was kannte er sich leider viel zu genau aus.
„Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit ihn hier zu finden?“ Xandra beugte sich noch weiter vor, um einen besseren Blick unter die Empore zu bekommen.
Roman antwortete achselzuckend: „Ist ein Edel-Schuppen. Er müsste sich unter diesen Schnöseln eigentlich pudelwohl fühlen. Und bestellt hier auf keinen Fall was zu trinken, dafür reicht die Kasse garantiert nicht. Der Eintrittspreis war schon ein Tritt in die Eier.“
Das konnte Dareon sich denken. Der Club samt Einrichtung und Getränkeangebot entsprachen dem Klientel, das sich unter ihnen tummelte. Junge wohlhabende Menschen, jene, die rücksichts- und skrupellos genug waren, um auf dem hart umkämpften Markt noch irgendwie an viel Geld zu gelangen, drängten sich dort in ihren teuren Gucci-Zwirnen undihrenLouboutins an einander. Ein frivoler Haufen, der der Dekadenz frönte. Ganz nach dem Geschmack der Hegedunen, denn gerade diese Individuen waren nur zu leicht zu korrumpieren. Macht und Geld lockten sie an und je dreckiger das Geschäft, desto höher der Lohn.
Plötzlich versteifte sich Xandra neben ihm. Er versuchte ihrem Blick zu folgen. „Was ist los?“
Sie packte seinen Arm und deutete mit dem Finger auf den gegenüberliegenden Balkon.
Dort standen und saßen einige junge Männer im Anzug. Einer köpfte gerade mit gönnerhafter Miene einen monströsen 8000-Dollar-Champus. Der Knall des Korkens wurde von der Musik übertönt, aber das Kreischen der weiblichen Begleiterinnen vernahm Dareon trotzdem, als die obligatorische Sektdusche folgte. Die Reste wurden in Gläser verteilt und umher gereicht.
Für ungeübte Augen eine ganz normale Szene unter den oberen Zehntausend, aber Dareon erkannte, dass die meisten Elevender waren. Dazu brauchte man Übung, denn Elevender sahen einfach aus wie 25-jährige Menschen, auch wenn sie älter waren.
Dann trat der mit den Spendierhosen zur Seite und offenbarte nun auch den Blick auf die Sitzenden. In der Mitte der Sofalandschaft thronte Klein-Cohen und nahm sein Glas in herrschaftlicher Manier entgegen. Seine andere Hand ruhte auf dem Knie einer jüngeren Tussi, vielleicht um die 18. Sie war gekleidet wie eine Edelnutte, aber mit teureren Schuhen. Ihr Gesichtsausdruck wirkte deplatziert unter den ganzen arroganten Säcken, sie lachte nicht, ihre Augen waren groß, als wäre sie von all dem überfordert.
„Das ist er doch, oder?“
„Sehe ich auch so.“ Roman kniff die Augen enger zusammen, um noch besser sehen zu können. „Treffer!“
Drüben wurde getrunken und gefeiert, die Menge verteilte sich, einige machten sich zur Tanzfläche oder zur Bar auf, andere setzten sich hin. Cohen schwenkte sein Glas, während er seine Begleiterin zutextete, seine Finger wanderten höher, wurden aber bestimmt wieder zurückgeschoben.
Doch schwupp, schon war die Hand ganz unter dem megakurzen kleinen Schwarzen verschwunden, als hätte es ihre Abfuhr nie gegeben. Die Blonde mit dem ungläubigen Blick wand sich und wollte offensichtlich aufstehen.
Dazu kam es nicht, denn wie auf ein Zeichen standen zwei andere Anzugträger hinter ihr und drückten sie zurück auf die Couch. Jetzt riss sie die Augen entsetzt auf, sie spiegelten dumpfes Begreifen. Und Dareon gab ihr Recht, aus dieser Situation käme sie nicht mehr so einfach raus.
Er biss die Zähne zusammen. Wut würde ihm jetzt nichts bringen, dennoch stieg sie unaufhaltsam in ihm auf. Eine Frau zu berühren war ein Privileg, keine Selbstverständlichkeit und nie, niemals sollte es auf diese Weise geschehen. Mit angehaltenem Atem beobachtete er, wie Cohen sein Glas wegstellte und sich dem Hals des Mädchens zuwandte. Er besabberte die Haut und zerrte ihren Kopf an dem offenen Haar nach hinten. Dabei schien es ihn nicht zu stören, dass die beiden Aufpasser immer noch ihre Schultern festhielten, weil sie sich mittlerweile ernsthaft wehrte.
Dareon packte die oberste Stange des Geländers und hielt sich fest, um nicht loszustürmen. Seine Fingerknöchel traten weißlich unter der gespannten Haut hervor und wenn er nicht aufpasste, hätte er bald das verdammte Metall lose in Händen. Dann hätte er es diesem Widerling von Hegedun wenigstens über die Rübe ziehen können, schoss es ihm kurz durch den Kopf.
Cohens zweite Pranke landete auf ihren Brüsten und drückte zu, als handele es sich um Cola-Dosen und nicht um zartes, weibliches Fleisch. Dareon sah Rot, aber er mühte sich ab, seine Beine an Ort und Stelle zu halten. Durch den Schleier seines Zorns hörte ein Knurren.
„Alles klar, D?“ Xandra stupste ihn leicht mit dem Ellenbogen an. Anscheinend war er es, der knurrte.
„Ja!“, stieß er barsch hervor und befahl seinen Stimmbändern, die Klappe zu halten.
„Was für ein Ekelpaket!“
„Dreckskerl!“, pflichtete Roman Xandra bei und machte ein Gesicht, als würde er dem Jungen am liebsten jeden Knochen einzeln brechen. Hinter einander. Langsam. Wobei ihm Dareon nur zu gerne zur Hand gegangen wäre.
„Haltet euch zurück“, mahnte die blonde Jägerin. Sie roch die Gefahr wohl,… oder erkannte sie an den beiden angespannten Männerkörpern neben sich. Sie musste sich wie im Raubtierkäfig vorkommen. „Wir wollen das Vögelchen doch nicht verschrecken.“
„Hey Fix, mach‘ dich nützlich und pfeif‘ Foxi zurück, bevor er mit der Kleinen aufs Klo verschwindet. Wer weiß wie lange die noch bleiben.“
Das hing davon ab, ob Cohen dreist genug war, das Mädchen direkt hier auf der Couch in aller Öffentlichkeit zu missbrauchen. Darauf würde es hinauslaufen, wo auch immer.
Dareon riss sich mit Mühe von der Szene auf der anderen Seite des Raumes los und drehte sich zu Christian um. Obwohl dieser nicht gerade wählerisch war und wahrscheinlich mehr Partnerinnen gehabt hatte als er zählen konnte, war das, was er mit den Frauen anstellte, nicht im Entferntesten mit Cohens rüden Bedrängungen zu vergleichen. Alle Frauen kamen freiwillig, im wahrsten Sinne des Wortes. Wahrscheinlich hätte er einiges damit zu tun gehabt, sie sich vom Hals zu halten, wenn er sie nicht mit offenen Armen willkommen geheißen hätte, so wie jetzt gerade.
Dareon ging bis auf ein paar Schritte an die Couch heran und räusperte sich vernehmlich. „Ich gebe hier ungern den Spielverderber Kumpel, aber es ist Showtime.“ Er fühlte sich, als hätte er die Notbremse in einem fahrenden Zug gezogen. Das Geschehen vor ihm kam so abrupt zum Stillstand, dass beide Akteure in die Kissen fielen. Chris begann sich aus dem Gewirr von Armen und Beinen zu schälen und ein Laut der Enttäuschung war zu hören. Von ihr, nicht von ihm.
Nachdem er sich ein paar Entschuldigungen flüsternd von der brünetten Krake gelöst hatte, kam er auf die Beine und rückte seine Hose gerade. Ein kurzer Blick, um sich zu vergewissern, dass sein bestes Stück hinter Schloss und Riegel saß und schon war er startklar.
„Also, wo sind die bösen Jungs? Wen soll ich verhauen?“
Sie verließen die Femme du Jour noch während sie ihre Kleider richtete und gesellten sich zu den Kollegen. Gegenüber bot sich immer noch dasselbe Schauspiel, nur dass der Oberkörper des Mädchens halb entblößt war. Der Träger des Kleides war über die Schulter nach unten geschoben worden.
„Eine Peep-Show? Wieso habt ihr mich nicht früher gerufen?“
Christian war sein bester Freund, sein Bruder, aber in diesem Moment hätte Dareon ihm gerne Eine gezimmert. Der Einfallspinsel hatte Glück, dass sich sein Zorn hauptsächlich auf den jungen Hegedunen richtete und… dass Xandra ihm die Arbeit abnahm.
Mit einer blitzschnellen Bewegung zog sie Chris ihre flache Hand von hinten über den Kopf. Obwohl sie nicht weit ausgeholt hatte, klatschte es vernehmlich.
„Au verdammt, was soll das?!“ Christian duckte sich und rieb über die getroffene Stelle. Vorwurfsvoll wandte er sich an das weibliche Teammitglied. „Du kannst doch nicht einfach deine eigenen Leute hauen.“
„Hab‘ ich nicht! Das war eine ärztliche Maßnahme. Schläge auf den Hinterkopf erhöhen doch das Denkvermögen und ich glaube du brauchst eine tägliche Therapie, sagen wir für die nächsten 20 Jahre. Und das eben…“ Sie zuckte beiläufig mit den Schultern. „..war deine erste Behandlung.“
„Verschone mich mit deinen alternativen Heilmethoden! Ich muss nicht Albert Einstein sein, mein Aussehen ist unvergänglich.“ Christian strich sich provokativ das hellblonde Haar aus dem Gesicht, das ihm immer diesen Strand-Look verpasste, als wäre er gerade frisch vom Surfbrett gestiegen.
„Nach dieser glänzenden Demonstration von Bescheidenheit könnten wir uns vielleicht wieder der Arbeit zuwenden, Mr. Fantastic?“
„Warum ist sie heute denn so brummig?“ Chris beachtete die empörte Xandra nicht weiter und richtete die Frage an Roman.
„Sie hatte heute einen Anruf von einem geheimen Verehrer!“, gab dieser zurück und ließ seine Augenbrauen vielsagend auf und ab hüpfen. Als einzige Frau unter den Jägern ihres Stützpunktes hatte sie es nicht leicht, wenn man sich auf sie eingeschossen hatte. Aber Xandra wusste sich meist zu helfen. Sie teilte tüchtig aus, also musste sie auch hart im Nehmen sein.
„Hat er kein Interesse mehr an dir oder wieso ist dir die Slipeinlage verrutscht?“ Interessiert beugte Chris sich vor und stützte einen Ellenbogen aufs Geländer. Prompt wurde Xandra regungslos. Ihr Mund klappte auf, schloss sich wieder, dann wurde sie rot. Man konnte es sogar im Schummerlicht des Clubs, das hin und wieder von einem Stroboskopeffekt durchbrochen wurde, erkennen. Chris stutzte überrascht und wich zurück. Er hatte garantiert nicht daran gedacht, dass sein Kommentar gefährlich nahe bei der Wahrheit liegen könnte.
„Im Gegenteil!“ Schnippisch warf die große Frau die langen blonden Wellen, von denen Mann nur träumen konnte, in den Nacken. „Manche Männer lassen sich eben Zeit und überfallen einen nicht wie… eine Hyänenhorde einen Kadaver.“
„Hat er etwa die Drei-Tage-Regel verletzt?“ Christian überging ihre Spitze völlig. Xandras Regeln was ihre Liebschaften betraf kannten sie alle, hatten sie sich schon hundert Mal in durchgemachten und alkoholgeschwängerten Nächten anhören müssen, wenn sie sich Mal wieder über irgendeinen Trottel ausließ. Wenn ein Kerl nach einem Date nicht innerhalb von drei Tagen anrief, hatte er jede Chance bei ihr verwirkt.
„Nein!... Ja…. Ach, so war das nicht und jetzt Schluss damit!“, zischte sie in einem weiblichen Zorn, der sie für Männer in diesem Moment nur noch attraktiver machte, wo sie doch ohnehin schon zu den Sahneschnittchen des anderen Geschlechts gehörte. Zumindest dachte selbst Dareon so, obwohl er kein Interesse an ihr hatte, in welcher Form auch immer. Oder an welcher Frau auch immer, es lag nicht an ihr. Roman war vergeben und konzentrierte sich lieber auf die hegedunischen Tätigkeiten gegenüber.
Für Christian galt beides nicht. Anstatt weiter zu bohren, stockte er und starrte sie einen Moment lang an. Er blähte die Nasenflügel, als finge er einen betörenden Geruch auf, dann schüttelte er aber den Kopf, vielleicht um ihn los zu werden, oder sich aus der Starre zu befreien, in die ihn Xandras Anziehungskraft versetzt hatte.
Damit herrschte Stille zwischen den Vieren und man war sich diesmal einig darüber, dass es jetzt an der Zeit war zu arbeiten.
Cohen war immer noch damit beschäftigt, sein verschrecktes Opfer zu befingern, verlor jedoch zusehends an Geduld. Während die Musik spielte, die Techno-Rhythmen die Leute auf der Tanzfläche zur Bewegung animierten und sie in eine vergessene Trance dirigierten, spielte sich über ihren Köpfen dieses abartige Spektakel ab. Völlig unbeachtet. Niemand würde kommen und die Blonde retten, es würde sie noch nicht mal jemand schreien hören.
Dareon konnte nicht mehr lange dabei zusehen. Bald war der Punkt erreicht, an dem ihm der Kragen platzte. Wie zur Bestätigung zuckten seine Hände.
Christian legte den Arm um seine Schultern. „Alter, aus deinen Ohren raucht es. Hast du da irgendwo ein Lagerfeuer?“
Dareon hätte seinen besten Freund gern weggestoßen, ließ es aber bleiben, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Dieser Penner kannte ihn einfach zu gut und das missfiel ihm heute nicht zum ersten Mal. Den anderen konnte er sehr gut sein zweites Gesicht zeigen, und es als Original verkaufen, aber Chris hatte immer den Durchblick. Zusätzlich war er so penetrant wie eine Schmeißfliege, man wurde ihn einfach nicht los, wenn er nicht wollte. Und aus irgendeinem Grund, zeigte er sich bei Dareon besonders hartnäckig.
Er bekam keine Gelegenheit für eine ruppige Antwort, denn die Gruppe auf der Empore erhob sich und setzte sich in Bewegung. Einer der ‚Bodyguards‘, sie waren kaum besser gebaut, als der schmale Cohen, ging voran, der junge Hegedune zerrte das Mädchen am Arm mit sich, zuletzt folgte der zweite Aufpasser.
„Los, sie hauen ab“, raunte Roman und lief sofort los Richtung Treppe. Geschlossen verließen sie so schnell sie konnten den Club, schlängelten sich flink durch die Menschenmenge, bis sie schließlich den Vordereingang passiert hatten. Ein Imperiumserbe wie Cohan würde auf keinen Fall unauffällig durch den Hintereingang verschwinden, das war meilenweit unter seiner Würde.
Dareon lief los, um ihr eigenes Auto zu holen, während sich die anderen Drei an die Seite verdrückten, da wo der Kegel der Lichts unter dem Eingangspavillon nicht mehr hinreichte.
Als er mit dem schwarzen SUV zurückkehrte, marschierten Cohen und sein Gefolge gerade über den roten Teppich unter der grünen, edel aussehenden Plane und siehe da, es wartete schon ein Auto auf sie. Eine lange schwarze Limousine parkte am Straßenrand und ein echter Kleiderschrank von Mann stieg auf der Beifahrerseite aus, umrundete das Fahrzeug und öffnete seinem Boss die Tür. Schnell verschwanden sie in dem mondänen Vehikel und fuhren los. Dareon verlor keine Zeit. Er sammelte seine Kollegen auf dieselbe Weise ein und hängte sich dann an die roten Rücklichter.
Es war eine lange Fahrt. Sie führte quer durchs Harper’sQuarter, immer weiter aus Ceiling City heraus, so weit, dass sie sich in einem Vorort wieder fanden, wo kaum noch Verkehr herrschte. Lange Zeit hatte er immer zwei Autos Abstand gehalten, aber jetzt waren sie die einzigen auf der spärlich beleuchteten Straße und wenn die Gorillas gut waren, würde ihnen bald auffallen, dass sie verfolgt wurden. Er musste sich jetzt bald zurückfallen lassen, oder abbiegen und hoffen, dass er nach einem großen Bogen wieder auf sie treffen würde. Beides barg die große Gefahr, die Limousine zu verlieren.
Oder aber er könnte…
„Dareon, lass‘ den Scheiß!“ Roman, der neben ihm saß, blickte ärgerlich zu ihm herüber, als er unvermittelt einen Gang runter schaltete, Gas gab und ein Überholmanöver startete. „Wir sollen ihm folgen, um zu sehen, wo er hinfährt.“
„Aber dann nimmt er das Mädchen mit rein und wir kommen nicht mehr an sie heran.“ Sollte Cohen sie tatsächlich zu seinem zu Hause führen, was sie ja hofften, dann wartete dort eine Festung, die mit so viel technischem Schnickschnack und ausgeklügelten Alarmsystemen vollgestopft war, dass Fort Knox dagegen wie Disneyland wirken würde.
„Sie ist NICHT unser Ziel, D.“
„Dann willst du das hier zulassen, im Ernst?“ Dareon bemerkte, dass seine ganze schöne Selbstbeherrschung immer mehr flöten ging. Innerlich verfluchte er sich dafür, aber er hatte nicht vor, das arme Mädchen im Wagen neben ihnen sich selbst zu überlassen. Rome gab sich nach diesem Hinweis nun doch zerknirscht, eine Jungfrau in Nöten war ein Totschlagargument. Dann hieb er den Kopf ein Mal gegen die Nackenstütze.
„Verdammt! Na gut, aber es werden keine Kräfte eingesetzt, wir werden uns nicht verraten! Außerdem wirst DU das Ferroc erklären und dir was einfallen lassen, wie wir das wieder gerade biegen können!“
Grimmig nickte Dareon. Er würde schon herausfinden, wie sie noch Mal an ihn heran kommen könnten. Denn wenn sie Cohen jetzt aufschreckten, würde er mindestens seine Sicherheitsvorkehrungen verstärken, im schlimmsten Fall würde er erst Mal von der Bildfläche verschwinden. Mist, dreckiger! Aber das war es wert.
Er zog links an der langen Limousine vorbei. Das gesamte Team holte Sturmhauben und Waffen hervor. Das Entsichern bildete eine hübsche Melodie zum Aufheulen des Motors. Dann riss Dareon das Steuer scharf nach rechts und stieg volles Rohr auf die Bremse. Die Reifen quietschten, während die Insassen in die Gurte geschleudert wurden.
Ein weiteres Kreischen, das von Gummi auf Asphalt stammte, bestätigte ihm, dass die Limousine ebenfalls anhalten musste, nachdem er den SUV genau vor ihrer Nase platziert hatte.
Nur ein Augenblinzeln später war das Team mit gezückten Waffen aus dem Auto gesprungen und lief auf die lange Luxuskarosse zu, zwei an jeder Seite. Schon gingen Fahrer- und Beifahrertür auf, zwei Gorillas hüpften ins Freie, gingen aber sofort hinter dem Metall in Deckung.
Bevor sie das Feuer eröffnet hatten, waren Roman und Christian bei ihnen. Chris trat gegen die Fahrertür, packte sie dann und hieb sie mehrmals gegen den Körper, der zwischen Holm und Tür eingeklemmt war, bis dieser regungslos liegen blieb. Roman auf der anderen Seite wich währenddessen einem blind abgegebenen Schuss aus, indem er sich auf den Rücken warf und unter der geöffneten Beifahrertür hindurch schlitterte. Der Schütze wurde umgemäht und fand ein ähnliches Ende wie sein Kollege. Nach einigen Würgegeräuschen tauchte Romes Kopf wieder auf. Keine Strähne seines Haares lag an der falschen Stelle.
Dareon verschwendete keine Zeit und rückte parallel mit Xandra zu den hinteren Eingängen vor und sie verschafften sich synchron Zugang. Die beiden Aufpasser im Inneren wollten schon wild um sich schießen, doch Xandras Ellenbogen und ein gezielter Tritt von Dareon überzeugten sie dann doch, lieber ein kleines Nickerchen zu halten. Schließlich blieb nur noch Cohen übrig, der neben der halb ausgezogenen Blonden saß und die beiden Eindringlinge entsetzt anstarrte.
Mit Genugtuung beobachtete Dareon, wie er eigenhändig dieses selbstgefällige Grinsen durch Furcht ersetzt hatte. Die Arroganz war wie weggewischt und der Panik gewichen. Man konnte ihm ansehen, dass er um Fassung kämpfte, aber Dareon musste nur noch ein bisschen an seinen Haaren ziehen und er würde anfangen zu heulen. Also schob er sich auf dem Sitz vor und drückte dem Hegedunen seine Waffe direkt unters Kinn. Der Schalldämpfer bohrte sich in die Kehle, als er den Lauf Richtung Schädeldecke ausrichtete.
„Hallo Arschloch!“ Seine Stimme wurde von der schwarzen Wolle vor seinem Mund gedämpft, aber seine Augen konnte er in die seines Gegners bohren. Diese blickten ihm aus weitaufgerissenen Lidern entgegen. Cohen legte langsam den Kopf in den Nacken, um den Druck der Waffe zu verringern, aber Dareon folgte ihm, ließ ihm keinen Ausweg. Der kleine Scheißer fing an zu zittern. Xandra half dem jungen Ding unterdessen zurück in ihre Sachen, legte ihr dann auch die eigene Jacke um und bugsierte sie aus der Limousine.
„Bedauerlicherweise darf ich dich nicht umlegen…“, sagte Dareon und musste beinahe lachen, denn er klang wirklich aufrichtig enttäuscht. „Aber ich weiß da etwas, auf das du getrost verzichten kannst.“ Jetzt zog er seine zweite Glock und drückte sie in Cohens Schritt. Als er die Waffe schussbereit machte, pisste das Weichei ein.
„Oh ja, ich sehe, wir haben beide unseren Spaß. Und ich hoffe, deiner war den Preis wert, den du jetzt bezahlen wirst!“
Cohens Wimmern rief jedoch Roman aufs Schlachtfeld. „Lass‘ die Finger von ihm und komm‘ zum Ende, Mann, sonst erledige ich das für dich.“
Nicht dass er nicht bereit gewesen wäre, sich hier und gleich mit Rome zu prügeln. Das Adrenalin peitschte durch seine Adern und der ganze Scheiß, der sich über die Jahre in ihm aufgestaut hatte, begann sich zu regen. Nach den heutigen Erlebnissen standen sie ihm noch deutlicher vor Augen als sonst und er konnte sich dem mächtigen Sog kaum entziehen.
Mit einem Ruck brachte er sich schnell wieder zur Besinnung. Wenn er den Kopf verlöre, war niemandem geholfen. Auch wenn es noch so verführerisch war, dem Kerl die Eier zu durchsieben. Die Cohens waren ein Clan, andere würden Nachkommen zeugen, dieser eine hier brauchte sein Gehänge doch gar nicht.
Mit einem wütenden Knurren wich Dareon zurück. Um sich selbst zu entschädigen und Cohen einen Denkzettel zu verpassen, rammte er dem Mistkerl seine Kronjuwelen unters Zwerchfell und genoss es, wie der Arsch aufheulend zusammenbrach. Er stieß ihm noch mal den Lauf an die Schläfe, nur zur Erinnerung.
„Ich hätte dein Leben beenden können, jetzt und hier, niemand hätte dich vor mir schützen können. Also mach dir nichts vor! Wenn du noch mal eine Frau anfasst, dann werde ich es wissen.“ Er drückte fester und sprach mit kalter Stimme weiter. „Dann werde ich dich finden und dann werde ich dich töten. Und es wird wehtun. Hast du kapiert?“
Cohen wiegte sich schluchzend vor und zurück, was er als Zustimmung deutete. Schließlich beförderte er den reichen Sprössling mit einem Schlag in den Nacken ins Land der Träume und ließ ihn einfach liegen, als er die Limousine verließ.
„Oooohhh wie bist du schön!“
„Ja, ja, alles klar. Lust auf Karten?“
„Ooohhh wie bist du schön.“
Cat seufzte und ließ die beiden Kartenhaufen mit Hilfe ihrer Daumen auf der Tischplatte in einander rauschen. Sie konnte die Karten auf diese Weise auch ohne Unterlage mischen und beherrschte einige weitere Taschenspielertricks. Sollte sie hier jemals wieder raus kommen, konnte sie wenigstens als Croupier im nächstbesten Kasino anheuern. Na gut, vielleicht nicht im nächstbesten, wahrscheinlich würde es schwer werden, eins zu finden, das eine 27-Jährige ohne Berufsausbildung, dafür mit einem langjährigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt im Lebenslauf brauchen konnte.
„Gin?“ fragte sie Albert, der ihr gegenüber in einem abgewetzten Ohrensessel saß und die Hände im Schoß verschränkt hatte. Mit seiner Glatze, den großen leuchtend blauen Augen und den abstehenden Ohren sah er aus, wie ein weißer, etwas zu groß geratener und verfetteter Meister Yoda.
„Oooohhh wie bist du schön!“ krähte er und grinste freudig übers ganze Gesicht wie ein kleines Kind. Diese fünf Worte waren die einzigen, die Albert von sich gab, was ihn unter dem weiblichen Personal der forensischen Abteilung sehr beliebt machte. Die neueren Pflegerinnen hielten ihn für einen lieben, nur leicht verwirrten Kerl, aber Cat wusste es besser. Obwohl sie gehofft hatte, ihn nie wieder sehen zu müssen, war er ihr doch vertrauter als so einige andere Personen, die sich angeblich ihre Familie schimpften.
Sie hatte viel Zeit mit Albert verbracht, war er doch eine der wenigen Konstanten, die sie in der Phase des Erwachsenwerdens begleitet hatten, auch wenn er nur einen einzigen Satz parat hatte. Das war immer noch besser, als das, was Cats Mutter an dem Tag gesagt hatte, als die Richterin sie aufgrund der ärztlichen Empfehlung einweisen lassen hatte.
„Du warst schon immer merkwürdig. Ich dachte, das verwächst sich, stattdessen ist es schlimmer geworden. Du bist völlig außer Kontrolle, redest wirr… Dein Vater und ich haben dich gut erzogen, wir haben so viel investiert, ich verstehe nicht, wie es so weit kommen konnte. Catlynn, du musst doch einsehen, dass das für Leute unseres Standes nicht tragbar ist.“
Bitter dachte sie an die Worte ihrer Mutter zurück. Als diese Frau von ihr gesprochen hatte, als sei sie ein lahmes Rennpferd, das nun trotz guter Zucht und Ausbildung zum Schlachter musste, weil es einen Makel hatte, der es funktionsuntüchtig machte. Natürlich hatte ihre Erzeugerin mit diesen Sätzen auch jegliche Schuld an der Misere von sich gewiesen. Schließlich hätte die ganze Scheiß-Etikette und das Gerade-Sitzen und die hervorragende Schulbildung verhindern sollen, dass ihr erstes und einziges Kind eines Tages durchdrehte und behauptete, einen Jungen getötet zu haben. Ein absolut inakzeptabler Umstand für ihre Eltern, die wahrscheinlich sofort die Koffer gepackt hatten, bereit, den Staat zu verlassen, nachdem die ganze Geschichte durch die Presse gegangen war. Als angesehene Geschäftsleute hatten sie bis zu diesem Zeitpunkt einen tadellosen Ruf genossen, so war das nun Mal. Geld sprach seine eigene Sprache. Doch eine Wahnsinnige als direkte Blutsverwandte war ein schändlicher Fleck auf der blütenreinen Familienweste.
Wäre sie eine Christin gewesen, ihre Mutter der Papst und ihre Familie die katholische Kirche, dann glich der Abschied an jenem Tag ihrer Exkommunizierung.
Gott sie hasste es, dass sie jetzt wieder hier war und all die schlimmen Erinnerungen aufgewirbelt wurden.
So gesehen waren „Oooh wie bist du schön.“ die himmlischsten Worte, die man sich vorstellen konnte. Also hatte sie versucht, Albert zum Karten spielen zu überreden, oder zu sonst einem Zeitvertreib, aber er blieb bei seinem eintönigen Gebrabbel, das er manchmal mantra-mäßig sang, es aber auch jedem als Antwort gab, der ihm eine Frage stellte, oder ihn ansprach. Cat hatte ja den Verdacht, dass er damit nur mehr Pudding abstauben wollte. Bei der dicken Schwester Getrud war er damit auch regelmäßig durchgekommen. So zu sagen von einer Naschkatze zur Anderen.
Abgesehen von dieser Verschlagenheit, die aber auch verfressene Hunde an den Tag legten, hatte Albert wahrscheinlich nur noch Brei im Hirn. Sie kannte ihn nur in diesem Zustand. Wenn er nicht schon bei seiner Einlieferung gaga gewesen war, dann hatten das die Beruhigungsmittel und Neuroleptika erledigt. Cat hatte ganz genau gewusst, warum sie das Zeug nicht geschluckt und es regelmäßig im Klo hinunter gespült hatte. Meister Yoda war schon hier gewesen, als sie mit 15 Jahren verstört und verängstigt eingeliefert worden war und war geblieben, als man sie schließlich nach sieben Jahren als ‚geheilt‘ entlassen hatte. Sie hatte eine Weile gebraucht, bis sie das Heucheln perfektioniert hatte.
Jetzt saß sie keine fünf Jahre später ein weiteres Mal an dem kleinen Tisch im Aufenthaltsraum der psychiatrischen Anstalt des Bezirkskrankenhauses, der jeglicher Fenster entbehrte und Klaustrophobiker-Herzen höher schlagen ließ, und tat so als spiele sie Gin mit Albert, während sie in Wahrheit nur mit sich selbst spielte und auch redete. Denn abgesehen von seinen Beteuerungen, wie schön sie doch war, war ihr Gespräch ein Monolog. Also hatte sie jede Menge Zeit, darüber nach zu grübeln, wie zum Teufel sie hier gelandet war.
Schon wieder.
Als hätten sieben Jahre Irrenhaus nicht gereicht.
Cat musste an Jayce denken. An die Verwirrung und Panik, die sie seither mühevoll unterdrückte. Obwohl der Vorfall erst ein paar Stunden her war, fühlte es sich an, als sei sie in der kurzen Zeit um Jahre gealtert. Der Tod des alten Freundes, die zwei Unbekannten, die Tatsache, dass ihr niemand glaubte und dass sie erneut hier war, versetzten sie zu sehr in eine Vergangenheit, von der sie gehofft hatte, sie endgültig hinter sich lassen zu können. Sie hatte das Ganze so sehr verdrängt, dass sie sich sicher war, es vergessen zu haben, aber jetzt wurde sie unversehens wieder damit konfrontiert.
„Kitty-Cat, bist du das? Was machst du hier?“ fragte eine sanfte Stimme hinter ihr.
Cat verdrängte den kalten Schauer, den der unheimliche, leere Tonfall auslöste und drehte sich auf der ausgesessenen braunen Ledercouch um.
Betty war ebenfalls eine alte Bekannte und Insasse eines der vielen Null-Sterne-Zimmer. Sie hatte ihre klaren Tage, an anderen brachten ihre Episoden Sherryl, Mandy oder Rebecca zum Vorschein. Leider Gottes hatte sich im Lauf der Zeit herausgestellt, dass Rebecca scheinbar nicht nur strikt heterosexuell orientiert war und Gefallen an Cat gefunden hatte.
Jedoch verrieten der aktuelle apathische Gesichtsausdruck und die emotionslose Stimme der etwa Mitvierzigerin, dass sie gerade erst aus dem Behandlungstrakt entlassen worden war. Und was da vor sich ging, daran konnte Cat sich nur zu gut erinnern, obwohl die Tage danach immer in einem Schleier des Vergessens lagen. Wenn die Patienten zu aufrührerisch, aggressiv oder labil wurden, unterzog man sie einer Intensivbehandlung mit Hilfe von intravenös verabreichten Halluzinogenen. Unter deren Einfluss wurden die Patienten in Trance versetzt und ‚umerzogen‘, was anscheinend am Besten mit dem Einsatz von Schmerz funktionierte. Kognitive Verhaltenstherapie nannten es die Ärzte. Danach wurde man mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt und als Zombie wieder auf sein Zimmer geschickt. Dieser Zustand hielt unterschiedlich lange vor.
Cat hatte schon nach einigen Sitzungen begriffen, dass sie hier nicht weiterkam, wenn sie hysterisch wurde. Zumindest in dieser Hinsicht hatte die ‚Umerziehung‘ gegriffen. Ihren wahren Makel hatte sie behalten, auch wenn davon keiner wusste.
Folgedessen sprach sie gerade tatsächlich mit Betty, einer neben sich stehenden Betty, aber die Medikamente unterdrückten die Episoden im Moment. Außerdem nannte nur diese sie Kitty-Cat. Sherryl bezeichnete alle weiblichen Personen nur mit ‚Darling‘, Mandy sagte einfach Cat und Rebecca hatte eine ganze Palette von Kosenamen für sie in petto, über die sie gerade lieber nicht nachdenken wollte.
„Hi Bets! Ihr habt mir eben gefehlt.“ witzelte sie, obwohl sie wusste, dass keiner von ihren beiden Zuhörern es verstehen würde.
„Aber wir haben uns doch verabschiedet und du hast gesagt, du kommst nicht mehr wieder!“ antwortete die Frau verwirrt und langte nach dem dünnen Zopf geflochtenen, braunen Haares, in dem schon einige graue Strähnen aufblitzten.
Cat seufzte und gab den Sarkasmus auf. In ihrer Zeit draußen hatte sie sich einfach zu sehr an Leute gewöhnt, die noch alle Tassen im Schrank hatten. „Ich wurde wieder eingesperrt.“ klärte sie das Rätsel schließlich ziemlich ungenau auf und klopfte auf das Polster neben sich, damit Betty sich setzte. Eigentlich war es nicht nötig den beiden die ganze Geschichte zu erzählen. Sie würden sie zwar vielleicht sogar glauben, aber tatsächlich bald vergessen haben und sollten sie gerade selbst bei Trost sein, würden sie die Geschehnisse Cats verwüstetem Hirn zuschreiben, genauso wie diese es im umgekehrten Falle getan hätte. Höchstwahrscheinlich hätte sie sich selbst den Bericht nicht geglaubt, trotz ihrer Vergangenheit und ihres Fluches.
Obwohl sie Angst hatte und sich all das selbst nicht erklären konnte, hatte sie die ganze Geschichte heute schon hundert Mal erzählt, nicht nur den Polizeibeamten, auch ihrem Anwalt, dann dem Staatsanwalt und dem Richter. Nicht zu vergessen, der Schar an Psychiatern, die jedes ihrer Worte unter die Lupe nahmen und auf die Goldwaage legten. Trotz ihrer Erfahrung mit den verdammten Quacksalbern hatte sie es nicht geschafft ihnen zu entkommen…, weil sie selbst nach all der Zeit von solch brutalen Ereignissen geschockt war, was sie wohl vor allem ihren Eltern verdankte, die sie, solange sie eine vielversprechende Investition gewesen war, verzogen und verhätschelt hatten, wie sie sich rückblickend eingestehen musste. Sie war eine kleine Prinzessin im goldenen Käfig gewesen und diese Eigenschaft hatte sie erst in der Klapse abgelegt.
Betty ließ sich neben ihr auf das Sofa sinken und betrachtete Cat nachdenklich. Ihr Kopf geriet in Schieflage, während sie sie ausgiebig musterte, dann streckte sie die Hand aus.
„Du trägst deine Haare anders.“
„Ja. Ich wollte etwas Neues.“ Cat griff sich eine Strähne ihres dicken Haars, das sie etwa ein Jahr nach ihrer Entlassung in so dunklem Braun gefärbt hatte, dass es fast schwarz wirkte. Echtes Schwarz war ihr zu hart erschienen, bei ihrem hellen Teint und den Sommersprossen, die sich zwar mit einigem Aufwand überschminken ließen, ihr aber doch wie eine untilgbare Erinnerung an ihre Herkunft jeden Morgen und Abend im Badezimmer boshaft entgegen grinsten. Diese Erbstücke ihrer Mutter verhöhnten sie jedes Mal im Spiegel, weswegen sie sich bei ihrem Neuanfang nach einer größtmöglichen Veränderung gesehnt hatte. Sie trug den nun dunklen Schopf immer noch lang, hatte sich aber vorne einen dichten, fransigen Pony schneiden lassen, der beinahe die Hälfte ihres Gesichtes verdeckte. Wenn sie wollte, sogar ihre Augen, die leider ebenfalls einen Wiedererkennungswert besaßen. Dennoch nahm sie an, dass sie keiner erkennen würde, der sie vor ihrer Einweisung gekannt hatte. Die Leute, mit denen sie in den fünf Jahren, die sie in Freiheit verbracht hatte, verkehrte, ihre Kollegen und Freunde, wussten nichts von ihrer Vergangenheit, darauf hatte sie geachtet.
In ihrer Jugend war sie ein schmales, kleines Ding gewesen, das mit seinem verzaubernden Lächeln punkten konnte, heute war sie zwar immer noch klein, aber ihre elfenhafte Silhouette hatte sie verloren. Mit ihrer hageren Gestalt wirkte sie wahrscheinlich unterernährt, wodurch sie kaum noch weiblich Attribute besaß, weder vorne noch hinten, auch eine Taille war nicht in Sicht. Das war ihr im Grunde aber so egal, wie es nur sein konnte. Es spielte sowieso keine Rolle. Sie hatte auf die harte Tour erkennen müssen, dass es für sie keine Heilung gab. Obwohl sie das doch wahrhaftig geglaubt hatte, als man sie guten Mutes in die Welt hinausgeschickt hatte.
Die Ärzte hatten Cat so lange therapiert, sie konfrontiert, bis sie selbst dachte, sie hätte sich alles nur eingebildet, nur um prompt draußen in der Freiheit eines Besseren belehrt zu werden. Doch damals hatte sie sich nicht erwischen lassen, der Schrecken der Behandlungen und der Jahre des Antipsychotikamissbrauchs hatten noch zu tief gesessen.
Zunächst war es schwierig gewesen, sich alleine über Wasser zu halten. Sie hatte keine fertige Ausbildung, keinen Job, keine Erfahrung und das Bisschen, das man ihr als Starthilfe mitgegeben hatte, hatte nicht lange gereicht. So war sie getrieben, viele Wege zur Geldgewinnung zu gehen, bis sie endlich wenigstens den Putzjob im großen Aufführungshaus bekommen hatte. Mit der verstreichenden Zeit, der einkehrenden Normalität und der Ablenkung, die die Beschaffung ihres Lebensunterhalts und ihre Freunde darstellten, war sie anscheinend nachlässig geworden. Hatte nicht aufgepasst und sich wieder in unerklärlichen Umständen verstrickt. Sie fühlte sich wie ein Magnet für Mysteriöses und noch viel schlimmer war, dass sie erneut feststellen musste, dass das Rätsel um ihr Wesen, der Grund warum sie im Irrenhaus gelandet war, sie immer wieder einholte. Es ließ sich nicht verdrängen, nicht begraben, so sehr sie es auch wollte.
Mit fast verzweifelter Sehnsucht wünschte sie sich eine Zigarette herbei.
„Catlynn Campbell?“ Eine junge Pflegerin unterbrach ihren Gedankengang und stellte sich an den kleinen Tisch. Sie musste neu sein, denn sie rümpfte die Nase, besah ausgiebig die ockerfarbenen Wände mit dem rissigen Putz und rieb sich mit fahrigen Gesten die Arme, als hätte sie ein unangenehmes Gefühl erfasst. Das Gemurmel und Gejammer der vielen anderen Patienten um sie herum ignorierte sie geflissentlich, genau wie das obligatorische „Ooohh, wie bist du schön.“ von Albert, das sonst jeder wenigstens mit einem kurzen Schmunzeln quittierte.
Cat nickte bejahend, wobei sie sich fragte, was diese Möchtegern-Barbie hier her verschlagen hatte. Die falschen Brüste, die Solarium-gebräunte Haut und der pinke Lippenstift samt wasserstoffblonder Mähne wiesen eigentlich eher auf eine Karriere am Straßenrand oder als Chefsekretärin hin.
„Sie haben Besuch.“ flötete Barbie in jenem Ton, in dem man im Allgemeinen mit Geisteskranken redete. „Vielleicht wollen sie ja gemeinsam Pudding essen?“ Damit beugte sie sich vor und klemmte die gefalteten Hände zwischen die Knie. „Na, wollen wir noch welchen besorgen?“ Da Pudding in der Psychiatrie Gold aufwog, lächelte Cat eifrig, sich voll und ganz bewusst, dass die einzige Person, die sie besuchen könnte, mit der glibberigen, schokoladigen Masse nicht zu besänftigen sein würde. Seufzend stand sie auf und machte sich schon Mal auf die Abreibung gefasst.
Sie folgte der blonden Pflegerin durch den kargen, mit ausgeblichenem, blassblauem Linoleum ausgelegten Flur, vorbei an einigen Zimmern, deren Türen zum Flur mit Sicherheitsglas ausgestattet waren, damit man immer sehen konnte, was dahinter vor sich ging. Die Aufenthaltsräume für die besonders schwierigen Fälle. In der Ecke saß Monty, der immer mit seiner toten Frau sprach, die er selbst in der Badewanne ertränkt hatte, und weiter rechts erblickte sie die Frau ohne Namen, die ein Auto geklaut und damit in einen Supermarkt gerast war. Beides bekannte Gesichter, die wahrscheinlich ihr ganzes Leben innerhalb dieser Mauern verbringen würden.
Unvermittelt begann sie sich zu fürchten. Furcht, das wusste sie genau, war ein absolut unnützes Gefühl. Darwinisten mochten vielleicht behaupten, dass sie ein angeborener Instinkt war, der das Individuum vor Schaden und Zerstörung schützte. Jedoch hatte Catlynn Campbell die Erfahrung gemacht, dass das vielleicht für Eingeborene in der afrikanischen Steppe galt, nicht aber für jemanden, der gar nicht weglaufen konnte. Fight or flight, lief hier immer auf fight hinaus. Und dabei war einem Furcht nur im Weg. Man wurde gelähmt, bekam keine Luft, konnte nicht denken. Also hatte sie dagegen angekämpft, es bis zu einem erträglichen Maß nieder gerungen. Bis zu diesem Moment, als sie die allzu reale Möglichkeit begriff, dass sie enden könnte wie Monty oder die namenlose Frau.
„Cathleen Morrison?“
Cat duckte sich automatisch, als sie den kleinen Raum betrat, der für Besuche genutzt wurde. Wie im Gefängnis waren der Tisch und die Stühle, die sich in der Mitte des Zimmers befanden, am Boden festgeschraubt. Die Deckenlampe war hinter Gittern verborgen und wohnte damit in bester Nachbarschaft.
Cat hielt die beiden braunen Becher in ihrer Hand hoch, in der Hoffnung den wilden Stier zu besänftigen. Lächerlich. Da hätte sie auch versuchen können, mit dem Pudding einen Steppenbrand zu löschen.
„Cathleen Morrison?“ grollte der große Mann noch ein Mal und raufte sich das mittlerweile an den Schläfen grau werdende dunkle Haar. „Beinahe hätte ich noch nicht Mal mitbekommen, dass du hier bist. Wann bitte wolltest du anrufen?“
Er stand zum Glück hinter dem Tisch, sodass sie noch ein paar Meter Sicherheitsabstand trennten. Cat hätte einiges darum gegeben, dem kommenden Donnerwetter zu entgehen. Zwar hatte sie keine Angst vor Eduardo Marquez, dennoch war er für sie das, was einem Erziehungsberechtigten am nächsten kam. Sie wusste, dass er sich um sie gesorgt hatte, trotzdem gehörte er zu all den Dingen, die sie ein Jahr nachdem sie aus der Klapse entlassen worden war, abgelegt hatte. Sie wollte einfach keinen Kontakt mehr zu etwas oder jemandem, der sie an ihre finsterste Zeit erinnerte.
„Hätte ich schon noch getan.“ gab sie mürrisch zurück und ging mit gesenktem Kopf auf den Stuhl zu, der auf ihrer Seite vom Tisch stand. Es war ein bisschen so, als stellte sie sich ihrem Vater nachdem sie etwas ausgefressen hatte, doch das war nicht der Grund, warum sie seinen Blick mied und die Augen am Boden hielt. Es war das pure schlechte Gewissen, denn obwohl sie es nicht verdiente und niemals erwartet hätte, hatte er sich ihr gegenüber immer anständig verhalten. Und… sie hätte nicht angerufen.
Cat hatte ihn nach ihrem ersten Prozess kennengelernt. Als Jugendarbeiter wurde er ihr zugeteilt, nachdem ihren Eltern das Sorgerecht aberkannt worden war. Er hatte sie regelmäßig besucht, ihr etwas zu lesen oder Süßes mitgebracht und letztlich staatliche Unterstützung und Anwälte organisiert, die sie aus der weißen Vorhölle befreit hatten. So verdankte sie die letzten fünf Jahre eigentlich ihm.
„Wann hast du diesen Namen angenommen? Schon als du abgetaucht bist?“
Genau genommen nicht gleich. Erst nachdem das zweite Mal jemand in ihren Armen gestorben war, etwa zehn Monate nach ihrer Entlassung. Gott, allein, dass sie jetzt wieder darüber nachdenken musste, nachdem sie all das so erfolgreich ausgeklammert hatte. Es war schrecklich.
Damals war sie außer sich gewesen, dass der ganze Albtraum sich wiederholt hatte. Die ganze Panik und Angst, gegen die sie so hart gekämpft hatte, drohten sie zu verschlingen. Hatte man ihr doch eingeprägt, dass man durch einen kleinen, simplen Kuss niemanden ermorden konnte. Nachdem sie die instinktiven Schuldgefühle fast umgebracht hatten, obwohl sie sich nicht erklären konnte, wie sie die Tat begangen haben sollte, stand sie kurz davor, wahnsinnig zu werden. Also wahnsinnig wahnsinnig, in ihrem Fall. Immer wieder hatte sie alles im Kopf durchgespielt und sich gesagt, dass es unmöglich war. Bis heute war sie sich nicht sicher, was sie letztendlich glauben sollte, wollte aber kein Risiko mehr eingehen.
Dennoch hatte sie das Gefühl, sie sei eine Mörderin und allein die Tatsache, dass es beide Male Unfälle gewesen waren, die sie weder gewollt, noch forciert hatte, half ihr dabei, weiter zu leben. Gleichzeitig empfand sie eine unbändige Wut auf die verdammte Therapie, die sie glauben gemacht hatte, sie sei nicht gefährlich, sei kein giftiges Tier.
Das würde sie natürlich niemals jemandem erzählen. Diese Lektion hatten ihr besagte sieben Jahre tief in den Verstand gebrannt. Nur die tief verwurzelte Ablehnung einer Rückkehr in die Anstalt hatte sie davon abgehalten, zusammen zu brechen. Aber ihr war damals klar geworden, dass sie einen radikalen Schnitt machen musste, um den betroffen Teil von sich los zu werden.
„Ach verdammt, Cat!“ seufzte Eddi und stützte sich einen Moment auf der Kunststoffplatte vor sich ab. „Weshalb bist du denn nicht zu mir gekommen? Ich dachte du weißt, dass ich immer für dich da bin.“
Sie schluckte hart, um die Schuldgefühle runter zu würgen, die in ihrer Kehle prickelten. Dabei bemerkte sie, wie er um den Tisch herum kam und dann neben ihr stehen blieb. Da sie weder antwortete noch aufsah, übernahm er weiter das Reden. Der Ton war jetzt aber weniger wütend, stattdessen schwang in den Silben eine harsche Fürsorglichkeit. „Wie siehst du eigentlich aus? Was soll das ganze Metall in deinem Gesicht?“
Schließlich zog er sie resolut in seine Arme und Cat klammerte sich wie damals als 15-Jährige an sein T-Shirt. Ihre Selbstsicherheit, die sie in den letzen vier Jahren vor sich hergetragen hatte, verließ sie wie die Luft einen aufgestochenen Gummiball und wich dieser Schutzlosigkeit, die sie als junges Mädchen empfunden hatte.
Eddi Marquez trug immer nur Jeans und Shirts, selten Jacken. Seine Garderobe war funktional, sonst nichts. Er hatte diese Holzfäller-Ausstrahlung, obwohl die karierten Hemden fehlten, und war ein grundguter Kerl, der seinen Ansichten jedoch auch mit den Fäusten Nachdruck verleihen konnte. Seine Sturheit sorgte dafür, dass er seine Schützlinge erfolgreicher reintegrierte, als andere Sozialarbeiter. Er hatte schon so manchen jungen Erwachsenen aus den Mühlen der gesetzlichen Fürsorge gezogen.
Anfangs war sie nach ihrer Entlassung regelmäßig bei ihm im Büro aufgetaucht, eine richterliche Auflage, aber als sie nicht mehr musste, hatte sie die Pausen zwischen den Besuchen immer länger werden lassen und war schließlich nicht mehr gekommen. Nur einen Monat danach kam dann der zweite…Vorfall, die Namensänderung, die neue Haarfarbe und alles andere, das sie zu jemand anderem machen sollte. Jemandem, der nicht zwei Menschen hatte sterben sehen…, sterben lassen und dem das noch nicht Mal jemand glaubte.
Andere Verbrecher mussten sich darum sorgen, erwischt zu werden, Cat hatte man nach dem ersten Unfall ihr Geständnis nicht abkaufen wollen. Da sie aber nicht aufgehört hatte, zu beteuern, dass sie eine Mörderin war, hatten es alle Beteiligten für das Beste gehalten, sie in der Sicherheitsverwahrung verschwinden zu lassen, für lange, lange Zeit. Wäre da nicht Eddi gewesen.
„Eddi, es tut mir Leid, ehrlich. Ich dachte einfach, ich könnte noch Mal von vorne anfangen.“ Ihr Gemurmel wurde von den Falten des verblichenen grünen Shirts gedämpft, in das sie ihre Finger grub und Halt suchte. Dann schlang sie die Arme fest um seinen Torso und drückte das Ohr an sein Herz.
Ja, sie hatte ihn vermisst, bemerkte sie jetzt. Es war schön gewesen, jemanden zu haben, an den man sich wenden konnte, der einen kannte, mit allen Schwächen. Aber sie war schnell ohne zurechtgekommen und hatte gelernt, sich selbst zu helfen. Was bis gestern Nacht eigentlich auch ganz gut geklappt hatte. Wieder seufzte Eddi und strich ihr beruhigend übers Haar, wie einer Tochter.
„Und dass du wieder hier bist, was sagt dir das?“
„Dass man nicht von vorne anfangen kann?“
„Nein!“ Er schüttelte den Kopf. „Dass du mich anrufen hättest sollen. Ich hätte dir bei einem Neustart geholfen. Ohne Rückfahrticket.“ Er ließ sie los und drückte sie auf den Stuhl, während er sich selbst auf die Tischkante setzte. „Nachdem wir das jetzt ein für alle Mal geklärt haben…“ Sein Blick aus den dunkelbraunen Augen bohrte sich in ihre und bekräftigte die Worte. „.. solltest du mir erzählen, was du so getrieben hast und was schief gelaufen ist, damit wir dich schnellst möglich wieder hier raus kriegen.“
Wenn das nur so einfach wäre, wie Eddi es klingen ließ.
„Ich hab‘ mir ein paar Jobs gesucht, aber konnte nirgends lange bleiben. Nach der Namensänderung hat mir ein Bekannter einen Putzjob vermittelt, der mich dann über Wasser gehalten hat.“
„Meine Idee, dass du die Schule fertig machen sollst, hat dir wohl nicht gefallen?“ Mit diesem zu beiläufig fallen gelassenen Kommentar wühlte er die Erinnerung an ihr letztes Gespräch vor vier ein halb Jahren wieder auf. Er hatte ihr einige Broschüren von Abendschulen gezeigt und versucht, ihr die Sache mit verschiedenen Universitäten schmackhaft zu machen, die sie hinterher hätte besuchen sollen. Da irgendwo in ihr die Tochter ihrer Eltern schlummerte, wollte sie, wenn sie schon studierte, eine echte Karrieremöglichkeit. Man konnte sowieso nur etwas erreichen, wenn man bereit war, seine ganze Kraft in den Job zu stecken. Da verbesserte es ihre Referenzen nicht gerade, dass sie eine amtlich geprüfte, labile Irre war. Einige Berufe, wie Arzt, Anwalt oder andere Bereiche des öffentlichen Dienstes schieden von vornherein aus, andere würden sich garantiert keinen geisteskranken Klotz ans Bein hängen. Nach einigem hin und wieder war ihr klar geworden, dass sie mit ihrer Geschichte nichts erreichen würde können, also hatte sie diese Identität abgelegt. Zuerst ihr Umfeld, dann auch ihren Namen.
„Was hätte ich denn damit werden sollen? Die verrückte Professorin oder vielleicht doch lieber der Glöckner von Notre Dame? Als Catlynn Campbell hätte mich doch so wie so keine Schule oder Uni aufgenommen.“ Beschädigte Ware verkaufte sich eben schlecht, wie schon ihre Eltern gewusst hatten. Die ersten Arbeitsstellen, als Gärtnerin oder als Kellnerin, hatte sie aufgrund dessen jedes Mal nach der Probezeit verloren, noch nicht ein Mal eine Zeitarbeitsfirma hatte sie vermitteln können. Sogar ein Knacki hatte folglich bessere Berufsaussichten als sie. Da sie nicht in eine Fabrik gewollt hatte, wo es die meisten Arbeitsplätze gab, war ihre Bewegungsfreiheit zusätzlich eingeschränkt gewesen, wodurch sie eine Weile genötigt gewesen war, mit Drogen zu handeln. Illegal oder nicht, sie hatte essen müssen.
„Auf jeden Fall konnte ich mich so ernähren und mir ein Leben aufbauen. Ich habe viele Freunde da draußen.“ Freunde, denen sie nie alles über sich erzählt hatte. Aber da Eddi sie immer noch für geheilt hielt, verheimlichte sie ihm dies alles. Was wieder bewies, dass sie selbst dem Menschen, der ihr im Moment am nächsten stand, nicht die Wahrheit über sich selbst sagen konnte. Egal mit wie vielen Leuten sie sich auch anfreundete, Vertrauen aufbaute, letztlich war sie allein und würde es immer bleiben. „Ich dachte ehrlich, es hätte funktioniert.“
Eine Weile lang war sie wirklich glücklich gewesen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Aber die jüngsten Ereignisse hatten sie eines besseren belehrt und neben all der Verwirrung und den vielen Fragen, die in ihrem Kopf kreisten, wurde sie von dem Gefühl von Tragik ergriffen, dass sie all das hart Erarbeitete mit einem Handstreich wieder verloren hatte.
„Ach Süße.“ Eddis schwere Hand landete auf ihrer Schulter. „Es wird funktionieren!“ Jetzt packte er den Stuhl auf dem sie saß und rückte ihn, als wöge sie rein gar nichts, zur Seite, sodass er vor ihr in die Hocke gehen und sie ansehen konnte. Die breiten Brauen hatte er zu einem Strich zusammen gezogen und seine braunen Augen blickten unverwandt und standhaft in ihre.
„Lass mich dir helfen. Ich finde einen Weg. Wenn du doch schon früher zu mir gekommen wärst, hätte ich das Schlimmste verhindern können.“ Er breitet die Arme aus und wies aufgebracht auf die Betonwände ringsum. „Jetzt spuck’s endlich aus. Warum bist du wieder hier? Und ich sage dir gleich, wenn du es mir nicht erzählst, hole ich mir deine Akte. Dann pfeife ich aber auf deine Version. Also, was ist passiert?“
Cat weigerte sich, in diese grausame Erinnerung einzutauchen. Sie wandte den Blick ab und hätte sich jetzt nur zu gerne eine Kippe angesteckt.
„Rede endlich, Cat!“, wurden ihre Gedanken von Eddis Forderung unterbrochen. Seufzend gab sie nach. Sie hatte die Geschichte schon so oft erzählt, sie würde ein weiteres Mal durchhalten. Am Ende überstand sie immer alles, wie die Erfahrung zeigte. Sie holte stockend Luft, um zu erklären, wie sie sich in das ganze Schlamassel hineinmanövriert hatte.
„Also… vor ein paar Jahren, hab ich…, ich wusste nicht, wie ich an Geld kommen sollte. Ich traf da diesen Kerl und der hat mir erzählt dass man mit dem Dealen unheimlich schnell, unheimlich viel Kohle machen konnte.“ Eddi horchte auf. Sie hätte schwören können, dass er ein bisschen an Größe gewann, sein Gesicht nahm einen gefährlichen Purpur-Ton an.
Cat hob sofort beschwichtigend die Hände. „Ich weiß, ich weiß.“ Beschämt senkte sie erneut den Blick. Ihre eigene Erfahrung mit Betäubungsmitteln, hatte das Gefühl nicht gerade besser gemacht. „Ich hab auch nur so viel gedealt, dass es zum Leben reichte und habe darauf geachtet, dass das Zeug nicht gestreckt war, oder so. Als ich dann putzen konnte, habe ich sofort damit aufgehört.“
Eddi rieb sich übers Gesicht und atmete hörbar aus. „Ach, Cat…“ Es hörte sich an, als wolle er den Satz mit „wie kann man sich nur so anstellen?“ beenden. Sie wusste, dass ihr Drang danach, alles hinter sich zu lassen, sie in diese Situation gebracht hatte, aber jetzt konnte sie es auch nicht mehr rückgängig machen. Im Grunde fiel es im Vergleich zu ihren anderen Sünden auch nur gering ins Gewicht.
„Ich habe dabei einen Jungen kennen gelernt. Er wollte was von mir kaufen, sein Name war Jayce. Ich habe ihn aus den Augen verloren, als ich mit dem Putzen angefangen habe. Aber gestern kam er plötzlich abends vorbei. Er war völlig aufgelöst und außer sich.“
Sie erzählte alles noch ein Mal, samt den Unbekannten, die anscheinend magische Fähigkeiten zu besitzen schienen. Genauso wie den Beamten verheimlichte sie Eddi die verstörenden Fakten nicht, obwohl sie das vielleicht hätte tun sollen, wie schon die Tatsache zeigte, dass man sie umgehend wieder in die Klapsmühle verfrachtet hatte. Heute Morgen und auch jetzt war sie einfach zu verstört, um sich eine andere, glaubhafte Geschichte zusammen zu spinnen.
„Ich wollte Jayce nicht los lassen, aber irgendwann wurde ich von einem Polizisten weggezerrt. Ich hab‘ ihnen alles erzählt, ich schwöre es!“ Cat suchte Eddis Blick. Sie wusste nicht, was sie darin erwarten würde. Er hatte immer zu ihr gehalten und sie hoffte, dass sich das jetzt nicht ändern würde.
Eddi betrachtete sie mitleidig. Sie hasste diesen Ausdruck auf dem Gesicht der Menschen. Bemitleidet zu werden, konnte sie nicht ertragen. Gleichzeitig wurde ihr schmerzlich bewusst, dass auch er ihr nicht glaubte. Beziehungsweise glaubte er, dass sie sich eingebildet hatte, das alles gesehen zu haben. Mit anderen Worten, er hielt sie, genau wie das Rechtssystem, für verrückt.
Enttäuscht ließ sie die Schultern sinken und alle Hoffnung wich aus ihr, verpuffte und hinterließ nichts mehr, woran sie sich festhalten konnte. Sie würde hier festsitzen, wenn Eddi der Meinung war, sie hätte einen Rückfall. Er würde ihre Einweisung befürworten, in dem ehrlichen Glauben, dass er ihr damit etwas Gutes täte. Er würde darauf setzen, dass man sie hier ein weiteres Mal heilen würde, um dann einen neuen Versuch der Reintegration zu starten. Sie sah es geradezu vor sich.
„Süße, ich glaube, du stehst wirklich unter Schock. Ein paar Tage hier drin werden dir vielleicht gut tun“, bestätigte der Hüne ihre Befürchtungen. „Du wirst sehen, dass es dir schon bald wieder besser gehen wird und dann verhandeln wir neu, wann du rauskommst. Wir können ja schon Mal gemeinsam einen neuen Job für dich suchen.“ Seine Miene war hoffnungsvoll, aber Cat dachte nur zynisch, dass sie bereits einen Job hatte, den sie jedoch verlieren würde, wenn sie einfach ein paar Wochen nicht auftauchte. Ganz toll.
Trotz allem hatte sie das Gefühl, die Situation sei nicht ganz so rabenschwarz, wie beim letzten Mal. Denn nun wusste sie, dass sie sich nicht nur alles eingebildet hatte. Es gab einen physischen Beweis, nicht wie damals, als sie Martin Devenport geküsst hatte, oder Peter Warner. Es gab zwar keine weiteren Zeugen, aber Jayce hatte sich einige Knochen im Leib, unter anderem das Rückgrat, gebrochen. Das bedeutete, er musste gefallen oder heftig geschlagen worden sein. An ihr waren keine Kampfspuren zu sehen gewesen, außerdem war sie mit ihren 1,55 Meter ein Fliegengewicht und gar nicht zu solcher Gewalt in der Lage. Es war niemand sonst in der Gasse gewesen. Die ganze Geschichte konnte sie sich einfach nicht eingebildet haben. Sie hatte so viele Fragen, was ihr letztlich die Kraft gab, tief durchzuatmen und alles in Kauf zu nehmen, was jetzt auf sie zukommen würde.
Sie würde alles durchstehen, wie letztes Mal,… und dann, wann immer der Zeitpunkt kommen mochte, würde sie sich auf die Suche nach Antworten machen.
Du bist wie ich. Sie werden kommen.
Cat fröstelte.
Xandra blätterte eine Akte durch. Sie sah zwar die Buchstaben auf den DinA4-Seiten, aber deren Sinn drang nicht zu ihr durch. Ärgerlich dachte sie an das Telefonat mit ihrem Vater. Da war sie fast 500 Jahre alt und dennoch ließ sie sich immer noch von ihm herum kommandieren. Sie hatte nett sein und Evrill einen Gefallen tun wollen, nur um zu erfahren, dass ihr Vater bereits vom Venus-Orden wusste. Jetzt hatte sie die ganze Sache am Hals und natürlich erwartete Chronos Höchstleistung von ihr. Dazu gehörte definitiv, den Sohn eines seiner besten Freunde aus den Angelegenheiten der Legion heraus zu halten. Das waren hervorragende Voraussetzungen, um die erst wieder aufkeimenden Flirts zwischen ihr und Evrill in den Sand zu setzen. Sie musste sich dringend daran erinnern, ihrem Vater den Oscar dafür zu verleihen, dass er es immer wieder schaffte, ihr Liebesleben zu unterbinden und es dabei so aussehen zu lassen, als hätte das Ganze nicht das Geringste mit ihr zu tun. Er war ein verdammtes Genie. Schade nur, dass sie ausgerechnet diese Eigenschaft nicht von ihm geerbt hatte. Seine Gabe auch nicht, noch so eine ärgerliche Tatsache.
Frustriert lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück und nahm sich die nächste Akte vor. Ihr Schlaf war wieder mal traurig kurz gewesen, nachdem sie sich mit ihrem Team die halbe Nacht um die Ohren geschlagen hatte. Dank Dareon mit seinem nervtötenden Heldenkomplex, hatten sie nach seiner Aktion nicht nur das Problem, dass ihr Ziel, der Cohen-Sprössling sich erst Mal aus der Öffentlichkeit zurück ziehen würde, nein, sie hatten auch noch Stunden damit zugebracht, die holde Meid nach Hause zu chauffieren.
Nicht, dass sie Cohens Handlungen in irgendeiner Form gebilligt hätte, aber als Frau musste man auch erst mal in so eine Lage geraten und ihrer Meinung nach hatte man zumindest in der Hand, eben das verhindern. Vielleicht war das hart, aber die Welt fasste einen auch nicht mit Samthandschuhen an. Sie hatte früh gelernt, dass man auf sich selbst aufpassen können musste, besonders als Angehörige des schwachen Geschlechts. Sie sah zwar ein, dass man speziell als menschliches weibliches Wesen nicht viele Ressourcen hatte, auf die man bei seiner Verteidigung zurückgreifen konnte, doch man hatte immer noch seinen Verstand.
Auch wenn sie versuchte, es zu unterdrücken, irgendwo in ihr regte sich Verachtung für das Blondchen, das sie aus Cohens Limousine gerettet hatten.
Aber D war natürlich nicht zu bremsen gewesen. Zurück auf dem Anwesen hatte Roman ihn sich zur Brust genommen, aber erst nachdem er die anderen in die Betten geschickt hatte. Xandra baute fest darauf, dass Christian, die alte Plappertasche, ihr alles brühwarm berichten würde, aber sie hatte ihn heute noch nicht gesehen.
Kein Wunder, keiner war so idiotisch, nur vier Stunden nach der letzten Schicht, schon die nächste anzutreten. Aber wieder einmal verdankte sie diesen Einsatz ihrem Vater. Er tat sich schwer damit, Aufgaben abzugeben und so wandte er sich bei vielen Gelegenheiten an seine Tochter, die durch die Blutsverwandtschaft offensichtlich einen Vertrauensvorschuss genoss und bei der er das Gefühl hatte, er hätte weiter die Kontrolle über die Geschehnisse. Außerdem war sie auf Grund ihrer Ausbildung perfekt für den Job.
Da die Legion, genau wie die Hegedunen immer auf der Suche nach erwachenden oder versteckt lebenden Elevendern war, wurden die internen Nachrichten von Polizei und Staatsanwaltschaft, sowie die von Krankenhäusern und Medien durchkämmt. Wenn etwas Auffälliges auftauchte, schickte die Legion jemanden vorbei, um sich den Fall anzusehen. Und da sie auch Ärztin war, fiel die Wahl, wenn es um Krankenhäuser oder ähnliches in der Nähe ging, auf sie.
Ihr Vater hatte sie mit einem neuerlichen, frühmorgendlichen Anruf aus dem Bett befördert und sie ins Lake-View-Sanatorium geschickt, das sie schon öfter aus demselben Grund als Vertretungsärztin aufgesucht hatte. Die Legion fädelte die ganze Sache meist kurzfristig per Computer ein, da sonntags immer eine Vertretung gebraucht wurde.
Jetzt saß sie mit ihrem weißen Kittel in dem kleinen Büro des diensthabenden Arztes und studierte die verschiedenen Fälle, die sie sich heute ansehen sollte. Laut Ferroc sollte sie eine gewisse Cathleen Morrison untersuchen, denn anscheinend war gestern Nacht ein merkwürdiger Mord geschehen und das Mädchen war die einzige Zeugin gewesen. Jedoch hatten die Richter ihre Geschichte als lächerlich abgetan und sie in die Klapsmühle geschickt.
Xandra überflog den Bericht. Diesmal mit mehr Aufmerksamkeit.
Passanten hatten zuerst das Opfer, dann auch die Zeugin in eine Gasse gehen sehen. Ein wenig später waren Schreie aus der kleinen Seitenstraße zu hören gewesen und noch mehr Leute waren hinzugekommen. Sie blätterte durch die vielen Zeugenaussagen und studierte kurz die Ergebnisse der Gerichtsmedizin. Diese hatte multiple Knochenbrüche beim Opfer festgestellt, die letztlich auch zu seinemTod geführt hatten. Splitterbrüche, die eigentlich nur entstanden, wenn jemand aus großer Höhe stürzte. Für die Polizei war der Fall bisher völlig unklar. Es stand lediglich fest, dass Ms. Morrison weder der Täter gewesen sein konnte, noch dass ihrer Zeugenaussage brauchbar war. Psychologische Gutachten bestätigten, dass man in Windeseile eine Psychose diagnostiziert hatte, um sie aus dem Verkehr zu ziehen. Xandras Augen blieben an dem Protokoll von Cathleen Morrisons Aussage hängen.
Sie hatte behauptet, dass zwei Unbekannte plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht waren und einer von ihnen mit dem Opfer emporgeflogen war. Dann hatte er ihn einfach fallen lassen und war kurz darauf mit seinem Begleiter verschwunden.
Klar hatte die Polizei ihr nicht geglaubt. Doch Xandra und ihre Kollegen sahen mehr in dem Fall. Sie kannten sich mit diesen Vorkommnissen der besonderen Art aus. Jeder Elevender besaß eine spezielle Gabe, die sich irgendwann zwischen dem 15. und 17. Lebensjahr entwickelte. Obwohl nur Gegenstücke, Elevenderpaare, die für einander bestimmt waren, Elevenderkinder bekommen konnten, kam es durchaus vor, dass auch reine Menschenverbindungen oder gemischte Elternpaare ein begabtes Kind hervorbrachten, auch wenn es selten war. Die Betroffenen hatten keine Ahnung von ihrem Schicksal und meist wurden sie im Laufe ihrer Pubertät in irgendeiner Form auffällig, sodass die Legion sie finden und sich ihrer annehmen konnte. Ohne die Hilfe von anderen Elevendern wurden viele dieser armen ahnungslosen Kinder verrückt, oder fügten sich oder anderen unbeabsichtigt Schaden zu. Selbst mit erfahrenen Elvendereltern konnte es passieren, dass die Gabe sich überraschend zeigte und einen Unfall auslöste, aber diese wussten dann wenigstens was zu tun war.
Nachdem sie alle Fakten gesichtet hatte, verstand Xandra allerdings immer noch nicht ganz, warum sie hatte herkommen müssen. Cathleen Morrison hatte wahrscheinlich zwei Elevender dabei beobachtet, wie sie jemanden getötet hatten, darauf musste sie dringend Roman ansetzen, aber das hieß nicht, dass sie selbst eine Begabte war.
Xandra legte die Akte zu Seite und klappte den nächsten Bericht auf.
Moment, das Gesicht kam ihr bekannt vor. Sogleich angelte sie nach den Unterlagen, die sie eben erst auf den Ablagestapel befördert hatte und schlug sie erneut auf. Mit einem schnellen Blick verglich sie die beiden Bilder und nicht nur die Vornamen ähnelten sich.
Verdaaaaaammmt.
Das war doch ein und dasselbe Mädchen. Cathleen Morrison besaß sehr dunkles Haar. Der Pony reichte ihr bis über die Augen, deren helles Grün nur zwischen den Fransen hindurchblitzte. Sommersprossen bedeckten Nasenrücken und Wangen, das Gesicht war schmal und der Ausdruck darauf zynisch. Sie hatte Piercings in einer Augenbraue, dem Nasenflügel und seitlich an der Lippe.
Catlynn Campbell dagegen fiel sofort durch ihr rotes Haar auf, das ihr offen über die Schultern fiel. Sie blickte ängstlich in die Kamera, als das Foto gemacht wurde und wirkte dabei wie eine kleine Elfe, die Wangen rosig, die hellgrünen Augen weit aufgerissen. Kein Metall.
Cathleen war älter als Catlynn, aber beide hatten sie diese unverkennbaren Sommersprossen und die Katzenaugen, die sich einfach nicht verstecken ließen. Neugierig geworden blätterte Xandra durch Catlynn Campbells Akte und während sie immer weiter vordrang, begriff sie langsam, warum Ferroc sie geschickt hatte.
Cathleen oder Catlynn war schon ein Mal eingewiesen worden. Damals, weil sie der Polizei gegenüber ausgesagt hatte, dass sie glaubte, ihren Freund getötet zu haben. Das Ganze war auf einer Party geschehen, eine Unmenge von Jugendlichen hatte bezeugt, dass das Mädchen das Opfer lediglich geküsst hatte und die Untersuchung des Leichnams hatte nichts ergeben. Idiopathischer Herzstillstand war die abschließende Meinung des obduzierenden Arztes gewesen. Auch hier hatte Catlynn etwas behauptet, das ihr an Hand der Beweise nicht angelastet werden konnte. Nachdem man also nichts weiter mit ihr anzufangen wusste, hatte man sie schon ein Mal ins Lake-View-Sanatorium, der forensischen Anstalt des Bezirkskrankenhauses verfrachtet. Für ganze sieben Jahre. Xandra wurde schlecht. Mein Gott, das arme Ding.
Beschwingt stand sie von ihrem Sessel auf und schnappte sich das Telefon. Ein kleiner Anruf in der Überwachungszentrale sorgte dafür, dass man Cathleen oder Catlynn in ihr Behandlungszimmer bringen würde. Xandra machte sich nichts vor. Es würde nicht leicht werden, die junge Frau zu überzeugen, aber sie musste sie mitnehmen, sonst würden vielleicht bald die Sucher der Gegenseite auf der Matte stehen.
Wenig später klopfte esan der Tür und ein Pfleger betrat den Raum. Er schob eine schmale Person vor sich her, die den Kopf gesenkt hielt. Alles in allem musste Cathleen vielleicht um die 50 Kilo wiegen, was bei ihrer geringen Körpergröße wirkte, als wäre ihr Entwicklungsprozess irgendwann stehen geblieben. Sie war sehr dünn und zierlich, aber die elfenhafte Catlynn war verschwunden, die Zartheit durch robuste Widerstandfähigkeit ersetzt worden. Cathleens Körper wirkte drahtig, die Muskeln sehnig, als ob sie trainierte, während Catlynn diese übernatürliche Grazie ausgestrahlt hatte. Das Mädchen war vom Leben gezeichnet worden. Es hatte sie durch die Mangel gedreht und ihr seinen Stempel aufgedrückt, sie unwiderruflich verändert.
Die Naivität auf dem jüngeren Gesicht hatte sich mittlerweile in einen harten Zug und Mund und Kiefer verwandelt, so wirkten die Lippen des Mädchens schmal, obwohl Xandra auf dem älteren Foto hatte erkennen können, dass eigentlich ein voller Herzmund in dem ehemaligen Puppengesicht prangte.
Der Pfleger ließ sie alleine und das Mädchen ging zielstrebig zur weißen Liege an der linken Wand, als wollte sie das alles schnellst möglich hinter sich bringen. Sie setzte sich und ließ die Beine baumeln, während ihr wachsamer Blick durch den Raum schweifte. Ihre extrem hellen, grünen Augen bewegten sich ruhelos, als ob sie hinter jeder Ecke die nächste Katastrophe erwartete.
Xandra zog den Hocker heran, setzte sich und rollte dann näher an die Liege heran. Diesen Trick hatte sie sich nach einiger Zeit ausgedacht, es wirkte geschäftsmäßig, aber nicht zu aufdringlich und brachte sie in eine Position, in der der Patient meist mit ihr auf Augenhöhe war.
„Hi, mein Name ist Xandra und wie heißt du?“ Sie bemühte sich um einen neutralen und freundlichen Ton.
„Das sehen sie doch in der Akte“, antwortete die junge Frau deutlich genervt.
„Nicht ganz. Genau genommen habe ich zwei Namen zur Auswahl.“ Xandra verschränkte lächelnd die Arme, als der Kopf mit dem dunklen, langen Haar in die Höhe fuhr. „Also welchen soll ich nehmen?“
Verlegene Augen suchten ihre, dann sagte ihre Patientin: „Catlynn.“
„Schöner Name. Passt besser zu deinen Katzenaugen.“
„Das hat meine Mutter auch gesagt.“ Welches Fenster auch immer Xandra vorhin aufgestoßen hatte, in diesem Moment schloss es sich wieder. Als hätte sie Erwähnung von Catlynns Mutter sie wieder in ihren Kokon getrieben.
„Wie fühlst du dich?“
Cat zuckte mit den Schultern und Xandra wartete auf eine Antwort, erhielt aber keine.
„Glaubst du, dass du krank bist?“
Die junge Frau zögerte, doch schließlich nickte sie. Sie wandte den Blick wieder ab, puhlte mit den Fingern in den Löchern des abgenutzten Leders der Untersuchungsliege. Xandra beobachtete sie ganz genau, suchte nach Anzeichen. Es ließ sich schwer in Worte fassen, woran man erkennen konnte, ob jemand ein Elevender war oder nicht. Falls seine Gabe es nicht sofort offensichtlich machte. Doch sie hatte nun jahrhundertelange Übung und war eine der besten im Aufspüren von Elevendereigenschaften. Bei manchen war es völlig offenkundig, bei anderen zeigte es sich sehr versteckt und Xandra merkte schnell, dass sie hier tatsächlich ein Exemplar der zweiten Kategorie vor sich hatte. Das zierliche Mädchen verströmte die Aura der Elevender in so kleinen Dosen, dass sie beinahe nicht zu spüren waren. Xandra war sich sicher, dass sie sie lediglich auf Grund ihrer hervorragenden Fähigkeiten auf diesem Gebiet erkennen hatte können.
„Wollen Sie mich denn nicht untersuchen?“
„Nein. Ich will mit dir reden.“
„Sind sie Psychiaterin? Die wollen auch immer mit mir reden.“
Xandra lachte und schüttelte den Kopf. „Nein, keine Sorge... Aber ich bin tatsächlich nur wegen dir hier.“
Jetzt wurden diese hellgrünen Augen beinahe tellergroß. „Was?“, rief Catlynn und sprang unvermittelt von der Liege. In nur mühevoll beherrschter Panik wich sie zurück.
Cats Herz raste und ihre Brust hob und senkte sich hektisch. Nur am Rande erkannte sie, dass sie kurz vor einer Panikattacke stand.
Sie werden kommen.
War es jetzt so weit? Wollte diese Frau sie mundtot machen, damit sie nichts mehr ausplaudern konnte? Deswegen konnte sie nicht gekommen sein, sie musste doch aus ihrer Akte wissen, dass Catlynn bereits alles der Polizei erzählt hatte. Cat wich weiter vor der jungen Frau im Arztkittel zurück. Sie war blendend schön, blondes langes Haar, das sie im Seitenscheitel trug. Sie sah eher aus wie ein Model, denn wie Onkel Doktor und obwohl ihr Lächeln warm und freundlich war, strahlte sie noch etwas anderes aus. Etwas, das Cat nicht einordnen konnte, aber meinte, es schon ein Mal gespürt zu haben. Bei Jayce in ihrer Küche. Und in der Gasse bei den beiden Fremden.
Cat verbot sich wie immer die Furcht, aber auch dieses Mal wollte es nicht so recht klappen. Ihre Beine trugen sie wie von selbst rückwärts, wobei sie die Schönheit nicht aus den Augen ließ.
„Was wollen sie?“ Zufrieden stellte sie fest, dass sie wenigstens ihre Stimme unter Kontrolle hatte. Kein Zittern oder Keuchen.
„Ich will dir helfen“, antwortete ihre ‚Ärztin‘ und versuchte ihren Blick zu fangen, als wollte sie ihr ermöglichen, die Aufrichtigkeit in ihren Gesten zu sehen. Sie hob die Hände und blieb sitzen, machte keine Anstalten, Cat zu folgen.
„Wobei wollen sie mir helfen?“
„Nun, zunächst einmal will ich dich hier raus bringen, aber vor allem musst du etwas erfahren, über dich selbst… und über meine Welt. Unsere Welt.“ Xandra deutete zuerst auf sich, dann auf Catlynn.
Ookaaayyy, anscheinend war sie hier nicht die einzige Irre.
„Hören Sie, Lady. Wenn das irgendein Trick sein soll, dann können sie sich den in ihren Allerwertesten schieben.“
Xandra seufzte und legte den Kopf auf eine kokette Weise schief. „Warum hast du solche Angst vor mir?“
Sie werden kommen.
„Jemand hat mich vor Ihnen gewarnt.“
„Wie bitte?“ Das blonde Model zog die Augenbrauen nach oben. Die Überraschung war unverkennbar und Catlynn musste zugeben, dass sie entweder eine verdammt gute Schauspielerin war, oder tatsächlich keine Ahnung hatte, wovon Cat da sprach. Und falls sie wirklich zu den beiden Männern in der Gasse gehörte, dann war Cats Leben sowieso vorbei. Wer wusste schon, zu was die Frau fähig war, wo ihre etwaigen Kollegen aus dem Nichts erscheinen und fliegen konnten.
„Sind Sie eine von denen?“
„Wen genau meinst du?“ Ihre Gegenüber schien ernsthaft neugierig.
„Die, die Jayce getötet haben.“ Cat stieß mit dem Rücken gegen eine Wand und begann sich langsam seitwärts zu schieben, zur Tür. Wenn sie es nur in den Flur und zurück in irgendeinen Raum mit Leuten schaffen könnte. In ihrer Aufregung atmete sie flach. Oh Gott, was wenn diese Leute doch die losen Enden beseitigen wollten?
„Moment mal, ganz langsam. Willst du dich nicht wieder hinsetzen? Du kommst hier sowie so nicht raus. Die Türe wird von außen verschlossen, wenn sie Patienten herbringen.“ Der Ton der Fremden war weiter ruhig, während sie mit einer eleganten Bewegung auf die Liege deutete. „Dann könntest du mir auch erzählen, wer dieser Jayce ist.“
Da Dr. Supermodel so entspannt blieb und keine Anstalten machte, Cat einzufangen, glaubte sie ihr, dass sie nicht entkommen konnte. Außerdem wirkte die Frau nicht gerade wie Freddy Krueger und Cat lechzte so sehr nach Antworten auf all die Fragen um sich selbst. Also riss sie sich am Riemen und ging langsam zurück zu der weiß bezogenen Untersuchungsstätte. Sie ließ Xandra nicht aus den Augen, während sie sich setzte und sich fragte, was sie nun erwarten würde.
„Ist Jayce der Junge, der heute Morgen gestorben ist?“
Cat nickte beklommen.
„Dann kann ich dich beruhigen. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die ihn umgebracht haben. In Gegenteil, das sind meine Feinde.“
Cat sah in die saphirblauen Augen der jungen Frau. Sie wirkte entschlossen, verhielt sich absolut souverän, aber gleichzeitig zurückhaltend. Als versuchte sie ein wildes Tier zu streicheln.
Das rief Cat ins Gedächtnis, dass sie anscheinend auch äußerlich ihre Beherrschung verloren hatte. Die Panik musste ihr ins Gesicht geschrieben stehen. Was, wenn sie war wie die vermummten Unbekannten? Was, wenn sie auch eine solche …. was auch immer besaß, ohne dass sie es geahnt hatte? War die Frau gekommen, um Cat als Mitverschwörer ihrer Gegner zu verfolgen?
„Und wer sind ihre Feinde?“, fragte sie gespannt und lugte vorsichtig unter dem Pony hervor.
„Es sind Hegedunen. So bezeichnen wir eine Organisation von Elevendern, die die Welt beherrschen und Menschen versklaven wollen.“
Ele… was? Diese beiden Begriffe hatte sie noch nie gehört, es klang in ihren Ohren verdächtig nach Science Fiction.
„Und du und ich, wir sind auch Elevender, menschliche Wesen, die mit einer Gabe geboren werden.“
Cat traute ihrem Gehör nicht und ihr wurde etwas schwindlig. Ihr ganzes Leben, ihre Weltanschauung geriet durch einander, noch bevor sie sich entschlossen hatte, etwas von dem Mist zu glauben. Irgendetwas in ihr schrie laut, dass sie dringend mehr erfahren musste. Sie musste einfach alles… wissen, wenn sie dadurch erklärt bekam, was schon immer in ihr vorgegangen war.Erklärungen für all die Mysterien, die ihr widerfahren waren. Aufregung mischte sich in die Furcht und als sie den Mund öffnete, konnte sie nur noch stammeln. „Eine … Gabe? Was… für… eine… Gabe…?“
Dr. Xandra lehnte sich ein wenig auf dem Hocker zurück und schien äußerst erfreut darüber, Cat nicht mehr zum bleiben überreden zu müssen. Tja, nach der letzten Eröffnung konnte sie sich Cats Aufmerksamkeit sicher sein.
„Jeder von uns hat seine eigene. Manche Begabungen kommen unter den Elevendern häufiger vor, andere gibt es nur selten. Offensichtlich waren die Gaben deiner Angreifer das Teleportieren und das Fliegen. Nicht sonderlich exotisch, aber allseits beliebt.“ Die Blonde stand auf und ging in die Ecke des Behandlungszimmers, wo einige medizinische Materialien in einem Regal verstaut waren. Sie öffnete eine kleine Schatulle und nahm ein Skalpell heraus.
Cat zuckte zusammen, als sie den blitzenden, rasiermesserscharfen Stahl erblickte.
„Was… haben sie damit vor?“ Ihre Stimme war vor Panik ganz hoch geworden, aber Xandra blieb in der Ecke und hob abwehrend die Hände.
„Ganz ruhig, ok? Ich werde mir jetzt selbst einen Schnitt zu fügen. Dir geschieht nichts.“
Erstaunt beobachtete Cat sie dabei, wie sich die wunderschöne Frau wie angekündigt ihrer eigenen Hand widmete. Schnell führte sie einen langen Schnitt quer über die Innenfläche der Linken, aus dem augenblicklich Blut quoll. Die Farbe war tief rot, genauso wie der Inhalt von Cats Venen. Ganz normal also. Aber dann legte Xandra das Schneidewerkzeug beiseite, schnappte sich ein sauberes Tuch, um den Boden nicht voll zu tropfen und kam dann gemessen Schrittes zurück auf ihren Hocker. Die Hand mit dem Schnitt legte sie mit der Innenfläche nach oben auf ihr Knie, sodass Cat die Verletzung genau sehen konnte.
„Pass‘ auf, dann bekommst du eine Kostprobe meiner Gabe.“
Mit diesen Worten hob sie die andere Hand über den Schnitt, aber nicht so nah, dass sie Cat die Sicht verdeckte. Zunächst passierte gar nichts und Cat fragte sich schon, ob das alles wohl ein schlechter Scherz sein mochte. Doch das mit dem Fliegen und… Teleportieren, dieses Wort klang schon in ihrem Kopf komisch, wenn man es mit der Realität verband, das hatte sie ja schon mit eigenen Augen gesehen. Und auch wenn es ihr merkwürdig erschien, sie war wahrhaft offen für alles was jetzt kommen würde, wenn es ihr nur eine Erklärung für all die Ungereimtheiten in ihrem eigenen Leben an die Hand geben konnte. Ja sie lechzte geradezu danach, konnte es kaum mehr erwarten. Unbewusst rutschte sie auf dem alten weißen Leder weiter nach vorn und beugte sich zu dem fremden Supermodel hinüber.
Xandra bemerkte es nicht, oder gab zumindest kein Zeichen von sich, dass es sie störte, wenn Cat ihr derartig auf die Pelle rückte.
Dann plötzlich begann die gesunde Hand zu leuchten. Herr Gott, das verdammte Ding strahlte wie eine Glühbirne, deren Dimmer langsam aber stetig hochgeregelt wurde. Immer heller wurde das Licht, bis es sich auf die Wunde übertrug, die daraufhin wie ein gleißender Blitz auf der weißen Haut der Fremden wirkte. Ungläubig starrte Cat auf den Schnitt und verfolgte mit geöffnetem Mund und weit aufgerissenen Augen, wie er sich verschloss. Einfach so, in rasender Geschwindigkeit. Das Fleisch schien das Leuchten dabei zu absorbieren, denn als Xandra das verbliebene Blut mit dem Tuch abwischte und Cat stolz ihre Hand hinstreckte, glomm die ehemalige Verletzung noch wie der Schweif einer Sternschnuppe am Nachthimmel und verblasste ebenso schnell.
„Das war’s!“
Cat verharrte wie vom Donner gerührt, sie war nicht im Stande sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Sie hatte sich wohl getäuscht, ihre Gesprächspartnerin war tatsächlich eine Ärztin, oder so was ähnliches. Aber wie zum Teufel war das möglich? Die Gesetze der Physik schienen für diese Leute keine Rolle zu spielen. Das alles musste irgendein Hokuspokus sein, wie sonst sollte so was im realen Leben möglich…
Oh mein Gott! Eine Erkenntnis traf sie und erschütterte sie noch tiefer. Was ihr geschehen war, hatte auch keiner für möglich gehalten. Man hatte sie sogar für verrückt befunden, weil es scheinbar keine andere Erklärung für die Geschehnisse in ihrer Vergangenheit gegeben hatte. Sogar sie selbst hatte an ihrem gesunden Menschenverstand gezweifelt, obwohl sie es zum wiederholten Male erlebt hatte. Ihre Stimme zitterte, als sie die alles entscheidende Frage stellte.
„Also, bin ich… wie Sie? Ein Elevender, oder wie das heißt?“
„Sag‘ ich doch. Bingo. Die Kandidatin hat hundert Punkte!“ Die blonde Frau, die sich als Ärztin ausgab, lächelte erfreut und zeigte dabei eine makellose obere Zahnreihe. Als wäre die glatte Haut und das sagenhafte Gesicht nicht genug gewesen, besaß sie auch noch das perfekte Lächeln für eine Zahnpasta-Werbung.
Cat schluckte und war einen Moment froh darüber, dass die Schönheit ihrer Gesprächspartnerin sie genug gefesselt hatte, um den ersten Schock abzudämpfen.
Sie war also eine Elevenderin. Was auch immer das bedeuten mochte. Hieß das, sie hatte tatsächlich die Tode zweier Menschen verursacht, obwohl sie das gar nicht gewollt hatte?
Gab es noch eine andere Erklärung dafür?
„Was ist dann meine… Kraft?“
Xandra zuckte mit den Schultern, eine äußerst konventionelle Geste und sie beruhigte Cat auf eine Weise, wie es keine Worte vermocht hätten. Xandra war vielleicht anders, aber zumindest war sie menschlich, also war Cat es auch.
„Leider steht einem sowas nicht auf die Stirn geschrieben, aber…“ Bedächtigen Schrittes ging die große Elevenderin um den Schreibtisch herum und griff nach einer Akte. Cats Akte, wie sich herausstellte. „Aber, wenn ich mir deine Geschichte so ansehe, bist du auf jeden Fall…“ Sie stockte und ihre Augen schossen hoch, um Cats Blick zu begegnen. Sie wirkte… entschuldigend.
„Tödlich? Sie meinen, ich bin… tödlich?“ Genau das, was sie befürchtet hatte.
Als Xandra nur beklommen nickte, verspürte Cat trotz ihres enormen Entsetzens auch Erleichterung.
Darüber, dass ihr endlich jemand glaubte, darüber, dass sie nun einen Teil der Wahrheit kannte und nicht zuletzt darüber, dass sie nicht verrückt war, wie man es ihr all die Jahre eingeredet hatte. Sie atmete tief durch und sah auf ihre Hände. Wie das wohl bei ihr funktionierte? Es hatte definitiv was mit ihren Lippen zu tun, soviel stand fest.
„Hör‘ mal“, unterbrach die Heilerin ihre Gedanken. „Ich würde wirklich gerne noch ausführlicher mit dir darüber plaudern, aber wie ich schon gesagt habe: Ich bin wegen dir hier. Und zwar, um dich mitzunehmen.“
Cat verstand erst nur Bahnhof. „Aber die Richterin hat gesagt, dass ich bis auf Weiteres…“
„Ach, papperlapapp! Das menschliche Rechtssystem gilt ab jetzt nicht mehr für dich. Du gehörst zu uns. Deshalb will ich dir einen Vorschlag machen.“
Langsam kam Xandra zurück zur Untersuchungsliege und setzte sich neben Cat, war aber darauf bedacht, einen gebührenden Abstand zwischen ihnen zu wahren. Trotzdem erkannte Cat diesen psychologischen Trick. Sich neben jemanden zu setzten, stellte eine bildliche Verbindung dar. Man saß sozusagen im selben Boot, blickte in dieselbe Richtung.
Xandra sah ihr eindringlich in die Augen, als sie weitersprach.
„Die Hegedunen, die Jayce getötet haben, werden früher oder später hier auftauchen. Sie suchen nach anderen Elevendern, um sie für sich zu gewinnen oder wer weiß was mit ihnen zu machen, wir sind uns in diesem Punkt nicht sicher. Aber Cat, sie sind böse. Sie tun schreckliche Dinge, um ihre Herrschaft zu sichern. Ich weiß, du begreifst das jetzt nicht alles, aber du musst mir vertrauen. Meine Freunde und ich, wir gehören zur Legion, ebenfalls eine Organisation von Elevendern, aber wir wollen die Menschen und Begabten schützen und die Hegedunen endgültig besiegen.“ Eine kurze Pause entstand.„Deswegen bin ich hier. Ich will dich in Sicherheit bringen, verstehst du?“
Cat schluckte schwer an den ganzen Informationen. Sie gingen schließlich runter, aber sie zu verdauen, das war eine andere Sache.
„Was zum Teufel…“, konnte sie nur atemlos ausstoßen. Die aufgestoßene Tür, ihre neue Zuflucht, die ihr die Wahrheit geboten hatte, bekam Löcher, wie ein in der Flamme verglimmendes Blatt Papier. So sah sie gar nicht mehr so hübsch aus.
„Irgendwie hast du die Nachricht, dass du kein Mensch bist, besserverkraftet“, kommentierte Xandra nüchtern.
„Wo sind wir hier? In einem Comic? Das ist ganz schön viel, ok?!“
„Ich glaube, du verwechselst mich mit Wonder Woman“, kicherte die andere jetzt sichtlich amüsiert. Aber als Cat dies nur mit einem entrüsteten Blick quittierte, hörte sie sofort damit auf.
„Also gut, ich verspreche, dir alles zu erklären, sobald wir hier raus sind. Aber wir sollten jetzt wirklich gehen. Du hast einiges an Aufmerksamkeit auf dich gezogen und wenn unsere Seite von dir gehört hat, dann die andere auch. Und denk‘ daran, was mit deinem Freund passiert ist.“
Du bist wie ich. Sie werden kommen.
Cat war sich nicht absolut sicher, ob Jayce damit besagte Hegedunen gemeint hatte, aber das Angebot der Schönheit schien ihr trotzdem verlockender als alle anderen Optionen, die sie sonst hatte. Sie wollte weder irgendwelchen Tötungskommandos in die Arme laufen, noch hatte sie Lust, erneut in einer Gummizelle zu versauern. Auch war sie inzwischen überzeugt, dass von ihrer Ärztin keine Gefahr ausging. Hätte sie Cat tot sehen wollen, wäre das bestimmt schon erledigt und die Frau auf dem Weg zur nächsten Maniküre gewesen.
Sie traf eine Entscheidung, wohlwissend, dass sie ihr altes Leben, ihre Freunde vielleicht niemals wiedersehen würde.
„Schön. Was soll ich tun?“
Wäre sie nur immer noch reich gewesen, hätte sie sich schon früher selbst befreien können. Dann hätte sie einfach einen Arzt geschmiert und die Sache wäre geritzt gewesen.
Xandras Fluchtplan war denkbar einfach. Als Ärztin erklärte sie dem Wachpersonal, dass ihre Patientin stabil genug für einen Spaziergang im Park war, woraufhin man sie tatsächlich aus dem Gebäude ließ. Cat hatte nur die weichen Puschen der Anstalt unter den Füßen und nichts als die dünne Patientenkleidung am Leib, aber endlich draußen fühlte sie keine Kälte. Sie war einfach überwältigt von der Erleichterung, wieder freien Himmel über dem Kopf zu haben. Die Sonne stand mitten im Sommer hoch und es war definitiv noch Nachmittag, vielleicht früher Abend. Wenige Schleierwolken zogen am Firmament entlang, aber ihre Befreierin ließ ihr nicht die Zeit, den Anblick zu genießen.
„Komm‘ schon. Sonnen kannst du dich später auch noch.“ Sie hakte sich bei Cat ein und wanderte mit ihr über den Rasen, immer weiter vom Haus weg. Sie gingen nicht schnell, aber zielstrebig. „Wir werden gleich über den Zaun klettern. Die haben da Kameras, aber die kann ich eine Weile ausschalten. Trotzdem müssen wir uns beeilen.“
Als sie Cats wenig begeisterter Miene entnahm, dass die keine begnadete Kletterin war, tatschälte sie lächelnd den Arm, unter den sie ihren eigenen geschoben hatte. „Ich helfe dir, wenn es soweit ist.“
Cat wurde weiter gezogen, bis sie ein Stück Zaun erreicht hatten, der vom dichten Laubwerk einer Eiche verdeckt wurde. Direkt vom Haus aus konnte man sie nicht mehr entdecken. Xandra stoppte und erteilte Anweisungen.
„Zuerst machen wir Räuberleiter, damit du auf die untere Querstrebe kommst, dann wartest du bis ich oben bin und dich hochziehe, ok?“
Anstatt eine Antwort zu geben sah Cat nur mit wachsendem Unbehagen den Zaun hinauf. Er war verdammt hoch und aus dünnen glatten Eisenstäben gefertigt. Zwei Querstreben verstärkten den Halt, eine auf mittlerer Höhe, die andere ganz oben. Nichts woran man sich gut festhalten konnte. Zusätzlich wurde das fiese Gebilde von einer Reihe spitzer Eisenstäbe gekrönt, die kaum zwanzig Zentimeter auseinander lagen. Ganz sicher nichts für Sportmuffel.
„Cat, vertrau‘ mir. Ich bringe dich heil auf die andere Seite. Bist du bereit?“
Obwohl Cat keineswegs überzeugt war, hielt sie sich an die Selbstsicherheit der anderen Frau und stimmte schließlich zu.
Xandra holte ein kleines Gerät aus dem weißen Kittel und betätigte dann einen Schalter.
„Die Kameras sind aus. Los!“
Sie liefen gemeinsam zum Zaun, wo ihr Xandra wie besprochen dabei half, das erste Trittbrett zu erreichen. Es war wirklich noch schwerer als es aussah, denn von nahem betrachtet, lag der einzige Haltepunkt weit über ihrem Kopf und ihre verschwitzten Hände hatten Schwierigkeiten, sich an dem glatten Metall hochzuziehen. Xandra schob von unten mit übermenschlicher Kraft und endlich fand sie Halt. Ihre Füße passten kaum zwischen die Streben, aber sie krallte sich mit aller Macht fest.
Sie blickte hinunter und verfolgte gerade noch, wie Xandra leichtfüßig einen Schritt zurück trat, Schwungholte unddann mit einem Satz neben Cat sprang. Der Zaun erzitterte ein wenig unter dem neuen Gewicht, trotzdem waren die Bewegungen der Elevenderin einfach atemberaubend grazil. Als koste es sie nicht die geringste Anstrengung, klemmte sie ihre Stiefel zwischen die Eisenstangen und erklomm geschwind das obere Ende des Zauns. Ihre Sohlen passten genau zwischen die scharfen Spitzen und es sah gefährlich aus, wie sie da balancierte und ihren Kittel auszog.
Dann beugte sie sich herunter und ließ den weißen Stoff so tief hängen, dass Cat ihn greifen konnte.
„Festhalten!“
Mit einer Hand formte Cat eine Kordel aus dem Saum der Arztbekleidung, dann packte sie auch mit der anderen zu und kaum hatte sie das getan, zog ihre Komplizin sie mit wenigen Rucken nach oben. Dort half Xandra ihr, Stand zwischen den Metallspitzen zu finden, die drohten sie beide aufzuspießen. Cat blinzelte verwundert. Obwohl die blonde Frau fast 1,80 groß sein musste, war sie schlank gebaut und man sah ihr auf keinen Fall an, welch enorme Kraft in diesem Körper wohnte.
„Sind alle Elevender so stark? Kann ich das auch lernen?“, fragte sie, während sie sich mit beiden Händen an Xandra festhielt.
„Oh ja. Spaßig, nicht? Aber jetzt kommt der schwierigste Teil. Du musst einen Augenblick alleine die Balance halten. Meinst du, das geht?“
Cat verbot es sich, erneut nach unten zu sehen. In diesem Fall wäre das ganz bestimmt eine schlechte Idee gewesen. Sie rückte die Füße ein wenig auseinander, sodass sie seitlich gegen Metall stießen und ihr mehr Sicherheit verliehen, dann ließ sie die andere Frau los. Diese hüpfte einfach auf der anderen Seite hinunter und landete sacht im Gras wie eine Katze. Es war schwer, das Federn des Metalls auszugleichen, aber schon wurden ihr von unten die Arme entgegengestreckt und bevor sie noch groß nachdenken konnte, purzelte sie einfach vom Zaun.
Glücklicherweise schien sie Hulk im Barbie-Format bei sich zu haben, denn sie wurde von einem verlässlichen Griff aufgefangen und sanft abgestellt. So hatte sie schon wieder festen Boden unter den Füßen, als sie der Schock des Falls einholte. Hektisch schnappte sie nach Luft und versuchte ihr rasendes Herz zu beruhigen. Der Schwindel verstärkte sich.
„Sag‘ ich doch. Ganz einfach“, meinte die Frau neben ihr. „Jetzt fehlen noch die Kameras, dann…“ Plötzlich verstummte die lapidare Stimme.
Ein schwarzer Kombi kam die Straße hinunter, die an das kleine Rasenstück grenzte, auf dem sie beide sich befanden. Es bremste abrupt ab und die Beifahrertür flog auf. Ein großer Mann sprang heraus und sprintete schon eine Sekunde später in ihre Richtung los.
„Scheiße!“, murmelte Xandra neben ihr. Sie packte Cats Arm und drückte ihr einen Autoschlüssel in die Hand. „Silberner X5. Er steht um die Ecke. Lauf los und sperr‘ dich drinnen ein. Mach niemandem auf außer mir und wenn ich in zwei Minuten nicht da bin, fährst du los und kommst nicht zurück, verstanden?“ Cat starrte immer noch gebannt dem Mann entgegen, der verdammt schnell näher kam. Erst das Rütteln an den Schultern löste sie aus ihrer steifen Haltung.
„Hast du mich verstanden, Cat? Du musst los laufen!“
Cat wurde gestoßen und dann rannte sie um ihr Leben. Mit großen Schritten sprintete sie am Zaun entlang, sie wagte nicht zurückzublicken, aus Angst langsamer zu werden, oder etwas zu sehen, das sie gar zum stehen gebracht hätte. Kaum war sie um die Ecke geschossen, entdeckte sie den großen silbernen BMW, aber erst als sie sicher hinterm Steuer saß und die Türen verriegelt hatte, wagte sie, einen Moment nachzudenken.
Wer war dieser Kerl? Gehörte er zu Jayces Mördern? Und wenn diese Leute die Feinde ihrer Retterin waren, was würden sie dann mit Xandra anstellen?
Diese mochte zwar stark sein, aber dass sie einen Sturz wie den von Jayce überleben würde, daran zweifelte Cat. Einen Entschluss fassend steckte sie den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor. Sie konnte nicht einfach herum sitzen und abwarten, dass das einzige Wesen, das ihr Antworten geben konnte, verletzt oder gar getötet wurde.
Sie beschleunigte den ausländischen Wagen und bog erneut um die Straßenecke. Der Schauplatz eines erbitterten Kampfes kam in Sicht.
Anscheinend war ein zweiter fremder Angreifer dazu gestoßen, beide waren sie ganz unauffällig mit Jeans und Sweater bekleidet. Xandra war extrem schnell. Sie parierte Tritte und teilte Schläge aus, wirbelte wieder herum, um einen der beiden zu Boden zu werfen. Den anderen stieß sie mit Wucht von sich. Er flog geradezu gegen den nächsten Baum, rappelte sich aber sofort wieder hoch. Unterdessenversorgte die blonde Amazone seinen Kumpanenmit einem Hieb gegen die Schläfe, der ihn ausknockte.
Cat war schon fast auf Höhe des Schauplatzes, sie gab noch unvermindert Gas, als der übriggebliebene Fremde etwas Schwarzes hinter seinem Rücken hervor holte.
Eine Waffe, wie Cat entsetzt erkannte. Doch innerhalb eines Herzschlags war Xandra schon bei ihrem Gegner. Die Kontrahenten rangen um den metallenen Gegenstand. Im selben Moment als sich ein Schuss löste, ließ sich Xandra auf den Rücken fallen, riss den Kerl mit sich und katapultierte ihn unter Zuhilfenahme aller vier Gliedmaßen über sich hinweg. Er flog davon und…
krachte direkt vor Cat auf die Windschutzscheibe. Es knallte laut, das Glaswurde eingedrückt und von Rissen überzogen. Catlynn erschrak heftig, konnte nichts mehr sehen.
„Shiiiiiiit!“ Ihr Schrei mischte sich mit dem Quietschen der Reifen, als sie den Fuß auf die Bremse rammte. Die Räder blockierten, der Wagen schlingerte, bevor er mit einem Ruck zum Stillstand kam und dabei den Körper wieder von der Motorhaube herunter schleuderte.
Cat umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen, der Motor war abgestorben und sie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was eben geschehen war. Oh Gott, war der Kerl etwa…?
Sie wollte sich recken und nach dem Angreifer sehen, aber sie konnte sich nicht rühren, ihre Muskeln versagten jeden Dienst. Cat hatte noch nie einen Autounfall gehabt und ein Teil ihres schockgefrorenen Hirns war verwundert darüber, wie heftig sich der Aufprall von 80 oder 90 Kilogramm Lebendgewicht im Wageninneren angefühlt hatte.
Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken und ihr Kopf flog herum, was aber völlig auf Autopilot geschah. Xandra stand vor der Fahrertür, das volle blonde Haar ein wenig verstrubbelt, und betrachtete sie mitleidig. Ihr Gesicht zeigte ein paar Kampfspuren, aber ansonsten wirkte sie unverletzt.
„Keine Sorge, er ist nicht tot. Du musst die Zentralverriegelung betätigen, dann bringe ich uns hier weg“, tönte es durch das geschlossene Fenster, wodurch die Worte gedämpft wurden. Als Cat sich immer noch nicht bewegte, wies Xandra auf den Türgriff und legte eine Hand an die Scheibe. Eine wortlose Bitte.
Einen langen Augenblick sahen sie sich nur an.
Xandra hoffte inständig, dassdas Mädchen hinterm Steuer nicht total unter Schock stand. Sie brauchte sie jetzt, um ihr die Tür zu öffnen, denn sie beide mussten dringend weg von hier, bevor auffiel, dass Cathleen Morrison verschwunden war. Diese blickte ihr momentan aus untertellergroßen Augen entgegen, der Schreck stand ihr direkt ins Gesicht geschrieben.
Endlich klickte es vernehmlich, die kleinen Knöpfe sprangen nach oben. Xandra riss die Tür auf und wollte schon einsteigen.
„Rutsch‘ rüber, ich fahre.“
„Ich … kann nicht.“ Die Stimme des Mädchens kam leise und stockend.
„Ok, warte.“ Gott, die Arme schien völlig hinüber und nahezu bewegungsunfähig. Xandra schnappte sich ihren linken Arm, bückte sich und steckte den Kopf darunter durch. So half sie Cat aus dem Auto, was ziemlich leicht war, da sie kaum etwas wog. Das war Xandra schon vorhin aufgefallen, als sieeinen hässlichen Ausgang des Sturzes vom Zaun verhindert hatte. Sie schleifte das Fliegengewicht um den Kühler herum und bugsierte es auf den Beifahrersitz.Dann stieg sie ein und fuhr davon.
Sie brachte ein paar Meilen zwischen sich und die Anstalt, bis jetzt schien ihnen niemand zu folgen. Xandra entspannte sich mit jedem weiteren Meter ein wenig mehr. Schließlich fand sie Zeit, sich auf die frischgebackene Elevenderin neben sich zu konzentrieren. Immer noch war diese still und starrte reglos aus dem Fenster.
„Hätte dir nicht zu getraut, dass du mit einer Gangschaltung umgehen kannst“, neckte sie, um die Stimmung aufzulockern. Oder auch nur, um eine Reaktion hervor zu kitzeln. Die Belohnung blieb allerdings aus, Schweigen erfüllte die Fahrerkabine. Sie machte noch ein paar Versuche Smalltalk zu betreiben, aber alle verliefen ohne viel Wirkung im Sand.
Schließlich überließ Xandra ihren Gast den eigenen Gedanken und rief über die Lautsprecheranlage zu Hause an.
Es dauerte nicht lange, bis sich eine Telefonanlage meldete und eine Computerstimme die Nummer des Anschlusses nannte. Xandra sagte eine achtstellige Ziffernfolge auf, der Code, damit sie direkt durchgestellt wurde.
„Xandra?“, meldete sich Ferrocs tiefer Bariton.
„Hi, Ferroc. Ich habe das Mädchen eingesammelt, wir sind auf dem Rückweg.“
„Gut. Gab es Probleme?“
„Zwei hegedunische Sucher. Wir haben sie kalt gestellt.“ Erst als sie den Satz beendet hatte, fiel ihr auf, dass sie wir gesagt hatte. Mist. Sie biss sich auf die Zunge und hoffte, dass die Trance Catlynn taub für ihre Umwelt gemacht hatte. Verstohlen schielte sie zu ihrer Sitznachbarin hinüber, doch leider schien diese gerade jetzt aufzuhorchen. Langsam wandte sie den Kopf, ihre Augen waren blutunterlaufen und blickten dumpf ins Leere.
Na toll. Sie stand definitiv unter Schock. Es war doch immer dasselbe mit diesen zarten Weibchen. Dürr wie ein Zweig und nur all zu leicht zu zerbrechen.
„Ich bringe sie jetzt nach Hause. Bis gleich.“
Das ohrenbetäubende Rumsen hallte unter dem Haufen an Altmetall laut wieder und ließ ihn aufschrecken.
Dong.
„Au, verdammt!“ Fluchend rieb er sich die Stirn, die er sich eben am Vergaser angestoßen hatte. Einen Moment zu spät hielt er inne. Jetzt hatte er Öl im Gesicht und in den Haaren.
Plötzlich geriet die Welt um ihn herum in Bewegung, da sein Besucher ihn resolut unter dem 67er Camaro hervorzog. Das Rollbrett, auf dem er lag, machte die Sache wesentlich leichter.
Christian musterte ihn kritisch, als er sich blinzelnd aufrichtete.
„Musstest du den Kofferraum zuknallen, um meine Aufmerksamkeit zu erregen?“
„So was habe ich nicht nötig. Bier?“
Dareon nahm dankend an, obwohl er jetzt eigentlich keine Gesellschaft wollte. Doch Christian würde sich ohnehin nicht verscheuchen lassen, schon aus Gewohnheit fügte er sich deshalb seinem Schicksal.
Sein Freund sprang auf die Werkbank der Garage und machte es sich bequem. Seine riesigen Füße baumelten breitbeinig herab, den Rücken stützte er an der Mauer ab.
„Was hat Rome gesagt?“
Klar, dass es wieder darum ging.
„Nicht Besonderes. Eigentlich das Gleiche wie immer. Am Schluss hat er mir mit Suspendierung gedroht.“ Als ob ihn das kratzen würde. Er zuckte mit den Schultern.
„Das ist neu!“, versetzte Christian trocken, aber da Dareon nicht vorhatte zu antworten, blieb es eine Weile still, bevor der andere weitersprach. „Mann, D! Es ist jetzt zwölf Jahre her und du kanntest sie noch nicht mal richtig. Meinst du nicht, es ist Zeit, weiter zu leben?“
Dareon knurrte und umklammerte seine Flasche. „Halt‘ dich da raus, das geht dich nichts an.“
„Wenn du so eine Scheiße wie gestern Nacht abziehst, dann geht es mich was an. Wenn es unser Team in Gefahr bringt, geht es uns alle an. Wir haben das lange genug mit angesehen, du hast keine Wahl.“ Von Christians lockeren Art war nichts mehr zu erkennen, als er sich wütend vorbeugte. Er hatte die hellen Augenbrauen ärgerlich zusammen geschoben und starrte ihm aufgebracht entgegen. Schließlich sackte er frustriert zurück gegen die Wand.
„Ich bin dein Freund, D. Ich meine es nur gut, wenn ich dir sage, dass du das abschließen musst.“
Dareon wandte den Blick ab, zog die Knie an und stützte die Unterarme darauf ab.
„Du hast keine Ahnung, wovon du da redest!“
„Dann erklär’s mir endlich!“ Christian warf seine Arme in die Luft, das Bier stand vergessen neben ihm auf der Werkbank. „Himmel, sie war ein Mensch. Du hättest sie sowieso irgendwann verloren, das muss dir doch klar gew…“
Ehe Dareon sich versah war er auf den Beinen und hatte den Kragen seines Freundes gepackt. Ohne viel Anstrengung hob er ihn von der Werkbank, sodass er halb in der Luft hing.
„Rede nicht so über sie, nur weil sie ein Mensch ist…“
„War! Sie war ein Mensch…“ unterbrach Christian sein Knurren keuchend. Er musste kaum noch Luft bekommen, machte aber trotzdem keine Anstalten sich zu wehren. Aus irgendeinem Grund wünschte Dareon sich eine Reaktion, eine die ihm eine Entschuldigung gab, zuzuschlagen. Verdammte Scheiße!
Erschrocken zuckte er zurück und ließ seinen Kumpel abrupt los. Er war wie ein Pulverfass, immer kurz vorm Explodieren und jetzt gerade hatte er sich gewünscht, er könnte seinem besten Freund einen Denkzettel in Form von ein paar Veilchen verpassen. Sein Körper bebte immer noch vor Zorn, seine Hände zitterten. Er schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen, ziemlich erfolglos.
„Siehst du, was ich meine?“ Christian zupfte sein dunkles Hemd wieder in Form, sein Gesicht zeigte keine Aggression. „Manchmal verlierst du die Kontrolle. Im falschen Moment kann das echt nach hinten losgehen. Außerdem verschwindest du von Zeit zu Zeit und bist nicht erreichbar. Du musst dich darum kümmern. Rede mit jemandem, tu‘ irgendwas, aber kümmere dich verdammt noch mal darum.“
Dareon kehrte ihm den Rücken zu und hob sein Bier auf, das er vorhin einfach von sich gestoßen hatte. Die Flasche war umgefallen und kullerte auf dem Boden herum, während noch ein wenig gelbgoldene Flüssigkeit aus dem Hals tröpfelte und eine Spur auf dem rauen Beton hinterließ. Um sich zu beruhigen und abzulenken, bückte er sich danach und goss sich den Rest des Inhalts hinter die Binde. Es war nur noch ein einziger Schluck, aber besser als nichts.
Nur einen winzigen Augenblick erwog er, etwas zu sagen, sich in irgendeiner Form zu… erleichtern, doch schließlich widerstand er diesem Drang, der urplötzlich in ihm aufgeflammt war. Lieber überließ er seinen besten Freund dessen vagen Vermutungen, als dass er zu viel wusste.
„Wie gesagt. Du weißt nicht, wovon du da redest.“
„Ach nein? Seit dieses Mädchen tot ist, hast du dich total verändert! Du tust so, als wäre alles normal, aber ich merke doch, dass du dich verstellst. Du läufst in der Gegend rum, wie ein Toter und… wann zum Teufel hattest du eigentlich das letzte Mal etwas mit einer Frau? Früher warst du immer dabei.“
Schon ballten sich Dareons Fäuste wieder ohne sein Zutun. Er rang um Selbstbeherrschung, aber das Thema verlangte ihm sämtliche Konzentration ab. Beinahe hätte er Christian die leere grüne Flasche an den Kopf geworfen. Er wollte nicht an all das denken, geschweige denn damit zwangsweise konfrontiert zu werden. Er hatte sich in seinem selbstgeschaufelten Grab eingerichtet, sich einen Rhythmus an zu erledigenden Pflichten zugelegt und die Augen offen gehalten. Das war sein Lebenszweck geworden. Frauen würden darin nie wieder eine Rolle spielen.
„ Ich meine es ernst, Chris. Halte dich aus meinen Angelegenheiten raus!“ Seine Stimme klang tief und bedrohlich, aber er konnte sie nicht daran hindern. Er fühlte sich in die Enge getrieben und nur die Tatsache, dass es Christian war, sein bester Kumpel, schützte diesen davor, einen Kopf kürzer gemacht zu werden.
Er meinte, Christian etwas wie Das kann ich nicht murmeln zu hören, dann stapfte sein Freund mit gesenktem Haupt an ihm vorbei. Er drehte sich nicht noch Mal um und sagte auch nichts weiter, bevor er die Garage verließ und Dareon wieder allein war, genau wie er gewollt hatte. Nur, dass es sich nicht halb so gut anfühlte, wie er sich erhofft hatte.
Mit mieser Laune machte Dareon sich daran, weiter an seinem Oldtimer schrauben, doch die Worte seines Freundes und auch die von Roman hallten ungebremst in seinem Schädel wieder. Sicher, er hatte sich verändert seit Mylie in sein Leben getreten war, aber es war nicht ihr Tod gewesen, der ihn aus der Bahn geworfen hatte. Sie alle hatten ja keine Ahnung und er wollte, dass das auch so blieb. Ärgerlich fixierte er die große Uhr über der Verbindungstür zum Haupthaus. Schöne Scheiße. Es würden noch Stunden vergehen, bevor er sich wieder davon schleichen konnte.
Missmutig legte er den Sechskantschlüssel zurück in die Werkzeugkiste und war hin und hergerissen, ob er seinen Kumpel suchen und sich bei ihm entschuldigen, oder ob er seine Aggressionen beim Training abbauen sollte. Schließlich gewann sein Wunsch nach körperlicher Verausgabung. Dass er damit auch einer Konfrontation mit Christian aus dem Weg gehen konnte, war nur ein angenehmer Nebeneffekt, so redete er sich ein.
Cat hing in ihrem Sitz wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Was sie eben erlebt hatte, lähmte und entsetzte sie auf eine Weise, die sie kaum für möglich gehalten hätte. Vielleicht war es auch die Kombination aus wahnwitzigen Informationen und unglaublichen Geschehnissen, die sie sich fühlen ließen, als hätte sie wirklich den Verstand verloren. Dabei hatte sie die Irrenanstalt doch gerade erst verlassen. Ich bin nicht verrückt. Ich bin nicht verrückt, betete sie immer wieder im Geiste vor sich hin.
Langsam fand sie wieder zu sich und gewann ihre Fassung Stück für Stück zurück. Schließlich gelang es ihr sogar, ihre Umgebung wahrzunehmen und vollständige Gedankengänge zu vollziehen.
Sie saß im Auto neben einer Ärztin Namens Xandra, einer Elevenderin, die sie gerade befreit und dann noch zwei Männer überwältigt hatte. Zwei Männer, die sie hatten töten wollen. Obwohl Cat wahrscheinlich unter Schock stand, konnte sie sich nicht dagegen wehren, sich bei ihrer Komplizin sicher zu fühlen. Aus irgendeinem Grund musste sie sich sehr zusammen reißen, um ihr nicht einfach blindlings zu vertrauen. Eigentlich war sie sonst stolz auf ihre Menschenkenntnis, nur das war kein Mensch. Gut, sie selbst anscheinend auch nicht, aber das war alles noch so neu und sie hatte immer noch keinen Beweis für ihre… Gabe, oder wie auch immer.
Sie fühlte sich nicht anders oder so. Prüfend betrachte sie ihre Hände, drehte sie von der einen zur anderen Seite, hielt sie näher vor ihr Gesicht, dann wieder weiter weg. Aus keiner Perspektive konnte sie etwas Ungewöhnliches entdecken. Versonnen schalt sie sich. Hatte sie denn erwartet, dass ihr jetzt Krallen wachsen würden?
Vorsichtig schielte sie nach den Fingern ihrer Fahrerin, um diese Frage ein für alle Mal zu beantworten. Zwar hatte sie vorhin schon Xandras Hände gesehen, aber sie wollte ganz sicher sein.
Lange schlanke Glieder umfassten das Lenkrad. Gekrönt von perfekt gepflegten Nägeln rutschten sie auf dem Leder herum, langten nach dem Schaltknüppel oder betätigten den Blinker, während die Frau den großen Wagen trotz der ramponierten Windschutzscheibe sicher durch den Verkehr schleuste.
Cat war erleichtert, obwohl sie wusste, dass diese Reaktion unsinnig war. Sie räusperte sich.
„Wo bringen sie mich hin?“
Erstaunt sah Xandra zu ihr herüber. Die saphirblauen Augen beobachteten sie einen Moment und Cat fühlte sich bis ins tiefste Innerste gemustert. Unwillkürlich rutschte sie auf ihrem Sitz herum, setzte sich aufrecht hin und zog ihr Oberteil gerade.
„Zu mir nach Hause. Auch andere Elevender leben dort, es ist sicher für uns. Wir sind bald da.“
Cat sah aus dem Fenster. Sie fuhren eine Landstraße entlang, es ging sacht bergauf und links und rechts rauschten immer mehr Bäume an ihnen vorbei, bald schon waren sie in einen Wald hinein gelangt. Um sie herum wurde es dunkler, da die Wipfel der grünen Riesen hoch über ihren Köpfen fast bis in den Himmel zu reichen schienen. Durch das Dachfenster des X5 konnte sie gerade noch ein Stück leuchtendes Blau mit ein paar Schleierwolken entdecken. Irgendwie waren ihr die Schatten um sie herum unheimlich.
„Können sie da herausfinden, was meine Gabe ist?“
Xandra zögerte. „Erst Mal, könntest du mich bitte duzen? Sonst komme ich mir so alt vor. Ich bin da etwas empfindlich, entschuldige. Was deine Gabe betrifft, könnte ich vielleicht ein paar Tests machen, um zu sehen, was dahinter steckt…. Ich kann verstehen, dass dir das Angst macht.“
„Ich habe keine Angst“, hörte Cat sich selbst mit einer gespenstisch ruhigen Stimme sagen, bevor sie richtig nachdenken konnte. „Ich möchte nur endlich….“ verstehen.
„Antworten?“
„Ja. Auch darauf, was mit Jayce passiert ist.“
„Glaub‘ mir, das will ich auch. Wir werden der Sache nachgehen, versprochen!“ Kurz nachdem Xandra diesen Satz beendet hatte bog sie auf einen kleinen Waldweg ein. Zu den hohen Bäumen gesellte sich nun auch dichtes Gestrüpp, das seitlich am Wagen entlang kratzte. Einzelne Blättchen streichelten sachte über die Scheiben, während kleinere Äste gegen das Glas schrammten. Der Weg zog sich und Cat war sich sicher, dass sie Kilometer hinter sich gebracht haben mussten, als das Laub sich plötzlich auftat und die Sicht auf ein monumentales Gebäude freigab.
Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Hotel im viktorianischen Stil, nur dass es völlig verlassen wirkte. Eine überdachte Veranda, gesäumt von weißen Säulen, umzog das gesamte Haus im Erdgeschoss und im ersten Stock. Allerdings war das nur der Gebäudeteil, der den Eingang enthielt und ihr zugewandt war. Dahinter erstreckte sich ein noch höheres, modernes Querhaus, dessen Front zum größten Teil aus Glas bestand und dessen Tiefe sich ihrem Blickwinkel entzog. Es war einfach riesig.
Links davon befand sich ein kleineres Gebäude, ein Platz mit großen Pflastersteinen verband die beiden Häuser. Xandra hielt auf das kleinere von beiden zu, betätigte einen Knopf auf einem Touchpad am Armaturenbrett des Wagens und schon öffnete sich ein Tor. Cat begriff, dass sie in eine Garage fuhren und machte sich bereit, wieder auf den Füßen zu stehen. Verstohlen betrachtete sie diese und hoffte, dass sie ihr Gewicht tragen würden. Sie hatte immer noch weiche Knie und war vollkommen durcheinander.
Das Licht in der Garage ging an und als Xandra den X5 in eine Parklücke manövrierte, bot sich Cat ein Anblick wie im Film. Dies hier schien ein Aufbewahrungsort für viele große und kleine, matt oder glänzend lackierte, teure sportliche aber auch funktionale Autos zu sein. Sie konnte sie kaum zählen, aber ihr Herz schlug höher, als sie einen uralten Camaro entdeckte. Die Karosserie war verwittert, zwischen den bräunlichen Rostflecken strahlte das tiefe Kirschrot der ursprünglichen Lackierung. Das Auto selbst war von jemandem aufgebockt und ausgeschlachtet worden, eine Schleifmaschine und Werkzeug lagen bereit. Fasziniert betrachtete sie das Relikt und dachte an den Morgen ihres 15. Geburtstages, als Patricia und Robert Campbell ihr ein schniekes neues Audi-Modell, geschenkt hatten, damit sie Fahrstunden nehmen konnte. Natürlich hatten dies nicht ihre Eltern übernommen, die waren nur an ihren Geschäften und gesellschaftlichen Konventionen interessiert gewesen. Deshalb war Gerard, der Chauffeur ihres Vaters als ihr Lehrer abgestellt worden. Wie der Zufall es wollte, hatte er eine Vorliebe für Fahrzeuge jeglicher Art besessen und Cat hatte sich schnell mit dem Mann von Anfang 60 angefreundet. Damals hatte sie einfach jegliche Form von persönlicher Zuwendung genossen, auch wenn er sich nur Zeit für sie genommen hatte, weil er dafür bezahlt worden war.
Ihre Tür wurde unsanft aufgerissen, was sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück holte und als Xandra ihr aus dem Wagen half, stellte sie fest, dass ihre Knie zwar zittrig, aber ansonsten noch zu gebrauchen waren. Ihre Retterin führte sie durch einen langen unterirdischen Gang hinüber ins Haupthaus, so vermutete Cat zumindest. Durch eine schmale Stahltür ging es in einen weiteren Flur und dann erreichten sie den großen, lichtdurchfluteten Eingangsbereich. Mit seinem roten Samtteppich, dem dunklen Mahagoni und den eleganten Oberlichtern glich er einer Empfangshalle. Verzierte, schlanke Säulen und cremefarbene Wände stützten die hohen Decken.
Gegenüber des großen Portals führte eine imposante Freitreppe in den ersten Stock hinauf. Die Geländer waren geformt, wie der ab- und der zunehmende Mond. Die beiden Rücken zueinander gewandt, verschmälerten sie die Treppe in der Mitte, sodass sie eine anmutige Taille bekam, oben und unten dagegen waren die Stufen breit und ausladend.
Cat blieb direkt unter einem Kronleuchter aus abertausend zierlichen Kristallen stehen und starrte nach oben.
Da kam jemand eiligen Schrittes die Treppe herunter gestürmt, aber als derjenige sie bemerkte, blieb er auf halber Höhe stehen. Cat wandte den Kopf und wäre beinahe erblindet. Der Kerl auf der Mitte der Stufen sah atemberaubend gut aus. Sein Gesicht musste Maler und Künstler inspiriert haben, sein Körper und das seidige, hellblonde Haar machten ihn zum idealen Gegenstand von Werbekampagnen. Leuchtend blaue Augen richteten sich auf sie. Die Farbe war so intensiv, dass sie dachte, bläuliche Scheinwerfer verfolgten sie.
„Hi, Xandra. Haben wir Besuch?“ Die tiefe, sonore Stimme klang erwartungsvoll.
„Eher eine neue Mitbewohnerin“, entgegnete die große Frau, ergänzte dann mit einem Blick auf Cat aber schnell: „Zumindest vorerst. Du kannst natürlich gehen, wohin du willst.“
„Danke.“ Im Moment fühlte sich Cat nicht gerade wie die große Redenschwingerin, also blickte sie nur stumm zwischen den beiden Supermodels hin und her, während Xandra sie vorstellte.
„Cat, das ist Christian, ein Kollege von mir. Christian, Cat.“
„Nur ein Kollege? Jetzt beleidigst du mich aber!“ Christian überwand leichtfüßig die letzten Stufen und ergriff Cats Hand, um einen Kuss darauf zu hauchen. „Enchanté, Mademoiselle. Willkommen auf Blackridge Manor.“
„Oh, bitte! Lass dem armen Ding etwas Luft zum atmen und behalte deine Spucke bei dir. Sie hat gerade erst herausgefunden, dass sie eine Elevenderin ist, sie hat jetzt garantiert keinen Nerv für deine Spielchen.“ Xandra blies sich den Pony aus dem Gesicht und zog eine verdrießliche Miene.
„So, so. Du scheinst aber ganz genau zu wissen, was unser Gast hier denkt. Wie lange kennst du sie noch mal?“, neckte Christian. Er nahm Cats Hand immer noch in Beschlag und seine Lippen schwebten nur knapp einen Zentimeter über ihrer Haut, während seine Augen unter langen, blonden Wimpern zu ihr auf sahen. Dennoch galt seine Aufmerksamkeit Xandra. Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln, was diese jedoch nicht zu bemerken schien, da sie bemüht war, das Szenario keines Blickes zu würdigen.
„Länger als du jedenfalls. Was dich wie immer nicht vor Körperkontakt zurückschrecken lässt. Wolltest du nicht irgendwo hin?“ Sie wies auf die elegante Erscheinung des blendend aussehenden Kerls. Er trug eine schmale Jeans und Lederslipper, sowie ein teuer wirkendes, perfekt sitzendes Hemd in der Farbe seiner Augen. Obwohl, nicht ganz, dieser Ton war überirdisch. Den obersten Hemdknopf hatte er offen gelassen, in seiner Hand lag ein Autoschlüssel.
„Und wo hast du eigentlich Dareon gelassen?“
Für eine Sekunde versteinerte Christians Miene beinahe unmerklich. „Och, ich glaube, ich habe mich so eben umentschieden. Hier scheint es nun doch ganz lustig zu werden.“ Er ließ die zweite Frage unkommentiert und grinste verschmitzt, während Xandra die Augen rollte.
„Tja, Pech für dich. Wir beide haben jetzt einen Termin bei Ferroc. Du kannst ja derweil deine Augenbrauen zupfen.“ Sie griff nach Cats Arm und zog sie die Treppe hinauf, womit sie den schönen Mann in der Eingangshalle stehen ließen.
„Schade, ich dachte, das würdest du übernehmen!“ Cat konnte sich gut vorstellen, wie Christian bei diesen Worten lasziv lächelte.
„Davon träumst du!“, schoss Xandra über ihre Schulter zurück und grinste dann in sich hinein, sodass ihr Gesprächspartner es jedoch nicht sehen konnte. Cat dagegen entging es nicht.
„Nein, nicht davon!“, rief er ihnen unverblümt hinterher, doch da hatten sie schon einen Durchgang passiert und einen weiteren Flur erreicht.
„Halt dich von dem fern, wenn du dein Höschen anbehalten willst!“, riet Xandra.
Da Cat nichts dergleichen vorhatte, nahm sie den Rat unkommentiert entgegen.
„Wer ist dieser Ferroc?“, erkundigte sie sich, obwohl es nun auch keinen großen Unterschied mehr machte. Sie war in den letzten 24 Stunden bereits erneut aus ihrer Welt herausgerissen worden, hatte sich einer völlig Fremden überantwortet und erfahren, dass sie wahrscheinlich kein normaler Mensch war. Sie schmunzelte verbittert. Na, wenn das mal nicht geisteskrank war!
„Er ist sozusagen der Hausvorstand und leitet hier… alles.“ Mehr Erklärung würde sie für den Moment wohl nicht bekommen, aber da Xandra bereits an einer großen Doppeltür mit feinen Intarsien stehen geblieben war, nahm Cat an, dass sie sich nicht mehr lange gedulden würde müssen.
Gerade als Xandra die Hand hob, um zu klopfen, schwang der linke Teil der Tür weit auf.
„Herr Gott, dann suspendiert mich eben! Das war mir schon egal, als Roman damit gedroht hat. Ihr kö…“ Der Mann, der im Rahmen erschien, brach ab, als er Cat erblickte.
Bumm.
Cats Welt stand mit einem Mal still. Obwohl… irgendwie wackelte der Boden,… vielleicht ein Erdbeben, aber sicher war sie sich nicht. Der Mann vor ihr forderte all ihre Aufmerksamkeit.
Sie blickte geradewegs in kühle, blassblaue Augen, die sie sofort fesselten. Sein großer, athletischer Körper verharrte regungslos, genauso wie auch Cat erstarrte, gefangen von seiner gefährlichen, männlichen Ausstrahlung. Er starrte ihr entgegen, als wäre sie ein Alien, was ihr nicht gerade schmeichelte, vor allem wo es ihr umgekehrt überhaupt nicht so erging.
Er war das Inbild von Attraktivität, seine kräftigen Oberarme ragten aus einem engen schwarzen Muskelshirt, goldene Haut spannte sich über den definierten Bizeps. An der Innenseite befand sich ein langer Zug aus schwarzen, ihr unbekannten Zeichen, die bis zum Ellenbogen reichten. Die blauen Shorts saßen tief auf seinen schmalen Hüften und verhießen eine knackige Rückansicht, aber all das war nichts gegen dieses Gesicht.
Ein breiter Mund, wie zum Küssen gemacht, stand offen in seinem markanten Gesicht. Klassisch geschnittene Augenbrauen, die Weichheit der geschwungenen Nase und der vollen Lippen vermischt mit der Wildheit von krausen Locken, die ihm in die Stirn hingen. Oh Mann, und was für Locken! Am Ansatz dunkel, die Spitzen von einem Goldton... Nur zu gerne hätte sie mit beiden Händen ausgiebig darin gewühlt.
Sie konnte sich ihn gut als stolzen und erbarmungslosen Wikinger vorstellen und obwohl er jung wirkte hatte er etwas Erfahrenes und Raues an sich. Er passte in die unwirtlichen Witterungsbedingungen des kalten Nordens.
Ein seltsames Gefühl bemächtigte sich ihrer, als hätte die Erde ihre Anziehungskraft an diesen Kerl verloren. Ihr wurde heiß und ihr Mund war ganz trocken.
Plötzlich musste sie an ihr Aussehen denken. Unauffällig versuchte sie, ihre Haare und die Anstaltskleidung zu glätten, was natürlich vergeblich war, da sie sich die ganze Zeit über weiterhin wortlos anstarrten. Doch im selben Moment, als ihr die Schäbigkeit ihres Aufzuges bewusst wurde, fiel ihr siedend heiß ein, dass es da noch ein weiteres Problem gab.
Sie war wahrscheinlich tödlich.
Folglich hatte sie ihm nicht viel zu bieten. Ihre Abstinenz hatte ihr bisher nie viel ausgemacht, denn man hatte ihr die Furcht vor ihrer Libido tief ins Gedächtnis gepflanzt. Doch in diesem Augenblick hätte sie all ihre Vorbehalte über Bord geworfen, nur um diesen Kerl ein einziges Mal spüren zu können.
Noch bevor sie sich darüber wundern konnte, wie weit ihre Gedanken bereits gingen, wo sie den Kerl gerade erst getroffen hatte und noch nicht mal wusste, wie er hieß, entstanden einschlägige Bilder in ihrem Kopf. Bilder von der hartnäckigen, intensiven Sorte. Solche, die ihr eine Gänsehaut über den gesamten Körper jagten und ihr Herz schneller schlagen ließen. Es wummerte so heftig, dass sie meinte, alle im Raum mussten es hören. Ihre Atmung verstärkte sich ebenfalls, sie wurde von einer regelrechten Hitzewelle überrollt und ihr brach der Schweiß aus. Es fühlte sich an, als hätte sie Lampenfieber oder so etwas Ähnliches.
Sie hatte nie an das Konzept der Liebe auf den ersten Blick geglaubt, war stolz darauf, nie auf der Suche nach einem Liebhaber, einem Retter gewesen zu sein. Eine Behauptung, die sie sich wohl nur aus Selbstschutz eingeredet hatte. Denn wie sich jetzt zeigte, genügte schon eine Begegnung dieser Art, um lang verdeckte Triebe wieder zum Leben zu erwecken.
Dieser Kerl hatte sie innerhalb eines einzigen Wimpernschlages bekehrt.
Nun glaubte sie doch.
Dareon riss sich aus seiner Starre und zwang sich, einen Schritt rückwärts zu gehen, obwohl sein Drang, der Drang seines Körpers, ihn eindeutig nach vorne zog. Hin zu dieser Frau, die im Flur neben Xandra stand. Doch so sehr er sich konzentrierte, er konnte die Augen nicht von ihr abwenden.
Sie war winzig, vor allem im Gegensatz zu ihm, und musste kaum 50 Kilogramm auf die Waage bringen. Der zarte Knochenbau und der jugendliche Körper standen im krassen Gegensatz zu ihrem Gesicht. Ihre großen Augen, welche eine leuchtend grüne Farbe aufwiesen, die außergewöhnlich hell und exotisch war, wirkten trotz der faltenlosen und makellos reinen Haut drum herum uralt. Sie strahlten eine tiefe Traurigkeit aus und der Eindruck wurde von den zusammen gekniffenen Lippen noch verstärkt. Dickes, glattes Haar in einem dunklen Braun ergoss sich über ihre Schultern bis tief in den Rücken und verdeckte fast ihre ganze obere Vorderseite. Der fransige Pony reichte ihr weit über die Augen, alles in allem schien sie sich hinter dem vollen Haarschopf verstecken zu wollen, genauso wie hinter all dem Metall in ihrem Gesicht.
Nur mühsam widerstand er dem Bedürfnis zu ihr zu gehen und ihr ein paar Strähnen aus der Stirn zu streichen, um sie noch besser betrachten zu können. Auch der weite weiße Kittel, der verdächtig nach einer Anstaltskleidung aussah und den sie in diesem Moment gedankenverloren glatt strich, verriet die genauen Konturen ihrs Körpers nicht. Zu schade, wie er fand, er wollte mehr von ihr sehen. Sie war zart und doch wirkte sie stark und unnahbar, er fand diese Kombination… wundervoll. Er stutzte verwundert, da sie objektiv betrachtet nicht so ganz sein Typ war, dazu war sie zu schmal und zu …flach gebaut. Und dennoch konnte er weder wegschauen, noch an etwas anderes denken, er musste unter ihrem Zauber stehen. Er bemerkte verwirrt, dass sie ihn anzog wie das Licht die Motte. Sie verschlug ihm die Sprache, ließ ihn seinen eigenen Namen vergessen.
Erschrocken wich er noch einen Schritt zurück. Seine Reaktion auf diese Frau war schockierend. Seine Gedanken verselbstständigten sich und für den Bruchteil einer Sekunde stellte er sich unwillkürlich vor, wie er ihr das Oberteil herunterreißen und sie fest an sich ziehen würde. Er wollte entdecken, ob sich noch mehr Sommersprossen auf ihrer Haut befanden, als nur die im Gesicht, wollte jede einzelne davon küssen. Verdammte Scheiße, sie weckte etwas in ihm, das sich wie ein brüllender Stier aufbäumte und sich auf sie stürzen wollte, ungeachtet des Ortes oder der Zuschauer. So etwas in der Gänze Einnehmendes hatte er noch nie zuvor gefühlt.
Seine grenzenlose Verblüffung wich Entsetzen, als es ihm wie Schuppen von den Augen fiel.
Oh…mein…. Gott!
Bevor er Hals über Kopf aus dem Zimmer stürzen und sich vor versammelter Mannschaft lächerlich machen konnte, trat ihm Xandra in den Weg und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum.
„Hey, D. Jemand zu Hause? Ich hab‘ dich was gefragt!“
„Was?“ herrschte er sie ungehalten an, ohne sich bremsen zu können. Er befand sich im Kampf mit seinen Instinkten und fühlte sich überreizt, er musste dringend hier weg! Endlich riss er den Blick von seiner Nemesis los und starrte seine blonde Kollegin wutentbrannt an.
„Wow, komm‘ mal ganz schnell wieder runter, Großer! Was geht denn bei dir ab?! Ich hab‘ doch nur gefragt, ob du mit Christian losziehst!“ Xandra hob abwehrend die Hände, allerdings wich sie keinen Zentimeter zurück. Sie war knallhart und er hätte einiges darauf gewettet, dass sie einem Faustkampf nicht abgeneigt war, wenn es klarzustellen galt, dass sie sich nichts gefallen ließ, von niemandem.
Mit aller Macht riss er sich zusammen und zügelte den ungebetenen Zorn. Er konnte aber nicht verhindern, dass er sofort nach dem dunkelhaarigen Mädchen Ausschau hielt. Sie stand immer noch vor der Tür und blickte ihn aus großen Augen an. Ängstlich sah sie nicht aus, eher als verfolgte sie einen wirklich spannenden Film. Sie wirkte so jung, dass er sich unweigerlich fragte, wie alt sie tatsächlich war.
Schluss damit, befahl er sich selbst und versuchte jegliche weitere Überlegung in Bezug auf diese Frau von sich zu schieben. Er hatte sich geschworen, dass er sein Erbe mit sich aussterben lassen würde. Auch Miley würde niemals Kinder haben, deshalb empfand er das nur als gerecht. Das bedeutete, keine Frauen und schon gar kein Gegenstück!
Für ihn war es ausgeschlossen, sich jemals in Liebe mit einem vorherbestimmten Partner zu verbinden. Seit zwölf Jahren fragte er sich ernsthaft, ob er überhaupt wahrhaft lieben konnte. Doch letztlich war es egal, denn er hatte sich entschieden, diesen Pfad niemals zu beschreiten, auch zum Besten seiner etwaigen Partnerin. Während er sich Halt suchend an diesen Vorsatz klammerte, war ihm jedes Mittel recht, diesen Raum endlich verlassen zu können. Und somit auch ihrer betörenden Gegenwart zu entkommen.
„Mmhmm!“ log er deshalb und wollte sich schon an den beiden Frauen vorbei schieben. Der Türrahmen wurde von ihr versperrt, das würde knifflig werden. Eine Zerreißprobe für seine Disziplin.
„Hey, seit wann bist du denn so unhöflich und vergisst unseren Gast zu begrüßen?“ Xandra packte ihn am Ellenbogen und brachte ihn zum Stehen. „Der grummelige Kerl hier ist Dareon.“ sagte sie an die junge Frau gewandt, „Und das hier ist Catlynn. Sie wird bei uns bleiben, so lange sie will.“
Catlynn. Gerne hätte er es laut ausgesprochen, um den Klang auf seinen Lippen zu kosten, aber er weigerte sich, sich noch weiter in die Sache hinein zu steigern. Trotzdem, der Name passte verdammt gut zu den großen Katzenaugen, das musste er unumwunden zugeben.
Da weder er noch das Mädchen reagierten, sondern einander nur unverwandt weiter ansahen, schaltete sich Xandra erneut ein.
„Jaaaaaa, daaaann, wollen wir dich nicht aufhalten, D. Wir haben hier sowieso was zu besprechen.“ Sie griff nach Catlynns Handgelenk und zog sie an ihm vorbei in den Raum hinein. Wie bestellt und nicht abgeholt stand er da, während sein Kopf den beiden Frauen folgte. Erst als Xandra rief, er solle die Tür hinter sich schließen, war er in Lage sich los zu machen und quälend schweren Schrittes in den Flur zu stapfen. Er wurde immer schneller, es kostete ihn maßlose Überwindung, sich von Catlynn zu entfernen und die Türe letztlich wirklich zu zu machen. Er dachte, es wäre, wie ein Pflaster abzureißen, schnell war besser als langsam.
Als das Schloss klickte ging es ihm schon etwas besser und als er sich schleunigst entfernte, wurde es immer einfacher, noch weiter zu gehen. Erleichtert atmete er auf, er hatte schon befürchtet, das Mädchen hätte bemerkt, was sich nonverbal zwischen ihnen abgespielt hatte und würde ihn ansprechen, oder ihm nachkommen. Nichts dergleichen geschah.
Hatte Catlynn trotzdem etwas von dem empfunden, das er bei ihrer Begegnung gespürt hatte? Wer war sie überhaupt?
Normalerweise war Blackridge Manor gut besucht von Elevendern aus allen Herrenländern. Die Bewohner und er selbst hatten ein Auge auf Ceiling City, eine der drei großen Hauptstädte der USA seit den Territorialkriegen der 2050er Jahre und vertraten in der Gegend die Belange der Legion. Außerdem arbeiteten sie auf dem Gelände als Ausbilder für junge Elevender der Organisation. Das Gebäude und das Terrain in der näheren Umgebung waren perfekt geeignet für ein Ausbildungs- und Trainingszentrum und dank Ferroc waren das Ein- und Ausschleusen der vielen Leute, die Sicherheit und die Geheimhaltung kein Problem.
War Catlynn also eine neue Schülerin?
Ausgeschlossen, dass sie nicht mitbekommen hatte, dass da etwas zwischen ihnen war. Er konnte nur hoffen, dass sie es nicht einordnen konnte. Dass sie zu jung oder zu unerfahren oder einfach zu naiv war, um es zu kapieren. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war eine Göre, die ihm ohne Unterlass nachlief und in deren Gegenwart seine dünne Selbstbeherrschung zitterte und zu zerbrechen drohte.
Tief in Gedanken hastete er den Flur hinunter, vorbei an der großen Freitreppe, bis er die Aufzüge erreichte. Mit ihnen gelangte man in die anderen Stockwerke und die verschiedenen Bereiche des Zentrums. Er ließ sich in den dritten Stock bringen, in dem sich die Zimmer der ständigen Bewohner befanden und machte sich auf zu seiner Behausung. Nach dem Training hatte er nicht duschen können, da er durch Ferrocs Aufforderung zu einem kleinen Besuch unterbrochen worden war.
Von dem hatte er sich dasselbe anhören müssen, wie zuvor schon von Roman und Christian. Eine Suspendierung wäre ihm nur recht gekommen, dann hätte er mehr Zeit für seine privaten Angelegenheiten gehabt. Und genau aus diesem Grund, hatte sich Ferroc wahrscheinlich dagegen entschieden. Seine Strafe bestand aus Hausarrest. Dareon zog eine Grimasse. Natürlich konnte ihn keiner auf dem Anwesen festhalten, aber von den Routine- und Spezialeinsätzen war er vorerst ausgeschlossen, nur unterrichten sollte er noch.
Wenn sie tatsächlich eine Schülerin war, konnte er ihr also schlecht aus dem Weg gehen. Wegen seiner Gabe hatte er sich spezielle Fähigkeiten in diversen Kampfsportarten zugelegt und gab diese an neue Anwärter weiter. In dieser Funktion würde er mit ihr sprechen, sie berühren müssen. Bei dem Gedanken wurde ihm Himmelangst und er flüchtete sich in sein Zimmer, wo er Schnurstraks ins Bad marschierte und sich aus seinen verschwitzten Trainingsklamotten schälte. Schließlich fand er sich in der Dusche wieder und der Wasserstrahl, den er auf eiskalt gestellt hatte, half ihm etwas klarer zu denken. Er besann sich darauf, dass es, wenn er die Dusche nur noch ein Bisschen ausdehnte, wahrscheinlich bald Zeit für einen seiner regelmäßigen Ausflüge sein würde. Dieses Licht am Ende des Tunnels hielt er fest im Blick, während er sich bemühte, die Frau aus seinem Kopf auszusperren.
Wie immer bevor er los ging, konzentrierte er sich auf eine gründliche Wäsche und auch seine Kleidung suchte er sorgfältig vor jedem Mal aus. Er hatte einfach das Bedürfnis gebührend angezogen zu sein, wenn er sich an Orte begab, an denen er nicht unbedingt erwünscht war. Er verließ sich auf seine Rituale, aber während er sich zum Aufbruch bereit machte, drängte sich diese Catlynn immer wieder vor sein geistiges Auge und ließ sich auch nicht durch irgendwelche Tätigkeiten vertreiben.
Fluchend fasste er schließlich einen Entschluss. Egal wie, er würde einen Weg finden, das Mädchen auf Abstand zu halten und ihr aus dem Weg zu gehen. Obwohl ihm klar war, dass diese Verbindung nicht einfach verschwinden würde, würde er sich steif und fest mit aller Kraft dagegen wehren. Steter Tropfen höhlte den Stein. Sollte sie außerdem wegen ihrer Ausbildung hier sein, würde sie auch definitiv früher oder später wieder abreisen und mit der Zeit würde sie dann schon kapieren, dass er nicht zu haben war. Für niemanden. Nie wieder.
Cat starrte auf die Tür zum Flur und konnte sich nicht davon losreißen. Sie glotzte so intensiv, als könne sie durch pure Gedankenkraft den Kerl mit den blonden Löckchen herbeizaubern, der sich gerade wie Speedy Gonzales davon gemacht hatte.
„Mann, was ist denn in den gefahren?“ fragte die blonde Frau neben ihr und eine tiefe Stimme antwortete ihr von weiter hinten im Raum.
„Ich musste ihn bedauerlicherweise von den Einsätzen ausschließen. Das scheint ihm nicht zu gefallen.“ Den Tonfall klang allerdings nicht, als bedaure der Sprecher seine Handlungsweise.
„So und wen haben wir denn da? Das ist also Catlynn Campbell?“
Xandra legte ihr eine Hand in den Rücken und beendete damit ihre Trance. Unsacht wurde sie auf einen großen, schweren Schreibtisch zugeschoben, ein Ungetüm aus poliertem Stein und Holz.
Cat stand immer noch völlig neben sich. Diese Begegnung eben hatte ihr den Rest gegeben und da sie vorher schon an ihrem Verstand gezweifelt hatte, war sie nun davon überzeugt, dass sie wohl so heftig unter Schock stehen musste, dass sie schon halluzinierte. Sicher, den Mann selbst hatte sie sich wahrscheinlich nicht eingebildet, aber alles andere war so weltfremd gewesen, so unwahrscheinlich und übernatürlich, dass es nur ihrem verwirrten und verletzten Unterbewusstsein entstammen konnte. Solche blitzartigen Gefühle gab es nicht, sie waren nicht real, konnten es gar nicht sein.
„Genau die ist es. Cat, ich möchte dir Ferroc vorstellen, er koordiniert und leitet dieses Zentrum in dem wir uns befinden, wir nennen es Blackridge Manor.“ Xandra wies auf den Schatten hinter dem Schreibtisch. Es brannten keine Lampen im Raum, nur das schwindende Tageslicht, das durch das große Panoramafenster zu ihrer Linken drang, machte es Cat möglich, den riesigen Mann zu erkennen, der sich nun von seinem Sessel erhob und um das Möbelstück herum ging.
Er musste über zwei Meter groß sein und war breiter als ein Kühlschrank und während er immer näher kam, schienen seine Ausmaße noch zuzunehmen. Sie fühlte sich klein und unbedeutend wie eine Maus bei seinem Anblick. Als er sie schließlich erreicht hatte und das Licht der Sonne seine Züge beleuchtete, war Cat schon fast so weit gewesen, sich hinter ihrer Retterin zu verstecken, doch sein Anblick überraschte sie dann zu sehr.
Der gigantische Hüne trug stilisierte Tattoos auf Gesicht, Hals und Nacken, aber sein Ausdruck war freundlich, die Haltung förmlich und höflich. Ein scharfsinniger Blick aus sanften, dunklen Augen ruhte auf ihr, ein gutmütiges Lächeln verzog die vollen Lippen. Seine bronzefarbene Haut, die hohen Wangenknochen und das seidige schwarze Haar, das er lang trug, verrieten eine indianische Abstammung.
„Ich freue mich, dich kennen zu lernen, Catlynn.“ Jetzt wurde ihr eine seiner großen Pranken entgegengestreckt und er wartete auf ihre Reaktion. Als Cat sie zögerlich ergriff und schüttelte, wurde sein Lächeln noch breiter, dann verschränkte er die Arme hinter seinem Rücken.
„Ich weiß, du musst ziemlich überwältigt sein, von allem, was dir in den letzten Stunden widerfahren ist, aber hier bist du in Sicherheit und kannst bleiben, solange du willst.“
„Was ist das hier?“ Cat bemerkte selbst, dass ihre Stimme leise und piepsig klang, was sie ziemlich störte. Sie wollte vor diesem Mann nicht schwächlich wirken, obwohl sie sich genauso fühlte und verstört dazu. Sie hatte sich heute schon genügend Blößen gegeben. Sie war schließlich immer allein zu recht gekommen und dabei sogar ziemlich beliebt gewesen.
Ferroc ging an ihr vorbei zum Fenster und sah hinaus. Von hier oben blickte man direkt auf die Einfahrt des Anwesens und den bepflasterten Platz mit dem angrenzenden Wald, sie mussten sich direkt über der Eingangshalle aufhalten.
„Wir befinden uns in einem Stützpunkt der Legion. Hier halten sich viele Elevender auf, die entweder Aufgaben in unserer Sache erledigen oder andere Mitglieder der Organisation ausbilden. Wir leben seit Jahrzehnten friedlich zusammen, das hier ist unsere Zuflucht, unser Heim.“ Damit wandte er sich wieder Cat zu. „Und es könnte auch zu deinem werden.“
Cat war von Natur aus vorsichtig, was gut klingende Angebote anging, aber sie hatte auch gelernt, auf ihre Beobachtungen zu vertrauen. Die Zeit, in der sie sich einen großen Bekanntenkreis und das Netzwerk aufgebaut hatte, hatte sie in dieser Hinsicht einiges gelehrt. Es gab keinen Grund, sie aus dem Sanatorium zu befreien und sie hier her zu bringen. Sie besaß weder Geld, noch Macht, noch irgendwelche besonderen Fähigkeit, außer ihrer… Gabe, also hatten diese Leute von all dem keinen für sie ersichtlichen Vorteil. Jayce hatte sie zwar vor etwas gewarnt und sein Schicksal zwang sie dazu, diese Warnung ernst zu nehmen, doch waren seine Angreifer wesentlich rabiater und gewalttätiger vorgegangen, als diese blonde, freundliche Frau und ihre Freund hier. Außerdem war sie bereits selbst angegriffen worden, wieder von Leuten, die kein Zögern kannten. Gewalt, nichts als Gewalt. Sie weigerte sich, diesem Pfad weiter zu folgen, ihr Nervenkostüm war heute schon ziemlich strapaziert worden und wenn sie sich diesem Gedanken hingab und sich den Eindrücken öffnete, würde sie vielleicht zusammenbrechen. Nichts, was sie in aller Öffentlichkeit tun wollte, das hob sie sich lieber für später auf.
„Und was muss ich dafür tun?“ fragte sie nun lauter und deutlicher als zuvor. Ferroc lachte auf und sah sie dann schmunzelnd an.
„So läuft das bei uns nicht. Hier gibt es für nichts Bedingungen. Es werden keine Gegenleistungen oder irgendeine Form der Bezahlung erwartet. Alle Bewohner leben freiwillig und kostenlos hier. Wenn sie eine Aufgabe übernehmen, dann tun sie es, weil sie es möchten, nicht weil sie es müssen.“
Dieses Konzept kam Cat bekannt vor, so hatte sie es auch innerhalb ihres Netzwerks gehalten. Aber das hier waren Fremde und sie fragte sich unwillkürlich, warum sie sie wie einen Freund behandelten. Plötzlich kam ihr der Verdacht, dass sie möglicherweise in einer modernen Version einer Hippie-Kommune gelandet war. Allerdings wirkten weder das Ambiente noch die Einwohner hippiemäßig. Auch dieses Büro, oder was auch immer es war, war modern und stilvoll eingerichtet.
„Sie müssen verstehen, Ms. Campbell, wir alle hier teilen eine Weltanschauung, eine, die der Öffentlichkeit vorenthalten wird. Wir Elevender existieren schon seit Jahrhunderten neben den Menschen, wir sind widerstandsfähiger, kräftiger und werden wesentlich älter als diese, aber äußerlich unterscheiden wir uns nicht von ihnen.“ Er deutete auf Xandra und sich selbst. Cat hätte ihn jedoch am liebsten bei seiner letzten Aussage korrigiert und darauf hingewiesen, dass sie beide auffällig wie bunte Hunde waren. Aber aus Rücksicht auf ihre Neugier verbiss sie sich einen Kommentar. Als der große Mann ihren zweifelnden Blick auffing, stockte er und warf einen fragenden zurück.
„Sie dürfen mich gerne jederzeit unterbrechen, wenn sie Fragen haben.“ Er ließ ihr Zeit, falls sie tatsächlich etwas Spezielles wissen wollte.
„Nein. Ich warte lieber, bis sie fertig sind.“
„Weise von ihnen. Möchten sie vielleicht etwas trinken?“ Der indianisch aussehende Mann ging zu einer kleinen Bar am anderen Ende des Zimmers. „Wasser, Kaffe oder vielleicht etwas stärkeres?“
„Etwas stärkeres…. Bitte…. Sir.“
Wieder lachte er grollend mit seinem tiefen Bariton und langte nach einer Karaffe, in der eine klare Flüssigkeit hin und her schwappte. Er nahm sich drei Gläser, füllte alle ungefähr zwei Finger breit, dann wandte er sich wieder um und kam mit den Getränken zurück.
„Könnten wir zum Du wechseln? Das wäre mir angenehmer, wenn es ihnen nichts ausmacht.“
Cat nickte, während sie ihren Drink entgegen nahm.
„Sehr schön!“ Ferroc nippte an dem Klaren. „Wie ich bereits sagte, unterscheidet uns vor allem unsere körperliche Konstitution aber auch unsere Gabe von den Menschen. Durch unsere verschiedenen Kräfte haben wir natürlich einen kleinen Vorteil und genau dies nutzen die Hegedunen aus. Sie sind eine Gruppierung von Elevendern, die die Menschen unterwerfen wollen, weil sie sich für etwas Besseres halten. Diese Leute sind überzeugt davon, dass die, die die Menschen als Götter bezeichnen, wovon ihre heiligen Schriften berichten, in Wahrheit Elevender waren und dass sie rechtmäßig über die Weltbevölkerung herrschen. Über die Jahrhunderte nahm ihre Herrschaft verschiedene Gesichter an, mal nannten sie sich Pharaonen und Zare, dann Fürsten und Kaiser. Sie bildeten mächtige Familien, die die Königshäuser dieser Welt füllten. Durch ihre Gaben, hatten sie die Macht, Menschen für sich arbeiten zu lassen. Aber das war früher, Cat.“
Die Angesprochene lehrte ihr Glas gerade mit einem Zug. Sie befand, sie hatte es auch nötig, musste sie sich doch ernsthaft fragen, ob die Leute hier alle richtig tickten oder einfach nur betrunken waren. Ferroc nahm ihr das Glas aus der Hand und füllte nach. Betrunken. Cats Wahl fiel eindeutig auf betrunken. Doch die verquere Geschichtsstunde ging noch weiter.
„Seitdem die Industrialisierung und Technisierung immer weiter fortschreitet, haben die Hegedunen sich dazu entschlossen, ihre Macht subtiler auszuüben. Sie hatten gelernt, dass eine direkte Unterdrückung der Bevölkerung zu Unruhen und Aufständen führte. Also schufen sie mit der Zeit ein System, in dem die Menschen sich freiwillig versklavten, ohne es überhaupt zu merken.“
Beeeetrunken. So was von glasklar betrunken!
„Nun sitzen diese Leute in den Vorständen und Chefsesseln der mächtigsten und reichsten Konzerne der Welt und wechseln zwischen diesen und politischen Ämtern hin und her. Über die Konzerne kontrollieren sie die Menschen, in dem sie vorschreiben, zu welchem Lohn, wie viel, was und wann die Leute zu arbeiten haben und darüber hinaus, was überhaupt hergestellt wird. Über die Politik diktieren sie, was schon die Kinder in den Schulen lernen sollen, welche Gesetze zu befolgen sind und wie das gesellschaftliche Leben auszusehen hat. Es gibt nichts, das sie nicht steuern und das alles, Cat, haben sie schon vor langer Zeit eingefädelt. Ihr wichtigstes Hilfsmittel dabei, ist das Finanzsystem, das auf dem Zins beruht. Geld existierte schon viele Jahrhunderte, aber als die Hegedunen die Federal Reserve gründeten und 1923 in den USA ein neues Geldschöpfungssystem etablierten, wurde es zu unserer Fessel.“
Cat konnte nur noch blinzeln. Von Wirtschaft hatte sie ehrlich keine Ahnung, genauso wenig wie vom Finanzsystem. Alles was sie über Geld wusste war, dass es in ihrer Jugend einfach so da gewesen war, später dann nicht mehr und dass sie gelernt hatte, ohne es auszukommen. Dank ihrem Netzwerk. Aber sie sah das Elend und die Nöte der Menschen um sich herum. Wandten sich nicht viele ihrer Bekannten genau aus diesem Grund an sie?
„Kannst du mir folgen?“ fragte sie Ferroc da und setzte sich entspannt auf die elegante Lederchouch, die vor dem Panoramafenster stand. Xandra, die währenddessen still geblieben war, nahm direkt neben ihm Platz und schlürfte an ihrem Getränk.
Cat lächelte unsicher. „Ich verstehe von Politik und Wirtschaft nicht so viel, aber ich glaube, ich kann nachvollziehen was du gesagt hast. Ich begreife nur nicht, in wie fern das Geldsystem dazu dienen soll, Menschen unbemerkt zu versklaven.“ Und ob sie ihm die ganze Geschichte abkaufen sollte, wusste sie auch noch nicht.
Ferroc lächelte wieder auf eine nachsichtige Weise. „Dazu muss man wissen, das Geld nur von hegedunischen Instituten geschaffen werden darf, seit 1923 ist es nicht mehr mit Gold gedeckt und somit an sich wertlos. Wenn jemand bei einer Bank einen Kredit aufnimmt, kann die Bank dieses Geld als Zahl einfach aus dem Nichts erschaffen und auf einem Konto gutschreiben. Diese Zahl erhält Deckung durch die Schulden des Kreditnehmers, denn er zahlt das Geliehene irgendwann zurück, plus Zinsen, dieser hypothetische Gegenwert genügt.
Nun ist es aber so, dass rein nominell gesehen nur soviel Geld im Umlauf ist, wie Kredite genommen werden. Die zusätzlichen Zinsen, die die Leute erwirtschaften sollen, können also formal gar nicht existieren. Wenn die Leute ihre Schulden also nicht mehr begleichen können, worauf es zwangsläufig hinausläuft, verlieren sie all ihr Hab und Gut an die Bank. Dies führt am Schluss dazu, dass Geld und Besitztümer von unten nach oben, von den Menschen zu den Hegedunen wandern und das System immer wieder in eine Krise gerät.
Die Menschen selbst wurden in den Schulen und staatlichen Lernanstalten so erzogen, dass Reichtum und Konsum das wichtigste in ihrem Leben wurde. Durch die Medien animiert man sie immer mehr und immer sinnloseres Zeug zu kaufen und um sich das alles leisten zu können, arbeiten sie, bis sie tot umfallen. Die Menschen werden so in einem relativen Wohlstand gehalten. Sie haben zwar genug zu essen, aber es reicht immer nur gerade so, um sich noch ein bisschen Schnickschnack zu kaufen und sich ein wenig zu amüsieren. Am Ende jedoch bleiben sie Sklaven, solange sie überhaupt arbeiten. Denn auf der anderen Seite profitieren die Hegedunen, ohne auch nur einen Finger zu rühren.“
Cat blickte vom Erzähler zu der blonden Elevenderin und suchte nach Anzeichen, dass das alles nur ein dummer Scherz war. Nun, dass jeder von Reichtum träumte wusste sie natürlich, ihre Freundinnen lagen ihr ständig damit in den Ohren. Aber dass genau dies dazu verwendet werden sollte, sie auszubeuten… Diese Informationen brachten ihre bisherige Weltsicht gehörig durcheinander und es klang alles nach Verschwörung, einfach unglaublich…. Andererseits auch nicht unglaublicher, als die Tatsache, dass manche Wesen besondere Kräfte besaßen. Sie überlegte einen Moment.
„Ich sehe ein, dass diese Form der Unterdrückung wesentlich weitgreifender und kontrollierender ist, als die Herrschaft durch einen König.“
„Da hast du recht.“ pflichtete ihr Ferroc bei. „Heute ist die Herrschaft der Hegedunen bereits so allumfassend, dass es scheinbar kein Entrinnen mehr gibt. Egal was man kauft, egal wo man sein Kreuz bei der Wahl macht, egal wer Krieg gegen wen führt, alles spielt den Hegedunen in die Hände, alles führt zur Vermehrung ihres Reichtums und ihrer Macht.“
Aus heiterem Himmel wurde ihr angst und bange. Auch wenn Ferroc ihr Märchen erzählen sollte, so waren es doch sehr gruselige und furchteinflößende Märchen. Zudem konnte sie einen gewissen Wahrheitsgehalt nicht von der Hand weisen, wenn sie sich an ihr klägliches, aber noch vorhandenes Geschichtswissen erinnerte.
„Aber… wenn alles so unausweichlich ist,… was macht ihr dann hier?“
Ferroc lehnte sich erfreut vor. Anscheinend kam jetzt erst der wirklich interessante Teil der Unterhaltung. „Wir haben die Legion gegründet. Unsere Organisation ist fast so alt, wie die der Hegedunen. Wir versuchen alles in unserer Macht stehende, um sie zu entthronen, aber ich gebe zu, unsere Erfolgsbilanz ist nicht gerade überzeugend.
In unsere Organisation leben wir nach unseren Vorstellungen und versuchen, uns dem lähmenden Griff der Hegedunen zu entziehen. Aus diesem Grund verwenden wir unter einander kein Geld, Zwang oder ähnliches ist uns fremd und wir entziehen uns dem Einfluss von Politik und Medien der Menschen. Wir haben unser eigenes Informationsnetz und stellen unsere eigene Nahrung her, so versuchen wir, weitestgehend autark zu leben.“
Jaaaap, eindeutig eine Hippie-Kommune, sagte Cat sich und schüttelte unwillkürlich den Kopf. Auf gewisse Weise verstand sie den Punkt, dass Geld ein Druckmittel gegen die Massen war und dass man sich davon befreien wollte, das hatte sie selbst ja auch bis zu einem gewissen Grad versucht. Aber wenn sie weiter darüber nach dachte, stellten sich ihr eine Wagenladung voll Fragen. Wie konnten die bösen Elevender sich all die Zeit vor der Menschheit verbergeben und warum taten das die Guten auch? Und reichte der Kapitalismus wirklich aus, Menschen so an der Nase herum zu führen?
Eine Welle der Müdigkeit überkam sie. Sie war so erledigt, dass ihre komplette Abwehr zusammengebrochen war. Sie konnte sich im Moment nicht weiter mit dem Gesagten auseinandersetzen, ihr System war schlichtweg überlastet. Deshalb nahm sie in diesem Moment einfach alles hin, ohne es genauer zu überdenken oder zu werten. Hier und heute spielte es letztendlich keine Rolle, ob sie diesem imposanten Kerl Glauben schenkte, sie konnte sich zu einem anderen Zeitpunkt damit befassen.
Cats Leben war gerade Mal wieder zusammen gebrochen, sie hatte einen Ausbruch überstanden und innerhalb eines Tages Kampf und Tod mit angesehen. Zudem schien sie ein übermenschliches, wahrscheinlich tödliches Wesen zu sein und war vor noch nicht mal einer halben Stunde einem Typen begegnet, der ihre Welt aus den Angeln gehoben hatte, ohne auch nur ein einziges Wort mit ihr zu wechseln. Bei genauerem Hinsehen hatte er nicht mal besonders freundlich gewirkt. Cat fand, angesichts all dessen fielen Ferrocs Worte kaum ins Gewicht.
Also streckte sie nur ihr Glas vor und fragte schlicht: „Kann ich noch einen haben?“
Eine Kippe wäre auch nicht schlecht gewesen.
Xandra erfüllte den Wunsch der jungen Frau. Sie hatte Catlynn Campbell für einen zerbrechlichen, dürren Zweig gehalten, doch heute hatte die junge Frau erstaunliche Stärke bewiesen. Nach diesem Tag, der sogar den stärksten Bullen umgehauen hätte, stand sie immer noch aufrecht in Ferrocs Büro. Sie sah zwar müde aus und hatte Augenringe bis zu den Kniekehlen, das lange dicke Haar war verstrubbelt, aber ihr Gesichtsausdruck wirkte entschlossen. Die Hand, die Xandra das Glas entgegenstreckte, zitterte nicht.
Nachdem sie erneut Wodka an alle Beteiligten verteilt und jeder einen Schluck herunter gekippt hatte, entschied sich Xandra, das Wort zu ergreifen.
„Hör zu, Cat. Du musst jetzt gar nicht entscheiden, ob du uns glauben willst. Du kannst dich ausruhen und vielleicht bleibst du eine Weile, während wir versuchen, deiner Gabe auf den Grund zu gehen. Du kannst dich hier frei bewegen und dir Blackridge und wie wir leben in Ruhe ansehen.“
„Wir haben mehr als genug Platz!“, pflichteteFerroc bei.
Cat sah sich um und betrachtete sie beide dann kurz. Schließlich holte sie tief Luft und nickte. „Ok, ich bleibe vorerst hier. Und ähm,… danke für… ähm… ja. Danke.“
„Wunderbar!“, donnerte Ferroc hinter ihr. „Du wirst dich bestimmt wohlfühlen!“
Xandra stellte ihr Getränk ab und ging auf die andere Frau zu. „Na dann, suchen wir dir ein Zimmer… und vielleicht auch was zum anziehen. Es sei denn, du stehst auf diesen Look.“
Cat sah verständnislos an sich herunter. „Ach so. Ja, klar.“
„Gut. Auf geht’s.“ Sie wandte sich noch ein Mal ihrem Boss zu, bevor sie sich mit der frisch gebackenen Elevenderin aufmachte. „Ich komme später noch mal für einen genauen Bericht vorbei.“
Nachdem sie das große Büro im ersten Stock gemeinsam verlassen hatten, führte Xandra ihren Gast zu den Aufzügen. Diese sah sich mit großen Augen über all um, der Blick wanderte über den roten Samtteppich und ihre Hände strichen im Vorbeigehen über die modernen Skulpturen, die entlang der Wände in hellem Silber aufgestellt waren. Vor einem kunstvollen Glasgebilde blieb das Mädchen stehen und betrachtete die ovale, bunt schimmernde Fläche, die von hinten mit Licht durchdrungen wurde. Der farbige Schein ergoss sich auf ihr Gesicht und da begriff sie, trat zur Seite und drehte sich um.
Durch die Oberfläche des welligen Glases wurde der Schein der Lampen gebrochen und durch deren Tönung eingefärbt. An der Wand gegenüber entstand ein filigranes Bild aus Hell und Dunkel, gesprenkelt mit Gold, Pfirsich- und verschiedenen Blautönen. Auf der silbrigen Tapete konnte man einen majestätischen Vogel mit ausgebreiteten Schwingen erkennen.
„Hübsch, nicht?“ Xandra hielt ihre Hand in den Lichtschein, sodass sich ein fünffingeriger Schatten über dem Tier bildete. „Das soll ein Adler sein. Ein Symbol für Freiheit. Wir hatten ein riesen Glück, dass wir das Gebäude vor etwa 15 Jahren von Ferrocs Freund gespendet bekommen haben. Es war mal ein Hotel, deswegen sieht alles so edel aus. Das Gute daran ist, dass jedes Zimmer ein eigenes Bad hat. Es wird dir gefallen.“
„Wow! Ihr habt aber reiche Freunde.“
„Sieh‘ es als kosmische Gerechtigkeit an. Um an so viel Knete zu kommen, muss man schon ein echtes Drecksschwein sein, da kann man ein paar Spenden gut verkraften.“ Das ließ sich nicht abstreiten und Xandra selbst hatte tatsächlich wenig übrig für die Person, die das Hotel verschenkt hatte. Geld und Macht korrumpierten immer auf die eine oder die andere Weise. Sogar ihr Vater, den sie trotz allem sehr schätzte, musste hin und wieder daran erinnert werden.
Sie setzten ihre kleine Tour fort, erreichten die Aufzüge und Xandradrückte den Rufknopf.
„Die Quartiere für die Bewohner sind in den oberen Stockwerken, aber wenn du noch ein paar Minuten durchhältst, gehen wir schnell runter in mein Labor und nehmen ein paar Proben. Die kann ich später untersuchen.“
„Ja, sicher.“
Sie warf Cat einen prüfenden Blick zu. Man merkte dem Mädchen an, dass diese Frage um ihre Gabe im Moment das Zentrum ihres Universums darstellte. Wahrscheinlich hätte sie noch halb tot in jegliche Untersuchung eingewilligt.Xandra hatte schon viele Schicksale miterlebt, vermutete aber trotzdem, dass sie es sich nicht im Entferntesten vorstellen konnte, wie es war, unter Menschen aufzuwachsen und ohne Hilfe von seiner Gabe überrascht zu werden. Xandras Vater undMutter waren ziemlich erfahrene Elevender gewesen, als sie zur Welt gekommen war und beide hatten schon damals wichtige Funktionen innerhalb der Legion bekleidet. Xandras Jugend war behütet gewesen, soweit das im 17. Jahrhundert möglich gewesen war.Sie hatte gewusst, wer oder was sie war und dass sie eine Tages eine besondere Kraft erlangen würde. Außerdem war ihre Gabe eher passiver und wohlwollender Natur, weswegen sie nie in die Gefahr geraten war, jemanden zu verletzen. Im Großen und Ganzen hatte sie wirklich Glück gehabt.
In wenigen Minuten waren sie im ersten Untergeschoss angelangt, in dem sich die Krankenstation befand und das auch ihr Labor beherbergte.
Xandra betrat als Erste die heimeligen Hallen und knipste die Lichter an. Während sie flackernd ihren Dienst antraten, sprang auch die elektrische Belüftung an, mit der ihr Arbeitsraum ausgestattet war. Für Notfälle mit giftigen Chemikalien war das unerlässlich.
Sie nutzte das Equipment zu medizinischen Untersuchungen und zur Analyse von Probenmaterialien jeglicher Art. Besonders stolz war sie auf die beiden computergesteuerten Geräte an der rechten Wand, ein Massenspektrometer und ein DNA-Sequencing-Automat der neusten Generation. Sie hatte lange betteln müssen, bis Jordansich daran gemacht hatte, ihr die Apparate zu bauen, und schon bald nach deren Fertigstellung hatte Xandra eine enge Beziehung zu diesen beiden Schätzen entwickelt.
Cat folgte ihr in den Raum und setzte sich- automatisch, so wirkte es- auf die obligatorische Liege in der Mitte des Zimmers. Durch ihre Karriere in medizinischen Einrichtungen war sie mit dem Prozedere gut vertraut. Zudem musste sie darauf brennen, endlich mehr über ihre Gabe zu erfahren.
Xandra öffnete eines der vielen vollgestopften Schränkchen und überlegte was sie wohl brauchen würde. „In deinem Bericht stand, dass du glaubst, durch einen Kuss getötet zu haben. Ist dem noch was hinzuzufügen? Gibt es sonst irgendwelche Auffälligkeiten oder etwas, das dir… ähm… speziell erscheint?“
„Ich..“ Catlynn sah starr auf ihre Hände. „Es passiert, wenn ich jemanden… auf den Mund küsse… Ansonsten ist mir nichts bewusst.“
Xandra schnappte sich verschiedene Teströhrchen und –stäbchen, ein paar Agarplatten, sterile Tupfer und einen Filzschreiber zum Beschriften.
„Gut, dann nehmen wir Speichelproben. Das müsste reichen.“ Sie riss die luftdichten Verpackungen auf und bat Cat, den Mund zu öffnen. Dann rieb sie mit einem Wattestäbchen über die Innenseite der Wange, ein weiteres nahm sie für die Zunge und das dritte fand bei den Lippen Verwendung. Sie reichte dem Mädchen ein Röhrchen.
„So, jetzt ein paar Mal hier rein spucken und dann diese rote Platte küssen.“
Cat stutzte, folgte daraufhin jedoch ihren Anweisungen. Es war lustig zuzusehen, wie sie versuchte, ihren Speichel durch die kleine Öffnung des Reagenzglases zu manövrieren. Die Agarplatte beäugte sie erst kritisch und roch dann daran. Angewidert zuckte sie zurück.
„Das ist ein Frischblut-Nährboden. Den benutzt man zum Nachweis von verschiedenen Bakterienarten. Riecht eklig, ich weiß, aber er ist steril und ungefährlich.“
Nach kurzem Zögern überwand sich Cat dazu, die Lippen in die rötliche, wachsartige Fläche in der Petrischale zu drücken. Sie verzog den Mund. Entschieden hielt sie den Agar so weit wie möglich von sich weg und machte ein glucksendes Geräusch. Xandra erkannte die Anzeichen und schnappte sich den Mülleimer, der in der Ecke stand. Sie hatte absolut keine Lust, Erbrochenes aufzuwischen. Flink brachte sie den Behälter in Position, aber Cat winkte ab.
„Geht schon….Wuäh! Ich hoffe, ich muss das nicht noch Mal machen!“
„Ich versuche, es zu vermeiden. Aber das ist nur das Basisset. Wenn nichts dabei raus kommt, müssen wir schwerere Geschütze auffahren.“
Sie brachte den Agar in den Brutschrank. Die anderen Proben steckte sie in die automatischen Apparate, die alle weiteren Schritte durchführten, die nötig waren um das Probenmaterial für eine Untersuchung aufzubereiten, und dann auch die Analyse selbstständig durchführten. Freudig grinste Xandra, als ihre Schätzchen zu schnurren begannen.
„Oh ja, Baby! Zeig was du kannst.“ Sie strich zufrieden über die graue Kunststoffabdeckung und den Anzeigemonitor.„In ein paar Stunden haben wir die Ergebnisse, die ich dann noch auswerten muss. Ich denke, spätestens morgen früh wissen wir mehr.“
Cat trat neben sie und starrte ebenfalls auf den surrenden Apparat hinunter. Einen Augenblick lang war es Xandra möglich, hinter die beherrschte, zurückhaltende Fassade zu blicken. Ein furchtbarer Schrecken stand in dem jugendlichen Gesicht und ließ es trotz seiner ebenmäßigen Züge abgekämpft und fahl aussehen. In den grünen Augen taten sich tiefe, dunkle Abgründe auf, Angst tropfte ihr aus jeder Pore. Wie eine Aura verbreitete sie sich im Raum.
„Hast du außer diesem Jungen jemals noch jemanden geküsst?“
Cats Kopf fuhr hoch, aber sie vermied es tunlichst, in Xandras Augen zu sehen. Wieder war ein merkwürdiges Geräusch zu hören, als die junge Frau versuchte zu schlucken. Ihre Kehle musste vor Schreck ganz ausgetrocknet sein. Es entstand eine lange Pause, in der sie sich nicht rührte und Xandra wollte sich schon für den forschen Vorstoß entschuldigen, da nickte die andere Frau zaghaft.
„Die Ärzte haben mir eingetrichtert, dass ich mir alles nur einbilde, deswegen… Es war keine Absicht! Ich wollte gar nicht…“ Die dünne Stimme brach.
„Hey, du hast es nicht gewusst. Du kannst nichts dafür.“
„Aber ich hab’s doch geahnt! Nach dem ersten Mal schon. Ich hätte niemals…“
Xandra hätte die andere Frau gerne in die Arme geschlossen, aber ihrer Erfahrung nach mochte jemand, der seine Emotionen so eisern versteckte, keine ungebetenen Berührungen. Schließlich entschied sie sich dafür, nur ihre Hand auf die bebende Schulter zu legen.
„Ich glaube dir, dass du nie jemandem wehtun wolltest. Weißt du, so traurig das ist, es gibt einige Elevender, denen so was passiert. Manche Kräfte sind einfach zu überraschend oder gefährlich. Andere sind unglaublich stark und schwer zu kontrollieren. Wenn so etwas passiert, ist das tragisch und man sollte den Vorfall ernst nehmen, aber es ist und bleibt ein Unfall.“
Jetzt war der Körper des Mädchens wieder ruhig, die Vernunft wieder angeschaltet. „Ja, ich weiß. Aber vergessen kann ich es trotzdem nicht.“
Xandra erkannten den starken Geist und den strengen Willen, der hinter dem Akt der Beherrschung steckte und musste vor sich selbst erneut zugeben, dass sie Catlynn Campbell unterschätzt hatte.
„Nein, das kann man nicht“, gab sie schließlich zu. „Aber…“
„Mir geht es gut, wirklich! Es ist… mir geht es gut.“
Okay, Fettnäpfchen. Xandra verstummte. Da hatte sie ein Thema aufgeworfen, das definitiv nicht erwünscht war. Tja, als Ärztin konnte sie manchmal nicht aus ihrer Haut und mischtesich gerne, zum Teil auch ungebeten, in anderer Leute Angelegenheiten. Vor allem dann, wenn sie das Gefühl hatte, der- oder diejenige hatte es bitter nötig. Sie verbot sich einen Fluch und biss sich auf die Lippen.
„Ok. Tut mir Leid.“ Nur mit knapper Not konnte sie sich daran hindern weitere Ratschläge zu erteilen. „Dann… möchtest du noch was essen, bevor wir dir ein Zimmer suchen?“
„Nein, ähm… aber kann man hier irgendwo Zigaretten auftreiben?“ Xandra kicherte als das Mädchen rot anlief. „Ich weiß, es ist eine blöde Angewohnheit, aber…“
„Falsch, es ist eine Sucht!“ DochElevender konnten ihre Lungen malträtieren so viel sie wollten, es hatte keine schädigenden Auswirkungen. „Aber da wird sich schon was machen lassen.“
Nachdem das erledigt war, begleitete Xandra den Gast in den fünften Stock und den linken Flur hinunter, wo sich eine Reihe nicht belegter Räume befand. Diese waren für ständige Anwohner gedacht, während Besucher ein Stockwerk tiefer untergebracht wurden. Familien residierten ganz oben in den großen Penthäusern. Xandra deutete auf die Türen auf beiden Seiten vor ihnen.
„Die Räume sind alle ähnlich gestaltet. Such‘ dir einen aus.“
Cats Kopf wanderte herum, bis sie sich für das letzte Zimmer ganz am Ende des Flurs entschieden hatte. Xandra öffnete für sie beide und präsentierte die moderne und doch gemütliche Einrichtung.
„Da drüben ist das Bad.Neben dem Bett steht ein Telefon. Im Menü sind alle Anschlüsse des Hauses eingespeichert. Wenn du nach draußen telefonieren willst, musst du die Null vorwählen. Meine Nummer ist auch in der Kurzwahl. Ich denke, es versteht sich von selbst, dass der Elevenderkram unter uns bleiben sollte.“
Cat zuckte nur mit den Schultern und setzte ein müdes Lächeln auf. „Ja, klar. Wer sollte mir DAS auch abkaufen.“
„Stimmt wohl.“ Vor allem bei der Vorgeschichte der jungen Frau. Auch Xandra musste lächeln. „Pass auf, ich schicke dir jemanden vorbei, der dir Kleidung bringt. Und falls du doch noch Hunger bekommen solltest, die Speiseräume sind auf der rechten Seite von der Eingangshalle.“
Cat nickte zerstreut, während sie die Möbel genauer unter die Lupe nahm.
„Wenn du nichts mehr brauchst, lasse ich dich jetzt alleine. Du kannst mich aber jederzeit erreichen, Tag und Nacht.“
„Danke, nein. Ich brauche nichts mehr. Könntest du mir nur bitte Bescheid geben, wenn du die Testergebnisse hast?“
Xandra willigte ein und überließ ihren Gast dann sich selbst. Sie würde Zeit brauchen, den Schock zu verdauen, ein wenig aus zu ruhen und wieder zu Atem zu kommen. Aber schon bald würde sie viele Fragen haben und Antworten verlangen. Xandra hatte schon einige Elevender in ihre Welt eingeführt, sie in den ersten Wochen betreut, manchmal auch darüber hinaus. Sie übernahm gerne die Verantwortung, das lag in ihrem Wesen und als Ärztin war dieser Charakterzug auch ganz nützlich. Jedenfalls lief die Initiation von Neulingen meistens ähnlich ab. Zweifel, Ratlosigkeit und zeitweilige Depression waren fast immer dabei.
Wieder vor Ferrocs Büro angekommen, klopfte sie und trat dann ein. Allerdings fand sie ihn nicht alleine vor. Er hatte Besuch von Roman, der sich auf das Ledersofa gemümmelt und die Füße auf dem niedrigen Couchtisch abgelegt hatte. Er sah nicht besonders glücklich aus und sein kurzes, braunes Haar stand von seinem Kopf ab, als hätte er es gerade ausgiebig gerauft.
„Was ist denn das für eine Stimmung?“, erkundigte sich Xandra beiläufig, wobei sie über Romans ausgestreckte Beine stieg und sich neben ihn fallen ließ. „Immerhin haben wir gerade eine Elevenderin gerettet und zwei Sucher auflaufen lassen.“
Sie berichtete ausführlich, was im Lake-View-Sanatorium vorgefallen war, dann kam sie auf Cats Akte zurück, die Ferroc bereits bekannt war.
„Der Junge, der heute Morgen gestorben ist wurde wahrscheinlich von zwei Hegedunen umgebracht. Noch ist völlig unklar, warum und was das Mädchen damit zu tun hat. Aber ich denke, wir sollten das genauer unter die Lupe nehmen. Ich rede morgen noch mal mit ihr.“
„Gut.“ kommentierte Ferroc. „Denn wir haben hier gerade ein größeres Problem. Dank Dareon fehlt uns jetzt jeder Zugang zum Cohen-Clan und den brauchen wir dringend, wenn wir verhindern wollen, dass diese lächerliche Direktive verabschiedet wird.“
„Wie viel Zeit bleibt uns noch?“ Roman wirkte nicht begeistert, seine Züge sprachen Bände. Dareons Vortrag dürfte nicht zu knapp ausgefallen sein.
„Vielleicht ein paar Wochen, mehr nicht. Schon bald werden sie die Anhörung im Senat durchgesetzt haben“, antwortete Ferroc düster.
„Glaubst du wirklich, sie werden damit durchkommen? Die Cohens wollen sich ein Monopol schaffen und ich kann mir nicht vorstellen, dass das dem Klerus gefällt.“ Xandra dachte über den hegedunischen Clan nach, den sie zu infiltrieren versuchten. Die Familie gehörte zu den weniger bedeutenden Blutlinien und war nicht ganz so reich und mächtig, wie der Klerus, der aus der führenden Schicht von Elevenderfamilien bestand. Diese ließen Aktionen der anderen nur in bedingtem Maße zu, kontrollierten und steuerten die große Versklavungsmaschinerie. Das gesamte Gefüge wurde streng hierarchisch regiert und Xandra erkannte den starken Vorteil daran. Entscheidungen wurden schnell getroffen, Streitfragen wurden nicht zur Frage einer politischen Richtung, wie es in der Demokratie der Fall war. Ein typischer Vorfall war die Einführung des Bedingungslosen Grundeinkommens in der Schweiz gewesen. 2014 hatte das Volk des Landes abstimmen dürfen, jedoch war etwas, das gut für jedermann gewesen wäre, zu einer Streifrage zwischen zwei Parteien geworden. Schließlich wählten die Leute nach monatelanger Debatte zwischen Liberalen und Grünen, anstatt sich mit dem Antrag an sich auseinander zu setzen. So wurde schließlich dagegen gestimmt.
Ferroc lachte hart auf. „Die Cohens haben soviele Patente in der Lebensmittel-Gentechnik inne, dass den größeren Familien nichts anderes übrig bleibt. Außerdem ist das in der Bevölkerung immer noch ein heißes Thema, die meisten Leute misstrauen den künstlich hergestellten Agrarprodukten. Sollte also etwas schiefgehen, brauchen sie einen Sündenbock. Da trifft es sich gut, dass die Cohens so klein und unbedeutend sind, dass man sie den Mengen zum Fraß vorwerfen kann.“
„Das bedeutet doch, dass das Ganze so gut wie feststeht. Was sollen wir dann noch dagegen tun?“ Roman griff sich schon wieder ins Haar, jetzt standen sie in eine andere Richtung. Die karamellbraunen Augen hatte er zu einem finsteren Ausdruck zusammen gekniffen.
Ferroc lehnte sich an den Schreibtisch und verschränkte die Arme. Die Situation schien auch für ihn knifflig, aber er hatte viel Erfahrung in taktischer Kriegsführung.
„In dem Fall bleibt uns nur noch die Öffentlichkeit. Wir brauchen etwas, womit wir der Familie oder der Gentechnik den Todesstoß verpassen können. Wenn die Bevölkerung erzürnt ist, kann der Senat den Antrag nicht durchwinken, ohne selbst ins Kreuzfeuer zu geraten.“
„Wir sollen also nach Schmutz graben“, schloss Xandra und suchte Ferrocs Blick. „Könnte sogar lustig werden.“
„Wer weiß, vielleicht gibt es sogar was Pikantes!“ Plötzlich wirkte Roman gar nicht mehr so fertig und beide mussten sie schmunzeln. „Wilde Affären in der Upperclass. Das lesen die Leute doch gerne!“
Ferrocs Mundwinkel zuckten. „Das wird nicht reichen. Der Stoff muss so empörend sein, dass die Menschen in der nächsten Zeit kein gutes Haar an dem Thema lassen. Es muss regelrecht verpönt werden.“
„Die letzte Chance hat D uns gründlich vermasselt.“
„Dafür habe ich ihn für eine Weile aus den Einsätzen ausgeschlossen. Er hat Schreibtischdienst und unterrichtet.“
„Recht so“, entgegnete Rome zufrieden auf Ferrocs Bericht. „Dann kann er sich gleich heute Abend noch mit mir zusammen an den Computer setzen und nach einem anderen Weg suchen, wie wir etwas über die Cohens herausbekommen können.“
„Ich werde das in die Hand nehmen. Dareon ist schon genug gestraft.“ Ferroc hob den Blick und zeigte auf Roman. „Du gehst nach Hause zu deiner Familie. Deine Zwillinge sind ständig hier, um nach dir zu fragen.“ Dabei sah er allerdings nicht aus, als würde ihn das stören. Ferroc war ein unglaublich großer und stämmiger Mann, dem es sehr leicht fiel, gefährlich auszusehen, vor allem wenn er in Rage war. Deswegen war es auch so auffällig, dass er normalerweise sehr freundlich wirkte. Er strahlte eine Güte aus, die er jedermann zuteil werden ließ und sie wusste, er liebte Kinder. Mit Sicherheit wäre er ein guter Ehemann und Vater, der Job würde ihm garantiert gefallen. Irgendwie beneidete sie diese Eigenschaft, obwohl sie immer auf der Suche nach jemandem war, mit dem sie eine langwierige Beziehung führen konnte, war sie sich tief drinnen gar nicht mal so sicher, ob sie das überhaupt konnte. Und die Gegenstücksache hatte sie schon lange abgeschrieben, nachdem sie fast 450 Jahre gewartet hatte.Und dann war da auch noch die Evrill-Geschichte, die sie nicht fortführen konnte, was sich ihr wie ein Stachel ins Hirngebohrt hatte und sie alle zwei Sekunden stupfte.
Ganz im Gegensatz zu Ferroc wirkte Roman nicht gerade begeistert. Er rümpfte die Nase und schaute demonstrativ woanders hin. Xandra hatte keine Ahnung, was da los war, aber es sah nach Ärger im Paradies aus. Was mochte bloß in der vierköpfigen Familie vorgehen? Nach außen hin sah alles immer so perfekt aus. Roman hatte vor einer ganzen Weile sein Gegenstück Yumi gefunden, und vor fünf Jahren war ihnen die Geburt von zwei gesunden Kindern; eineiigen Zwillingen; zu Teil geworden. Eine unglaubliche Segnung, wie jeder Elevender feststellen würde. Doch im Moment sah Roman nicht aus, als fühlte er sich in irgendeiner Weise beschenkt. Er wirkte, als hätte er sich lieber in eine Schlacht gestürzt, als heim zu seiner Familie zu kehren. Er machte keine Anstalten, sich zu rühren und brummte nur verdrießlich.
Xandra sprang aus Mitleid ein. Sie hatte keinen Schimmer, was in ihm vorging, aber es war offensichtlich dass er nicht darüber reden wollte.
„Bevor wir jetzt abschweifen, muss ich noch etwas anderes ansprechen. Mein Vater hat mich darum gebeten, nach einer Gruppierung von Menschen zu suchen. Sie nennen sich Venus Orden und sind weitestgehend aufgeklärt. Sie versuchen angeblich Widerstand zu organisieren. Ich muss einen Kontakt herstellen.“
Ferrocs erstaunter Gesichtsausdruck musste ihrem eigenen gleichen, als sie von den Neuigkeiten gehört hatte. Solche Gelegenheiten, Allianzen mit Menschen zu schließen, waren selten. Die Legion war erpicht darauf, in der Hoffnung, es könnte ein langfristiges, machtvolles Bündnis daraus entstehen. Ohne Gegenfragen wurde ihr Anliegen unterstützt.
„Was brauchst du?“, erkundigteFerroc schlicht und bewies ihr erneut, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Sie hatten schon immer gut zusammengearbeitet und Xandra war stets an seiner Seite geblieben, wohin er auch ging. Sie konnte sich gar nicht mehr erinnern, wie viele Jahre das jetzt schon waren. Merkwürdig, aber sie hatte sich ihr Leben nie ohne ihn vorstellen können.Er war ein Familienmitglied für sie. Eins das sie lieber mochte, als ihre leiblichen Angehörigen.
„Mein Vater sagt, es gibt Gerüchte über einen Stützpunkt in oder in der Nähe von Ceiling. Ich werde mich erst umhören müssen, bevor ich weiß, womit ich es zu tun habe.“
„Wenn du Hilfe brauchst, wirst du sie bekommen!“
Roman horchte auf. „Hey, ich könnte dir doch he…“
„Sag mal, was an den Worten Geh‘ nach Hause verstehst du nicht? Spreche ich neuerdings Suahelisch?“
Die beiden Männer warfen sich wütende Blicke zu.
„Dir ist schon klar, dass du mir nichts befehlen kannst?“
„Und dir ist schon klar, dass das ein gut gemeinter Rat war? Bevor ich dir eins auf die Mütze gebe und dich persönlich bis vor deineTür schleife!“
Xandra traute es dem massigen Ferroc ohne Weiteres zu, den hochgewachsenen Puerto-Ricaner zu bezwingen und ihn wie eine Stoffpuppe über seine Schulter zu werfen. Das hätte sie nur zu gern gesehen, fühlte sich aber wie immer genötigt, einzugreifen, bevor Roman die Situation mit einem weitern bissigen Kommentar verschärfen konnte. Er setzte schon zum Sprechen an und seine geballten Fäuste verhießen nichts Gutes.
„Schluss damit! Seit gestern Nacht kommt man sich ja bei euch wie im Kindergarten vor. Lass‘ ihn in Ruhe, Ferroc. Falls du es nicht merkst, da ist was im Busch, von dem wir nichts wissen und das uns wahrscheinlich auch nichts angeht.“ Sie bedachte ihren Freund und Boss mit einem mahnenden Blick und kam sich schon wie eine biestige Oberlehrerin vor. Aber ein Mal in Fahrt, konnte sie sich schlecht bremsen und wandte sich ihrem anderen Kollegen zu, der immer noch verärgert die Zähne zusammenbiss.
„Und du Rome, lass dir gesagt sein, dass man so nicht mit einem Geschenk des Himmels umgeht. Jeder hier wünscht sich das, was du hast, also wirf es nicht weg!“
Das Wort zum Sonntag, es war schon weit nach Mitternacht.
Es dauerte eine Weile, bis die beiden sich von einander losrissen und die Köpfe abwandten. Die bedrohliche Stimmung wich nur langsam aus der Luft und Ferroc lehnte sich schließlich resignierend in seinem breiten Ledersessel zurück.
„Du solltest auf sie hören, Bruder. Wenn ich so viel Glück hätte wie du, befände ich mich jetzt im Dauerlauf.“
In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen und krachte gegen die Wand. Es gab nur einen, der mit so wenig Feingefühl unterwegs war. Slater stand in all seiner düsteren Herrlichkeit im Türrahmen. Seine dunklen Augen wie immer leer und jenseits von Gut und Böse.
„Habe hier was gefunden“, sagte er mit seiner toten Stimme und hielt einen schweren Trecking-Rucksack hoch.
Cat sah sich in dem großen Zimmer um. Wenn das ein Hotel gewesen sein sollte, dann hatte es wahrscheinlich fünf Sterne oder so gehabt. Sie stand direkt neben dem Eingang und rechts von ihr ging es ins Bad. Dann öffnete sich der kleine Flur und verbreiterte sich zu einem riesigen Raum, dessen sandfarbene Wände von weichen Oberlichtern erhellt wurden. Die gegenüberliegende Zimmerfront wurde fast vollständig von einem rahmenlosen Fenster eingenommen, nur die Balkontür am linken Ende hatte noch Platz.
Das Bett stand mit dem Kopfende an der rechten Seite, die Mauer dahinter war mit einem gepolsterten Stoff in einem blassen Goldton bespannt. Von oben hingen zwei prachtvolle Leselampen herunter und ermöglichten die separate Beleuchtung von beiden Schlafstätten in dem verführerisch gemütlichen Doppelbett.
Cat begab sich hinüber und ließ sich in die schokobraunen Decken fallen. Mit dem Gesicht voran landetesie in himmlisch duftenden, weichen Kissen. Eine echte Wohltat, nachdem sie eine ganze Weile weder geschlafen noch sich Entspannung gegönnt hatte. Die Erschöpfung war nicht nur körperlich, sondern auch psychisch und ließ ihr auch jetzt keinen Frieden. Unruhig wälzte sie sich auf den Rücken und starrte nun auf eine auf antik gemachte Kommode, darüber war ein Plasmabildschirm in die Wand eingelassen. Daneben standen im rechten Winkel ein filigraner Glastisch und ein merkwürdig geformter Stuhl, Schreibunterlagen waren auf der spiegelnden Fläche drapiert.
All der fremde Luxus war ihr plötzlich unangenehm. Er gehörte schon lange nicht mehr zu ihrem Leben und sie fühlte sich dadurch noch verstärkt an ihre Jugend erinnert, in der sie von ihren Eltern in solchen pompösen Zimmern einquartiert worden war. Es fühlte sich falsch an, quasi zu etwas zurück zu kehren, das sie abgelegt hatte. Und das neben den ganzen Ereignissen des heutigen Tages, durch die sie schon gezwungen gewesen war, erneut die dunkelsten Kapitel ihrer Vergangenheit aufzuschlagen.
Endlich war sie allein und konnte zulassen, dass ihre eiserne Kontrolle und die starken Verdrängungsmechanismen, die sie ihr ganzes Leben lang aufrecht gehalten hatten, zusammenbrachen. Hin und wieder kam das vor, es fühlte sich an, als müsste sie sich entleeren, wie einen Sack voll Müll, bevor sie erst wieder mehr ertragen konnte.
Cats Sicht verschwamm vor ihren Augen. Der Schleier wurde immer undurchsichtiger und als sie blinzelte kullerten dicke Tränen über ihr Gesicht. Sie begann leise zu schluchzen, die Matratze erbebte unter den Zuckungen ihres Körpers, während die Verwirrung und Verzweiflung in ihr wüteten. Ihr Dasein schien sich um Verlust zudrehen, sie verlor alles und jeden, immer und immer wieder, das war die Geschichte ihres Lebens. Vielleicht war es sogar ihre Natur, überlegte sie entsetzt, was sie nur noch mehr zum heulen brachte. Bibbernd rollte sie sich auf die Seite und schlang die Arme um ihre angezogenen Knie, bemüht langsam wieder Fassung zu gewinnen.
Entschlossen wischte sie mit dem Ärmel die Wangen trocken und stand schniefend auf. Genau genommen war jetzt der beste Zeitpunkt für eine Kippe. Die würde ihr helfen, sich zu beruhigen, und sie hatte nun schon eine ganze Weile danach gegiert. Mit der kleinen Schachtel und Feuer in den Händen schlich sie sich auf den Balkon, voller Hoffnung niemandem zu begegnen. In diesem aufgelösten Zustand wollte sie lieber nicht gesehen werden.
Die Flamme glühte in der Dunkelheit auf und sie zündete die Zigarette an, nahm den erleichternden ersten Zug. Während sie den Rauch wieder ausstieß sah sie sich um. Ihre Augen mussten sich erst an die nächtlichen Lichtverhältnisse gewöhnen. Der Balkon war ebenfalls zur Auffahrt ausgerichtet, nur dass sie von hier oben auf das viktorianische Querhaus sah, das den Hof vor ihren Blicken verdeckte. An den leuchtenden Sternen am Nachthimmel konnte sie sich ausrechnen, dass sie sich ein gutes Stück entfernt von dem künstlich erhellten Ceiling befanden. Aber die Stadt musste da irgendwo sein.
Zwischen zwei weiteren tiefen Zügen sagte sie sich, dass ihr altes Leben ja gar nicht unbedingt vorbei sein musste. Die Bewohner von Blackridge, die Legion, hielten sie nicht fest und sie durfte telefonieren. Wenn sie ein paar Leute anrief, um einige Sachen zu deichseln, konnte sie vielleicht einfach zurückkehren, wenn sie endlich wusste, was es mit ihrer Gabe auf sich hatte. Gut, sie würde wieder einen neuen Namen und eine neue Wohnung brauchen, aber ihre sonstigen Verbindungen waren den Behörden unbekannt.Auch war sie sich bewusst, dass ihre Kraft ihr Leben verändern könnte, doch bisher war sie doch auch zu recht gekommen, hatte sich mit diesem Manko eingerichtet. Diese Leute hier waren nett und das Gebäude prachtvoll, aber es war nicht ihr zu Hause, auch wenn ihr das angeboten worden war. Ein Ort wurde nicht durch ein paar Worte zu einem Heim.
Mit neuem Mut ging Cat wieder hinein und setzte sich aufsBett.Sie langte entschlossen zum rechten Nachttisch hinüber. Ein in der Mauer verankertes, stilvoll geschwungenes Brett aus gebeiztem Holz, auf dem das Telefon stand. Gespannt, ob sie wirklich einfach so nach draußen rufen konnten, drückte sie die Taste mit der Null und wartete auf das Freizeichen. Als es schon kurz darauf erklang, wunderte sie sich ein wenig, aber dachte auch daran, dass Xandra sie bisher noch nicht ein einzigesmal belogen hatte oder ähnliches. Das war es wohl, was Cat dazu brachte, ihr Vertrauen entgegen zu bringen. Sollte sie ihr dann auch in Hinsicht auf diesen Geld- und Hegedunenkram glauben? Bevor sie sich weiter in den Gedanken verstricken konnte, erinnerte sie sich, dass sie ja eigentlich telefonieren wollte und tippte schnell eine Zahlenkombination in das digitale Tastenfeld.
Zuerst rief sie bei den Freunden an, bei denen sie schon vor Stunden beim Umzug hätte helfen sollen und entschuldigte sich für ihr Fernbleiben, dann organisierte sie sich eine Vertretung für ihre Schichten bei der Arbeit und informierte auch Sam. Zwar gebrauchte sie eine Notlüge und das gefiel ihr gar nicht, aber in diesem Fall heiligte der Zweck die Mittel. Sie behauptete, eine schlimme Grippe zu haben und mindestens eine Woche nicht kommen zu können. Wie erwartet, zeigte sich Sam kulant, wünschte ihr lediglich eine gute Besserung und ließ sich für Notfälle die Nummer der Aushilfe geben.
Um das Versprechen an Mary einzuhalten, kontaktierte sie daraufhin ein paar Leute, die dem Bruder der Kollegin helfen konnten und gab deren Nummer weiter, damit sie sich nicht noch mal damit befassen musste. Sie hoffte, dass die Sache erledigt war und Dans Geschäft nach dem Umbau besser laufen würde. Als sie auch dieses Gespräch beendet hatte, legte sie auf und betrachtete nachdenklich den Hörer in weißem, glänzendem Plastik. Die Verlockung, Eddi anzurufen war groß. Sie wusste, er würde sich ziemliche Sorgen machen, wenn sie so mir nicht dir nichts verschwand und hätte es beinahe getan. Wieder entschied sie sich dagegen. Er würde ihr zu viele Fragen stellen und wenn er schon vorher von ihrem Irrsinn überzeugt gewesen war, würde er, wenn er von alle dem hier wusste, wahrscheinlich dafür plädieren, sie für eine ganze Weile in Behandlung zu geben. Etwas, das ihr weit mehr Angst einjagte, als dieser neue Wahnsinn an diesem seltsamen Ort hier.
Sie wollte sich gerade auf den Weg ins Badezimmer machen, als es an der Tür klopfte. Einen Moment lang hatte sie ein Déjà-vu von gestern Nacht, als Jayce sie so überraschend besucht hatte. Jetzt war er tot und es fiel Cat immer noch schwer, den Gedanken gänzlich zu begreifen, zu verstehen, was dieser Tod tatsächlich bedeutete. Nämlich, dass ein Herz aufgehört hatte zu schlagen, dass man nie wieder mit dieser Person sprechen, sie niemals wieder sehen würde. Ein Abschied für alle Zeiten.
Ein zweites Klopfen brachte sie dazu, den Gedanken abzuschütteln und den Türknauf aus poliertem Messing zu drehen. Auf der anderen Seite der Schwelle stand eine junge Frau, kaum größer als Cat. Sie lächelte herzlich und strich sich das leicht krause, schulterlange Haar in der Farbe von dunklem Kirschholz hinter das Ohr.
„Hi, Xandra schickt mich mit Kleidung.“ Sie hielt einen Stapel mit bunten Stoffstücken hoch. „Ich heiße Blaise!“Sie streckte Cat eine zierliche Hand entgegen, die die sogleich ergriff. Es wäre ihr nicht möglich gewesen, es der anderen Frau zu verweigern, die wirkte so unglaublich weich und mütterlich.
„Hallo, ich bin Cat“, antwortete sie dann und trat zur Seite, um Blaise herein zu lassen.
„Das sind ein paar von meinen Sachen.“ Sie musterte Cat und dann sich selbst kritisch, während sie zum Bett hinüber ging und die Sachen darauf ausbreitete. Als sie an Cat vorbei kam, fing die den Duft von frischen Keksen ein. „Sie könnten dir zu weit sein, aber für den Anfang besser als gar nichts.“
Cat musste ihr Recht geben, als sie ebenfalls die Erscheinung der jungen Frau in Augenschein nahm. Sie waren beide gleich groß, aber da endete die Ähnlichkeit auch schon. Wo Cat kaum Fettreserven besaß, wies der Körper der anderen Frau geschmeidige, weibliche Kurven auf, die an genau den richtigen Stellen saßen. Die wohlgeformten Hüften schwangen beim Gehen aufreizend hin und her, volle Brüste bildeten einen sinnlichen Kontrast zu der Wespentaille.
In den Klamotten dieses Vollweibs sah Cat wahrscheinlich aus wie ein Zahnstocher. Außerdem war alles in bunten Pastellfarben, sehr sommerlich und frisch. Cats bevorzugte Nicht-Farbe Schwarz war gar nicht dabei. Sie wollte garantiert nicht zimperlich sein, aber sich zu kleiden wie ein Papagei war nicht Teil des Deals gewesen.
Innerlich seufzend betrachtete sie die Auswahl, die Blaise auf dem Bett arrangiert hatte. Eine Jeans und ein kurzer Rock, ein pfirsichfarbener Pulli, ein weinrotes T-Shirt, sowie ein waldgrünes Sweatshirt-Kleid.Daneben lagen ein Schlafanzug, Schnürstiefel,Unterwäsche und Socken. Die Wäsche schaute sie sich nicht genauer an, es war ziemlich viel Spitze dabei, die sie abschreckte.
Blaise zupfte an einem Bügel-BH in Rosa herum und sah verlegen zu Cat auf. „Tja, ähm, ich denke, die BHs können wir vergessen. Wir werden dir eben bald was Eigenes besorgen müssen.“
Cat hatte sich schon lange damit abgefunden, dass sie kein besonderer Hingucker war. Eigentlich wollte sie das auch nicht. Sie war immer froh gewesen, nicht oft angesprochen zu werden oder Komplimente zu bekommen, das machte die Abstinenz-Sache wesentlich leichter.
„Denk‘ dir nichts dabei, das macht mir nichts. Wahrscheinlich bräuchte ich noch nicht mal einen.“ Mal ehrlich, die Alibi-Büstenhalter mit Körbchengröße Doppel-A waren mehr Dekoration, als Notwendigkeit. Den größten Nutzen hatten sie bei Nippelalarm und im Moment trug sie ja auch keinen.
Blaise lächelte erleichtert, aber immer noch etwas peinlich berührt. Der rötliche Schimmer auf ihren Wangen ließ sie noch weiblicher erscheinen, während sie nebenbei die Stoff-BHs wieder in ihre Hosentasche zu stopfen versuchte.
„Weißt du was? Wenn ich das nächste Mal nach Ceiling fahre kommst du mit und wir besorgen dir etwas, das besser passt.“
„Ok.“ Wenn sie solange bleiben würde. „Das ist wahrscheinlich gar nicht nötig, ich…“ Da schob sich das Bild des Mannes mit den wundervollen blonden Locken vor ihr inneres Auge und ließ sie stocken.
Dareon.
Wenn sie sich bald von hier verabschiedete, hieß das auch, ihn vielleicht nie wieder zu sehen. Er hatte etwas in ihr bewegt, Wünsche geweckt, von denen sie sich nicht traute, sie auch nur ansatzweise zuzulassen. Die Gedanken an ihn beeinträchtigten auch ihr Herz, indem sie es schneller schlagen ließen. Sie musste den Mund öffnen, um besser Luft zu bekommen. Verdammt, diese Reaktion war gefährlich. Wo sollten diese Träumereien denn hinführen?
Klar, dachte sie in einem Anflug von Selbstironie, sie konnte sich schon vorstellen wie sie mit Dareon Händchen haltend durchs Leben zog. Denn das würde alles sein, was sie tun konnten. Händchen halten. Cat wollte nicht küssen und bald würde sich herausstellen, ob sie es auch nicht konnte, nicht durfte. Und Sex ohne Küssen? Sie hatte es probiert, aber es war, als vollführte man Gymnastikübungen mit einem toten Fisch. Nicht gerade reizvoll.
Mit diesem Kerl jedoch…
Stopp! Sie musste sich auf die Fakten konzentrieren. Sie war vielleicht giftig und bei ihrer ersten und einzigen Begegnung hatte das Objekt ihrer Begierde nicht gerade froh ausgesehen. Sie dachte an die Situation im Türrahmen des pompösen Büros und sah noch ein Mal, wie Dareon erstarrt und vor ihr zurück gewichen war. Er hatte sie angeblickt, als wäre sie ein gefährliches Wildtier, das ihm völlig unerwartet im Flur begegnet war und als wäre das nicht schon beleidigend genug, hatte er kurz darauf äußerst gereizt gewirkt und war dann mehr oder weniger davon gerannt. Gerannt!
Obwohl das alles in allem kein besonders schmeichelhafter Abgang gewesen war und sie selbst sich wohl kaum in einer Situation befand, in der sie sich auch noch unmögliche romantische Verstrickungen leisten konnte, ließen sie diese hellen, graublauen Augen nicht los. Sie hatten die Farbe eines Winterhimmels, blass und klar zugleich, zurückhaltend und doch durchdringend.
Oh, Mist! Der Kerl hatte es ihr echt angetan. Mist, Mist, Mi…
„Was ist Mist?“
„Was? Oh…“ Mist, siewar gänzlich in Gedanken versunken gewesen und hatte die junge Frau neben sich völlig vergessen. Außerdem hatte sie anscheinend laut geredet, hoffentlich nur bei den letzten Worten. „Ich… ähm, ich dachte nur, naja. Es wird schwer werden, neue BHs in meiner Größe zu finden.“
„Ach so. Keine Sorge, mit etwas Geduld werden wir dieses Problem bestimmt lösen. Ich kenne mich mit so was aus und helfe dir, wenn du willst. Ich hab‘ da den Blick, verstehst du?“
„Den Blick?“ fragte Cat trocken.
„Aber ja! Den Blick.“
„Was für einen Blick hast du?“ Für Gefahr, rosa Kaninchen, den Röntgenblick, was?
„Na, ob Sachen passen oder nicht.“
Klar. „Dann solltest du mich wirklich begleiten“, entgegnete Cat, um dieses merkwürdige Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Wenigstens ließ nichts darauf schließen, dass sie mehr als ein paar Mal Mist ausgeplappert hatte. Blaisebetrachtete sie aufmerksam und hielt sie wahrscheinlich für ziemlich abgehalftert, dank der minutenlangen Gesprächspause und den Anstaltsklamotten. Cat stutzte, während sie ihrerseits zurückstarrte.
„Ist das deine… Gabe?“
Jetzt lachte die Andere lauthals los. Sie warf den Kopf dabei zurück und wäre beinahe über das Bettende gestolpert. „Hach, das wäre ja mal was…“, brachte sie zwischen zwei Schluchzern hervor, dann kicherte sie weiter, bis sie sich die Tränen wegwischen musste. Als sie sich wieder beruhigt hatte, strich sie sich erneut ein paar Strähnen des weichen Haares hinter die Ohren. „Leider liegt meine Kraft in einem anderen Gebiet. Ich habe eine sehr gut Nase und einen hervorragenden Geschmack. Die Sinne von Elevendern sind schärfer als die von Menschen, aber ich bin noch besser. Wie ein Jagdhund, oder ein Trüffelschwein, deswegen bin ich hier für die kulinarische Verköstigung zuständig.“ Sie grinste unbeschwert, als wäre das sowieso ihre liebste Beschäftigung.
„Ich sage dir Bescheid, wenn ich Zeit für unseren Bummel habe. Ich muss jetzt los, ich habe noch was zu erledigen, aber ich hoffe wir sehen uns bald wieder.“
Cat brachte die liebenswürdige Elevenderin zur Tür und sie verabschiedeten sich. „Ja, ich auch. Bis bald.“
Sobald Blaise weg war, legte Cat die geborgten Kleider zusammen und verstaute alles bis auf den Schlafanzug im Schrank an der Wand zum Badezimmer.
Eine Dusche schien ihr mittlerweile eine sehr verlockende Idee und dort fand sie alle nötigen Utensilien vor. Nachdem sie sich in der luxuriösen Badewanne ausgetobt hatte, fühlte sie sich schon wesentlich besser. Nicht mehr ganz so aufgeputscht und durch den Wind, wie vor ihrer Badeschaumorgie. Der heiße Dampf und die stickige Luft hatten ihren Kreislauf runtergefahren, sodass sie zum Umfallen müde war. Froh, sich endlich in der Horizontalen zu finden, kuschelte sie sich in die weichen Decken und schlief beinahe sofort ein.
Sie träumte von Schneeflocken.
Nach einer Stunde in diesem winzigen Büro hielt er es fast nicht mehr aus.
Kaum zu fassen, aber der Raum verlor wahrhaftig an Größe. Die Wände schienen immer näher zu kommen, es wurde dunkler und dunkler. Aber vielleicht war letzteres auch nur sein Augenlicht. Wenn sich eine Panikattacke anbahnte, bekam er einen Tunnelblick, der sich mit einem düsteren und verschwommenen Sichtfeld ankündigte. Auch die anderen Anzeichen dafür waren schon aufgezogen. Sein Hals fühlte sich an, als säße ein Elefant darauf, Hände und Füße wurden taub. Er schätzte, ihm blieben noch etwa fünfzehn Minuten, bevor er den Teppich knutschen würde. Die ganzen Emotionen im Raum machten ihn schwindlig, er musste verkrampft schlucken, da sein Magen rebellierte.
Romans innere Furcht wogte durch Slater hindurch, seine unterschwellige Qual brandete gegen ihn wie Wellen im Ozean. Sie zerrten an ihm und er musste beide Beine fest in den Boden stemmen, um dem Ansturm zu trotzen. Wenn Roman in seiner Nähe stand, war es noch schlimmer. Dann schwappte jede kleinste Nuance der Gefühlswelt des Puerto-Ricaners zu ihm über und je intensiver der Andere empfand, desto stärker tobte es auch in ihm. Was auch der Grund dafür war, dass Romans aktuelle Stimmung den Raum beherrschte. Er pulsierte vor Emotionen, blutete sie förmlich in die Atmosphäre in seiner näheren Umgebung. Die Luft war gesättigt von einer tiefen Trauer. Slater konnte es beinahe auf der Zunge schmecken und die beigemischte Zerrissenheit drohte auch ihn zu spalten.
Es war zum kotzen.
Er hatte keinen blassen Dunst, was seinen Kollegen so runter zog, aber er bekam die Auswirkungen davon detailgetreu mit. Im Vergleich zur Intensität von Romans Emotionen, waren Xandra und Ferroc nur kleine, schwelende Brände. Doch auch ihre Schwingungen waren da, vermischten sich mit einander und wurden zu einem Wirrwarr an Gefühlsregungen, die Slater jede Sekunde, die er in ihrer Gegenwart verbrachte, mit ihnen teilte.Wie ein beschissener Spion, ein dreckiger Voyeur.
Neben dem Tosen dessen, was die drei Menschen im Raum ausstrahlten, war auch dieser Gedanke ein Grund für seine momentane Verfassung. Er fürchtete in all dem zu ertrinken. Einzig die Tatsache, dass er das nun schon ein halbes Jahrhundert ertrug, war dafür verantwortlich, dass er nicht augenblicklich überwältigt wurde. Dass nicht eine der Emotionen von ihm Besitz ergriff, ihn beherrschte, wie ein Puppenspieler seine Marionette. Oder dass er so durcheinander war, dass er um sich schlug, gleich einem in die Enge getriebenen Tier. War er ein Mal an den Sog des Chaos verloren, war nicht vorherzusehen, was er tat.
Drei Leute waren noch knapp zu ertragen, ab fünf wurde es wirklich schwierig und mehr als acht konnte er kaum aushalten. Wenn er die Wahl hatte, blieb er allein, aber seine Aufgabe bei der Legion forderte Zusammenarbeit mit anderen und das Stellenprofil passte auch nicht gerade auf einen Soziophobiker. Wenn er sich in einer Menschenmenge aufhielt, oder länger mit seinen Teamkollegen unterwegs war, hatte er nur eine einzige Chance, sich vor dem Durchdrehen zu schützen. Er begrub alles Gefühl, jegliche Regung, wurde zu einem lebendigen Roboter, überzog sich mit einer undurchdringlichen Eisschicht. Nur so gelang es ihm, alles, was ihn bedrohte, abzudämpfen.
Das hatte natürlich auch einschneidende Folgen für seine Schlafsituation. Er konnte es komplett vergessen, die Nacht in einem Haus voller Leute zu verbringen. Dann strömten von überall die Schwingungen der Mitbewohner auf ihn ein, je näher sie waren, desto weniger konnte er sie ausblenden. Mit der Zeit hatte er gelernt, dass sein Radar in alle Himmelsrichtungen reichte und einen Durchmesser von etwa vierzig Metern hatte.
Zum Glück besaß Blackridge ein riesiges Gelände und genügend Orte, die noch innerhalb von Ferrocs Aura lagen, aber weit genug entfernt von den anderen Bewohnern waren, sodass in seinem Innern eine himmlische Stille herrschte. Nichts als er selbst und seine Gedanken.
Slater presste die Zähne zusammen, als ihn eine neuerliche Welle der Übelkeit überrollte und er zu seinem Entsetzen feststellen musste, dass auch das Fenster immer kleiner zu werden schien.
Roman entschied, sich auf der Couch am anderen Ende des Zimmers niederzulassen, wodurch er sich weiter von Slater entfernte und ihm so etwas Erleichterung verschaffte. Der Nachteil an der Sache war, dass er nun empfänglicher für Xandra und Ferroc wurde.
Der Leiter von Blackridge war glücklicher Weise ein ruhender Pol und sein immerwährender Gleichmut war ein Segen für jemanden mit einer Gabe, wie Slater sie besaß. Auch Xandra war im Verhältnis leicht auszuhalten. Sie wies ein festes emotionales Gerüst auf, ohne größeres auf und ab, konnte aber leicht aufbrausen. Nur hin und wieder entströmte ihr Wehmut und Frustration, so wie heute.
Die beiden Kollegen standen ein paar Meter weit weg am großen Schreibtisch und packten den Rucksack aus, den er heute Nacht von einem merkwürdigen, menschlichen Vogel in Harpers‘Quarter erbeutet hatte. Der Kerl mochte vielleicht ein Dieb sein, besonders schlau war er aber nicht.
Er hatte überhaupt nicht bemerkt, wie Slater ihm nach ihrem Zusammenstoß auf der Straße hinterher geschlichen war. Die Stimmung des Typen hatte sein Interesse geweckt, denn er hatte eine gespannte Erwartung auffangen können, aber auch Furcht und die Spur eines schlechten Gewissens. Letzteres hatte für Slater den Ausschlag gegeben, die Verfolgung aufzunehmen.
Die Beute, die er daraufhin ergattert hatte, brachte ihn nun dazu, die Anwesenheit der drei Kollegen in Kauf zu nehmen. Er hatte bereits einen Blick in das ramponierte No-Name-Rucksack-Modell geworfen. Zu seinem Erstaunen hatten ihm ein halbes Dutzend Goldbarren entgegen gelächelt, als er die Verschlussklappe geöffnet hatte. Neben dem blank polierten Edelmetall steckten drei Aktenordner und eine schmale silberne Box. Eine portable Festplatte, wie er nach kurzem Untersuchen festgestellt hatte.
In seiner Hütte am Rand des Grundstücks hatte er die Festplatte angeschlossen, aber sie war Passwort-geschützt. Er hatte es einige Male versucht und auch ein Programm drauf angesetzt. Ohne Erfolg. Er wusste jedoch, dass Ferroc mit dem Ding kurzen Prozess machen würde.Der war ein echter Crack, was die Entschlüsselung von Daten betraf.
Die Aktenordner hatten sich hingegen als leicht zugänglich erwiesen und enthielten eine Vielzahl von verschiedenen Dokumenten. Einer bestand ausschließlich aus persönlichen Briefen, in denen zunächst viel über eine bevorstehende Heirat und den Ausbau der Beziehungen zwischen der Familie des Schreibers und der des Empfängers stand. Alle waren lediglich mit XXX unterzeichnet. Die Schriftstücke späteren Datums erzählten von der Zufriedenheit beider Verwandtschaften über die verbesserte Zusammenarbeit, doch das letzte Blatt Papier war es, das Slater besonders im Gedächtnis geblieben war.
Der Schreiber äußerte seine Bedenken über ein jüngeres Ereignis, das ein schlechtes Licht auf die geschäftlichen Unternehmungen des Adressaten und damit auf beide Familien werfen könnte. Mit eindringlichen Worten bat der Verfasser darum, dieses Unheil abzuwenden.
Nach dem Durchstöbern dieses Ordners hatte Slater sich unwillkürlich gefragt, wen der menschliche Dieb erleichtert hatte und recherchierte die Adresse, zu der er dem Kerl gefolgt war. Er hatte beobachten können, in welchem Stockwerk die Wohnung des Opfers lag und so hatte die Suche nicht lange gedauert.
Der Name sagte ihm nichts, aber ohne viel Mühe hatte er in diversen Datenbanken Puzzlestücke gesammelt und die zugehörige Identität zusammengesetzt. Es handelte sich um den Besitzer eines Medizintechnik-Unternehmens, über den es außer dieser Information nicht viel zu lesen gab.
Also war er weiter durch den dicken Packen Papier gedrungen und hatte ein paar geschäftliche Unterlagen entdeckt, die stark nach einem Vertragswerk aussahen. Trotz seiner vielseitigen Interessen war Juristereinicht gerade sein Steckenpferd, das hatte ihn aber nicht von der Bemühung abgehalten, zu verstehen worum genau es sich handelte. Es schien ihm ein normaler Kaufvertrag, allerdings waren noch keine beteiligten Parteien eingetragen worden. Anhand der Seitenzahl musste er aber sehr detailliert sein, was bedeutete, dass es um einen großen Gegenstand ging, der veräußert werden sollte.
Jetzt, da er den Kram abgeliefert und Bericht erstattet hatte, wie er das Zeug in die Finger bekommen und was er den Tag über darüber herausgefunden hatte, wollte er nur noch raus hier.
„Braucht ihr mich noch?“
Ferroc sah auf, als hätte er schon vergessen, dass Slater neben der Tür stand.
Was für ein Luxus, dachte der. Einfach jemandes Anwesenheit nicht bemerken zu müssen, wenn die Person still war und man sie nicht ansah. Ein Zustand, an den er sich noch nicht mal erinnern konnte, obwohl er ihn ca. 16 Jahre lang erlebt hatte. Doch das war lange her und er hatte nicht vor, in alten Zeiten zu schwelgen. Für ihn hielten sie keine schönen Kindheitserinnerungen bereit, beinahe schien es ihm, als hätte er so etwas wie jugendliche Unschuld selbst nie besessen. Vielleicht war er ohne diese Eigenschaften zur Welt gekommen, hatte er sich doch ziemlich früh alleine durchschlagen müssen.
„Du kannst gehen, wenn du willst. Danke, für die gute Arbeit! Wir untersuchen das Zeug und morgen geben wir dir Bescheid, was dabei heraus gekommen ist.“ Ferroc ging mit der Festplatte um den Schreibtisch-Koloss herum und verkabelte das kleine Teil mit dem Computer, während Xandra einen Ordner an Roman reichte und dann selbst einen weiteren öffnete.
„Ok, dann bis morgen.“
Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete er erleichtert auf. Es war als hätte ein Sturm plötzlich nachgelassen. Die Intensität der Gefühle der Leute im Raum hinter ihm hatte schlagartig an Kraft verloren. Er freute sich schon auf die Abgeschiedenheit seines Heimes und machte sich auf den Weg. Doch auf halber Strecke entschied er, in der Küche vorbei zu gehen und sich noch einen Happen zu essen zu besorgen. Bei aller Härte, die er seinem Körper angedeihen ließ, all das Training, mit dem er ihn stählte und all die Bedürfnisse, die er ihm verwehrte, einfach weil er es gewohnt war, achtete er doch darauf, regelmäßig Nahrung zu sich zu nehmen. Um wehrhaft zu sein, musste er auf seine Konstitution achten und das war alles, was für ihn zählte. Nur ein Moment der Unachtsamkeit, der Schwäche und der Tod konnte womöglich schneller kommen, als man Scheiße sagen konnte. Da er aus naheliegenden Gründen darauf verzichtete zu den Mahlzeiten im Speisesaal zu erscheinen, beschaffte er sich sein Essen meist zu den unchristlichsten Zeiten selbst direkt aus der Küche. So standen die Chancen gut, dass er die Gesellschaft anderer Bewohner umgehen konnte.
Neben der Heftigkeit der Emotionen, die er von anderen Menschen auffing, verstörte ihn außerdem, dass regelmäßig Nuancen dabei waren, mit denen er nichts anfangen konnte, die er selbst noch nie aus eigenem Antrieb empfunden hatte. Liebe, Wärme, Vertrauen, alles nur Worte für ihn. Bilder und Gefühle, die er lediglich aus zweiter Hand kannte. Vielleicht hätte er traurig darüber sein sollen, dass er dies noch nie am eigenen Leib gespürt hatte, aber das war er nicht. Es war ihm gleichgültig, denn er wusste, er war gar nicht fähig dazu.
Zudem war er bisher niemandem begegnet, der ihn nicht irgendwann mit einer emotionalen Reaktion abgestoßen hatte. Bei den meisten Leuten klaffte das, was sie sagten und das, was sie tatsächlich empfanden himmelweit auseinander. Es war beinahe ein Volkssport, Gedanken und Gefühle zu verheimlichen und Slater hatte eigentlich gar kein Interesse daran, die Wahrheit aufzudecken. Abgesehen davon, dass er damit ungebeten in die Privatsphäre der Menschen in seiner Umgebung eindrang, hätte er oftmals lieber nicht gewusst, was er durch seine Gabe erfuhr. Manche Dinge wurden aus gutem Grund zurück gehalten.
Er wollte nichts über die dunkelsten Empfindungen seiner Kollegen wissen. In der Vergangenheit hatte es bei solchen Gelegenheiten nur böse Überraschungen gegeben. Auch deshalb hielt er sich fern. Er hatte vor langer Zeit den Glauben an das Gute verloren und er wollte nicht entdecken, dass die Leute, mit denen er eine Berufung teilte, genauso schlimm waren wie alle Anderen. So konnte er wenigstens die Illusion leben.
Als er im Erdgeschoss ankam und durch den dunklen Speisesaal lief, spürte er sofort, dass jemand in der Nähe war. Die Tische standen verlassen in Reih und Glied, frische Tischdecken waren aufgetan worden, doch ansonsten war der Raum leer. Ärgerlich grummelnd ging er weiter, wobei er bald sicher war, dass sich die Person, die er wahrnahm, in der Küche aufhielt. Genau das hatte er eigentlich vermeiden wollen. Noch nicht mal mitten in der Nacht konnte man sich auf Blackridge unbemerkt etwas zu essen holen.Hatte man hier etwa nie seine Ruhe?
Wut stieg unaufhaltsam in ihm auf, aber er legte sich seine bekannte Eisschicht zu, während er die Tür zu seinem Ziel wenig sanft aufstieß.
Doch als er eine junge Elevenderin an einer der stählernen Zeilen der Großraumküche entdeckte, verpuffte sein Zorn sofort wieder.
Er kannte die junge Frau vom Sehen und wusste, dass sie in der Küche arbeitete, aber er war ihr immer in großen Gruppen begegnet, sodass er ihr Gefühlsgebilde noch nie separat empfangen hatte.
Wie auch immer sie sonst drauf sein mochte, in diesem Moment strahlte sie vor Glück. Er lief förmlich in eine Wand dieser Emotion und blieb abrupt stehen, während sein eigener Ärger vor der Intensität der Empfindung dieser Frau kapitulierte. Er musterte sie, wobei ihm auffiel, wie klein sie war. Sie besaß sehr auffällige Kurven und eine extrem schmale Taille, dabei wirkte sie gesund und robust, aber gleichzeitig sehr weiblich. Die Qualität und Reinheit dessen, was er von ihr empfing, erstaunte ihn. Er hatte selten jemanden erlebt, der so verdammt glücklich war.
Unwillkürlich fragte er sich, warum sie wohl strahlte wie ein Honigkuchenpferd, trotz seiner Vorsätze, sich aus den Angelegenheiten anderer herauszuhalten. Sie offenbarte keine weiteren Hinweise zu dieser Frage und war damit beschäftigt, mit einer riesigen Rührschüssel und Schneebesen zu hantieren. Um sie herum standen einige Ingredienzien auf der Anrichte verstreut und gerade griff sie nach einem Packen braunen Zucker und ließ etwas davon in die Schüssel rieseln. Als sie wieder rührte schwang sie ihren Hintern und plötzlich begann sie, laut und falsch zu singen. Keine ganzen Sätze, sondern immer nur Bruchstücke und… ach so, sie hatte kleine weiße Knöpfe in den Ohren und hörte Musik aus einem Player. Ihre Bewegungen wurden immer ausladender und ihre Stimme lauter. Sie schien mit jeder Sekunde noch mehr Glück in den Raum zu entladen.
Slater hätte vielleicht gehen sollen, aber er vergaß den Grund, warum das das Beste gewesen wäre. Er konnte nicht anders und trat näher heran.Verwundert bemerkte er, wie die Wärme begann, seine Eisschicht zu schmelzen. Zunächst bekam er eine Scheiß-Angst und wollte einen Rückzieher machen, aber dann erkannte er, dass sich das, was da zu ihm durchsickerte, verdammt gut anfühlte. Zuerst langsam, dann immer schneller ließ er seine Schotten fallen und genoss, wie die Emotionen ihn durchströmten und erfüllten. So etwas hatte er noch nie zuvor gefühlt. Ein paar Augenblicke lang erlaubte er sich sogar, in dem geborgten Wohlgefühl zu baden.
Mann, was für ein erbärmlicher Schmarotzer er doch war, ein Parasit, der anderen aussaugte, was er selbst nicht besaß. Aber verdammt, er war nicht im Stande, es sich zu verwehren. Es fühlte sich so gut an, so unschuldig und voller positivem Glauben, potentiell verheerend in seiner Mächtigkeit. Bei allem was er in seinem langen Leben gesehen hatte, diese Frau war in diesem Moment absolut einzigartig.
Da drehte sie sich schwungvoll tanzend mit der Rührschüssel im Arm um und gefror plötzlich zum Standbild. Erschrocken schnappte sie nach Luft, als sie ihn erblickte. Unvermittelt intensivierte sich ihr Gefühl noch einmal, doch jetzt konnte er auch einen Hauch von Sehnsucht erschmecken. Es war erstaunlich, dass sie immer noch vor Glück strahlte, obwohl sie von Slater überrascht worden war. Er fragte sich unwillkürlich, wonach sie sich wohl sehnen mochte, wo es ihr doch augenscheinlich an nichts fehlte.
Von vorne sah sie noch besser aus als von hinten. Sie hatte einen klasse Hintern, ein Prachtexemplar, keine Frage. Aber ihre Vorderansicht glich der Venus von Raffael. Sie besaß ausladende, weibliche Hüften und große, schwere Brüste, dazu die zierliche Körpermitte, einfach sündhaft erotisch. Beschämt fiel ihm auf, dass er beinahe sabbernd diesen phänomenalen Körper betrachtete und richtete sein Augenmerk schnell auf ihr Gesicht.
Nur verschaffte ihm das keine Erleichterung. Riesige braune Augen fixierten ihn unablässig, während sie an der vollen Unterlippe knabberte. Ihr Mund war genauso üppig, wie der Rest ihrer weiblichen Attribute. Das braune Haar war leicht krause, trotzdem wirkte es sehr weich, wie es ihr auf die Schultern fiel und einige Strähnen sanft ihr Schlüsselbein umspielten.
Er erwartete, dass ihre Stimmung bald in Unbehagen umschlagen würde, wie das bei den meisten Menschen geschah, die ihm begegneten und spürten, was er mit ihnen machte. Doch statt seine Erwartungen zu erfüllen, erwachte die Elevenderin aus ihrer Starre, stellte sie Schüssel auf der Theke ab und nahm die Knöpfe aus den Ohren.
„Hi, ähm… kann ich dir irgendwie helfen?“
Slater schüttelte benommen den Kopf. Gott, diese Stimme war so schön. Das hatte er gar nicht vermutet, wenn man danach ging, wie sie sang.
„Du bist Vincent Slater, oder?“
Er spürte ihre aufziehende Neugier und war daneben selbst irritiert. Er achtet darauf, niemandem aufzufallen und sprach eigentlich nur mit seinen Teamkollegen. Woher also wusste sie wie er hieß, sogar den Vornamen? Misstrauisch musterte er sie.
„Stimmt genau, Schätzchen. Und wer zum Teufel bist du, dass du diesen Namen kennst?“ Er war um einen harten Ton bemüht. Seiner Erfahrung nach, konnte aus dem Interesse Anderer an ihm selten etwas Gutes entspringen. Selbst wenn die Verpackung noch so verführerisch erscheinen mochte.
Kurz war da ein Anflug von Verunsicherung, als er ihr die groben Worte entgegen schleuderte, aber sie blieb weiterhin glücklich und sehnsüchtig. Ihr Blick wanderte über sein Gesicht, blieb an den Haarsträhnen hängen, die sein rechtes Auge verdeckten. Er kämmte es immer so, um die Leute in seiner Umgebung nicht zu verschrecken. Noch mehr Neugier waberte zu ihm herüber, anstatt, dass sie sich abgestoßen fühlte, wie er beabsichtigt hatte. Toll. Sie war der hartnäckige Typ Frau.
„Ich heiße Blaise. Ich kümmere mich um die Einkäufe und bin Köchin. Ferroc sagte, ich soll immer darauf achten, dass für dich noch was im Kühlschrank steht. Daher kenne ich deinen Namen.“
Uuuups. Er räusperte sich verlegen. „Ach, so,… dann, danke.“ Er wandte sich ab, um zu der großen Kühlkammer ganz hinten im Raum zu spazieren. Blöderweise kam Blaise ihm nach.
„Ich habe mich schon gefragt, wann du dir dein Essen holst. Warum kommst du eigentlich nie zu den Mahlzeiten wie die anderen?“
„Zu viele Menschen“, murrte er in dem steten Bemühen, ihre Wärme und Zutraulichkeit zu ignorieren. Obwohl er die Gier nach Informationen jetzt sogar in ihrer Stimmer hörte, schwang auch mütterliche Fürsorge darin mit. Das erschwerte es Slater noch, sich vor diesen Emotionen zu verschließen, sie nicht weiter aufzusaugen und sich zu eigen zu machen. Sie füllte die Luft immer noch mit ihrer positiven, glücklichen Aura und er sog sie ein wie ein Erstickender, als könnte ihn das wiederbeleben.
„Du magst keine Menschen?“, fragte sie jetzt und kleine Tropfen von Mitleid regneten auf sein Haupt herab. Das brachte ihn nun doch ein wenig auf. Was bildete sie sich eigentlich ein, ihn bemitleiden zu müssen? Fand sie ihn derartig jämmerlich? Ha, dann hatte sie mehr Durchblick als die anderen, die sich in seiner Gegenwart schlicht unwohl fühlten.
„Nein.“ Er hoffte, das war ein eindeutiger Hinweis und öffnete die Kühlkammer. Nachdem das Licht automatisch angegangen war, suchte er in den Regalen nach den zugedeckten Tellern, die regelmäßig für ihn bereitgestellt wurden. Von ihr, wie sich eben herausgestellt hatte.
Sie befanden sich wie immer am angestammten Platz und er inspizierte kritisch, was es heute gegeben hatte. Es sah aus wie bunter Nudelauflauf. Als er aus dem Kühlraum kam, um den Teller in die Mikrowelle zu stellen, stand Blaise am Eingang und beäugte ihn genau. Er sah schnell weg. Augenkontakt war nicht gut.
„Wo wohnst du denn dann? Im Haus wohl eher nicht, wenn du was gegen Gesellschaft hast.“ Sie schritt langsam und mit wiegenden Hüften zu ihrem Arbeitsplatz zurück und nahm die Tätigkeit von vorhin wieder auf, ohne Slater jedoch aus den Augen zu lassen. Er fühlte sich beobachtet und das nervte ziemlich. Menschen beobachteten, kurz bevor sie angriffen oder wenn sie auf jemanden standen, aber sexuelles Begehren spürte er im Moment nicht bei ihr. Das hätte ihn jetzt auch stark gewundert.
„Nein, nicht im Haus“, unternahm er deshalb den halbherzigen Versuch, das Gespräch zu unterbinden. Er wollte nicht mit ihr reden, nur ihr Glück spüren, das ihr aus allen Poren troff. Die Mikrowelle piepte und er nahm sein Essen heraus. Es war Zeit zu gehen und er war zwar erleichtert, aber dennoch merkwürdig wehmütig deswegen.
„Wenn du noch ein paar Minuten Zeit hast, gibt es eine frische Ladung Cookies. Ist ein neues Rezept und du wärst so zu sagen der erste Tester.“ Sie zwinkerte ihm verschmitzt zu und in ihrer Aura glomm ein Funke von etwas auf. Er glaubte, dass es Nervosität war, aber der kurzweilige Schimmer wurde von der Sehnsucht überdeckt, die sie immer stärker abstrahlte.
Wieso zum Teufel war sie weithin so freundlich zu ihm?
Nachdenklich inspizierte er ihr Gefühlsgebilde. Da war noch etwas, aber er konnte es unter all dem Anderen nicht klar deuten. Das machte ihn stutzig und gleichzeitig noch faszinierter, als er es ohnehin schon war. Einen Augenblick lang war er tatsächlich hin und hergerissen. Er glaubte es selbst kaum und bemerkte, dass auch sie es registrierte und mit aufkeimender Hoffnung quittierte.
Moment, wollte sie ihn etwa hier haben?
Ihre Augen begannen zu leuchten, als sie begriff, dass er unschlüssig wankte.
Verdammt, diese Frau verlangte tatsächlich nach seiner Gesellschaft! Noch während er diesen Umstand erfasste, wurde ihm auch klar, was sie unter ihrer Positivität versteckte.
Es war eine zarte, aber stetig glimmende Zuneigung.
Wie geschlagen torkelte er zurück. Entsetzt starrte er sie an und fand sie nun plötzlich widerwärtig. Sie musste sehr verkommen sein, wenn sie so etwas in seiner Nähe empfand. Er verzog angewidert den Mund.
„Lass das sofort bleiben! Das ist widerlich!“
„Wie bitte?“, keuchte sie erschrocken und fasste sich unwillkürlich an den Hals. Ihre rosigen Lippen standen offen und mit einem Mal fiel das Gefühlsbarometer im Raum, schlagartig schlug die Stimmung um. Trauer.
„Magst du… etwa keine Cookies?“
Sie war tapfer, das musste er ihr lassen. Also sagte er es noch deutlicher.
„Ich rede nicht von den Cookies, sondern von dir!“ Damit drehte er sich um und floh aus der warmen Küche.
Draußen angelangt, stürzten die Gefühle des ganzen Hauses unvermittelt auf ihn ein, überrollten ihn geradezu wie ein donnernder Güterzug. Noch während Slater verzweifelt versuchte das Eis wieder hoch zu ziehen, wurde ihm noch ein Mal bewusst, dass er drinnen keinerlei Schilde getragen hatte. Er war sehr verwundbar gewesen und eine kurze Zeit lang hatte ihm das irgendwie sogar gefallen.
Der nächste Morgen kam für Cats Geschmack viel zu schnell. Die Strahlen der Sommersonne schummelten sich durch die Lücken zwischen den Vorhängen, die sie am Abend zuvor noch vorgezogen hatte. Einer der hellen Lichtflecke blendete sie schließlich, als der goldene Ball am Himmel ein Stück weiter gewandert war, womit ihr gemütliches Dösen dann auch ein Ende hatte. Seufzend hievte sie sich aus dem Bett und schlurfte ins Badezimmer, um sich frisch zu machen. Morgens war sie lange verschlafen und konnte auch ein wenig zickig werden. Sie ließ sich Zeit und legte auch wieder Makeup auf, wie sie es sonst zu ihrem Goth-Look getragen hatte. Mascara und Cajal, die sie dazu benötigte, fand sie hinter dem Spiegel über dem Designerwaschbecken.
So gewann sie ein Bisschen von ihrer Identität zurück, die ihr gestern erneut genommen worden war. Wehmütig wünschte sie sich dunkle Kleidung herbei, zog sich dann aber ergeben das waldgrüne Sweatshirtkleid über. Es war zwar weit, aber die Länge schien in Ordnung zu sein. Der Saum reichte ihr bis knapp an die Knie. Die Jeanshose wollte sie erst gar nicht probieren, dafür hätte sie bestimmt einen Gürtel gebraucht. Sich unfreiwillig vor Fremden zu entblößen konnte so nicht nur ein dummer Teenager-Alptraum sein.
Der schwere Wecker auf dem Nachttisch zeigte neun Uhr, als sie in die hellbraunen Schnürstiefel schlüpfte und ihr Schlafgemach verließ. Ob sie noch auf ein Frühstück hoffen konnte, wusste sie nicht, doch sie befand, dass es einen Versuch wert war. Es behagte ihr nicht, in einen vollbesetzten Speisesaal zu marschieren, aber sie war daran gewöhnt, dass man sie argwöhnisch beäugte. Was sollte schon passieren, das schlimmer war als das?
Unten angekommen orientierte sie sich in der großen Haupthalle und folgte dann den Schildern nach rechts durch ein großes zweiflügliges Portal. Der Raum, den sie betrat war weitläufig und lichtdurchflutet, ein Tisch mit cremeweißen Decken reihte sich an den Nächsten. Am hinteren Ende war vor einem weiteren Durchgang ein Buffet aufgebaut.
Sie hatte sich anscheinend eine Zeit ausgesucht, in der die meisten Bewohner des Hauses frühstücken wollten, denn fast alle Tische waren besetzt, vor den Speisen tummelten sich die Leute. Es war so viel los, dass niemandem auffiel, wie sie sich durch die Reihen schob und anscheinend kannten sich auch nicht alle gegenseitig. Einige saßen in Grüppchen zusammen, während andere sich nur höflich grüßten. Das passte ihr ganz gut und so nutzte sie die Gelegenheit, um sich unter die Menge zu mischen.
Sie fädelte sich in die Schlange vor dem Buffet ein und tat sich von allem auf, was sie finden konnte. Stirnrunzelnd bemerkte sie den riesigen Appetit, wo sie sonst Nahrung nur wenig Beachtung schenkte. Da es so viel Angebot gab, war der Teller bald überladen und sie musste ihn vorsichtig zu einem Tisch an der Wand neben einem Fenster balancieren.
Kaum hatte sie sich gesetzt und ein paar Happen in den Mund geschoben, traten Xandra und Christian hinter die beiden Stühle, die ihr gegenüber standen. Zusammen hätten sie dem Cover der Vogue entsprungen sein können, obwohl beide nur Jeans und T-Shirt trugen. So viel Perfektion war erschreckend und kurz überlegte Cat, ob sie vielleicht Geschwister waren. Beide hatten sie dieses hellblonde Haar und sahen aus, als wären sie griechische Götter. Aber dann erinnerte sie sich an den Schlagabtausch zwischen den beiden und die untergründige Spannung, die in der Luft gelegen hatte. Das passte wohl kaum zu Bruder und Schwester.
„Morgen Cat, hast du gut geschlafen?“, erkundigte sich Xandra, zog einen Stuhl vor und setzte sich. Chris folgte ihrem Beispiel. Seine Bewegungen warenelegant und gleichzeig lässig. Verblüffend, wie er das wohl hinbekam?
„Ja. Die Zimmer sind wirklich schön.“
„Du solltest erst Mal den Rest des Hauses sehen“, warf Christian ein und schnappte sich eine Erdbeere von Cats Teller. „Ich führe dich gerne herum!“ Lasziv biss er in das rote Fruchtfleisch und blickte ihr dabei direkt in die Augen. An seinen für einen Mann lächerlich zart aussehenden Lippen blieb ein roter Schimmer zurück, den er gleich darauf mit einem langsamen Streicheln der Zunge wegleckte.
Cat erzitterte irritiert unter der Charme-Offensive. Zum einen war sie so viel Aufmerksamkeit nicht gewohnt, zum anderen war er, obwohl er lediglich hübsch anzusehen war, absolut entwaffnend mit diesem betörenden Gehabe. Sie war nicht anfällig für Flirts, doch selbst sie ließ das nicht kalt. Wobei ihr eher ein wenig unwohl dabei wurde, denn dieser Moment war nicht annähernd so überwältigend, wie der, in dem sie gestern diesem großen Wikinger-Typen begegnet war. Nachdenklich wandte sie sich Xandra zu, die Christian mit einem missbilligenden Blick fixierte.
„Weißt du, manchmal bist du nicht zu ertragen!“, zischte sie ärgerlich und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
„Hmm, was meinst du, Cat? Klingt das nicht nach Eifersucht?“ Chris grinste selbstzufrieden und zwinkert Cat zu. Sie konnte nicht verhindern, dass sie innerlich irgendwie darauf reagierte. Er weckte das Schulmädchen in ihr und wahrscheinlich auch in vielen anderen Frauen. Xandra lachte unterdessen höhnisch auf.
„Oh bitte, schreib’s auf deinen Wunschzettel und schick’s dem Weihnachtsmann. Der dürfte so ziemlich der einzige sein, den das interessiert.“ Sie schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust, kühl starrte sie ihm entgegen.
„Bist du dir da auch ganz sicher?“, fragte Christian leise und in einem aufreizenden Tonfall, während er den Arm auf ihrerStuhllehne ablegte und sich langsam zu ihr rüberbeugte, bis er ganz nah an ihrem Gesicht war. Prüfend musterte er sie eindringlich, während er fortfuhr.
„Cat, ich würde dir auch ganz gern den Pool zeigen, da gibt es eine Saunalandschaft.“
Bei seinen Worten blickten sich die beiden unverwandt in die Augen und Cat konnte selbst aus dieser Entfernung sehen, wie etwas von Xandras Coolness bröckelte. Sie schmunzelte, als sie immer mehr den Eindruck gewann, dass es zwischen den beiden knisterte. Doch sogleich schob Xandra den Schönling von sich und wandte das Gesicht ab.
„Spar‘ dir das, Foxi. Diese Spielchen wirken vielleicht bei den ganzen hirnverbrannten und notgeilen Tussis, aber das hier ist eine andere Liga. Ich bin eine Nummer zu groß für dich, kapiert?“Sie lächelte ihn abschätzig an und wandte sich dann Cat zu, ohne ihn noch Mal zu Wort kommen zu lassen.„Ich habe deine Testergebnisse ausgewertet.“
Ihr Tischnachbar kommentierte das Ablenkungsmanöver nur mit einer erhobenen Augenbraue.
Cat, die eben noch entspannt an ihrem Frenchtoast geknabbert hatte und dem unterhaltsamen Geplänkel gefolgt war, zuckte zusammen. Urplötzlich wurde ihr eiskalt und ihr Magen verkrampfte sich zu einem schmerzhaften Knäuel.
„Soll ich den Lustknaben hier loswerden, bevor wir das besprechen?“
Cat schüttelte benebelt den Kopf, sie wollte einfach nur wissen, was los war. Endlich. Sie wollte keine Sekunde mehr warten.
„Na gut. Er wird ohnehin die Klappe halten, nicht wahr Chris?“ Sie rammte ihm den Ellenbogen in die Seite. Sein empörter Gesichtsausdruck verzog sich schmerzhaft und er keuchte auf.
„Alles was du willst, Baby!“, stieß er mit gepresster Stimme hervor. „Du hast wohl noch nie was von dem Spruch >Mit Honig fängt man Fliegen< gehört?!“ Dabei rieb er sich die getroffenen Rippen. „Du solltest über eine Karriere als Domina nachdenken, X!“
„Wenn ich dann kleine Weicheier wie dich versohlen kann, überlege ich mir das tatsächlich mal und jetzt halt‘ die Klappe.“
Als sie sich zu Cat drehten, grinsten beide glücklich, als wäre nichts weiter gewesen. Die Streitereien schienen ihnen sogar zu gefallen. Aber Cat war zu erpicht auf Xandras Bericht, als dass das Theater sie weiterhinfesseln konnte.
„Können wir bitte beim Thema bleiben?“, bat sie forsch und biss sich so gleich auf die Lippen, als sie den erstaunten Mienen begegnete. „Tut mir Leid, es ist nur… das ist mir sehr wichtig.“
„Verständlich!“ Xandra bedachte Christian mit einem warnenden Blick, weil er schon dabei war, den Mund zu öffnen, um irgendetwas zu erwidern.
„Also, die Sache ist die…“ eröffnete sie schließlich. Sie sprach vorsichtig und wählte ihre Worte mit Bedacht. „…, im Grunde waren alle Tests negativ.“
Cat stockte der Atem. Negativ? Das bedeutete doch schlecht, oder?
„Schau‘ nicht so entsetzt! Das heißt, dass ich in den Speichelproben und an den Teststäbchen aus deinem Mund nichts Ungewöhnliches gefunden habe. Auf der Agarplatte waren nur normale Hautkeime, aber dafür ist etwas anderes passiert.“
Jetzt horchte Cat gespannt auf, ihr Herz pochte immer schneller.
„Der Abdruck von deinen Lippen auf der Platte ist braun geworden.“
Cat erinnerte sich an die undurchdringliche rote Farbe der Masse in der Petrischale.„Wie kommt das?“, fragte sie verwirrt.
„Der Agar besteht zu einem großen Teil aus roten Blutkörperchen und anscheinend hat der Kuss die Zellen zerstört, sodass das Eisen freiwerden und oxidieren konnte.“
Oh… nein.
„Es tut mir wirklich Leid Cat, aber dein Kuss ist wohl etwas zerstörerisch gegenüber Blutzellen. Wie gefährlich genau, kann ich nicht sagen, dazu müsste ich mehr Versuche machen, aber ich denke, der Schleimhautkontakt führt zur Übertragung des Giftes.“
Cats Ohren klingelten. Wie betäubt saß sie da.
Nach all der Zeit, in der sie sich für geisteskrank gehalten hatte, in der sie an ihrer eigenen Wahrnehmung gezweifelt hatte, hatte sie nun endlich die Antwort. Sie war erleichtert, aber gleichzeitig beschwerte sie das Wissen darum, dass sie tatsächlich zwei Menschen getötet hatte. Sie hatte es nicht gewollt, aber sie war schuld. Diese Erkenntnis brach über sie herein und schockierte sie so sehr, dass ihr bewusst wurde, wie sehr sie das alles bisher heruntergespielt hatte. Ihr war nach schreien zumute, als diese Information langsam immer weiter in ihr Gehirn sickerte. Sie würde damit leben müssen, eine Mörderin zu sein. Eine Mörderin auf freiem Fuß. Sie hatte es immer geahnt, aber es war noch ein mal eine ganz andere Sache, wenn man seine Befürchtungen bestätigt bekam. Dann taten sie diesen einen großen Schritt, heraus aus der Paranoia und hinein in die wahre Welt, wurden Realität.
Und sie würde nie jemanden aus voller Liebe küssen dürfen. Auch hier waren es völlig verschiedene Paar Schuhe, ob man sich freiwillig gegen etwas entschied, oder man es nicht durfte. Einen Moment lang sträubte sie sich, die Wahrheit anzunehmen, sie war zu erschreckend, zu reich an Konsequenzen. Mein Gott, sie war tödlich, wie eine Schlange! Für diese Tiere hatte sie noch nie Sympathien gehegt. Ganz toll.
Insgesamt hielt sich ihre äußerliche Reaktion wohl in Grenzen. Sie heulte und tobte nicht, wahrscheinlich war sie nur ein wenig blass um die Nase geworden, denn die anderen beiden beobachteten sie besorgt.Es überwog einfach ihre Erleichterung, endlich eine Erklärung zu haben. Vielleicht hätte sie sich selbst zermartern müssen und vielleicht war sie ein schlechter Mensch, weil sie es nicht tat, aber sie konnte gerade zu fühlen, wie sich der Nebel um sie lichtete und sie endlich halbwegs klar sehen konnte. Als wäre sie ihr ganzes Leben lang kurzsichtig gewesen und hatte nun die Sehschärfe eines Adlers. Das große Ungewisse, das stets wie eine schwarze Wolke über ihr geschwebt hatte, war weg und nun konnte sie erkennen, wovor sie sich die ganzen Jahre gefürchtet hatte. Irgendwie machte das ihre Angst kleiner, da sie jetzt wusste, womit sie es aufnehmen musste. Unvermittelt begannen Cats Gedanken sich zu überschlagen, als ihr noch etwas einfiel, das ihr bisher gar nicht in den Sinn gekommen war.
„Aber…, ich verstehe das nicht, wenn ich jetzt zweifelsfrei eine Elevenderin bin, sind meine Eltern dann auch…?“
Xandra schüttelte das Haupt. „Nicht zwangsläufig. Das mit den Kindern ist bei uns kompliziert. Wenn wir zur Welt kommen, steht fest, dass uns irgendwann ein Gegenstück geboren wird, ein Seelenpartner, wir nennen das Elevation. Das Prinzip ist tief in unserem Volk verankert. Die meisten Elevenderkinder stammen aus diesen Beziehungen, nur ein kleiner Prozentsatz entsteht aus gemischten oder rein menschlichen Verbindungen. Ich kann dir nicht sagen, zu welcher Spezies deine Eltern gehören, aber wenn du willst, können wir das nachforschen.“
Cats Herz pochte immer noch schnell und sie fühlte sich erneut, als hätte sie sich in ein Märchen verirrt. All das Gerede von Seelenverwandtschaft machte die Sache noch surrealer, zumal sie sich nicht vorstellen konnte, wie das funktionieren sollte. Doch als die blonde Elevenderin erneut ihre Erzeuger erwähnte, war diese Frage schließlich auffallend schmerzlich und Cat wollte eigentlich gar nicht genauer darüber nachdenken. Waren ihreEltern ein Teil des Elevendervolkes oder nicht?
In deren Haus war nie etwas Ungewöhnliches vorgefallen, Gott bewahre, das hätte ja die Familie in Verruf bringen können. Und wer hätte dies dann den Nachbarn erklärt? Patricia hätte wahrscheinlich sofort eine Dinnerparty geschmissen. Ihre Mutter und ihr Vater waren ihr immer wie die Spießbürger schlechthin vorgekommen, aber diesen Leuten hier sah man auch nicht an der Nasenspitze an, dass sie besondere Kräfte besaßen. Schließlich nickte sie zustimmend, es war ja nicht so, als ob diese Befürchtung bezüglich ihrer Erzeuger etwas an der Vergangenheit geändert hätte.
„Cat, du brauchst keine Angst zu haben. Falls du es noch nicht gemerkt hast, die Leute hier beherrschen ihre Kräfte. Ich will dir nicht zu große Versprechungen machen, aber du kannst das höchstwahrscheinlich auch lernen.“ Mit mitfühlender Miene langte Xandra nach ihrem Arm und tätschelte ihn.
Cat sah in das freundliche Antlitz und etwas Hoffnung keimte in ihr auf.„Höchstwahrscheinlich…?“
„Es gibt Fälle, in denen klappt es nicht, aber das ist selten.“ Die blonde Ärztin war wieder ganz in ihrer Rolle, spendete Trost und strahlte Zuversicht aus.
„Schau‘ mal“, warf Christian jetzt ein, nachdem er sich die ganze Zeit brav im Hintergrund gehalten hatte. Er entfernte die gelbe Rose aus der Blumenvase, die in der Mitte des Tisches stand und hielt dann das Porzellan hoch. Langsam kippte er es. Cat erwartete eine Überschwemmung und brachte schon ihren Teller in Sicherheit, aber das Wasser floss in die Luft und schwebte dann vibrierend vor dem bildschönen Elevender. Er starrte konzentriert auf die fluide Masse und ganz langsam geriet Bewegung in die kleinen Schlieren auf der Oberfläche. Molekül für Molekül begab sich auf Wanderschaft. Was zu Beginn wie eine Pfütze ausgesehen hatte, verformte sich zusehends. Zuerst entstand ein langer Stiel mit einer Kugel obendrauf, es hatte zunächst große Ähnlichkeit mit einem Lutscher. Dann zeigten sich Kanten und Vertiefungen, ein Blütenkelch war zu erkennen, aus dem Stil schossen durchsichtige Blätter und Dornen. Das Gebilde gewann immer mehr an Tiefe, wurde detailierter.
Nach nur wenigen Momenten hatte Christian ein Ebenbild der gelben Rose aus Wasser gebildet. Geisterhaft hing sie über dem Tisch, ihre Konturen zitterten und sie schwankte ein wenig als beugte sie sich einem rauschenden Wind.
Wie verzaubert betrachtete Cat das erstaunlich filigrane 3D-Kunstwerk. Die Rosenblüte war atemberaubend schön. Das Wasser brach die einfallenden Lichtstrahlen in allen Farben des Regenbogens. Vorsichtig streckte sie die Finger nach einer Dorne aus. Aber in dem Augenblick, als ihre Haut auf Wasser traf, zerfiel die magische Skulptur und landete platschend auf dem Tisch, wo die Stoffdecke sie aufsog.
„Ich habe über ein Jahrhundert gebraucht, bis ich das konnte“, erklärte Christian. Damit versuchte wohl auch er, ihr Mut zu machen, wenn auch auf eine äußerst verkorkste Art. Xandra schien das ähnlich zu sehen.
„Er ist nicht gerade ein Schnellchecker, bei dir geht das wahrscheinlich viel schneller!“
„Wir werden so alt?“, rief Cat entgeistert aus, als ihr auffiel, dass er Jahrhundert gesagt hatte.Doch sie wurde von Christian völlig übergangen.
„Sie könnte mit D üben…“ Auf seinem Gesicht entstand ein verschlagener Ausdruck und wieder setzte er dieses Lächeln auf, das zu seiner augenscheinlichen Arroganz passte.
Diesmal wirkte Xandra nicht abgeneigt.„Das könnte sogar funktionieren. Beeindruckend, dass hin und wieder doch etwas Blut in deinen Kopf fließt, Chris.“
„Danke, aber da brauche ich es eben nicht so häufig…“ Er zuckte nur gelangweilt mit den Schultern.„Dareon ist immun gegen Elevenderkräfte und er spürt, wenn sie gegen ihn eingesetzt werden. Das ist seine Gabe.“
Dareon.
Cats Rücken wurde von einem Schauer überzogen, als der Name fiel und schon hatte sie den Gedanken an ein ziemlich langes Leben vergessen. Sofort hatte sie ein Bild von ihm vor Augen, das ihren Puls unwillkürlich beschleunigte. Wenn sie an ihn dachte, empfand sie die Tatsache, dass sie giftig war als einen echten Verlust, aber da begriff sie, was Chris eben gesagt hatte. Dareons Gabe machte ihn unverwundbar gegenüber Elevenderkräften, also auch gegen ihre?
„W… was soll ich…?“
Christians Grinsen wurde immer unverschämter. „Sieh‘ es als Training an. Du musst lernen, wie du deine Gabe lenken kannst und Dareon ist ein… guter Lehrer.“
„Muss bei dir immer alles so schmutzig klingen?“
„Süße, das liegt nicht an meinen Worten, sondern an deinen Gedanken.“
„Aber, Moment…“, unterbrach Cat bevor sich die beiden wieder kabbeln konnten. „Worum geht’s hier eigentlich?“
„Zungenakrobatik, Lippentango, nenn‘ es wie du willst…“ Christian spitzte die Lippen. Unter dem Tisch rumpelte es gedämpft und er fuhr heftig zusammen. Anscheinend hatte Xandra ihn getreten.
Zu Cat sagte sie aber im Engelston: „Rein zu Übungs-Zwecken natürlich. Sieh‘ mal. Ich weiß, du hast sehr unter deiner Gabe gelitten. Das ist deine Chance, ein normales Leben zu führen.“
Cat horchte auf. Das klang alles zu schön um wahr zu sein. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl herum, während sie daran dachte wie es wäre, frei von diesem Fluch durchs Leben zu gehen. Freudig begann ihr Herz zu pochen und ihre Mundwinkel stiegen immer höher. Der Gedanke war befreiend, sie fand kein anderes Wort dafür, und ein Wunsch, den sie nie zugelassen hatte, rückte plötzlich in greifbare Nähe. Mit einem Mal brannte sie auf etwas, das sie seit ihrer Jugend gefürchtet hatte. Und dann sollte sie das ganze auch noch mit Hilfe eines Kerls erreichen, der ihr mehr als nur unter die Haut drang. Ohne ihr Zutun begann sie dümmlich lächelnd zu fantasieren.
Seine Lippen, die an ihrem Hals lagen, langsam nach oben glitten, ihr Kinn streiften und über ihrem Mund schwebten. Sie griff in das weiche Haar und zog…
„Siehst du, der Gedanke gefällt ihr!“
„Sag‘ das nicht so anzüglich! Natürlich gefällt es ihr, ohne Angst jemanden küssen zu können. Das müsstest du doch am besten verstehen. Hättest du ihre Gabe, wie würdest du dann nur deine Zeit totschlagen?!
Also Cat, was meinst du? Wir könnten Dareon zumindest mal fragen.“ Xandra lächelte ihr aufmunternd zu.
Bevor sie sich zurück halten konnte, nickte sie eifrig und lief prompt knallrot an. Plötzlich war unglaublich nervös, quasi überrollt von dem Sehnen nach dieser Form des körperlichen Kontakts, nachdem sie es so lange unterdrückt hatte. Gleichzeitig war sie völlig überrascht, dass es nun sogar bald soweit sein konnte. Noch dazu das unglaubliche Glück, vielleicht eine Lösung für ihr Debakel gefunden zu haben. Weihnachten und Geburtstag und alle Feiertage des Jahres mussten sich am heutigen Tag versammelt haben, um Cat eine Art Entschädigung des Schicksals zu überreichen. Sie war beinahe überwältigt, außerstande mit der Schnelligkeit der Ereignisse Schritt zu halten.
Während also die beiden Elevender auf den Stühlen gegenüber immer noch schmunzelten, wurde ihr klar, dass man ihr ihre Reaktion nur zu deutlich ansehen konnte. Peinlich berührt senkte sie die Augen.
„Ähm, ja, also… das wäre schon… Aber, ich denke, ich sollte ihn selber fragen.“
Xandra verbiss sich sichtbar zu lachen, aber der blonde Mr. Blockbuster wirkte skeptisch. Er runzelte die Stirn. „Vielleicht sollte ich…“
„Nein, nein, ich denke Cat hat recht. Du hättest ihn gestern sehen sollen, als wir ihm in Ferrocs Büro begegnet sind. Sie hat definitiv eine Wirkung auf ihn.“ Sofort richtete sich Christian interessiert auf und auch Cat fuhr zu Xandra herum. Naja, eine Wirkung hatte sie vielleicht schon gehabt, fragte sich nur welche. Sie schüttelte den Kopf. Wenn sie es nicht noch mal versuchte, fand sie es nie heraus, dachte sie pragmatisch.
„Ich, ich denke nur, das ist ziemlich privat und wenn ihn einer drum bitten sollte, dann bin ich das.“
Jetzt beugte sich Xandra nach vorn und packte Cats Hände auf dem Tisch. „Das heißt du bleibst?“ fragte sie freudig.
„Vorerst. Ich weiß aber noch nicht wie lange. Das hängt davon ab…“ Sie dachte automatisch an blassblaue Augen und dunkelblonde Locken und konnte es nicht fassen, was sie da ernsthaft in Erwägung zog.
Dareon stand vor einer Gruppe Elevender und versuchte ihnen die Vorzüge des Nahkampfs näher zu bringen. Er hatte die Leute paarweise aufgestellt und sah ihnen nun dabei zu, wie sie die Übung, die er ihnen gezeigt hatte, wiederholten. Dabei ging es um Kontakt, denn eine der Grundregeln dieser Technik lautete: Bist du erst mal nah genug am Gegner dran, dass er bei dir einen Schlag platzieren kann, musst du ihm zuvorkommen. Deshalb trainierte er seine Schüler darauf, in diesem Augenblick die Kontrolle über den Kampf an sich zu reißen, die Techniken so zu verinnerlichen, dass sie dem Gegner ab diesem Zeitpunkt ihren Willen aufzwangen. Der durfte nicht noch einmal zum Zug kommen. So sah zumindest das Ideal aus. Natürlich würde es noch eine Weile dauern, bis seine Schüler soweit waren und er würde ihnen noch viele andere Dinge beibringen, die sie aus brenzligen Situationen retten konnten.
Für heute aber beendete er die Stunde. Er war nicht zufrieden mit den Ergebnissen, die sie erzielt hatten, war sich aber nicht sicher, ob das an der Unfähigkeit seiner Schüler lag, oder vielleicht doch eher an seiner miserablen Stimmung.
Während des Unterrichts waren immer mehr Elevender dazu gestoßen und Dareon hatte unwillkürlich jedes Mal gehofft. Doch sie war nicht dabei gewesen. Kein Gesicht glich ihrem, obwohl er es zunächst dachte. Er war stinksauer auf sich selbst. Er hatte sich bereits entschieden und es gab keinen Grund, sich selbst zu quälen, indem er auf ein weiteres Zusammentreffen wartete.
Leider konnte er es nicht ändern, etwas in ihm sehnte sich nach ihr.
Sein psychischer Zustand war schon seit einiger Zeit bedenklich gewesen, aber jetzt war er einfach nur zum Zerreißen gespannt. Seine Haut ziepte und kribbelte und in der Bauchgegend rumorte es gefährlich. Ehrlich gesagt war er verwundert, dass er die Stunde ohne Ausbruch überstanden hatte, aber er war sich im Klaren darüber, dass eine weitere durchgeknallte Handlung ihn auch diese Aufgabe kosten konnte. Und was wäre ihm dann für die Tagesstunden noch geblieben?
Folglich riss er sich zusammen und biss die Zähne auf einander. Er rang mit sich, musste sich alle fünf Minuten davon abbringen, loszumarschieren und Catlynn zu suchen. Doch er blieb standhaft. Es war sein absoluter Ernst gewesen, als er den Entschluss gefasst hatte, das Ganze auf keinen Fall zuzulassen.
In Anbetracht seiner geistigen Verfassung war es wahrscheinlich auch besser so. Wenn er genauer darüber nachdachte, war es sogar verwunderlich, dass es so lange gedauert hatte, bis der Psychopath bei ihm durchgeschlagen hatte. Lange Zeit hatte er doch ein relativ gesundes Gemüt besessen, war genauso ein Typ wie Christian gewesen und war mit ihm um die Häuser und durch die Betten gezogen. Natürlich war er in gewisser Weise beschädigt, aber er hatte ja auch keine emotionale Nähe gesucht. Daran hatte er nie einen Gedanken verschwendet. Es war nicht so, dass er es nicht gewollt hätte, aber die Vorstellung, dass eine von diesen vielen Frauen herausgefunden hätte, was er mit sich herum trug, war viel zu erschreckend. Dann hätte ihn sowieso keine genommen. Der Schwächling, der er einmal gewesen war, der immer noch in ihm lauerte und den er mit jedem Atemzug bekämpfte. Er wusste, es würde erst aufhören, wenn er erledigt hatte, was er sich einst versprochen hatte. Vor zwölf Jahren, um genau zu sein, Mylie hatte einfach alles verändert.
Die Trainingshalle hatte sich geleert und er griff sich ein Breitschwert, um noch ein paar Übungen zu machen. Aber schon nach wenigen Minuten öffnete sich hinter ihm erneut die Eingangstür. Verärgert drehte er sich um und wollte den Eindringling schon mit rüden Worten wieder nach draußen scheuchen, doch er erstarrte sobald er sah, wer ihn mit seiner Anwesenheit beehrte.
Christian tauchte am anderen Ende der Halle auf und hielt die Tür für eine kleine Person offen. Sie schlüpfte unter seinem Arm durch und blieb dann zögernd stehen.
Cat.
Er hatte sie sich den ganzen Morgen herbei gewünscht, obwohl er wusste, dass das eine schlechte Idee war und gemäß dem setzte er sofort eine reservierte Miene auf. Trotzdem konnte er sich nicht gegen das Gefühl wehren, das ihm sagte, dass sie hier her gehörte, in seine Nähe. Sein Zorn verstärkte sich angesichts dieses Ungehorsams seiner Emotionswelt. Er wollte all das nicht, was sie in ihm hervorrief.
Bisher hatte ihn ihre Erscheinung so gefesselt, dass er gar nicht auf seinen Kumpel geachtet hatte. Jetzt bekam er aber am Rande mit, dass dieser ihn nicht aus den Augen ließ. Der verfluchte Wichser roch, dass etwas im Busch war. Dass ihn jemand so gut kannte, wo er sich doch alle Mühe gab, das zu unterbinden, hasste er wie die Pest. Anscheinend war er darin nicht halb so erfolgreich, wie er sich gedacht hatte.
Nicht sonderlich freundlich wandte er sich an den blonden Romeo und stellte dabei verdutzt fest, dass er es aufs Äußerste missbilligte, dass Cat mit diesem Casanova herum hing. Deshalb klang seine Stimme fast bedrohlich, als er sie erhob und durch den Raum hallen ließ.
„Was?“
Christian grinste nur wagemutig. „Wie ich gehört habe, kennt ihr euch schon. Cat hier, hat gerade erst erfahren, dass sie eine Elevenderin ist und ich habe ihr gesagt, dass du ein verdammt guter Lehrer bist. Also, lass mich jetzt nicht wie einen Idioten dastehen, Kumpel!“
Damit legte er seine Hand in Cats Kreuz und führte sie weiter in den Raum hinein. Sie schien nur widerstrebend zu gehorchen. Dareon hätte Chris gerne den Unterarm abgehackt, wenn jemand dieses Mädchen berührte, dann…
Er stoppte sich bei diesem verhängnisvollen Gedankengang. Halloohoo, sie war nichts weiter, als eine x-beliebige Tussi, redete er sich scharf ins Gewissen. Unruhig geworden rief er sich zur Ordnung. Jetzt bloß nicht ausflippen, das würde Christian nur noch mehr Wind in die Segel blasen und ihn selbst an den Rande seiner Selbstbeherrschung treiben. Cat riss schon jetzt gefährlich an den Zügeln, die ihn stets zurückhielten. Verdammt, wenn er nicht aufpasste, war diese Frau sein Untergang.
„Du solltest nichts versprechen, das du nicht halten kannst!“ Sein Knurren war für beide gedacht, obwohl er die Worte an den blonden Elevender gerichtet hatte.
„Jetzt warte doch ab und hör‘ dir an, worum es geht, vielleicht überlegst du es dir dann.“ Sein Kumpel nickte Cat bestätigend zu und verließ daraufhin die Halle.
So sehr Dareon Christians Anwesenheit gestört hatte, ohne ihn wurde das beklemmende Gefühl noch viel schlimmer. Denn nun war er allein mit dieser Frau, die ihn vorsichtig durch die Fransen ihres Ponys hindurch ansah und damit Blitze hinter seinen Augen verursachte. Wie schon bei ihrer ersten Begegnung drängte sein Körper zu ihr und er hatte alle Hände voll damit zu tun, ihn wieder seinem Willen zu unterwerfen. Das helle Grün, das zwischen den Strähnen dunkelbraunen Haares leuchtete, versetzte ihn nach Hause in die eiskalten Nächte seiner Jugend. Als er in den Himmel gestarrt und die Polarlichter beobachtet hatte. In seiner Vorstellung waren sie ein Zauber gewesen, etwas Wunderschönes in seiner Dunkelheit. Er mochte das, aber das durfte nicht sein. Entschlossen kappte er die Verbindung, die sein Unterbewusstsein gerade aufgebaut hatte.
Sie beide, er und Cat, hatten nichts gemeinsam.Er war groß und stämmig, sie winzig und zierlich. In dem grünen riesigen Sweatshirt sah sie verloren aus, ihre Miene verstärkte diesen Eindruck zusätzlich. Während er wütend war, schien sie ängstlich. Oder vielleicht auch nur zurückhaltend, das konnte er nicht mit Gewissheit sagen. Anscheinend war sie gekommen, weil sie etwas von ihm wollte, dennoch rührte sie sich nicht. Ziemlich genervt rollte er die Augen, als ihm bewusst wurde, dass sie erst gehen würde, wenn sie das hinter sich gebracht hatte.
„Was willst du?“, fragte er schroff und wandte ihr den Rücken zu. Es war schwer sich um zu drehen und sein Schwert in den Köcher zurück zu stellen.
Cat räusperte sich vernehmlich. „Ähm,… also,… die Sache ist die…“ Sie stockte und holte tief Luft. „… Meine Gabe ist ähm, irgendwie, naja, also … tödlich.“ Wieder hielt sie inne, als warte sie auf eine Reaktion. Da er diese weder ihr noch sich selbst gönnte, sondern noch an dieser Information zu knabbern hatte, gab sie sich schließlich erneut einen Ruck. „Und Christian hat gesagt, du bist immun gegen Elevenderkräfte, deswegen hat er vorgeschlagen, dass du mir vielleicht dabei helfen könntest, sie zu… handhaben.“
Dieser hinterhältige Bastard, wagte tatsächlich, in seinem Leben rumzupfuschen? Er wollte Cat weit auf Abstand halten und Christian brachte sie ohne viel Federlesen in seine Komfortzone. Stets fand er einen Weg Dareon irgendwie zu bedrängen. Neben dem Wunsch nach der Strangulation seines besten Freundes, war er nun aber auch neugierig. Er konnte nicht umhin, darüber nachzugrübeln, welche Gabe sie wohl haben mochte. Sie hatte etwas an sich, das er unbedingt wollte, und es irritierte ihn, dass er nicht verstehen konnte warum. Vielleicht stammte es von ihrer Kraft? Bevor er sich daran hindern konnte, schlüpften Silben aus seinem Mund.
„Und was soll das für eine Gabe sein?“
Sie zuckte ein wenig zurück, aber sie blieb tapfer angesichts seiner abweisenden Haltung. Wenn sein wütender Tonfall sie getroffen hatte, war das nur gut so. Sie sollte ja gehen, obwohl er sich nicht mehr sicher war, ob er das immer noch wollte. Je länger sie hier stand und er sie ansah, desto mehr wollten seine Hände ihr Haar zurückstreichen, um ihren Hals zu berühren. Seine Lippen brannten auf ihren Geschmack. Oh Mann, das war nicht gut.
„Xandra sagt, meine Lippen sind giftig.“
Cat hatte den Kopf abgewandt, als sein Blick zu ihr herüber schoss. Das dicke Haar hing wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht und er konnte nicht erkennen, was sie dabei dachte. Irrelevant, er wusste ganz genau, was er dabei dachte und das war alles, was zählte.
„Was hast du gerade gesagt? Du willst,…???“ Er stolperte mehrere Schritte rückwärts, nachdem er diese Schlussfolgerung gezogen hatte. Scheiße, nein bloß nicht! Auf gar keinen Fall. Niemals. Seine Augen, so weit aufgerissen wie sie waren, blieben an ihren Lippen hängen. Er konnte nicht viel davon sehen, denn sie presst sie fest aufeinander und die Hälfte wurde vom Haar verdeckt. Verdammt er stand auf dieses volle Haar! Noch ein Beweis dafür, dass ihr Anliegen nicht in Frage kam. Er wollte sich distanzieren, doch schon sprang sein Kopfkino an, was sich als die Königin der schlechten Ideen herausstellte. Seine Fantasien erregten ihn und er wurde sofort mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich gegen seinen wachsenden Ständer zu wehren. In Sporthosen, fabelhaft.
Blaubeermuffins, Umweltverschmutzung, oh ja die machte ihn sehr wütend. Dann fiel ihm ACDC ein und er summte im Geiste ‚Highway tohell‘. Es half nicht sonderlich viel, aber es lenkte gewisse Köperteile genug ab, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen.
„Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein!“, fauchte er schließlich ungläubig, nachdem er die Fassung wiedererlangt hatte. „Nur über meine Leiche!“
Die Stille im Raum war bedrückend, nachdem seine Worte verklungen waren. Er erwartete, dass sie vor seinem herrischen Getue kuschen und schnell aus der Halle flüchten würde, aber das Gegenteil war der Fall. Cats Gesicht zeigte einen herausfordernden Ausdruck, ihr Kopf hatte eine hochrote Farbe angenommen und sie hatte die Hände zu winzigen Fäusten geballt. Mit festen Schritten und erhobener Nase kam sie auf ihn zu.
„Hey, du kannst sagen, dass du das nicht willst, aber du brauchst mich nicht zu beleidigen!“
Jetzt war sie nur noch einen Meter von ihm entfernt und blitzte ihn wütend von unten an. Er konnte diesen Zorn nicht ganz ernst nehmen, sie sah süß aus, wie sie sich so aufplusterte. Und da wurde er sich auch dieser plötzlichen Nähe bewusst, auf die sein Körper sofort ungewollt reagierte. Er versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, dass sie nicht sein Typ war. Sie war flach wie ein Brett und so winzig, sie reichte ihm bis knapp an die Brustwarzen. Hm, wahrscheinlich hätten größere Brüste nicht zu ihrem Körperbau gepasst, also war ihre Erscheinung eigentlich ganz stimmig. Moment, nein, sie passte absolut nicht in sein früheres Beuteschema, fertig.
Nichtsdestotrotz war er verdammt, wenn er nicht ein einziges mal dieses seidige Haar berühren konnte.
Aus diesem Zwang heraus, hob sich seine Rechte, während ihr Besitzer einer erschreckenden Trance anheim gefallen war. Diese hielt ihn davon ab, sich zu stoppen, oder gegen diesen urtümlichen Drang anzukämpfen. Sein Kopf füllte sich langsam aber sicher mit dickem, zähflüssigem Nebel und verdeckte seinen Sinn für Realität, richtig und falsch. Plötzlich wusste er nicht mehr, warum er sie unbedingt von sich stoßen wollte. Er war dazu bestimmt, sie an sich zu ziehen. So war es richtig, so sollte es sein. Er begriff, woher diese Gedanken kamen, erinnerte sich auch, dass er sich dagegen wehren wollte. Aber nun war das alles weit, weit weg. Er verstand gar nicht mehr, wie er darauf gekommen war.
Diesem Impuls folgend bewegte sich seine Hand auf ihr Gesicht zu. Sie rührte sich nicht, während er in ihr Haar griff und es ihr sanft über die Schulter strich. Er registrierte, dass sie verwirrt aussah. Sein Zorn verschwand bei dem Kontakt allmählich, doch er konnte nicht erkennen, ob ihr seine Berührung behaglich war. Zu spät.
Er zog das Gefühl der schweren, kühlen Strähnen auf seiner Haut in sich ein, berührte sacht ihre Schulter. Die Knochen, die er unter dem dicken Stoff des Pullis tastete, wirkten so dünn wie die eines Vögelchens. Er war überrascht wie gut sie sich anfühlte, aber während der eine Teil von ihm nach mehr lechzte, erwachte der andere wieder zum Leben, der sich an seine Vorsätze erinnerte.
Neeiin!
„Ich will dich nicht küssen“, stieß er rau hervor, doch sein Arm legte sich wie von selbst um sie und zog sie mit einem Ruck an ihn heran. Ihre Verwirrung wuchs von Sekunde zu Sekunde, er konnte es in ihren Augen sehen. Diesen wunderschönen Katzenaugen. Aber sie schien in einem ähnlich Zustand wie er, machte keine Anstalten sich aus seinem Griff zu befreien. Sofort als sich ihre Körper berührten, presste sie sich gegen ihn und er spürte die Festigkeit der kleinen Muskeln. Sie lehnte sich mit einer Kraft an seine Brust, die er ihr nicht zugetraut hatte. Das passte nicht zu ihrer winzigen Erscheinung. Dass sie jetzt auch noch die Arme um ihn schlang, bewirkte, dass er absolut alles an ihrer Front bemerken musste. Keine Chance, dass es ihr umgekehrt nicht genauso ging. Die Monsterlatte, die sich an ihren Bauch drückte, war schließlich ein Wink mit dem Zaunpfahl.
Er musste beinahe das Kinn auf die Brust legen, um zu ihr runter schauen zu können. Sie hatte den Kopf weit in den Nacken gelegt. Unmerklich beugte er sich immer weiter vor, auch sein linker Arm schlängelte sich um ihre Taille. Wie sie ihn so gebannt musterte, standen ihre Lippen leicht offen. Es zeigte sich, dass sie einen vollen, herzförmigen Mund besaß. Das Rot schimmerte verlockend. Der Ring blinkte im Licht und verlieh ihr einen verruchten Touch.
„Lass los!“ Sein Knurren vibrierte durch sie beide hindurch.
„Wen versuchst du hier zu überzeugen? Mich oder dich?“, fragte sie leise und reckte sich ihm frech auf Zehenspitzen entgegen, dabei rieb sie sich an seiner Mitte. Zischend sog er die Luft zwischen den zusammengepressten Zähnen hindurch.Zunächst lächelte sie verträumt, dann zog sie die Augenbrauen zusammen und leckte sich über die volle Unterlippe. Fasziniert folgte er der Bewegung und hörte sie sogleich sinnlich lachen.
„Du willst es!“
„Nein!“, widersprach er wahrheitsgemäß. Ein Teil von ihm wollte, das ließ sich nicht verleugnen, aber der Rest seines vernünftigen Verstandes bäumte sich bei dieser Unterstellung auf. Es war Zeitdiesen Moment zu beenden.
Dieser besonnene Part von ihm war jedoch nicht stark genug, sich an die Oberfläche vor zu kämpfen. Er schrie laut in ihm um Aufmerksamkeit, versuchtedie Kontrolle über die Situation wieder an sich zu reißen. Vergeblich wie es aussah, denn seine Intentionen bewegten Dareons Glieder nicht. Catlynns Grüne Augen hielten ihn gefangen und ihre Gesichter näherten sich einander stetig und unaufhaltsam. Schon bald war es ihm möglich, die niedlichen Sommersprossen zu zählen.
„Dareon.“ Wie sie seinen Namen flüsterte war betörend. Ihre Stimme hatte eine hypnotisierende Intensität angenommen und sie strichverführerisch seine Wange entlang. Die Finger kratzten über den leichten Bartschatten, hinterließen dort einen brennenden Striemen auf seiner Haut, als würde sein Gesicht in Flammen stehen. Benommen lehnte er sich in die Berührung und war schon drauf und dran, seine Lippen auf ihre zu drücken.
Mylie. Sein Unterbewusstsein brachte gerade in diesem Moment diesen Namen hervor. Wahrscheinlich der einzige, der ihn jetzt noch aufhalten konnte. Als hätte er sich eine Ohrfeige verpasst, erwachte er aus der Starre. Nachdem er sie abrupt losgelassen hatte, fiel die Elevenderin in seinen Armen zurück auf die Fersen und stieß einen frustrierten Laut aus.
Ihre Augen hingen noch an seinen Lippen und er war sich sicher, dass sie einfach alles zugelassen hätte. Es war nicht so, dass ihm da nicht einiges eingefallen wäre, aber zum Glück hatte er sich zurück in die Realität gerettet.
Unsanft schob er sie von sich weg. Er benutzte nicht viel Kraft, aber hätte er sie nicht festgehalten, wäre sie zu Boden gegangen.Dabei schien auch sie wieder zu sich zu kommen. Bestimmt schob sie seine Hände weg.
Beide standen sie sich schwer atmend gegenüber. Schließlich sah Cat betreten zu Boden, nervös fingerte sie an ihrem Haar herum und spielte mit dem Lippenring. Als sie unruhig begann, von einem Bein aufs andere zu treten, fiel sein Blick auf die nackte Haut am Saum des langen Sweatshirts. Das Bildwirkte ziemlich verstörend auf ihn, weswegen er sich zornig übers Gesicht fuhr. Er musste sie dringend loswerden, bevor so etwas noch mal passierte und er sich tatsächlich auf sie stürzen konnte.
„Verschwinde!“, zischte er und funkelte sie wutschnaubend an. Das verschreckte sie schon ein wenig, doch nicht genug, um sich zu entfernen. „Hörst du nicht, was ich sage? Ich will dich nicht in meiner Nähe haben, also verpiss‘ dich gefälligst!“
Diesmal trat eine Röte ganz anderer Art auf ihre Wangen, ließ sie verflucht erotisch aussehen. Doch das war nicht der Grund für den Farbwechsel. Tränen traten in die lächerlich großen Augen. Sie schluckte hart, blinzelte ein Mal, dann waren sie wieder verschwunden.
„Weißt du was? Fick‘ dich! Dieser Ferroc hat gesagt, ich kann mich hier frei bewegen. Du kannst mich nicht rauswerfen!“
„Bitte, dann verschwinde ich!“ Schwungvoll drehte er sich um und riss die Hallentür auf. „Und komm‘ bloß nicht auf die Idee, mir nach zu laufen. Ich stehe nicht auf kleine, flache Mädchen!“ Er hoffte, das würde sie von zukünftigen Annäherungsversuchen abhalten.
Cat kam sich ziemlich dämlich vor, wie sie da zurückgewiesen und alleine in diesem riesigen Raum blieb und der tatsächlich unglaublich leckeren Rückansicht des großen blonden Kerls hinterher schaute.
Bei Gott, als sie sich so nah gewesen waren, hatte siekomplett die Kontrolle über ihre Handlungen verloren. Ärgerlich dachte sie daran zurück, wie sie sich ihm angeboten hatte, geradezu auf dem Silbertablett hatte sie sich ihm serviert. Aber anscheinend waren ihre Argumente zu flach geraten, dabei hatte sie doch gemerkt, dass sie zumindest seinen Körper nicht kalt ließ. Groß und fest hatte sich seine Erektion an ihren Bauch gedrängt, hatte ihr eigenes Verlangen geschürt und sie in ihrem Tun bestätigt. Nur für einen Sekundenbruchteil hatte sie Angst darüber verspürt, dass sie in all dem ungeübt war und dass seine Gabe vielleicht doch nicht bei ihr wirken würde. Aber das Feuer zwischen ihnen hatte sie überwältigt, sie unaufhaltsam angezogen.
Ihr aufdringliches Verhalten war völlig untypisch. Sie schüttelte den Kopf, sie kannte ihn doch kaum. So merkwürdig sie ihre eigene Begierde fand, so wenig verstand sie, wie er sich nur diesem Sog entziehen konnte. Sie waren kurz davor gewesen, sich zu küssen, als er sie nicht gerade höflich zurück gestoßen hatte. Ein Moment voller Verheißungen, in dem alles möglich geschienen hatte. Sein Duft hatte wunderbar gerochen und seine Lippen hatten sich in Erwartung der ihren leicht gekräuselt. Aus diesem Grund konnte sie sich nicht erklären, wie er dann kurz darauf von einem unhöflichen Kerl auch noch zum Arschloch mutiert war. Er hatte sie nicht einfach nur abgewiesen, er hatte sie verletzen wollen. Er wollte sie dazu bringen, sich von ihm fern zu halten, indem der auf ihren Gefühlen rumtrampelte. Das war ihm gelungen, dachte sie bitter.
Vorerst war sie bedient. Was für ein Vollidiot. Redete irgendein wirres Zeug, von wegen, er wolle sie nicht, während er sie gleichzeitig an sich zog und ihr zeigte wie sehr er sie angeblich nicht wollte. Und da sagte man von ihr, sie hätte nicht alle Latten am Zaun. Das war ein milder Ausdruck für das, was dieser Dareon gerade mit ihr abgezogen hatte.
Sie nahm sich vor, sich die Abfuhr nicht zu Herzen zu nehmen, aber das wollte ihr nicht so recht gelingen. In der Vergangenheit hatte sie sich selten an so etwas versucht und jetzt wo sie es doch getan hatte, war es bitter zu erfahren, dass ihre Verführungskünste allenfalls Abneigung hervorzurufen schienen.
Fluchend machte sie sich auf den Weg ins Freie. Christian hatte sie durch das große Haupthaus begleitet. Sie waren auf der gegenüberliegenden Seite von der Einfahrt auf eine riesige Terrasse getreten, die in ein weitläufiges grünes Areal mündete. Ein paar Wege führten zu weiteren, etwas kleineren Gebäuden, im Hintergrund lag der dunkle Wald. Alles wirkte irgendwie mystisch, denn obwohl die Sommersonne von Himmel prallte, empfand Cat das Licht nicht ganz so hell, wie es normalerweise gewesen wäre. Auf der Wiese lagen leichte Nebelspuren, dabei war es schon kurz vor der Mittagszeit gewesen. Zusammen mit dem arroganten Schönling war sie durch das Gras gewandert und hatte das letzte Gebäude kurz vor den großen Nadelbäumen aufgesucht, eine Trainingshalle, wie sich kurze Zeit später gezeigt hatte.
Jetzt verließ sie den quadratischen, neutral gehaltenen Bau und steckte sich, sobald sie draußen angelangt war, eine Zigarette an. Tief inhalierte sie den Rauch und versuchte die Erinnerungen an die letzte halbe Stunde irgendwo in ihrem Oberstübchen zu vergraben. Abgesehen davon, dass sie zweifelsohne etwas für ihn übrig hatte, auch wenn sie es noch so gerne geleugnet hätte, stand sie nun auch vor dem Problem, dass es keine Möglichkeit für sie gab, ihre Kraft zu trainieren und so zu lernen, wie sie mit ihr umgehen musste. Ärgerlich kickte sie gegen ein paar Grashalme und stieß dabei einen Zug aus.
Die Sonne brannte auf ihrem dunklen Haar und schon nach wenigen Metern war ihr in dem langärmligen, dicken Kleidungsstück zu warm. Sie schob die Bündchen zu den Ellenbogen hoch und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Ohne Dareons Hilfe blieb sie gefährlich, doch hatte sie früher ihr Leben genau so gelebt. Warum also sollte es nicht wieder klappen?
Das Hauptproblem an diesem Szenario war, dass sie nicht glaubte, einfach so hier weg gehen zu können. Fast hatte sie von seinen Lippen gekostet und beinahe hatte er es geschehen lassen. Egal, was er gesagt hatte und egal, wie mies er sich ihr gegenüber auch gegeben hatte, da war ein Zögern gewesen. Ganz zu schweigen von seiner körperlichen Reaktion.
Mochte die Chance noch so winzig sein, dass er von seiner Entscheidung abwich, sie warentschlossen, es drauf ankommen zu lassen.
„Und, was hat er gesagt?“
Cat war im dritten Stock kaum aus dem Aufzug getreten, fiel Xandra schon über sie her. Wenig begeistert berichtete sie ohne auf Details einzugehennur, dass Dareon abgelehnt hatte. Besonders das Verpiss dich ließ sie weg.
Ein Arm legte sich tröstend um ihre Schultern. „Ach, das wird schon. Lass‘ mir ein wenig Zeit und ich finde jemand anderes, der dir helfen kann. Ich verspreche dir, ich lasse dich damit nicht allein.“
Cat sah in die aufrichtigen Augen und ihr wären beinahe die Tränen gekommen. Sie konnte nicht glauben, dass sich eine fast Fremde so für sie einsetzen wollte. Außerdem stimmte sie die Vorstellung, mit einem anderen an ihrer Gabe zu feilen, nicht sonderlich fröhlich. Dareon sollte es sein. Er ging ihr nicht mehr aus dem Kopf und das Verlangen nach seiner Gegenwart hatte trotz seiner Abweisung nicht nachgelassen.
„Nein. Ich… mache das nur mit ihm…“, brummelte sie gedankenverloren in sich hinein, während sie an den Druck seiner Hände auf ihrer Taille dachte. Die Elevenderin an ihrer Seite blieb stehen und drehte Cat zu sich herum. Wieder wurde sie vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen gemustert. Obwohl sie voll bekleidet war, fühlte sie sich unter Xandras Blick plötzlich nackt. Verlegen sah sie zu Boden und schlang die Arme um ihre Mitte.
„Oh, mein…. Er gefällt dir, stimmt’s?“
Cat spürte selbst wie sie rot wurde und sie dachte nicht daran, die Augen zu heben. „Naja, er ist schon irgendwie…“ Wie hätte sie das beschreiben sollen? Fesselnd? Und wie hätte sie auch erklären sollen, dass er es geschafft hatte, ihr den Kopf zu verdrehen, obwohl er ihr nur Bosheiten an denselben geworfen hatte. Das sprach nicht gerade für ihre psychische Verfassung und machte sie vielleicht sogar zur Masochistin. Wieso musste sie sich gerade einen wankelmütigen Irren aussuchen? Obwohl; wahrscheinlich passte das sogar auf seltsame Weise zu ihr.
Xandras Lächeln war währenddessen immer breiter geworden. „Cat, das ist ja wunderbar!“ Sie klatschte aufgeregt in die Hände. „Wenn das so ist, wird dir vielleicht sogar gefallen, worum ich dich bitten wollte.“
Cat stutzte und sah nun doch auf. „Worum geht es?“ War das Angebot, erst mal hier bleiben zu können, doch nicht so bedingungslos gewesen, wie sie angenommen hatte?
„Nun, das ist kompliziert. Komm‘ mit.“
Xandra führte sie erneut zu dem großen Büro, das Ferroc zu gehören schien und drinnen hatten sich schon allerhand Leute versammelt. Darunter auch… Dareon.
Als sie zur Tür herein kamen, wandte er ihnen seine Aufmerksamkeit zu und erstarrte. Na, wenn das nicht mal ein herzlicher Empfang war. Außer ihm waren noch fünf weitere Männer im Raum, einschließlich Ferroc selbst und ebenso Christian. Die drei anderen kannte Cat nicht. Einer hatte die dunkle Haut eines Südländers, ein weiterer mit rotgefärbtem Haar und hellem Teint stand beim Fenster. Der Dritte befand sich ganz hinten im Büro. Er hatte eine eisige Ausstrahlung und rührte sich nicht. Seine Erscheinung wirkte irgendwie unheimlich auf Cat und sie nahm sich ohne nachzudenken vor, diesem Kerl ja nicht zu nahe zu kommen.
„Ah, sehr schön, jetzt sind alle da“, sagte Ferroc und lehnte sich an die vordere Front des riesigen Schreibtisches. „Setzt euch.“
Die Anwesenden verteilten sich auf die Sitzgelegenheiten, wobei Dareon darauf zu achten schien, dass er sich ganz weit weg von Cat niederließ. Auch der Typ mit der abweisenden Haltung gesellte sich nicht zu ihnen. Er blieb wo er war, schien sich sogar an die Bücherregale dort hinten zu drängen.
„Cat, das sind Roman und Quentin.“ Ferroc deutete auf den mit der gebräunten Haut und den Rothaarigen. „Und das da hinten ist Slater.“ Der gruslige Kerl nickte ihr einmal zu. Die Strähnen seines braunen Haares verdeckten sein rechtes Auge. Während die anderen beiden grüßten, blieb er still. Cat gab ebenfalls höfliche Worte zurück, fühlte sich aber nicht gerade behaglich in der fremden Runde. Zudem fragte sie sich, was sie hier sollte.
„Die drei, Xandra, Christian und Dareon haben schon oft zusammengearbeitet.“
„Aha.“ Aber was hatte das mit ihr zu tun?
„Ich muss dich um etwas bitten.“ Ferroc wirkte grimmig, während er das sagte. Es passte ihm offensichtlich nicht, sie um etwas ersuchen zu müssen. Das machte ihn noch sympathischer und sie glaubte inzwischen kaum noch, dass er eine Gegenleistung für ihre Unterkunft erwartete. Kurz darauf bestätigte er ihr diese Vermutung. „Unsere Gastfreundschaft ist nicht an deine Zustimmung gebunden. Aber wenn du dich entscheidest, uns zu helfen, musst du uns vertrauen und Stillschweigen über die Sache bewahren.“ Er sah sie gespannt an, als erwarte er bereits einen Entschluss von ihr.
„Das sind zu wenig Informationen, als dass ich einfach so zusagen könnte“, entgegnete Cat ruhig, wobei sie auch registrierte, dass Dareon sie nicht aus den Augen ließ. Trotzdem war sie Ferrocs Bitte nicht abgeneigt. Sie war es einfach gewohnt, zu helfen wo sie konnte und es fiel ihr schwer in solchen Fällen ‚Nein‘ zu sagen. „Was soll ich tun?“
„Um diese Frage zu beantworten, muss ich dir einiges erklären. Aber das kann ich nicht, wenn ich nicht auf deine Verschwiegenheit bauen kann.“
Cat war über den ernsten Ton erstaunt. Anscheinend musste es sich um ein Staatsgeheimnis handeln, so wie sich diese Leute verhielten. „Das kannst du. Ich habe kein Interesse daran, in diesen Kampf verstrickt zu werden.“
Ferroc schien nicht froh über ihren Kommentar. „Aber genau das musst du tun, wenn du dich entschließt, uns zu helfen. Wie ich dir bereits erklärt habe, kämpfen wir darum, den Hegedunen einen Strich durch die Rechnung zu machen, wo wir nur können. So versuchen wir, die Menschen vor ihren Machenschaften zu schützen. In ein paar Wochen wird ein Gesetzesentwurf im Senat besprochen, der die Lebensmittel-Gentechnik umfassend legalisieren und sie zur Standardmethode in der Agrarwirtschaft machen wird. Wir wissen aus sicheren Quellen, dass diese genetisch veränderten Pflanzen vielerlei Auswirkungen auf unser Ökosystem und auch auf die Gesundheit der Konsumenten haben. Andere, ursprüngliche Pflanzenarten werden verdrängt, Bienen sterben, Menschen werden krank. Die Hegedunen kontrollieren die Medien und Polizei sowie die Gerichte. Sie halten all diese Informationen zuverlässig unter Verschluss.Um dies zu unterbinden, haben wir versucht, die führende Familie im Gentechnik-Geschäft zu infiltrieren, aber bisher sind wir gescheitert.“ Er warf Dareon einen verdrießlichen Seitenblick zu, kam aber sofort wieder zum Thema.
„Gestern Nacht jedoch hat Slater zufällig ein paar Dokumente in unseren Besitz gebracht, die uns neue Möglichkeiten eröffnet haben.“
Cat fand das alles ziemlich abgespacet. Diese Leute verhielten sich wie Rebellen oder ein Geheimdienst oder ähnliches und immer mehr wurde ihr bewusst, wovon Ferroc gesprochen hatte, wenn er sagte, die Legion kämpfte gegen diese Hegedunen. Das alles setzte voraus, dass sie ihm Glauben schenkte. Aber wenn sie genau darüber nachdachte, konnte sie sich nicht erinnern, wann der Staat oder das Gesetz das letzte Mal etwas Gutes für sie oder jemanden in ihrem Bekanntenkreis getan hatten. Im Gegenteil, alle rangen sie mit den hohen Steuern und um ihre Existenz, während die Politik die Großen und Reichen begünstigte. Laut Ferroc waren eben diese Leute also Hegedunen. Obwohl sie nicht wusste, ob sie sich an diesen Gedanken gewöhnen konnte, musste sie gleichzeitig zugeben, dass die Legion ihr in Gesinnung und Einstellung doch näher stand, wenn sie alles Übernatürliche mal außen vorließ. Sie agierten ohne Geld, ihre Gemeinschaft beruhte auf Vertrauen und freiem Willen, genau wie Cats Netzwerk, das sie so gehegt und gepflegt hatte. Diese Elevender hier schienen integer und schützten einander, ebenso, wie Cat ihre Bekannten anhielt, für einander da zu sein. Dieses Konzept war ihr vertraut und dieser Umstand führte dazu, dass sie begann, auch zu den Leuten, die jetzt um sie herum saßen, Vertrauen zu fassen. Zunächst wollte sie vorsichtig sein, aber sie würde sie nicht als Verrückte abtun, wie es ihr Jahrelang angetan worden war. Sie wollte nicht dieser engstirnige Typ Mensch sein, der das, was er sich nicht vorstellen konnte, von vornherein ablehnte. Außerdem schien es ihr eine Art Doppelmoral, zu akzeptieren, dass Elevender existierten, aber gleichzeitig so naiv zu sein, zu glauben, dass es unter den Begabten nur wohlwollende Exemplare gab. Ferroc hatte gesagt, die beiden Spezies, Menschen und Elevender ähnelten sich sehr, also gab es auch unter ihnen egoistische Machtgier und rücksichtlose Grausamkeit. Ihre besonderen Kräfte mussten diese Verbrecher besonders gefährlich machen.
„Mal angenommen, ich glaube euch. Was genau habt ihr vor?“
„Wir brauchen Informationen über diesen Hegedunen-Clan und darüber, was sie zu dem Thema verschweigen. Wir brauchen Beweise. Slater hat Unterlagen gefunden, die die Cohens mit einer Medizintechnik-Firma in Verbindung bringen, welche ein menschlicher Familienbetrieb ist.Ein Geschäft zwischen den beiden Parteien steht kurz bevor und anscheinend hat man einen Cohen-Sprössling mit dem Erben des Unternehmens verheiratet. Gemeinsam wurde etwas vertuscht, das beide Familien in Verruf gebracht hätte. Wir müssen wissen, worum es sich handelte, vielleicht ist der Schmutz groß genug, um die Öffentlichkeit aufzuhetzen.“
„Aber hast du nicht gesagt, die Hegedunen kontrollieren die Medien? Selbst wenn es Beweise für ein Verbrechen oder etwas Unrechtes gäbe, wie wollt ihr das dann verbreiten?“
Ferrocs anerkennender Blick lag auf ihr. „Zwar kontrollieren sie auch das Internet, aber wir haben eine Möglichkeit, die Information auf verschiedenen Nachrichtenseiten einzuschleusen. Wenn die Hegedunen merken, was los ist und sie wieder entfernen, ist sie schon tausende von Malen gelesen und herunter geladen worden. Sie wird sich herumsprechen, ganz gleich, wie schnell unsere Gegner reagieren.“
Cat wurde immer unruhiger und sie musste sich beherrschen, um nicht nervös herum zu zappeln. Das alles klang nach einem schlechten Spionagefilm und anscheinend wollte ihr niemand verraten, welche Rolle sie darin spielen sollte. „Und was hat das nun mit mir zu tun?“
„Heute veranstalten die Besitzer des Technik-Unternehmens, die McCarteys, ein gesellschaftliches Event auf ihrem eigenen Grundstück. Da sie offensichtlich enge Kontakte zu den Cohens pflegen, erhoffen wir uns, dort pikante Unterlagen oder Daten zu finden. Jedoch ist die Gästeliste für Elevender streng limitiert. Nur Hegedunen haben Zutritt und die kennen sich unter einander. Menschen allerdings haben freien Zugang. Sie werden nicht als gefährlich erachtet, außerdem sind die McCarteys ja selbst menschlich.“
Da Cat immer noch verständnislos dreinblickte, sprang Xandra ein. „Geübte Elevender erkennen andere Begabte an ihrer Ausstrahlung, aber bei manchen ist diese so schwach, dass sie kaum zu bemerken ist. Bei dir ist das so Cat, ich konnte es nur wahrnehmen, weil ich sehr viel Erfahrung auf dem Gebiet habe.“
„Deshalb hoffen wir, dass du für uns auf diese Party gehst. Du würdest unbemerkt hinein kommen.“
„Was? Alleine?“
„Nein, natürlich nicht. Dareon wird dich begleiten, wegen seiner Gabe hat auch er eine kaum spürbare Elevenderpräsenz an sich. Ihr würdet als Menschen durchgehen, solange man nicht zu genau hinschaut.“
Cats Augen wanderten während dieser Worte automatisch zu dem großen Kerl mit den blonden Locken. Seine Miene war verschlossen und abweisend, alles in allem konnte sie feststellen, dass Begeisterung anders aussah. Also mal ehrlich, nach seinem Auftritt heute Mittag war wohl klar, wie er zu diesem Vorhaben stand. Dennoch wehrte er sich nicht. Verwirrt fragte sie sich, warum. Vielleicht war er gewillt, ihre Gegenwart zu einem höheren Zweck zu ertragen?
Da witterte sie eine Chance.
„Was genau müsste ich tun?“
„Du musst eine reiche, verwöhnte Frau mimen und dich auf diesem Ball prächtig amüsieren. Ihr werdet euch in dem Haus umsehen und die Räume durchsuchen. Das wird Dareon übernehmen, du sollst nur Schmiere stehen. Außerdem wird euch das Team im Auge behalten.“ Der große Mann wies auf die Runde der Versammelten. „Quentin ist ein hervorragender Scharfschütze. Er wird euch von außen Deckung geben. Christian und Slater werden ebenfalls auf Beobachtungsposten sitzen und Xandra und Roman halten die Fluchtwagen bereit.“
Obwohl Ferroc klang, als würde er lediglich die Menükarte eines Abendessens erörtern, wirkte es doch wie ein äußerst ausgeklügelter, militärisch entwickelter Plan. Sie hatte sich definitiv getäuscht. Diese Leute hier waren keine Hippies und Cat fand jetzt kein ihr bekanntes Wort mehr, das noch gepasst hätte. Dennoch verspürte sie ein instinktives Vertrauen und auch die Möglichkeit, mit Dareon zusammen zu sein, ließen sie ernsthaft über diese Bitte nachdenken.
„Aber ich habe doch keinerlei Erfahrung mit solchen Sachen und meine Gabe kann ich auch noch nicht kontrollieren.“
„Wenn alles so läuft wie wir uns das vorstellen, wird es nicht zu einer Auseinandersetzung kommen. Und sollte es doch passieren, wird dein Team dich beschützen. Sie sind eingespielte Profis. Sie machen das nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal.“
Dareon kochte innerlich, aber er war schlau genug, es nicht zu zeigen. Nachdem er auf die Strafbank geschickt worden war, hatte er mit so was auf keinen Fall gerechnet. Seine Suspendierung war zwar damit nicht vom Tisch, das hatte ihm Ferroc mehr als klar gemacht, aber vorerst wurde sie auf unbestimmte Zeit verschoben. Es gab dringlichere Probleme und in diesem speziellen Fall konnte nur Dareon helfen. Für ihn war es prinzipiell kein großes Ding, in feindliches Gebiet einzudringen. So hatte er dem Vorschlag zunächst sehr freudig zugestimmt, wurde ihmschließlich auf diese Weise in Aussicht gestellt, dass er wieder mehr zutun haben würde. Aber als er gehört hatte, mit wem er die Sache durchziehen sollte, war die Freude schnell der Ernüchterung gewichen. Irgendwie schien ihn sein Schicksal genau mit dem konfrontieren zu wollen, dem er unbedingt aus dem Weg gehen wollte: Zeit mit Cat zu verbringen.
Als Ferroc ihm dies mitgeteilt hatte, hatte er sich natürlich gewehrt, hatte darauf gedrängt, alleine auf diesen Ball zu gehen und das Anwesen zu durchsuchen. Aber der Leiter von Blackridge war nicht zu erweichen gewesen. Der bestand darauf, dass Cat ihm bei der Aktion den Rücken decken würde, sollte sie zustimmen. In Dareon wüteten widersprüchliche Gefühle. Er wollte schreien und toben, weil er sich mit seiner Nemesis herumschlagen sollte, gleichzeitig gierte ein anderer Teil von ihm nach ihrer Gesellschaft. Dazu kam, dass er ein Ventil für den ganzen Scheiß brauchte, der ihm im Kopf herum spukte. Da kam ihm ein Einsatz gerade recht. Und wie es jetzt aussah, war Cat dem Ganzen gar nicht so abgeneigt, wie er gedacht hatte.Denn trotz all seiner Mühen, fies zu ihr zu sein, trat jetzt ein erwartungsvoller Ausdruck auf ihr Gesicht. Oh, oh, ihm schwante Böses.
Ferroc setzte gerade zu einem weiteren Wortschwall an, der Cat überzeugen sollte, aber diese unterbrach ihn schon nach ein paar Silben.
„Ok.“
Ferroc blinzelte überrascht. „Ok?“
„Ja. Ich helfe euch. Xandra hat mich davor bewahrt, in dieser Klapse zu versauern und ich freunde mich so langsam mit dem Gedanken an, eine Elevenderin zu sein. Du hast gesagt, ich dürfte eure Lebensweise kennenlernen und offensichtlich gehört dieser Ballbesuch auch dazu.“ Sie zuckte die Schultern und schielte kurz zu Dareon herüber. Der verengte die Augen. Er hatte da so eine Ahnung, dass das nicht ihre einzigen Gründe waren, diesen Auftrag anzunehmen. Jedoch sollte sie nicht glauben, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte. Er musste in den sauren Apfel beißen, aber er tat es nicht freiwillig und er würde schon gar nicht gefallen daran finden. Das würden sehr anstrengende Stunden werden.
Er fand Cat aus irgendeinem Grund immer noch bezaubernd, wie sie so in der riesigen Ledercouch versank und dadurch noch zarter wirkte. Angesichts dieses Gedankens musste er sich doch fragen, wie er die Zeit mit ihr auf dem Ball überstehen sollte, ohne dass sie sich wieder näher kamen. Schon jetzt kribbelte alles in ihm. Ein diffuses Gefühl, das sich in seinem gesamten Körper ausbreitete. Vielleicht hätte er doch ablehnen sollen, aber er glaubte nicht, dass Ferroc ihn einfach so vom Haken gelassen hätte. Jetzt saß er fest in dieser Situation, die er eigentlich hatte vermeiden wollen.
Aus Reflex schnaubte er wütend. Genau in diesem Moment glitt Cats Blick erneut zu ihm herüber und nicht nur sie richtete ihr Augenmerk auf ihn. Die Inbrunst des Lautes hatte auch die anderen aufhorchen lassen.
„Dareon wird dir bis heute Abend ein paar Handgriffe der Selbstverteidigung beibringen und Xandra wird dir helfen, ein Kleid zu finden. Das ist ein gesellschaftliches Ereignis, kein Hochsicherheitsgefängnis. Man wird euch wahrscheinlich noch nicht mal bemerken.“ Ferroc war die Ruhe selbst, aber brachte Dareon mit einer endgültigen Handbewegung zum Schweigen, als dieser gerade mit Einwänden aufwarten wollte. Er verbiss sich einen abwehrenden Kommentar und verschränkte die Arme vor der Brust. Jetzt hatte er sie auch noch den Nachmittag über an der Backe. Wie sollte er diesen Tag bloß durchstehen, ohne in ihrer Gegenwart den Verstand zu verlieren, weil alles in ihm nach ihr schrie, er sich aber jeden tiefergreifenden Kontakt verbieten würde?
Das war, als ließe man ausgerechnet das fette Kind eine riesen Schokotorte bewachen. Ja das Ganze hatte wirklichdeutliche Aussichten auf Erfolg. Dass er nicht lachte!
Was trieb er hier eigentlich? Er musste sich von ihr fernhalten. Das war sein einziger Ausweg, das hatte er doch gewusst. Trotzdem kam jetzt kein Wort des Protestes über seine Lippen. Er war nicht mehr fähig dazu, nun, da er ihr gegenüber saß und einen winzigen Hauch ihres sanften Duftes auffangen konnte.
„Wir kümmern uns um alles. Keine Sorge“, meinte Xandra und legte Cat eine Hand auf die Schulter.
„Ich mache mir keine Sorgen. Ich freue mich drauf.“ Cat lächelte verschmitzt in Dareons Richtung. Es fehlte nur noch, dass sie ihm eine lange Nase gezeigt hätte. Sie hatte ganz genau verstanden wie seine Position aussah, aber anscheinend interessierte sie seine Meinung zu diesem Thema nicht die Bohne. Er seufzte erneut aus tiefstem Herzen.
Wenig später befand sich Cat auf dem Weg nach Ceiling. Xandra und Blaise saßen ebenfalls im Wagen, erstere steuerte.
„Was läuft da zwischen euch beiden? Ist heute Mittag irgendwas passiert?“, erkundigte sich Xandra nach einer Weile der stillen Eintracht. Zu Cats Leidwesen musste nicht erörtert werden, um wen es sich bei ‚euch beiden‘ handelte. Dareons Verhalten in Ferrocs Büro war auffällig genug gewesen und anscheinend bestätigte Cats schnelle Zusage zu dem Vorhaben Xandras Verdacht. Da sie ja schon wusste, dass Cat auf den Kerl stand, hatte sie kaum eins und eins zusammen zählen müssen.
„Das wüsste ich auch gerne…“, murmelte Cat nur und das war die Wahrheit. Sie hatte keinen blassen Schimmer, was in dem Objekt ihrer Begierde vorging. Warum er sich so verhalten und sie dann so abweisend behandelt hatte. „Dareon hat sich ziemlich… widersprüchlich benommen…, ich werde nicht schlau aus ihm.“
„Also war da mehr als seine Abfuhr?“
„Geringfügig.“
Blaise tauchte zwischen den beiden Vordersitzen auf und lehnte sich zu Cat herüber. „Weißt du, Dareon war schon ewig nicht mehr mit einer Frau zusammen. Vielleicht ist er nur ein bisschen aus der Übung.“
Cat lachte trocken. „Wenn’s nur das wäre.“ Verwirrt dachte sie an seine Taten und Worte in dieser Sporthalle. „Ist er immer so unfreundlich?“
„Eigentlich nicht. Aber vor ungefähr 12 Jahren ist seine Freundin gestorben, seitdem ist er eine wandelnde Granate. Er konnte sich noch nicht wieder fangen.“
„Oh…“ Klasse, da hatte sie sich genau den mit dem Berg an emotionalem Ballast ausgesucht. Das war ja nur logisch, er schien immer besser zu ihr zu passen. Aber.. „Wie ist das mit seiner Freundin passiert?“ Welche Vorfälle hatten ihn so geprägt?
Xandra zuckte unbestimmt mit den Schultern, bevor sie in das Parkhaus eines belebten Einkaufszentrums einbog. „Wir wissen es nicht genau. Es muss aber heftig gewesen sein, wenn sogar Christian nichts darüber ausplappert. Der ist sonst eine echte Tratschtante.“
„Nur er und Dareon kannten das Mädchen“, fiel Blaise ein. „Wir anderen haben sie nie zu Gesicht bekommen. Wir wussten bloß, dass sie ein Mensch war und dass die beiden nur kurz zusammen gewesen sind. Dann ist etwas passiert und Dareon war nie mehr der Selbe. Christian hat uns das Nötigste erzählt, damit wir D in Ruhe lassen.“ Sie strich nachdenklich über das Fenster. „Aber sich nie wieder Glück zu gestatteten, ist noch viel schlimmer, als eine Liebe zu verlieren.“ Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern und sie wirkte einen Moment lang wie weggetreten.
Xandra sah in den Rückspiegel, stellte aber keine Fragen. Cat erkannte, dass die blonde Elevenderin die andere auf dem Rücksitz ohne Worte verstand. Zwischen den beiden Frauen schien eine tiefe Freundschaft zu bestehen und Cat fühlte sich wie ein Eindringling in einem privaten Augenblick. Doch Xandra kam ohne Umschweife zum Thema zurück.
„Also, hat Dareon heute Mittag in irgendeiner Form positiv auf dich reagiert?“
Das war wohl Auslegungssache, aber… „Ja, ich denke schon. Aber er hat mir klar und deutlich gesagt, er wolle mich nicht in seiner Nähe haben, obwohl ich dahinter einen ganz anderen Eindruck hatte. Es war total merkwürdig.“
Xandra parkte den Wagen in einer ziemlich kleinen Lücke und sie zwängten sich aus dem Auto. Es war ein sonniger Tag und die Mall schien nicht so bevölkert wie sonst. Es war Badewetter, das einzige, was die Menschen noch lieber taten, als Einkaufen.
„Klingt als wäre er unentschlossen“, merkte Xandra auf dem Weg zu den Aufzügen an.
„Glaub‘ mir, er wirkte sehr entschlossen.“
„Oder er wollte sicher gehen, dass du das glaubst.“
„Aber wozu?“
Xandra schien darüber nachzudenken, während sie in der silbern ausgekleideten Kabine hinunter zur Ladenstraße fuhren. Sie waren die einzigen im Aufzug.
„Vielleicht ist es ein Schutzmechanismus. Allà ‚Gebranntes Kind scheut das Feuer‘. Schließlich wehrt er alle Frauen ab, nicht nur dich.“
„Soll das heißen, er tut so, als ob er nicht will, obwohl er eigentlich doch will, nur damit ihm keiner wehtun kann?“ Verdrehte Welt! Das war doch sonst eigentlich Cats Part. Da war sie anscheinend auf jemanden getroffen, der noch verkorkster war als sie.
„So in etwa.“
Blaise lachte triumphierend auf. „Die perfekten Voraussetzungen, wenn du mich fragst!“
„Du bist so positiv, dass ich manchmal kotzen könnte“, merkte Xandra trocken an, doch es war klar, dass die Worte nicht ernst gemeint waren. Blaise stieß sie daraufhin grinsend mit dem Ellenbogen an. Dieser traf lediglich die Taillie der großen blonden Frau, die die anderen beiden um mehrere Köpfe überragte.
„Dein ewiger Zynismus verpasst dir nur Falten“, kam es frech zurück.
Cat konnte bei der Sache nicht ganz folgen. „Wofür sind das die besten Voraussetzungen?“
„Für ein kleines Spielchen natürlich“, lachte die weiche kleine Frau fröhlich. „Dareon steht offensichtlich ziemlich unter Spannung. Du hättest ihn in den letzten Wochen erleben sollen. Und so wie du es beschrieben hast, steht er im Zwiespalt, was dich betrifft. Es dürfte ziemlich leicht werden, ihn ein bisschen zu ärgern und aus der Reserve zu locken. Je mehr er aus der Ruhe gerät, umso besser.“
Sie blieb vor einem riesigen Schaufenster stehen und deutete auf ein verruchtes Kleid, das den Namen ‚Kleines Schwarzes‘ kaum noch verdiente. Cat starrte auf das unverschämt knappe Kleidungsstück und entdeckte die Spiegelbilder der beiden verschlagen grinsenden Elevenderinnen. Sie kapierte sofort, was den beiden vorschwebte, doch bei dem Gedanken zog sich alles in ihr zusammen. Sie hatte sich nie sexy oder verführerisch gefühlt und jetzt sollte sie so tun als wäre sie beides?
Entschlossen drehte sie sich um. „Nein. Das wird nichts. Mit so etwas kann ich nicht punkten. Ich habe weder lange Gazellen-Beine…“ Sie wies auf Xandra. „…noch besitze ich einen nennenswerten Vorbau.“ Ein Kopfnicken in Blaises Richtung, deren Brüste eine eigene Adresse verdient hätten. Wenn man sich mit diesen zwei Frauen verglich, konnte man ja nur vor Scham im Boden versinken wollen oder vor Neid grün anlaufen. Cat unterdrückte beide Reaktionen, schließlich wollten die beiden nur helfen. Wahrscheinlich würde ihnen bald aufgehen, dass dieses Unterfangen schwieriger als gedacht war.
Schon befand sie sich wieder unter Xandras Arm und wurde in den exquisit aussehenden Laden bugsiert. „Cat, ich will ja nicht altklug wirken oder dir zu nahe treten, aber so wie ich das verstanden habe, hast du nicht besonders viel Erfahrung mit Männern, richtig?“ Klare Worte, die Cat nicht krumm nahm. Xandra hatte ja recht. Also erwiderte sie nichts, was die Andere als Zustimmung wertete.
„Deswegen solltest du dir Beraterinnen suchen, die sich auf dem Gebiet etwas besser auskennen. Und wie der Zufall so will, hast du zwei der Besten dabei.“
Wie Profis führten die beiden Cat durch die Reihen verschiedenster Kleider und zogen mal hier, mal da eines aus der hängenden Front heraus, um es eingehender zu betrachten. Cat ließ sich zögerlich mitziehen. Da sie selbst keinen Plan hatte, wie sie das, was sie sich vorgenommen hatte, schaffen sollte, ließ sie sich tatsächlich auf die Sache ein.
Seit sie sich dem Vorhaben ihrer Gastgeber angeschlossen hatte, wurde sie von einem mulmigen Gefühl beherrscht. Natürlich hatte sie Angst vor dem heutigen Abend. Sie sollte an einem Spionage-Einsatz teilnehmen, so viel war klar, und sie hatte in Wahrheit wahrscheinlich keinen blassen Schimmer, auf was sie sich da eingelassen hatte. Aber wie sie sich eingestehen musste, hätte sie noch viel mehr in Kauf genommen, um in die Nähe des Mannes zu gelangen, dessen Anblick sie seit ihrem ersten Zusammentreffen verfolgte. Wie es aussah, war sie sogar bereit, sich in unbekannte Gefahren zu begeben, nur damit sie einen Vorwand hatte. Wenn sie so viel riskierte, dann sollte ein heißer Auftritt doch ein Klacks sein, dachte sie und versuchte sich an den Gedanken an ein sexy Kleid zu gewöhnen.
Wie sich jedoch bald herausstellte, hatte sie nur wenig Mitspracherecht, was die Auswahl der geeigneten Garderobe anging. Sobald sie stillschweigend zugelassen hatte, dass die beiden Elevenderinnen sie unter ihre Fittiche nahmen, wurde sie mit bunten und aufreizenden Kleidchen behängt, während die anderen darüber diskutierten, wie ihr diese oder jene Farbe stand, oder ob der Schnitt ‚etwas für ihre Figur tat.‘
Cats Anmerkung, dass ihr Schwarz am liebsten gewesen wäre, wurde einfach übergangen. Mit elf verschiedenen Varianten beladen, zwängte sie sich mit Blaise in die Kabine und ließ sich von ihr dabei helfen, eins ums andere anzuprobieren. Dabei störte es sie komischerweise überhaupt nicht, dass die junge Elevenderin sich einfach so viele Privilegien herausnahm. Denn diese vermittelte ihr schlicht das Gefühl, als wären sie bereits Freundinnen. Schon nach wenigen Modellen kam Cat ins Schwitzen. Die Aktion artete langsam in Sport aus.
Blaise und Xandra jagten sie durch Berge von Tüll, Spitze, Seide und Chiffon, kritisierten die Länge oder den Sitz, zwischendurch entbrannte sogar eine hitzige Debatte über Ausschnitte. Cat kam sich wie eine Puppe vor, an der sich die beiden Frauen wie kleine Mädchen austobten.
„Das ist es“, hauchte Blaise nach einer gefühlten Ewigkeit und schlug die Hände vor den Mund. Auch Xandra setzte einen verzauberten Gesichtsausdruck auf und nickte zustimmend. Während Blaise die Oberherrschaft in der Kabine übernommen hatte, hatte sich die andere Elevenderin auf einem Sessel ausgestreckt. Die langen Beine baumelten über die eine Lehne, der Kopf lag auf der anderen.
Cat stand vor dem bodenlangen Spiegel und musterte sich nicht gerade überzeugt. Wie erwartet leuchtete das Modell der Wahl in Indigo- und Cyanblau sowie hellem Grün, hob sich deutlich von ihrer bleichen Haut ab. Es hatte keinen großen Ausschnitt, aber oberhalb der Brust und auf dem gesamten Rücken war der Stoff durchsichtig.
Zuerst kam sie sich verkleidet vor, wie jemand der versuchte, eine schöne Verpackung für ein nicht ganz so ansehnliches Geschenk zu finden, als würde das das Präsent aufwerten. Doch dann dachte sie an ihre längst vergessene Jugend zurück, als sie solche Stücke mit einer würdevollen Selbstverständlichkeit getragen und ausgefüllt hatte. Sie wusste, sie musste nur wieder in diese Rolle schlüpfen, um sich in der edlen Robe nicht mehr ganz so verloren vorzukommen. Wie immer sträubte sich alles in ihr, zu ihrer Vergangenheit zurück zu kehren. Doch für ihre heutige Aufgabe würde das so oder so nötig sein, sie sollte in gehobenem Kreise verkehren und sich als reiche Frau ausgeben. Also gab sie sich einen Ruck und drückte den Rücken durch, zog die Schultern nach unten, nahm Haltung an. Ihre Mutter wäre sehr zufrieden mit ihr gewesen.
„Egal was du sagst, Cat, in diesem Kleid siehst du einfach fabelhaft aus.“ Xandrazollte ihr ein anerkennendes Zwinkern. Immer noch skeptisch strich Cat über die weichen Stoffbahnen.
„Ich weiß nicht so recht.“
„Glaub‘ mir, Dareon ist auch nur ein Mann“, versicherte die große Blondine.
Bestätigend nickte auch Blaise. „Und das ist im Moment dein größter Trumpf!“
„Spiele die Unnahbare, das lockt ihn aus der Reserve.“
„Und vergiss den sexy Augenaufschlag nicht.“
„Immer schön die Hüften schwingen…“
Cat musste bei dem abgeklärten Geplänkel lächeln und nahm die Tipps für weibliches Flirten entgegen. Sie wurde weiterhin mit guten Ratschlägen überhäuft, während sie bezahlten und auch später noch, als siemit je einer Tüte Eiscreme bewaffnet Schuhgeschäfte durchkämmten. Nachdem auch die passenden Pumps identifiziert und erobert worden waren, enterten sie noch einen weiteren Laden, in dem Cat Alltagskleidung und Unterwäsche erstand. Zum Glück konnte sie hier selbst auswählen und so dauerte der Abstecher nicht lange. Bereits nach einer halben Stunde kehrten sie kichernd zum Wagen zurück. Cat hätte ganz rot werden können, bei den erotischen Taktiken, die ihre Mitverschwörerinnen noch vorgeschlagen hatten. Einfallsreich waren sie ja, das musste Cat ihnen lassen. Dennoch zitterten ihr die Finger, wenn sie nur an die bevorstehenden Stunden mit dem Objekt ihrer Begierde dachte. Sie würde sich garantiert bis auf die Knochen blamieren! Nervös brachte sie diese Sorge dann auch laut vor.
„Ach was, Frauen haben beim Sport immer ein bisschen Welpenbonus. Außerdem bietet dir das Training die Gelegenheit, Körperkontakt herzustellen.“ Xandra sprach wie ein alter Hase, während Cat große Augen machte. „Es kann verdammt erotisch sein, jemandem Eins auf die Nase zu geben.“
„Xandra!“ Blaise gab ihr einen Klaps auf die Schulter.
Die Blonde zuckte nur unschuldig mit den Achseln. „Ist doch wahr!“
Dareon hatte Christian mit einer gebrochenen Rippe gedroht, wenn er es wagen sollte, ihn mit Cat allein zu lassen. Nervös wartete er in der Sporthalle darauf, dass die drei Grazien von ihrem Einkaufsbummel zurückkamen. Die Zeit vertrieben sie sich mit Sparring und Dareon verlieh seiner Frustration mit Fäusten Ausdruck. Er ließ sie in seine Bewegungen fließen, was ihm einen zornigen und unnachgiebigen Stil verlieh und er zwang Chris nicht nur ein mal auf die Matte.
„Wenn du so drauf bist, bist du wirklich anstrengend“, keuchte der blonde Elevender und rieb sich den Kiefer, der eben einen Upper-Cut hatte einstecken müssen. Aber sofort griff er wieder an. Keine Sekunde verlor er dabei den lässigen Ausdruck im Gesicht und Dareon wusste, dass er sich nur ihm zu liebe schlug. Ihm eine Möglichkeit bot, Dampf abzulassen, bevor er mit Catlynn Campbell arbeiten musste. Sein Freund ahnte, dass diese Frau eine Bedeutung für Dareon haben könnte und war schlau genug, die Weichen bestmöglich zu stellen. Sein fabelhaftes Aussehen und der jungenhafte Charme täuschten manchmal darüber hinweg, dass Chris verdammt schlau und manipulativ sein konnte, wenn er wollte.
Verbissen wehrte er die Angriffe seines Kampfpartners ab und erwiderte die Schläge gleichermaßen. Die Luft war erfüllt von den Klängen der aufeinander treffenden Gliedmaßen und ihren schnellen Atemzügen. Sie schenkten sich nichts. Eigentlich war Dareon im Nahkampf überlegen, aber Chris und er trainierten so häufig mit einander, dass sie die gegnerischen Taktiken besser kannten, als ihre eigene Nasenspitze. Deshalb war es ein ausgeglichener Kampf. Auch er selbst kassierte ein paar Treffer, spürte sie aber in dem Rausch wie so oft kaum.
Als die Tür ohne Ankündigung geöffnet wurde, war Dareon für eine Millisekunde von dem Anblick der jungen Frau ablenkt, die mit Xandra die Halle betrat. Er wollte gerade einen Angriff durchführen, doch Chris entwischte ihm, brachte ihn mit einem Schubs zum stolpern und schon hatte er auch noch seinen Ellenbogen im Nacken, was ihn postwendend zu Boden beförderte. Er konnte sich gerade noch abfangen, bevor er auf die Nase fiel.
Fantastisch, genau so hatte er sich ihr Wiedersehen vorgestellt. Er zu ihren Füßen.
Schnell sprang er auf die Beine und setzte eine reservierte Miene auf.
Die anderen begrüßten sich, während er die Handschuhe auszog und sich mit einem Handtuch den Schweiß abwischte. Er wollte nicht hinsehen, konnte aber auch nicht verhindern, dass er Catlynn aus den Augenwinkeln beobachtete. Sie trug schwarze Sportklammotten und hatte die Haare zu einem langen Zopf geflochten, der Pony war mit Klammern hochgesteckt worden. Endlich hatte er eine freie Sicht auf ihr Gesicht sowie den zarten Nacken und sein Verstand sog jede Kleinigkeit an ihrem Aussehen auf, von den niedlichen kleinen Ohren bis zu jeder winzigen Sommersprosse, die auch vereinzelt auf Hals und Armen prangten.
Er merkte sofort, dass sie offensichtlich nervös war und hoffte fast, dass sie ihre Entscheidung jetzt bereute und einen Rückzieher machte. Er wollte wütend auf sie sein, weil sie seine klare Ansage einfach so unterwandert hatte. Sie hätte Ferroc absagen sollen, wusste sie doch genau, dass er keinen Kontakt mit ihr wünschte. Den Gedanken, dass er das auch selbst hätte tun können, ignorierte er geflissentlich.
Xandra zog gerade ihre Jacke aus und es beruhigte ihn einerseits, dass sie sich anscheinend zum Bleiben einrichtete. Andererseits war es vielleicht nicht ratsam, weitere Zeugen hier in der Halle zu haben. Er konnte nicht einschätzen, wie es um seine Selbstbeherrschung bestellt war, doch sollte er den Kopf auf irgendeine Weise verlieren, war Publikum keine gute Sache. Jetzt konnte er nicht mehr zurück, er hatte bereits auf Christians Anwesenheit bestanden, aus diversen Gründen, da kam es auf eine weitere Person auch nicht an. Plötzlich fiel ihm sogar eine Möglichkeit ein, wie er einen Vorteil daraus ziehen konnte. Er ging hinüber zu der Dreiergruppe und vermied es tunlichst, Cat auch nur eines Blickes zu würdigen.
„Ok, es läuft so: Xandra und ich zeigen den Bewegungsablauf, Christian spielt den Gegner für die Neue.“
Die beiden blonden Elevender lächelten amüsiert und Dareon meinte sogar, ein Zwinkern von seinem Kumpel erhascht zu haben. Immerhin gab es keine Widerworte und alle begaben sich in Position. Dareon stand Xandra gegenüber, Chris und Cat bildeten ein Team.
Nachdem er die zuletzt Genannte darauf hingewiesen hatte, dass sie seine Bewegungen beobachten und dann imitieren sollte, ließ er sich von Xandra angreifen, um die ersten Abwehrgriffe vorzuführen. Seine Trainingspartnerin arbeitete gut mit ihm zusammen und Cat hatte das Konzept schnell begriffen. Während Chris einen langsamen Angriff simulierte, ahmte sie die Technik nach und konnte ihn beinahe abwehren. Natürlich hatte dieser mehr Kraft als sie, sodass der erste Versuch noch nicht zum gewünschten Erfolg führte. Es folgten noch einige weitere und Dareon verbesserte ihre Haltung, bemüht, Distanz zu wahren und sich nicht daran aufzuhängen, dass der blonde Elevender die junge Frau immer wieder berührte. Dass ihm das stinken würde, hatte er bei seinem Plan nicht bedacht. Er biss die Zähne zusammen.
Cat schlug sich nach einer Weile ganz gut, sodass er noch mehr einfache Übungen vormachte und sie auch diese wiederholen ließ. Bald schon musste sich Chris nicht mehr so zurückhalten und seine Bewegungen wurden schneller, härter. Er schonte die Neue nicht mehr so sehr wie zu Anfang. Diese hielt dagegen, mühte sich, sich aus seinen Griffen zu befreien und die Hebel anzusetzen, die sie eben gelernt hatte. Dabei wirkte sie zwar noch etwas unbeholfen, aber ihr eiserner Wille stand ihr ins Gesicht geschrieben. Dareon war von ihr abgelenkt, konnte kaum an sich halten, nicht zu ihr hinüber zu gehen, doch sie schien hochkonzentriert.
Plötzlich jedoch wanderten ihre Augen zu ihm und sobald sie Blickkontakt hergestellt hatten, konnte er nicht mehr wegsehen. In dieser merkwürdigen Starre gefangen, bemerkte Cat den nächsten Angriff nicht und war einen Moment später in Chris‘Schraubstockumarmung gefangen. Der drückte ihre Arme an ihre Seite und hob sie hoch, während sie wild mit den Beinen strampelte. Dareon musste ein wildes Knurren unterdrücken.
„Lass‘ sie los, Chris! Ich habe ihr noch nicht gezeigt, wie sie so einen Übergriff abblocken kann.“
„Hey! Lass‘ mir auch ein bisschen Spaß.“ Der Kerl grinste unverschämt und drückte sich noch fester gegen Cat, die versuchte, seine Schienbeine mit ihren Schuhspitzen zu treffen. Denen wich er jedoch geschickt aus. Gerade als sie den Kopf hob und ihn dabei wütend anfunkelte, gab er ihr einen blitzschnellen Kuss auf die Nase.
Cat erstarrte, Dareon sah Rot.
Noch während sein Mädchen erstaunt die Augen aufriss, hatte er sich in Bewegung gesetzt. Innerhalb eines Wimpernschlags war er bei seinem Kumpel. Unwirsch nahm er ihm die Elevenderin ab, in dem er einen Arm um ihre Taille schlang und Chris im selben Moment einen harten Stoß gegen die Schulter verpasste, der ihn zurück stolpern ließ. Zufrieden beobachtete er, wie sein Gegner sich die getroffene Stelle rieb. Ein Urinstinkt brachte ihn dazu, das Kinn zu senken und Chris einen Blick zu zu werfen, der eindeutig besagte, dass er so ein Verhalten bei dieser Frau auf keinen Fall dulden würde. Gerade jetzt war es ihm scheißegal, was sein Freund daraus schließen würde. Es dauerte noch einen Augenblick, bis er diesen Instinkt unter Kontrolle bringen konnte. Der Teil von ihm, der den anderen Mann im Raum in Stücke reißen wollte, lauerte immer noch auf seine Chance.
Dareon ließ es nicht zu. Er rang das Bedürfnis nieder und erst als ihm dies gelungen war, wurde ihm bewusst, dass er Cat immer noch im Arm hatte.
Rücken und Po waren an seine Front gepresst, die Füße baumelten in der Luft. Ihr Haar war so nahe, dass er das Gesicht darin vergraben hätte können. Ihr Duft lockte ihn, sie fest an sich zu ziehen und tief einzuatmen. Nur mit knapper Not konnte er dem Drang widerstehen.
Die ganze Zeit über war es mucksmäuschenstill gewesen, doch jetzt regte sich jemand zu ihrer Linken. Xandra ging zu Christian hinüber und untersuchte die Schulter mit ein paar Handgriffen. Sie lächelte breit und neckte ihren Patienten.
„Hast du es noch nicht kapiert? Das ist nicht dein Revier.“
Dareon ließ Cat so abrupt los, dass sie gegen ihn stieß, als sie auf dem Boden aufkam. Sie fing sich aber schnell und er brachte etwas Abstand zwischen ihre Körper. Er bebte beinahe vor Zorn, dass er sich nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Sie rieb sich verlegen einen Arm und richtete schnell ihre Aufmerksamkeit auf das sich kabbelnde Paar.
„Stimmt“, antwortete Chris gerade. „Mein Revier liegt eher hier.“ Mit derselben Geschwindigkeit beugte er sich vor und raubte diesmal Xandra einen Kuss.
Doch diese war nicht so wehrlos wie Cat. Im Handumdrehen hatte sie ihm die Beine weggezogen und ihn auf die Bretter geschickt. Drohend deutete sie mit dem Zeigefinger auf den Delinquenten.
„Wag‘ das noch einmal und ich breche dir etwas.“
Chris hob nur die Augenbrauen. „Siehst du, Cat? Das ist Selbstverteidigung!“
Das Gezanke gab Dareon genug Zeit, sich wieder zu fangen und er ballte entschlossen die Hände. Da er offensichtlich die Beherrschung verlor, wenn Cat von einem Anderen angefasst wurde, blieb ihm nur, Xandra mit ihr trainieren zu lassen. Das hatte zwar nicht denselben Trainingseffekt, denn er wollte, dass Cat sich an größere und sehr viel stärkere Gegner gewöhnte, doch besser als nichts. Als er dies ansprach, hob sie nach einem Blick auf die Uhr jedoch nur abwehrend die Hand.
„Ich muss für heute Abend noch ein paar Vorbereitungen treffen… und Christian auch. Nicht wahr, Chris?“
„Absolut!“, kam es vom Boden.
Die doppelflügelige Schwingtür fiel ins Schloss und sie waren allein.
Ihr Herz pochte von dem unerwarteten Kontakt mit ihm, als er sie aus Christians Griff befreit hatte. Sie spürte noch seine Körperwärme am Rücken, den festen Arm um ihren Bauch, der Atem, der über ihr Haar gestrichen war. Sie hatte seine Reaktion nicht einordnen können und war wie gelähmt gewesen.
Auch jetzt stand sie ganz still, jedoch aus einem anderen Grund, als vorher. Obwohl sie wirklich entschlossen war, sich selbstsicher zu verhalten, sie war es nun mal nicht. Sie fürchtete sich nicht wirklich vor Dareon, aber diese zornige Ausstrahlung, die ihn umgab, pflanzte ihr doch eine gute Portion Respekt ein. Als ob man versuchte, sich einer Kobra zu nähern. Besser, man machte keine plötzlichen Bewegungen.
Dareon hatte ihr den breiten Rücken zugewandt und starrte ebenso zur Tür. Ihre Augen blieben an den kräftigen Schultern hängen, ihre Finger kribbelten. Sie wollte ihn so gerne berühren. Aber als er sich zu ihr umdrehte, wirkte er so aufgebracht, dass sie beschloss, die Erfüllung dieses Wunsches noch zu vertagen.Nervös strich sie ihr Haar zurück, sonst trug sie es nie so und fühlte sich nicht ganz wohl damit. Und jetzt musterte er sie auch noch von oben bis unten.
„Dieser Metallkram wird dein Gesicht im Falle eines Kampfes in eine Kraterlandschaft verwandeln.“
„Wie bitte?“
„Ein gezielter Schlag und so ein Ding reißt aus. Dann hast du lauter Löcher im Gesicht.“
Ach so, ein rein funktioneller Kommentar. Sie strich mit der Zunge über die Innenseite ihrer Lippe, wo sie den kleinen Ring ertasten konnte.
„Heute Abend werde ich sie sowieso raus nehmen. Sie passen nicht zu meinem Kleid.“ Ein schwacher Versuch witzig zu sein. Doch Dareon verzog keine Miene. Aus lauter Wut auf diese unbewegten Züge und in Erinnerung an Blaises Rat, ihn aus der Ruhe zu bringen, ließ sie sich dazu hinreißen, noch etwas anzufügen. „Aber die an den anderen Stellen werde ich wahrscheinlich drin lassen.“
Selbst aus der Entfernung konnte sie beobachten, wie er schluckte. Er wandte den Blick ab und ging zu einem Gerätestand auf der rechten Seite der Halle.
„Du hast eindeutig noch nie einen echten Kampf erlebt.“
„Nein.“ Zumindest nicht auf diese Weise.
„Falls wir angegriffen werden sollten, wirst du kaum eine Minute durchstehen.“ Oh wie schmeichelhaft. Sie wollte schon etwas Patziges erwidern, da nahm er einen Gegenstand aus einem Haufen und kam zu ihr zurück. „Also müssen wir dafür sorgen, dass du in dieser Zeit Gelegenheit zur Flucht bekommst. Das hier ist ein Palmstick.“ Er reichte ihr einen kleinen Metallstab, der Griffrillen für ihre Finger aufwies und oben sowie unten ganz knapp aus ihrer geschlossenen Hand heraus ragte. „Ein Messer wäre zu gefährlich, damit würdest du dich nur selbst verletzen. Aber mit dem kleinen Ding werden deine Schläge härter und du kannst mit den Enden auf die Muskeln an den Unterarmen zielen. So ein Treffer ist nicht gerade angenehm und bringt deinen Gegner dazu, dich loszulassen.“
Sie wog die Waffe in der Hand und schloss sie zur Faust. Obwohl das Metallstück klein war, hatte es ein ordentliches Gewicht. „Ich könnte es auch werfen, das tut wahrscheinlich verdammt weh.“
„Kannst du denn werfen?“
„Nein, aber zuschlagen kann ich auch nicht. Wo ist also der Unterschied?“
Er seufzte. „Ok. Komm‘ her.“
Cat stockte und blickte mit großen Augen zu ihm auf. Sie dachte, sie hätte sich verhört. Doch tatsächlich. Er ging zu den Matten hinüber und stellte sich in Kampfposition auf. „Was ist? Wir haben nicht ewig Zeit.“ Der Tonfall war schon wieder äußerst ungehalten.
Sie rührte sich nicht. „Ich dachte, du wolltest mich nicht in deiner Nähe haben?“
„Will ich auch nicht. Aber wie es aussieht, muss ich. Danke übrigens.“
Das konnte ja wohl nicht wahr sein. „Die ganze Sache war nicht meine Idee. Und wenn du nicht mit mir zusammenarbeiten wolltest, wieso hast du nicht gleich ‚Nein‘ gesagt?“
Diesmal blieb es still und sie bekam keine Antwort auf die Frage. In ihr rauschte das Blut, seine Gegenwart verstörte sie zunehmend und sie wollte ihn so sehr berühren, dass das unerfüllte Verlangen ihren Zorn nur schürte. Er biss und zwickte sie, während sie noch die Hände ballte und überlegte, ihre vorherige Theorie, dass sie den Palmstick auch werfen könnte, unter Beweis zu stellen.
Dareons Stimme war genauso barsch, wie schon den ganzen Nachmittag, als er doch irgendwann sprach. „Wir haben schon mal versucht, an die Cohens ‘ranzukommen. Ich habe es vermasselt. Deswegen bin ich es meinem Team schuldig, das wieder gerade zu biegen.“
Mann, das musste ein unerschütterliches Pflichtgefühl sein, das ihn da antrieb, wenn er dafür ihre Gegenwart in Kauf nahm. Aber das bestätigte ihre Vermutung und das konnte sie ausnutzen. Schließlich ging sie zu ihm hinüber und stellte sich ebenfalls auf. Nahm dieselbe Position ein wie er. Vage waberten Xandras Worte durch ihren Kopf und sie biss sich auf die Lippen, damit sie nicht zitterten. Gleich würden sie sich wieder berühren und einerseits konnte sie es kaum fassen und hätte ganz aus dem Häuschen sein können. Doch andererseits war sie auch wieder ziemlich nervös. Dies war ihre Chance und sie musste sie nutzen so gut sie konnte.
Als er den Arm hob und einen Angriff simulierte, klopfte ihr Herz wie wild. Gleich würde er sie berühren. Ihr Ellenbogen stoppte den Schlag, sie machte es genauso, wie er es ihr gezeigt hatte. Dabei traf Haut auf Haut und ein elektrisches Prickeln durchfuhr sie. Nachdem sie ihn abgeblockt hatte, trat er sofort wieder zurück.
„Gut. Und jetzt drehst du am Ende der Bewegung die Faust zur Seite und schlägst mit dem Stick auf mein Handgelenk.“
Ein Nicken sollte ihm zeigen, dass sie verstanden hatte. Sie brachte kein Wort raus, so nahe standen sie bei einander. Bei der Wiederholung bemühte sie sich, seine Anweisungen genau zu befolgen. Dabei wurde ihr bewusst, wie wichtig es ihr war, ihn zu beeindrucken. Wahrscheinlich erfolglos. Gegenüber diesen Leuten hatte sie so viel Kraft wie eine Stechmücke. Nachdem es ihr nicht gelang, ihn mit dem Metall zu treffen, schnaubte Dareon unzufrieden.
„Nochmal.“
Dieser zweite Versuch sollte genau so enden wie der erste. „Nochmal!“ Ein Befehl.
„Was soll das?“ Der Ärger über ihre Unfähigkeit und die Scham, dass sie vor ihm versagte, lockerten ihr Mundwerk. „Du bist offensichtlich stärker als ich. Ich kann dich gar nicht abwehren. Alle Elevender hier sind stärker als ich. Wie kommt das? Ist irgendwas an meinen Genen kaputt? Hat das was mit dieser geringen Elevenderausstrahlung zu tun?“ Während die Worte aus ihr heraus sprudelten, fuchtelte sie frustriert mit dem Palmstick. Zu spät bemerkte sie, dass sie eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen. Na toll, kaum war sie allein mit Dareon hatte sie selbst ihren Plan untergraben, sexy und selbstsicher zu wirken. Stattdessen präsentierte sie sich weinerlich und schwach. Zynisch beglückwünschte sie sich selbst zu diesem Bravourstück.
Das Objekt ihrer Begierde verschränkte die Arme vor der Brust und ein genervter Ausdruck trat in sein Gesicht. Klasse, das war ja mal genau das, was sie erreichen hatte wollen. Es fehlte nur noch, dass er die Augen rollte. Und dabei sah er trotzdem so unglaublich lecker aus, dass sie am liebsten über die golden glänzende Haut an seinem Hals geleckt hätte. Sie würde bestimmt salzig schmecken, nach dem Training und…
„Die körperlichen Kräfte von Elevendern müssen genauso trainiert werden, wie die von Menschen. Mit deinen Genen ist alles in Ordnung. Das Potential ist da, du hast es nur noch nie benutzt. Und wenn du nicht so beschäftigt mit anderen Dingen wärst, könntest du dich vielleicht darauf konzentrieren, das jetzt nachzuholen.“
Wie konnte sie nur erwarten, dass er etwas anderes für sie übrig hatte, als rüde Zurechtweisungen und versteckte Beleidigungen? Nicht nur, dass er gerade angedeutet hatte, dass sie faul war und ihre körperliche Kondition vernachlässigt hatte. Nein! Er wies auch versteckt darauf hin, dass sie mit dem Kopf nicht ganz bei der Sache war.
Das stimmte zwar, jedoch hatte sie sich sehr viel Mühe gegeben, das hier ernst zu nehmen. Mal ehrlich, sie hatte sich ja gar nicht getraut, auch nur einen von Xandras ausgefalleneren Vorschlägen in die Tat umzusetzen. Dann hätte er vielleicht das Recht gehabt, ihr dies vorzuwerfen, so aber fühlte sie nur Entrüstung über die unangebrachten Anschuldigungen.
„Für wen hältst du dich eigentlich? Du kennst mich doch gar nicht! Ich kann auf dein Urteil verzichten!“
„Dann frag‘ mich verdammt noch mal nicht!“, schnauzte er genauso zornig zurück und beugte sich dabei über sie. Seine breiten Schultern verdeckten die Deckenstrahler und in seinem Schatten gefangen, kam er ihr mit einem Mal sehr bedrohlich vor. Doch instinktiv spürte sie, dass er ihr nur Angst einjagen wollte. Sie von sich stoßen wollte, mit allen Mitteln.
Also wich sie nicht zurück, sondern reckte sich ihm entgegen, sah ihm direkt in die Augen und hielt die Stellung. Sie durfte vor dieser herrischen Art nicht kuschen, wenn sie wollte, dass er sie nicht als kleines, dummes Ding sah. Und sie hatte schon einen äußerst lächerlichen Kommentar von sich gegeben, schließlich lag er damit richtig, dass sie nie besonders viel für ihre Fitness getan hatte. Vor jedem anderen hätte sie das wohl auch zugeben können, vor ihm aber…
Doch bevor sie Dareon zu nahe kommen konnte, entzog er sich aus ihrer Reichweite. Es war zum verrückt werden. Sie hatte in seinen Augen gesehen, dass da noch etwas anderes war. Hatte bemerkt, wie sie zu ihren Lippen und wieder zurück geschnellt waren, es war nur ein kurzer Moment gewesen. Nicht viel, auf das sie ihre Hoffnung gründen konnte.
„Das Training ist beendet.“
„Aber..“
„Außerdem brauchst du bestimmt noch ein bisschen Zeit, um den ganzen Metallschrott in deinem Gesicht los zu werden.“
Damit kehrte er ihr wieder den Rücken zu und verließ die große Sporthalle. Die Tür fiel ins Schloss.
„Du mich auch!“ Cat zeigte dem Holz den Mittelfinger. Es war merkwürdig. Anscheinend entschied sie sich immer für Wut, wenn sie ihn nicht haben konnte, ihm nicht ihre Gefühle zeigen konnte. Und er reizte sie auch noch bis aufs Blut. Wenn das so weiter ging, würden sie sich heute Abend wahrscheinlich die Köpfe einschlagen.
Während sie mit dem Palmstick in der Hand zurück zu ihrem Zimmer lief, überdachte sie die Situation. Wie bereits bemerkt, hatte sie ihren Plan nach einem verhaltenen Start nicht annähernd in die Tat umsetzen können. Am Ende hatten sie sich nur wieder angekeift. Für den Abend nahm sie sich deshalb vor, sich strikt an die Taktik zu halten, die ihr Blaise und Xandra nahegelegt hatten. Weswegen sie sich im Badezimmer diesmal besonders viel Mühe gab.
Als dann auch noch Blaise vor der Tür stand und anbot, sich um ihre Haare zu kümmern, war sie sehr dankbar, anstatt sich bedrängt zu fühlen. Sie traute der kleinen Frau bereits wie einer alten Freundin, weil ihr Charakter einfach so durch und durch gut war. Das konnte jeder sofort erkennen. Cat berichtete, dass der Nachmittag nicht sonderlich gut gelaufen war, doch die Andere lächelte nur.
„Nein, nein, das ist doch gut! Du hast an seiner Schale gekratzt, du darfst jetzt nicht locker lassen. Xandra hat mir erzählt, wie er reagiert hat, als Christian dich geküsst hat. Er steht so zu sagen schon in den Startlöchern, du musst nur noch ein bisschen nachhelfen.“
Mit diesen Worten überreichte sie ihr einen trägerlosen Push-up.
„Nein, ich,… das…, nein!“
„Cat, komm‘ schon. Es ist nicht verboten, ein bisschen nachzuhelfen.“
„Ach ja? Und was ist, wenn ich es jemals… zur zweiten Base schaffen sollte? Wird er dann nicht bemerken, dass die Hälfte von meinen Titten fehlt?“ Blaise kicherte nur. „Beim Sport, hatte ich außerdem ein enges T-Shirt an, er weiß bereits, wie ich da oben aussehe.“
„Der ist ja auch nicht für ihn, sondern für die anderen. Heute hast du die einmalige Gelegenheit, Dareon eifersüchtig zu machen. Chris hat dir da eine Steilvorlage verschafft, das solltest du ausnutzen.“ Sie grinste frech und drückte Cat mit Nachdruck den BH in die Hand.
Eine große Gruppe hatte sich in der Eingangshalle von Blackridge-Mannor versammelt, doch noch während Blaise sanft auf Cat einredete, um ihr den Rücken zu stärken, entdeckte sie unter all den Leuten sofort Slater. Er war nicht schwer auszumachen, denn er stand wie eigentlich immer ganz am Rand. Lehnte sich scheinbar lässig gegen die Wand, aber sein Gesicht war versteinert, alles an ihm wirkte kühl auf sie. Seine Ausstrahlung war meist so eisig, nur gestern Nacht, als sie sich in der Küche begegnet waren, hatte sie plötzlich das Gefühl gehabt, dass etwas anders gewesen war. Jetzt allerdings war nichts von dem zu sehen.
Seine Augen trafen Blaise kurz, als sie zusammen mit Cat die Treppe herunter kam, aber sie schweiften sofort weiter, zeigten noch nicht ein mal ein Wiedererkennen. Sie hatte gewusst, dass er als kalt und rücksichtslos galt, aber sie hatte nicht geahnt, wie sie sich fühlen würde, wenn er gerade sie so behandelte.
Dabei war ihr noch nicht mal klar, was sie von ihm wollte. Sie hätte sich sonst als einen sehr ausgeglichenen, glücklichen Menschen bezeichnet, der anderen eine Stütze war, sie gerne mit seiner Fürsorge überhäufte. Aber bei ihm ging das nicht. Er ließ es nicht zu und vielleicht war eben dies der Grund, weshalb es ihr so wichtig war, ihn doch irgendwie erreichen zu können. Sie ging positiv auf jeden zu und dachte grundsätzlich nur das Beste von anderen, versuchte immer, gute Seiten an ihnen zu finden, anstatt sie gleich abzuschreiben. Das galt auch für Vincent Slater.
Schon seit sie ihn zum ersten Mal bewusst bemerkt hatte, war in ihr das Bedürfnis gewachsen, sich mit ihm anzufreunden, seine harte Schale zu knacken. Sie verlangte danach, mehr über ihn zu erfahren und hatte ihn beobachtet, sowie ihre Freunde unauffällig über ihn ausgefragt. Doch diese hatten nur das bestätigt, was ihr Slater selbst bereits gesagt hatte: Er mochte keine Menschen um sich herum und zog sich so oft er konnte zurück. Keiner kannte ihn richtig und den meisten war das ziemlich recht, denn er benahm sich, als wäre ihm alles und jeder egal. Anscheinend hatte er den Ruf des Elefanten im Porzellanladen.
Xandra hatte ihr geraten, die Finger davon zu lassen. Natürlich hatte Blaise ihr von der nächtlichen Küchenschlacht berichtet und die Freundin hatte auch bemerkt, dass ihr die Sache ziemlich nahe ging, wo sie sich sonst kaum von etwas runter ziehen ließ. Aber sie konnte nicht anders, Slater ging ihr unter die Haut, ohne dass er ihr irgendeinen Anlass dazu gegeben hätte.
Jetzt gesellte sie sich zu der kleinen Gruppe um Xandra und bekam nur am Rande mit, wie Christian Cat zu ihrer Kleiderwahl gratulierte. Blaise konnte sich einfach nicht von dem stillen und distanzierten Mann in der Ecke losreißen. Sie straffte die Schultern, wissend dass diese Bewegung ihre weiblichen Vorzüge zur Geltung brachte, und hoffte, sie würde seine Blicke auf sich ziehen. Die dünne Bluse aus elfenbeinfarbener Seide betonte ihre Figur und hatte einen hübschen Ausschnitt, wegen diesem Kriterium hatte sie das gute Stück gewählt.Zwar würde sie nicht zu dem Ball gehen, sie gehörte nicht zu den Jägern, aber durch Xandra hatte sie erfahren, dass Slater dabei sein würde. Blaise hatte ihr Glück beim Schopf gepackt und da stand er und würdigte sie keines Blickes.
Sie mochte es nicht, dass sein Verhalten negative Gefühle bei ihr auslöste. Die Distanz zwischen ihnen war schlichtweg falsch, so kam es ihr zumindest vor. Kurz entschlossen folgte sie dem Impuls, die Sache sofort aus der Welt zu schaffen. Betont elegant machte sie sich auf den Weg und als er bemerkte, dass sie geradewegs auf ihn zu steuerte, glitt Überraschung über sein Gesicht.
„Hi. Ich will dich gar nicht nerven, aber ich muss noch etwas loswerden.“ Das Erstaunen in seinen Zügen wurde noch größer und er hob die Augenbrauen. Die Hände tief in den Taschen, einen Knöchel lässig über den anderen gekreuzt.
„Ich wollte mich entschuldigen, falls ich dir irgendwie auf die Füße getreten bin, das hatte ich nicht vor. Trotzdem war es echt nicht ok, wie du mich behandelt hast. Das war mies, nur damit du beim nächsten Mal Bescheid weißt.“
„Beim nächsten Mal?“
Himmel, seine Stimme strich ihr über die Haut, und sie musste ein Beben unterdrücken. So nah wie jetzt war sie ihm noch nie gewesen und obwohl sie wirklich vorgehabt hatte, gleich wieder zu gehen, verharrten ihre Füße an Ort und Stelle.
„Ja, beim nächsten Mal. Du wirst schließlich etwas essen müssen.“ Ein Trumpf, für den sie plötzlich sehr dankbar war.
Jetzt verschränkte er die Arme vor der Brust und Blaise hätte nur zu gern nach seinem Haar gelangt. Es hatte die Farbe von gemahlenem Kaffee und war hinten kurz und vorne etwas länger geschnitten. Ein paar Strähnen hingen ihm dauernd ins Gesicht und verdeckten sein linkes Auge.
„Ich kann dir aus dem Weg gehen, das ist ganz leicht für mich. Und du bist viel zu gutmütig, um irgendwas mit meinem Essen anzustellen, oder keines mehr zur Seite zu legen.“ Der Tonfall war emotionslos und analytisch. Es klirrte fast vor lauter Kälte.
„Du denkst wohl immer das Schlimmste von Leuten, oder?“
Es hätte sie wahrscheinlich abschrecken sollen, dass er so negativ gestrickt war, aber genau das Gegenteil war der Fall. Die Faszination ergriff Besitz von ihr und erfüllte sie mit dem Wunsch, hinter die Fassade schauen zu können, ihm einfach die Maske herunter zu reißen. Das war natürlich ein Traum, absolut irrsinnig. Aber dennoch konnte sie an nichts anderes denken, als sie sich zu ihm vorlehnte. Erschrocken versuchte er, zurück zu weichen, doch da war die Wand, er konnte nirgends hin.
„Vielleicht hast du Recht. Trotzdem wirst du es nicht tun, gerade weil ich so gutmütig bin. Die Leute mögen mich und wenn du dich traust, mich kennen zu lernen, wirst du mich auch mögen.“ Das klang zwar mutiger als sie sich fühlte, aber sie brauchte ja quasi einen Eispickel, um Slaters dicke Frostschicht zu durchdringen.
„Was ist nur los mit dir? Hast du ein Helfer-Syndrom? Musst du die Stillen und Schwachen beschützen? Dem Abschaum die Hand reichen? So ein Verhalten macht dich nur angreifbar.“
Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass er es ernst meinte. Es war traurig, dass er menschliche Zuwendung als Bedrohung wahrnahm.
„Willst du mich denn angreifen?“ Die direkte Frage schien Slater völlig aus dem Konzept zu werfen. Er steckte die Hände unter die Achseln und sah zu Boden. Blaise folgte seinem Blick und ihrer glitt dabei seinen Körper hinunter. Da gab es viele drahtige Muskeln und schmale Hüften, breite Schultern zum Anlehnen. Er war ein mittelgroßer Mann, überragte sie aber dennoch um ein oder zwei Köpfe und seine Ausstrahlung ließ ihn wie einen menschlichen Panzer wirken.
Jetzt war ihr Mund ausgetrocknet und sie hätte sich mit größtem Vergnügen ein wenig an ihn geschmiegt,…oder sich gleich an ihm gerieben. Doch als sie sich gezwungenermaßen von dem Anblick seines Körpers losriss und wieder nach oben schaute, begegnete ihr ein Gesicht, das versuchte, Entsetzen zu verbergen.
Hatte er etwa bemerkt, wie sie ihn gemustert hatte?
Sein pechschwarzes Auge, ein undurchdringlicher, tiefer See, der in diesem Moment die Finsternis in ihm offenbarte. Die winzigen Härchen an ihren Armen richteten sich auf, ein kühler Hauch im Nacken, es prickelte dort. Wie sie so in die Tiefe starrte, fürchtete sie ein wenig, von ihr verschlungen zu werden, wenn sie Slater zu nahe kam.
„Das ist abartig, was du da tust“, sagte er voller Abscheu. Die erste echte Regung in dem unbewegten Gesicht. „Machst du das bei jedem?“
Oh, oh. Er hatte ihre Blicke tatsächlich registriert und war anscheinend alles andere als begeistert. Sie konnte förmlich spüren, wie Röte ihre Wangen überzog. Die Handflächen wurden ganz schwitzig und sie kam sich plötzlich lüstern vor, aber nicht auf die gute Art.
„Nein, nicht bei jedem und… das ist nicht abartig. Ich kann anschauen, wen ich will und ich habe nichts Unrechtes gesagt oder getan.“
„Deswegen willst du also mit mir befreundet sein?“ Die Züge auf Slaters Gesicht verzerrten sich zu einer gefurchten Fratze. „Wenn du gefickt werden willst, solltest du nicht so viel reden und diesen Stofffetzen weiter aufknöpfen. Dann findest du vielleicht einen, der‘s dir besorgt.“
Erschrocken und verletzt zog Blaise die Luft ein. Trauriger Weise waren gerade diese Silben das längste Statement, das sie je von ihm bekommen hatte. Bevor sie sich wirklich schlecht fühlen konnte, brachte sie sich zur Raison. Sie war kein leichtes Mädchen und er konnte eben ein ungehobelter Scheißkerl sein, das hatte sie doch gewusst. Entschlossen schluckte sie die schlimmsten der kratzbürstigen Erwiderungen herunter, die ihr auf der Zunge lagen, und richtete sich auf, hob den Kopf. Auf dieses Niveau würde sie sich nicht begeben.
„Ok, ich hab’s kapiert. Du magst keine Menschen und anscheinend schon gar nicht solche, die nett zu dir sind. Ich persönlich finde DAS abartig, aber das ist nicht mein Problem.“
Es war wirklich Zeit zu gehen. Sie hatte gesagt, weswegen sie gekommen war und sie begriff auch, dass Rom nicht an einem Tag erbaut werden konnte. Immerhin wünschte sich Blaise von jemandem Nähe, der offensichtlich am liebsten allein war. Paradox oder nicht, es war eine Herausforderung. Sie drehte sich um und ging zurück zu dem kleinen Grüppchen Elevender, das bald aufbrechen würde.
Slaters Blicke im Rücken spürte Blaise genau und hoffte, dass sie nur eine Schlacht verloren hatte, den Krieg aber noch nicht.
Dareon spurtete aus seinem Zimmer. Im Gehen band er noch die Fliege, die zu dem schwarzen Smoking gehörte. Er trug häufig Anzüge, wenn er sich zu seinen nächtlichen Spritztouren aufmachte und in seinem langen Leben hatte er schon jede Art von edlem Zwirn durch. Bis gestern hätte er gesagt, nichts konnte ihn mehr überraschen. Doch dann war Cat aufgetaucht und hatte ihn eines Besseren belehrt.
Sie war eingeschlagen wie ein Komet, in seine halbwegs geordnete Welt und jetzt musste er sich mit beunruhigenden Gedanken herumschlagen. Darüber, wie sie ihn ansah. Wie sich ihre Haut anfühlte und wie wohl ihre Lippen?
Er hasste, dass er so auf sie reagierte und am liebsten wäre er jetzt einfach in sein Auto gestiegen und hätte sich davon geschlichen. Doch es stimmte, was er heute Nachmittag gesagt hatte. Er wollte wieder in Ordnung bringen, was er versiebt hatte. Und seine plötzliche Obsession von dieser Frau hatte rein gar nichts damit zu tun!
Entschlossen, den heutigen Abend professionell über die Bühne zu bringen, bog er um die Ecke und kam an der Treppe zum Foyer an. Sein Blick fiel auf die versammelte Mannschaft zu seinen Füßen. Die meisten waren in die dunkle Lederuniform der Legion gehüllt, Chris und Quentin trugen unauffällige Straßenkleidung und deshalb stach die Frau in der schillernden Abendrobe auch so heraus. Unwillkürlich blieben seine Augen an ihr haften, als hätte er sie mit Superkleber fixiert. Und obwohl er diese Reaktion sofort verurteilte, konnte er doch rein gar nichts daran ändern.
Ihr Haar war hochgesteckt und der Pony elegant zur linken Seite frisiert.Sie trug ein Kleid, ein Kunstwerk aus in einander verschlungenen Stoffbahnen in mehreren Blau- und Grüntönen. Das Dekolletee und der Rücken waren nur von einem durchsichtigen, leichten Gewebe verhüllt, ebenfalls in einem Blau, das ihr hervorragend stand. Die grünen Akzente betonten ihre Augen, die jetzt zu ihm hoch wanderten, während sie den Kopf hob und ihn suchte, als hätte sie ihn bereits gespürt, ohne ihn zu sehen. Die Macht dieser urtümlichen Verbindung erschütterte ihn wieder. Leichte Panik stieg auf, doch er sagte sich, dass es ihm doch schon am Nachmittag gelungen war, Cat zu widerstehen. Zumindest soweit, dass es nicht zum Äußersten gekommen war. Unten an derTreppe richtete er seine Schritte in entgegengesetzte Richtung und stieß zu Roman und Ferroc. So weit, so gut. Eins zu Null für ihn.
„Hier.“ Ferroc reichte ihm eine kleine Mappe aus schwarzem Samt. „Die Wanzen sollen in die Büros und an alle Telefone. Hast du alles, was du brauchst?“
Dareon knöpfte die Smokingjacke auf und schob den rechten Schoß zur Seite. Darunter kam seine Waffe zum Vorschein. Eine Spezialanfertigung aus Kunststoff, einer der vielen Geniestreiche von Jordan, denn das Material wurde von keinem Scanner entdeckt. Werkzeug aus dem gleichen Stoff hatte er mit kleinen Gurten an den Knöcheln befestigt.
„Gut. Roman wird mit euch und mir Kontakt halten.“ Der Puerto-Ricaner nickte ernst. Dann ging er zu seiner Frau, um sich zu verabschieden. Aber es schien als täte er es erst nach einem auffordernden Blick von dem großen tätowierten Elevender. Dareon beobachtete das Paar verwundert. Die sonst so einträchtige Idylle wirkte nicht mehr ganz so friedvoll. Beide Elevender berührten sich kaum und er hatte den Eindruck, dass Rome Yumi auswich.
„Was ist denn da los?“
„Irgendwas ist wohl vorgefallen. Er geht kaum noch nach Hause, die Zwillinge sind ständig auf der Suche nach ihm.“
„Trottel!“ Zu spät bemerkte er die Parallelen. Wütend stopfte er die geballten Fäuste in die Taschen, er würde sich heute Abend nicht den Kopf verdrehen lassen.
„Es gibt viel zu wenige Familien auf diesem Stützpunkt. Das ist nicht gut für die Stimmung. Paare stabilisieren die Gemeinschaft, zu viele Singles auf einem Haufen stiften Chaos.“
Dareon brummte nur zustimmend, ihm brauchte Ferroc das nicht extra zu erklären. „Dann weißt du ja, was du zu tun hast!“
„Ich?“ Ferroc lachte auf, aber es klang eher bitter als amüsiert. Er winkte ab. „Wohl kaum. Es ist ziemlich schwierig jemanden zu finden, wenn man sozusagen unter permanentem Hausarrest steht. Außerdem bin ich sowieso zu beschäftigt. Aber was ist mit dir? Die kleine Campbell scheint dich nicht ganz kalt zu lassen. Würde dir gut tun.“
Dareon reagierte nicht auf das unverschämte Grinsen. Er ärgerte sich nur darüber, dass es ihm offenbar nicht gelungen war, diese aufwühlende Geschichte geheim zu halten. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war eine geifernde Menge, die jedem seiner Schritte mit Argusaugen folgte und sich dann das Maul darüber zerriss. „Danke. Aber, nein danke. Ich habe andere Pläne.“
„So, so, dann pass‘ mal auf, dass dir diese Pläne nicht ins Kreuz fallen.“ Er stieß Ferroc an, was genauso viel Effekt hatte, als wollte er einen Elefanten schubsen und der große Maori lachte lediglich. „Lauf nur weg, es wird bestimmt lustig, zu sehen, wie weit du kommst.“
Ferroc verließ ihn und ging zur Treppe, während die Truppe zu dem Auftrag aufbrach. Alle zwängten sich durch den kleinen Durchgang zur Garage und Dareon landete ganz am Ende der Prozession, wo er sich neben Slater wiederfand.
„Merkwürdiger Abend“, sagte der und warf ihm einen kühlen Seitenblick zu.
„Ja, es liegt irgendwas in der Luft.“
„Scheiße.“
„Schöne Scheiße!“
Slater war immer so wortkarg, aber Dareon hatte schon vor Längerem festgestellt, dass er der einzige war, zu dem der verschlossene Kerl hin und wieder Kontakt aufnahm. Er hatte keinen Blassen warum, aber Vermutungen gab es da natürlich schon. Vielleicht lag es daran, dass er sich insgeheim ebenso verschloss, obwohl er nach außen den Lustigen, manchmal auch den Aufgebrachten gab.
Doch bevor auch sie beide den engen Durchgang erreicht hatten, rief eine helle Stimme Slaters Namen.
„Vincent?“
Dareon wandte sich um, der Mann neben ihm ging ungerührt weiter. Blaise stand alleine im Foyer und hatte die Arme um ihre Mitte geschlungen. Ihre besorgten Blicke durchlöcherten Slater geradezu, doch dieser blieb nicht stehen, ignorierte sie einfach. Sie beugte sich leicht vor, als sie diesmal lauter sprach und er konnte den sanften Unterton darin vernehmen. „Sei‘ bitte vorsichtig! …Du natürlich auch, D.“
Ihre Augen glitten einen Moment lang fragend zu ihm herüber, aber er hob nur ratlos die Schultern. Slater war eben kein Mann großer Worte, er selbst war schon über das Bisschen überrascht, das er mit ihm sprach. Er hob die Hand zum Gruß und folgte dann den anderen.
Bei den Autos verabschiedeten sie sich. „Pass‘ auf dich auf, Kumpel.“
Slater neigte nur leicht den Kopf als Zeichen, dass er es gehört hatte und stieg dann bei Quentin und Roman ein. Dareon schlüpfte in den schwarzen SUV zu Xandra und Cat. Die blonde Elevenderin hatte sich bereits den Fahrersitz gekrallt. Sie würde also die Chauffeurin spielen, weshalb er sich notgedrungen zu der zierlichen Frau auf den Rücksitz schob.Die vordere und hintere Kabine wurden durch eine dunkel getönte Scheibe getrennt. Er sah aus dem ebenfalls schwärzlich gefärbten Fenster und wollte ihre Gegenwart ausblenden, aber schon bald umfing ihn ein betörender Geruch. Zum ersten Mal gestattete er sich, ihn tief einzusaugen und davon zu kosten.
Er schmeckte Rosenwasser, einen Hauch Lavendel und… Frühlingsregen! Oh mein…! Sie roch verdammt noch mal genauso wie…, wie…, diesen Duft hatte er schon ewig nicht mehr vernommen, es war Jahrhunderteher und doch konnte er sich an ihn erinnern, als wäre es gestern gewesen. Er hatte sich tief in sein Herz, ja, wahrscheinlich sogar in seine Seele eingebrannt und gehörte zu den schönsten Momenten, die er in seinem überlangen Leben geschenkt bekommen hatte. Benommen sah er rüber zu Cat und musterte sie unauffällig.
Wieso zum Teufel roch sie wie seine Mutter?
Die schon so lange tot war, dass er manchmal Angst hatte, er hätte vergessen wie sie war, wie ihre Stimme klang. Wie es sich anfühlte, heil zu sein. Cat ließ nun all diese Bilder aus seiner Vergangenheit auf ihn einstürmen, unfreiwillig öffnete er sich dafür,… für sie. Dieser Geruch erweckte in ihm ein Sehnen, das er nie zuvor gekannt hatte. Nach Zufriedenheit. Und dies zog ihn wie magisch an, als hätte die übernatürliche Verbindung zwischen ihnen nicht schon gereicht!
„Was ist?“ Cat klang verunsichert, als sie seine Aufmerksamkeit bemerkte.
„Nichts.“
Sie seufzte vernehmlich. „Können wir für heute Abend einen Waffenstillstand vereinbaren? Das könnte sonst peinlich werden.“
„Ach, und das war es bisher nicht?“ Er bekam einen bösen Blick aus zusammengekniffenen Augen. „Schön, ein Waffenstillstand also. Unter einer Bedingung!“
Sie drehte sich zu ihm und verschränkte die Arme. „Welche?“
„Halt‘ Abstand.“
Ein sehr unweibliches Schnauben. „Mit dem größten Vergnügen. Und dito!“
Daraufhin zeigte sie ihm die kalte Schulter.
Das temporär begrenzte Friedensabkommen war besiegelt und die weitere Fahrt verlief schweigend. Dareon rang mit dem Duft im Innenraum des Wagens, versuchte so wenig wie möglich zu atmen. Es dauerte nicht lange, da schwirrte ihm der Kopf davon und er musste es bleiben lassen. So durchströmte ihn diese Briese, letztlich konnte er nichts anderes mehr in der Luft wahrnehmen.
Bis zu den Stadtgrenzen von Ceiling fuhren sie als Zweier-Kolonne, dann bog das Fahrzeug vor ihnen ab und nahm eine andere Route zu ihrem Ziel. Xandra ließ die Trennscheibe herunter.
„Cat, mach‘ dich auf was gefasst. Roman klopft gleich bei dir an.“
„Wa…?“ Sie zuckte zusammen und fasste sich unwillkürlich an die Stirn. Nur eine Sekunde später fühlte auch Dareon den Druck an den Schläfen, ein sanftes Pochen. Romans Art, um Einlass zu bitten. Das tat er nur, weil er höflich war, er hätte jeden Geist aufreißen und mit ihm in Verbindung treten können, doch je heftiger man sich wehrte, desto schmerzhafter war die Prozedur. Außer bei Dareon. Da er immun gegen Elevenderkräfte war, musste er sich bewusst entscheiden, den Eingriff zuzulassen. Für ihn war das anstrengender, als für andere. Schnell ließ er die vertrauten psychischen Händedes mächtigen Telepathen ein und vernahm kurz darauf bereits Romes Stimme. ‚Alles klar bei euch, D?‘
‚Roger.‘
„Was, um Himmels Willen, ist das denn?“ Cat wandte sich erstaunt mehr Mals um. „War das eben laut, oder nur in meinem Kopf?“ Wieder erschrak sie, als Roman ihr erklärte, wie sie mit ihm und den anderen kommunizieren konnte. Der braungebrannte Elevender fungierte wie ein mentales Telefon und konnte auch mehrere Sprecher zusammenschalten. Dabei musste man als Beteiligter aber lernen wie man kontrollierte, welche Gedanken in die Leitung liefen und welche nicht. Dareon betete dafür, dass Cat sich im Zaum halten mochte. Anscheinend waren sie sowieso schon Gesprächsthema Nummer eins, noch öffentlicher musste es nun wirklich nicht werden.
Seine Sitznachbarin schien sich schnell an diese Art des Funks zu gewöhnen und unterhielt sich schon bald freudig erregt mit den Anderen. Roman und Xandra beschrieben die Raumaufteilung des Hauses, das sie bald erreichen würden. Außerdem gaben sie die letzten Instruktionen, wie sie sich am Eingang verhalten sollten. Cats grüne Augen leuchteten in der Dunkelheit vor Begeisterung, ausdrucksvoll geschminkte Wimpern machten den Anblick besonders verführerisch. Sie hatte die Stahlringe tatsächlich aus ihrem Gesicht entfernt und es erwies sich, dass sie die feinen Züge einer Puppe besaß. Es dauerte bis zum Speaker’sHill, seine Aufmerksamkeit von ihr loszureißen. Das war eine noble Gegend und wenig später fuhr Xandra eine ausladende Auffahrt hinauf, in der unzählige Luxuskarossen geparkt waren.
‚Wow, ein Silverstar.‘ kam es über die telepathische Verbindung von Cat. ‚Oh, das wollte ich gar nicht laut sagen!‘ Sie hob die Hände vor den Mund und machte große Augen. Gott sei Dank, war es etwas Unverfängliches!
Dareon fixierte sie, überrascht, dass sie das Nachfolge-Modell des beinahe 90 Jahre alten Audi R8 erkannt hatte. „Du magst Autos?“
„Mögen ist wahrscheinlich übertrieben. Ich interessiere mich für sie.“ Eine wegwerfende Handbewegung sollte die Belanglosigkeit dieser Aussage unterstreichen.„ Eigentlich habe ich mich schon seit Ewigkeiten nicht mehr damit beschäftigt.“
Ihre Fahrerin hielt den Wagen vor einer riesigen Eingangstreppe an. Zwei mit Headsets bestückte Männer in klassischen schwarzen Anzügen standen dort bereit und einer kam ihnen entgegen.
Xandra sah sich noch einmal zu Cat um. ‚Bereit?‘ Diese nickte, aber man konnte sehen, dass sie sich nicht ganz wohl fühlte.
‚Augen zu und durch!‘
Da wurde die Türe geöffnet und die zierliche Elevenderin ergriff furchtlos die Hand des Pagen, ließ sich von ihm aus dem Auto helfen.
Cat richtete ihren langen Rock und sah nach oben. Sie hatte nichts übrig für Reichtum, aber dennoch wusste sie architektonische Schönheit zu schätzen. Vor ihr ragte ein hohes Gebäude in die Luft, vergleichbar mit einer Stadtvilla im elisabethanischen Stil. Kleine Zinnen und Giebelchen, viele zierliche Fenster, eine kunstvoll angestrahlte Außenfassade. Sie staunte nicht schlecht über die große Parkanlage, die das Haus umspannte und jetzt in dieser schwülen Hochsommernacht sehr lauschig erschien. Die Sonne ging gerade unter, letzte Strahlen brachten halb geschlossene Blütenkelche zum Leuchten und fingen sich in saftig grünen Blättern.
Dareon trat neben sie und knöpfte die Jacke seines Smokings zu, dann hielt er ihr den Arm hin, verzog keine Miene dabei. Innerlich fluchte sie, nahm aber doch das Dargebotene an und ließ ihre Hand in seine Ellenbeuge gleiten. Während sie so die Treppen hinauf stiegen, kam sie sich ausgesprochen stark vor, genau am richtigen Platz, ein Team mit dem perfekt passenden Partner. Das war der Stoff für Legenden, sonst gab es sowas doch nur im Märchen.
‚Ganz ruhig bleiben. Überlass‘ mir das Reden und bis wir an den Türstehern vorbei sind, herrscht ab jetzt Funkstille!‘
Sie hatten fast den obersten Treppenabsatz erreicht und trafen auf zwei Hünen von Männern, ebenfalls in dunklen, schlichten Anzügen, die wirkten, als bewachten sie das große Eingangsportal. Beide Türen waren fensterhaft gestaltet und schienen keinen sonderlichen Schutz zu bieten, aber die Grundstücksmauer, die sie vorhin passiert hatten, und das viele Wachpersonal waren offensichtlich für diese Aufgabe zuständig.
Ihr Begleiter führte sie direkt zu den beiden Männern, während Cat damit beschäftigt war, ihre Nervosität zu bekämpfen. Ihre neuen Kollegen hatten ihr eingeschärft, sich nichts anmerken zu lassen und wahrscheinlich war jetzt der Zeitpunkt gekommen, in ihre alt vertraute Rolle zu schlüpfen. Eine, die sie schon lange nicht mehr gespielt hatte und die sie eigentlich gar nicht haben wollte. Nur heute Nacht, beruhigte sie sich selbst und verfiel in einen eleganteren Gang. Auch die Wirbelsäule richtete sie auf und das Kinn wurde ein wenig angehoben. Jetzt sah sie wie eine Frau aus, die hier her gehörte: überheblich, selbstbewusst und rücksichtslos.
Der Ellenbogen um ihre Hand wurde fester zusammen gedrückt. Dareon hatte die Veränderung bemerkt, aber schon im nächsten Augenblick grüßte er den einen Mann mit einem herablassenden Kopfnicken und zog Cat gemessenen Schrittes an ihnen vorbei. Er zögerte nicht, ließ gar nicht zu, dass infrage gestellt wurde, ob sie ein Recht darauf hatten, hier zu sein. Die beiden Bodyguard-Typen beobachteten sie durch ihre Sonnenbrillen genau, ließen sie aber ohne Kommentar passieren.
Drinnen angekommen atmete Cat erleichtert auf und Dareon ließ los. Der Verlust traf sie wie ein Faustschlag.Suchend blickte sie zu ihm hoch, aber seine Augen glitten über die Köpfe der vielen Gäste hinweg, die sich in einem riesigen Raum befanden. Anscheinend waren im gesamten Erdgeschoss die Zwischenmauern entfernt worden, nur ein paar tragende Elemente standen noch. Im Profil sah das Objekt ihrer Begierde verheerend sexy aus, die Locken umspielten seidig die Konturen seiner Stirn. Er vermittelte sonst diesen herben, männlichen Eindruck und scheinbar passte er gut in die wilde Natur und in Kriegerrüstungen, wie er vorhin beim Training bewiesen hatte. Trotzdem machte er auch in dieser vornehmen Umgebung eine gute Figur. Gerade die Kombination brachte den Kick.
Ohne Vorwarnung hörte sie erneut Romans Stimme im Kopf und fuhr auf. Das alles war noch ziemlich ungewohnt. Dareon betrachtete sie tadelnd.
‚Seid ihr rein gekommen?‘
Der Elevender an ihrer Seite antwortete für sie beide. ‚Ja. Wir mischen uns jetzt unters Volk, um unauffällig zu wirken.‘
‚Meldet euch, wenn’s was gibt.‘ Die telepathische Verbindung war wieder still.
Auch Cat besah sich jetzt den Raum, der festlich und stilvoll geschmückt worden war. Die Gäste standen oder saßen in Grüppchen zusammen, allesamt in die teuerste Haute Couture gehüllt. Und plötzlich war sie froh, dass Xandra und Blaise ihr dieses Kleid aufoktroyiert hatten. Es war raffiniert geschnitten und auffällig, aber nicht zu überbordend. Sie selbst hätte sich nie für so ein Stück entschieden. Doch mit ihrer eigenen Auswahl wäre sie sich jetzt wahrscheinlich underdressed vorgekommen.
Wie angekündigt schlenderte sie neben Dareon durch die prächtige Einrichtung und die reichen Anwesenden. Kellner liefen ebenfalls im Raum herum und boten Hors d‘oeuvre oder Champagner in Kristallgläsern an. Alles war ziemlich pompös. Dareon schnappte sich eine Minipastete von einem vorbei eilenden Tablett, warf sie sich in den Mund und kaute genüsslich. Cat schlug ihm leicht auf die Hand.
„Du brichst die Anstandsregeln! Zuerst kommen der Champagner und ein wenig Smalltalk. Dann kannst du dich auf die Hors d’oeuvres stürzen. Aber nimm‘ eine Serviette!“
„Woher willst du das denn wissen?“
„Bin in diesen Kreisen aufgewachsen…“, murmelte sie und angelte nach einem Glas Prickelwasser. Klar hatte sie nicht vor, sich zu betrinken, aber ein wenig Auflockerung war sicher nicht verkehrt. Vor allem wenn sie genügend Mut aufbringen wollte, um ihre Pläne in die Tat umzusetzen. „Also, da der Champagner abgehakt ist,…“ Ein Schwenk mit dem leeren Kristallglas bestätigte die These. „Ist jetzt der Smalltalk an der Reihe.“
Ein Mann in ihrer Nähe erzählte gerade eine Anekdote darüber, wie er sein Haus beim Pokern verloren hatte. Cat reihte sich in die Zuhörer ein und lachte an den passenden Stellen mit. Die Geschichte war eigentlich überhaupt nicht witzig, wer spielte denn schon um ein ganzes Gebäude? Nur Leute, denen das Geld schon zu beiden Ohren rauskam und die den Verlust einer Immobilie wahrscheinlich erst nach Monaten bemerkten. Trotzdem, sie gab sich kokett und kultiviert, toastete dem Sprecher gemeinsam mit den anderen zu, nachdem er zum Ende gekommen war. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie gleichzeitig, dass Dareon sich mit einer Dame älteren Datums unterhielt. Die fand ihn offenbar sehr amüsant.
Als die Meute sich verlor, ging Cat hinüber zu dem freimütigen Zocker und lächelte ihn charmant an.
„Sie haben wohl einen Faible für‘s Risiko…“
Erstaunt wandte er sich ihr zu, musste nach unten sehen, dabei fiel ihm das braune, verwuschelte Haar in die Stirn. „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. So heißt es doch. Spielen Sie auch gerne?“
„Oh, nein! Nicht mehr.“ Ein schelmisches Lachen legte sich auf ihre Lippen. „Ich habe da noch mehr Pech als Sie.“
„Na dann sollten wir beiden Pechvögel uns zusammen tun und gemeinsam etwas trinken.“ Mit einer herrschaftlichen Geste winkte er einen Kellner herbei und nahm zwei volle Gläser vom Silbertablett. Eines davon reichte er gleich weiter. Sie stießen an, auf das Pech, und grinsten.Cat registrierte, dass seine Blicke ihren Körper scannten und zumindest schien ihn der nicht abzustoßen.
„Ich bin Greg McCartey und wie lautet der Name der reizenden Lady?“ Er wies mit dem Glas auf sie. Indessen horchte Cat auf. McCartey… McCartey… McCartey…, Moment, das war doch die Familie, die diese Party hier schmiss!
Cat benutzte den Tarnnamen, den ihr Xandra genannt und gesagt hatte, dass er auch einer Überprüfung standhalten würde. „Brenda Carpenter. Freut mich sehr.“ Ein anmutiger Knicks. „Dann darf ich Sie im Nachhinein noch beglückwünschen. Ich hörte, es gab vor nicht allzu langer Zeit ein freudiges Ereignis in ihrer Familie. Eine Hochzeit, wenn ich mich recht erinnere. Wer sind denn die Glücklichen?“
„Danke. Die Glückwünsche nehme ich gerne entgegen, in meiner Funktion als Ex-Bräutigam.“ Greg McCartey verbeugte sich leicht.
„Und wo haben sie ihre Gattin gelassen?“
Er winkte nur ab und grinste dann frech. „Die jettet wahrscheinlich gerade durch die Welt. Monaco oder Saint Tropez, vielleicht auch Mauritius, da soll es um diese Jahreszeit fantastisch sein.“
„Sie ist gar nicht hier?“
„Nein. Wir haben der Geschäftewegen geheiratet und jetzt lassen wir uns so viel Freiraum, wie nur möglich.“ Er sagte das, als sei es etwas ganz Alltägliches und sie erinnerte sich, dass das in höheren Kreisen tatsächlich gang und gäbe war. Es wurde wegen des Geldes geheiratet und sich getrennt, da verkam die Ehe zu einem Vertrag auf einem Blatt Papier. Darüber hinaus konnte man nur hoffen, dass man irgendwie mit einander klar kam. Wie es aussah, war das im Hause Cohen-McCartey der Fall.
Sie dachte an Blaises Tipps und daran, dass der Typ hier vielleicht eine gute Informationsquelle abgeben könnte. Dann schielte sie zu Dareon hinüber, der immer noch in ein Gespräch mit dem moderneren Angela Lansbury-Double verwickelt war.
„Wenn das so ist, sollten Sie mir unbedingt den Garten zeigen. Mir ist schon von draußen aufgefallen, wie prachtvoll er ist und ich möchte ihn sehr gerne sehen.“
Als ihr Gegenüber freudig zustimmte, telepathierte sie an die Gruppe: ‚Bin gleich wieder da. Hab‘ hier einen McCartey gefunden!‘
‚Warte, Cat!‘, warnte Dareon durch den mentalen Kanal, aber sie hörte nicht.
Xandra mischte sich natürlich sofort ein. ‚Will sie gerade abhauen? Du darfst sie nicht alleine gehen lassen, D!‘
Grummelnd speiste er die ältere Dame mit ein paar freundlichen Worten ab. Er hatte von ihr ohnehin nicht viel erfahren können, sie schien sich mehr für das Interieur dieses prunkvollen Hauses zu interessieren, als pikante Details auszuplaudern. Außerdem war bei ihr sowieso fraglich, ob sie überhaupt etwas wusste.
Schnurstracks folgte er dem einträchtigen Zweiergespann mit einigem Abstand auf die Terrasse und spitzte die Ohren.
„Sie verzeihen doch“, sagte Cat gerade und nahm eine Packung Zigaretten aus dem winzigen blauen Täschchen, das sie sich unter den Arm geklemmt hatte. Der schleimige Kerl entwendete ihr das Feuer, kurz bevor sie es benutzen konnte, ließ es aufleuchten und hielt ihr dann seinerseits die Flamme hin. Während sie die Zigarette daran anzündete, sah sie zu ihm auf und obwohl sie es höchstwahrscheinlich nicht beabsichtigte, war dieser Anblick sogar noch aus einiger Entfernung aufreizend.
‚Was machst du da?‘, fragte er aufgebracht und ging im Schatten einer Hecke weiter, als die beiden ihren Weg über einen Kiespfad fortsetzten, der zwischen getrimmten Büschen mit bunten Blüten hindurchführte..
‚Recherchieren. Was sollte ich denn sonst tun?‘, mimte sie das Unschuldslamm.
‚Zum Beispiel das Haus durchsuchen???‘
‚Dazu haben wir immer noch Zeit.‘
‚Du spielst mit dem Feuer!‘
‚Jetzt mach‘ mal halblang!‘
Sein Ärger verstärkte sich immer mehr. Doch während er so alleine durch den Garten strich und beobachtete, fiel ihm jetzt erst auf, dass Catlynn sich heute Abend sehr weiblich bewegte. Sie wirkte offen und flirtete. Ihr Körper war beim Gehen anmutig und grazil, obwohl sie so klein war. Sie hätte unter den ausgestreckten Armen ihres Gesprächspartners durch gepasst. In dieser malerischen Umgebung zwischen blühenden Blumen und Sträuchern hatte sie etwas extrem Feminines und Elfenhaftes an sich.
„Wohnen Sie hier?“, erkundigte sich Cat zwischen zwei Zügen am Glimmstängel und ließ den Rauch langsam wieder aus dem Mund entweichen. Der Widerling hing an ihren Lippen und Dareon ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten.
„Nein. Es ist das Haus meiner Großeltern. Sie lieben solche Partys. Aber ich habe seit meiner Kindheit fast jeden Sommer hier verbracht. Da drüben bin ich mal vom Baum gefallen, da war ich acht oder neun, und hab‘ mir den Arm gebrochen. Es hat ziemlich wehgetan.“ Er hob eine Hand und rieb sich verlegen den Nacken.
Was für eine billige Masche, dachte Dareon und verfluchte diesen geschniegelten Fatzken im edlen Zwirn. Als dieser auch noch nach Cats zartem Arm griff, musste er die Zähne zusammenbeißen, um sich einen fiesen Kommentar zu verkneifen.
„Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Es ist hier drüben.“ Und schon hatte der Kerl sie ins Gebüsch gezogen.
Für eine winzige Sekunde erstarrte Dareon, dann schaltete er auf Kampfmodus um. ‚Quentin, hast du sie noch im Visier?‘
‚Negativ!‘
Die Meldung überraschte ihn nicht. ‚Die Gegend absichern.‘
‚Geht klar‘, kam es von Quentin zurück, der mit seiner Remington auf der Lauer lag und ihnen Deckung gab.
Auch Roman schaltete sich über den Funk ein. ‚Verdammt, D! Was passiert bei euch?‘
‚Ich regle das!‘, knurrte Dareon. Da sein Rücken also frei war, preschte er los und schlug sich ins Unterholz, bemüht, keinen Laut zu machen und seinen Smoking nicht zu ruinieren. Die Hecke, durch die er sich zwängen musste, war nicht besonders dicht und so fand er die beiden Ausreißer nach kurzer Zeit. Er gab Entwarnung.
McCartey hatte Cat zu einem kleinen Teich geführt, der hier verborgen zwischen großen Sträuchern und Bäumen lag und in den ein kleiner Wasserfall über Natursteinen mündete.
„Das ist ein wirklich schöner Ort“, hauchte die zarte Elevenderin und ihm kam es so vor, als strahlte sie. Er konnte es dem anderen Kerl nicht verdenken, dass er Cat mit den Augen ausziehen wollte, aber ob er es tolerieren würde, hatte er noch nicht entschieden.
„Ja, der Platz gefällt sogar meiner Angetrauten, dabei ist sie sonst nicht so leicht zu beeindrucken.“
Cat blickte auf und tat einen letzten Zug von der Zigarette. „Wieso hat man Sie beide denn verheiratet? Hatten Sie gar keine Wahl?“
Ein vernehmliches Seufzen ertönte.
„Mein Vater hat einiges auf dem Kasten und in seinem Fall hat das mächtige Leute auf den Plan gerufen. Manchmal ist es das Beste, Allianzen zu schließen. Verstehen Sie, was ich meine?“
„Ja.“ Und Dareon nahm ihr sofort ab, dass sie es ernst meinte. Unbewusst erkannte er, dass hinter dieser Aussage eine Geschichte steckte, die Cat geprägt hatte. Sofort grübelte er über die Möglichkeiten nach. Gleichzeitig gab er das Gehörte an die anderen weiter. Cat sagte nichts über den Funk. Sie schien voll und ganz ins Gespräch vertieft.
„Ich hoffe, es hat sich für Ihre Familie gelohnt.“
„Das hat es. Sie sind jetzt sicher.“ Der Kerl griff hinüber, um Cat eine Strähne ihres hübsch frisierten Ponys hinters Ohr zu streichen. Leise Musikklänge wehten vom Haus herüber, anscheinend hatte das kleine Orchester zu spielen begonnen. „Tanzen Sie mit mir, Brenda.“
Dieses Flüstern konnte Dareon beinahe nicht mehr verstehen und da er dem Schleimscheißer zudem gerne die Schulter ausgekugelt hätte, schlich er sich näher heran. Etwas in ihm behauptete unumstößlich, dass er an McCarteys Stelle hätte sein sollen.
Es wurde immer heißer in seiner Brust, während er mit ansehen musste, wie Cat in starke Arme gezogen wurde, die nicht seine waren. Trotz des Wissens, dass er ihre Avancen mehrfach zurück gewiesen hatte, konnte er sich jetzt kaum zurück halten. Wie schon bei Christian erwachte sein Besitzinstinkt zum Leben. Dareon stemmte die Füße tief ins weiche Gras und krallte sich mit einer Hand an einem Haselnussstrauch fest. Der würde ihm nicht lange Halt bieten, so viel war klar.
Unterdessen lehnte Catlynn sich vorsichtig an ihren Begleiter und die beiden wiegten sich zu der langsamen Melodie.
„Das ist Chopin“, merkte sie an.
McCartey schmunzelte vertraulich. „Eine Kennerin.“
Die Eifersucht gab Dareon einen heftigen Tritt in die Eier. Dieser Fremde wusste schon nach fünf Minuten mehr über Cat als er. Mit ihm hatte sie sich bisher nur gestritten, was er natürlich forciert hatte. In diesem Augenblick begann er, das ein wenig zu bereuen. Nur ein winziges Bisschen. Er machte noch einen weiteren langen Schritt.
Der Kerl hob Cats Kinn an und beugte sich langsam runter. „Ich mag intelligente Frauen.“
Stricke begannen zu reißen, Dareon lehnte sich nach vorne. Wie ein Raubtier hatte er seine Beute fixiert und war schon drauf und dran, zum Sprung anzusetzen…, da ertönte von drinnen eine helle Glocke. Cats Kopf flippte zu dem Geräusch herum.
„Was war das?“
„Es gibt gleich eine kleine Ansprache.“ Jetzt klang der menschliche Erbe nicht mehr ganz so fröhlich.
„Dann sollten wir wieder hinein gehen. Kommen Sie.“
Entschlossen löste sie sich von ihm und zog ihn wieder zurück auf den Weg. Dareons Blut rauschte durch seinen Körper und pochte in seinen Schläfen. Sein Herzschlag ging immer noch viel zu schnell, während er den beiden zum Haus folgte.
Er kam kurz nach ihnen an und trat zu den Umstehenden, die den Begrüßungsworten der Gastgeber lauschten. Ein älterer Mann stand auf dem niedrigen Podest beim Orchester und sagte ein paar Worte. Kurz darauf winkte er seinen Enkel zu sich, um ihn dem Publikum als frisch gebackenen Ehemann vorzustellen. Cats Begleiter entfernte sich von ihr und stieg zu seinem Großvater hinauf. Dareon nutzte die Gelegenheit sofort und schob sich hinter sie.
„Bist du fertig?“ Sein barscher Tonfall schien keine Wirkung zuerzielen. Sie reckte nur den Hals und warf einen Blick über die Schulter. Das Bild, das sie in dieser Haltung abgab, war derartig sexy, dass ihm die Luft wegblieb. Der Rücken bildete seine sanfte S-Form, auf der weichen Haut lag ein überirdischer Glanz.
„Ja, bin ich. Und sag‘ nicht, es hätte nichts gebracht. Das klang doch eindeutig, als wären die McCarteys von den Cohens bedroht worden.“
„Das war’s nicht wert.“
Jetzt drehte sie sich ganz zu ihm um. Interessiert hob sie beide Augenbrauen. „Ach, wirklich?“
„Natürlich nicht! Weder Quentin noch ich hätten dich erreichen können, wenn diese Pfeife in dem Moment irgendeinen Scheiß‘ abgezogen hätte.“ Wie hatte sie sich nur so leichtsinnig verhalten können? Er konnte seinen Zorn kaum verbergen, denn der hatte sich in seine flüsternde Stimme geschlichen. „Du musst vorsichtiger sein.“ Cat sah mit einer Miene zu ihm auf, als hätte sie erkannt, dass er nicht mehr zu Scherzen aufgelegt war. Sie nickte beklommen. „Komm‘ jetzt.“
Die Versammlung lenkte die Aufmerksamkeit der Gäste auf den Redner und so bot sich ihnen ein Zeitfenster, um sich unbemerkt zu verdrücken. Er schlüpfte durch die Menge und zog das Fliegengewicht hinter sich her. Widerstandlos folgte sie ihm ins Getümmel, bis sie in einem Flur verschwunden waren.
Dareon ließ sich von Xandra zum ersten Büro leiten. Das Stimmengewirr verlor sich immer mehr, während sie eine Treppe in den ersten Stock nahmen. Hier oben war niemand unterwegs, trotzdem waren sie vorsichtig. Ihre Schritte wurden von einem luxuriösen Läufer geschluckt, aber es konnte jederzeit jemand um die Ecke kommen. Lautlos öffnete er die Tür zu dem Raum, den sie suchten und ließ Cat im Türrahmen zurück, damit sie die Umgebung beobachten konnte. Indessen machte er seine Arbeit.
Am Schreibtisch angekommen, schraubte er das Designer-Modem des Telefons auseinander und verkabelte die winzige Wanze mit den Drähten der Leitung. Zum Glück hatte er hier das zentrale Hirn der Anlage vor sich, sodass es genügte, diese anzuzapfen, um jeden Apparat abzudecken. Daraufhin sah er sich suchend im Raum um. Er brauchte einen weiteren Ort, der als Versteck ziemlich unwahrscheinlich erschien, denn ein Abhörgerät im Telefon war doch recht offensichtlich und konnte leicht gefunden werden.
Die Einrichtung war, wie alles hier, großspurig und stank nur so nach Geld. Sogar ein ausgestopfter Puma-Kopf hing an der Wand. Noch während er sich über diese aristokratischen Pinkel ärgerte, kam ihm die Idee. Schnell kletterte er auf das Sofa unter diesem Symbol der Großkotzigkeit und versenkte eine weitere Wanze tief in dessen Maul.
Danach widmete er sich dem Computer. Jordan hatte eine Spyware entwickelt, die das Netzwerk infiltrierte und jede Bewegung an die Legion weiterleitete. Das Gerät musste noch nicht mal eingeschaltet sein, wenn er den Stick mit dem Virus einstöpselte. Die Schreibtischschubladen waren unverschlossen und schnell durchsucht. Es gab keine wichtigen Unterlagen darin, wahrscheinlich war alles digitalisiert, denn er fand noch zwei weitere Tablet-PC’s, welche er ebenfalls mit dem Virus versorgte. An den Wänden wies nichts auf geheime Tresore hin, er klopfte sie ab und zog ein paar Bücher aus den Regalen, allerdings nicht ohne sie sorgfältig wieder zurück zu stellen. Seine Gründlichkeit wurde nicht belohnt, alles war peinlich sauber.
‚Fertig.‘ Er trat zu Cat, die immer noch im Türrahmen wartete und den Flur im Auge behielt.‚Lass‘ uns weiter gehen.‘ Sie folgte ihm und hatte jetzt einen kühlen und konzentrierten Gesichtsausdruck aufgesetzt. Stillschweigend durchkämmten sie ein Zimmer nach dem anderen und Catlynn stellte sich als effiziente und umsichtige Partnerin bei dieser Aktion heraus. Dareon fand nirgends etwas Auffälliges. Der ganze Schnick Schnack ödete ihn nach einer Weile an und das Haus schien ohnehin nicht als Dauerresidenz zu dienen. Das waren schlechte Karten, um an wichtige Informationen zu gelangen. Trotzdem setzten sie die Tour fort. Es war immerhin möglich, weiterführende Hinweise aufzuschnappen. Die ganze Zeit über begegneten sie niemandem, Stille hüllte sie ein wie ein Kokon.
Cat war mit sich zufrieden. Nach kaum einer Stunde befanden sie sich bereits auf dem Rückweg. Sie hatte versucht, sich ihrer Aufgabe so gut sie konnte anzunehmen und Dareon wirkte als sei er zumindest ein wenig besänftigt. Ein gutes Zeichen, wie sie fand.
Sie waren noch nicht weit gekommen, da ging eine Türe zu ihrer Linken auf. Licht aus dem Zimmer flutete den abgedunkelten Flur.
Cat erschrak und ihr Hirn verlor für einen Moment den Faden. Ehe es wieder in Gang kommen konnte, wurde sie gegen die gegenüberliegende Wand gedrängt, eine Mauer aus festen Muskeln verstellte ihr die Sicht. Dareon stand vor ihr und hatte die Hände auf der Tapete abgestützt. Den Kopf neigte er weit herunter. Blicke trafen sich und sie hielt den Atem an. Die Verwirrung musste sich in ihrem Gesicht widerspiegeln.
‚Zur Tarnung.‘
Jetzt wurde sie auch noch angehoben und ein Bein lag plötzlich um seine Hüfte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, nur um dann doppelt so schnell weiter zu rasen. Diese unvorhersehbare Nähe, er war einfach überall, sie wurde von Sinneseindrücken überflutet. Sein Geruch, die Art wie seine Hand an ihrem Schenkel lag, wie hart sich seine Hüftknochen in ihr weiches Fleisch bohrten. Nur mit Mühe und Not konnte sie sich an der Realität festhalten, anstatt in diesen verheißungsvollen Augenblick abzutauchen. Sie wusste, dies war nichts zwischen ihnen beiden, nur ein Schauspiel und doch war es so mitreißend. Beinahe hätte sie den Po gehoben, um sich gegen ihn zu pressen.
„Entschuldigen Sie bitte!“ Ein Räuspern riss sie aus ihrer Trance. Ja, richtig, da war doch noch ein ungebetener Störenfried gewesen, der drohte, sie auffliegen zu lassen.
„Ich bin ein Fan der freien Liebe, doch muss ich Sie dazu auffordern, diesen Teil des Gebäudes zu verlassen. Die Party findet im Erdgeschoss statt. Dort können sie fortführen, was auch immer sie hier tun.“ In der Männerstimme vernahm sie ein unterdrücktes Lachen.
Dareon hob den Kopf und sah sich um, dann ließ er ihr Bein herunter. Er tat, als richtete er seinen Anzug und Cat legte sich sowieso unwillkürlich die Hand aufs Herz. Sie war immer noch kurzatmig und brauchte einen Augenblick, um sich zu fangen. Das kam wohl insgesamt ziemlich überzeugend rüber, denn der Mann, der sie überrascht hatte, lächelte nur nachsichtig und bat sie dann, ihm zu folgen. Die Hand, die sich an ihren Rücken legte und sie vorwärtsschob, da sie sich nicht von selbst rührte, brannte wie Feuer. Wohlig warm, durchdringend, nicht schmerzhaft. Dareon entschuldigte sich wortgewandt für ihr Fehlverhalten und machte ein paar lässige Scherze darüber, dass das wohl nicht für Publikum geeignet sei.
Es waren vielleicht noch zehn Meter bis zur Treppe, als ihnen drei weitere Kerle aus einem Quergang heraus in den Weg traten. Dareon neben ihr erstarrte.
‚Shit!‘
‚Wie bitte?‘
Einer von den Dreien, der Kleinste, um genau zu sein, zog eine ziemlich ungläubige Visage, als hätte er einen Geist gesehen. Er stotterte. „Diese… diese… Stimme. Ich kenne diese verdammte Stimme!“ Mit ausgestrecktem Zeigefinger wies er auf Dareon.
‚Cohen.‘
‚Der Cohen?‘ Das war Roman. Sogar seine Gedanken klangen grimmig.
‚Eben der.‘
Der, den Dareon als Cohen bezeichnete, hatte unterdessen einen puterroten Kopf bekommen und begann unvermittelt zu brüllen. „Schnappt ihn euch! Sofort!“
Die anderen beiden Kerle gingen ohne Vorwarnung zum Angriff über. Sie stürzten sich auf den großen Elevender an Cats Seite. Augenblicklich schob er sich vor sie, kurz darauf blockte er bereits den ersten Schlag ab. ‚Bleib‘ hinter mir!‘
Schon kam der nächste Hieb. Dareon wich aus und schubste den einen Angreifer gegen den anderen. Das gab ihm genug Zeit, einen der beiden K.O. zu schlagen. Der zweite Kerl brachte sich außer Reichweite und jetzt mischte sich auch der Mann ein, von dem sie vorhin entdeckt worden waren. Anscheinend war er ein Elevender, denn er öffnete seinen Mund und plötzlich schwoll ein hohes Kreischen in ihren Ohren an. Der Ton stach ins Hirn, betäubte die Sinne. Cats Beine gaben nach und sie sackte zu Boden. Die Hände wanderten aus Reflex zu den Ohren, um sie zu bedecken, aber es half nichts. Die Lautstärke blieb unvermindert. Mit tränenverhangenem Blick sah sie zu Dareon auf, der Gott sei Dank durch seine Gabe geschützt war und jetzt wie ein Berserker auf die menschliche Sonarwaffe zu sprintete. Cat spürte Feuchtigkeit unter ihren Handflächen, etwas rollte aus ihrer Nase auf die Lippen. Ein scharlachroter Tropfen fiel in den hellen Flauscheteppich.
Dann war es mit einem Mal vorbei. Dareon hatte den Kerl gegen die Wand gestoßen und schlug ihm ins Gesicht, wieder und wieder und wieder. Voller Inbrunst fuhr er damit fort, bis er von dem anderen Angreifer unterbrochen wurde. Ein Arm wie ein Baumstamm schloss sich um seine Gurgel und drückte zu. So im Schwitzkasten gefangen wehrte der blonde Elevender sich heftig, kam aber nicht so recht an den Typen heran, der ihn von hinten festhielt. Der Sonarkerl hatte sich wieder aufgerichtet und wischte nun seinen blutenden Mund ab. Er sagte etwas, das Cat nicht verstehen konnte, ihre Ohren fiepten immer noch, dann zog er eine Waffe aus einem Halfter seitlich an seiner Brust.
Cat sprang auf. Sie hatte keine Kontrolle über ihre Beine. Die hoben und senkten sich von selbst, brachten sie immer schneller zu dem kämpfenden Trio hinüber. Als Dareon die Waffe an die Stirn gedrückt bekam, entfuhr ihr ein spitzer Aufschrei. Sie selbst hörte ihn nicht, aber die beiden Gegner waren einen Moment lang abgelenkt. Sofort reagierte ihr Partner und trat dem einen das Mordwerkzeug aus der Hand.
Doch noch ehe Cat die Drei erreichen konnte, wurde sie plötzlich am Hals gepackt und gegen die nächste Türe geworfen. Ihr Kopf dröhnte von dem Aufschlag, sie sah doppelt. Zwei Cohens lehnten sich in ihr Blickfeld und drückten ihre Arme gegen das kühle Holz. Seine Lippen bewegten sich, Cat vernahm nur das allgegenwärtige hohe Piepsen. Er erwartete aber anscheinend eine Antwort von ihr, denn als sie nichts sagte, wurde sie von einer Faust getroffen. Ihr flog fast der Kopf weg. Die ganze linke Gesichtshälfte brannte und sie wäre wohl erneut zusammengeklappt, wenn Cohen sie nicht an der Schulter gepackt und ihr Gesicht in einen festen Griff genommen hätte. Wiederholt donnerte er ihr Hinterhaupt gegen das feste Holz. Dann kam er näher, schien sie anzubrüllen.
Plötzlich trat ein erstaunter Ausdruck in seine Züge. Die dunklen, bösen Augen wurden groß und der Mund stand mit einem mal still. Jetzt stierten diese geweiteten Pupillen auf ihre Lippen, langsam aber stetig kam er näher. Ihr wurde ganz übel von dem fremden Atem in der Nase. Der Versuch der Gegenwehr blieb völlig erfolglos, unaufhörlich verringerte er den Abstand zwischen ihnen beiden.
Oh, nein! Cohen war offenbar wie in Trance, ein eindeutiger Hinweis, dass Cats Fluch eingesetzt hatte. Sie versuchte, ihm ihr Kinn zu entreißen. Aber es gelang ihr nicht, sie kam einfach nicht gegen ihn an. Und noch während sie fieberhaft nach einem Ausweg suchte, senkten sich diese unbekannten Lippen auf ihre. Der Gegner stöhnte vor Entzücken auf und drängte seine Zunge zwischen ihre Zähne. Sie biss zu, doch er merkte es gar nicht, machte einfach gierig weiter, presste seinen Körper an ihren. Vor Cats innere Augen schoben sich die Szenen, die sie seit Jahren tief verschlossen aufbewahrt hatte. Wie es sich angefühlt hatte, Martin zu küssen, und auch Peter. Beide waren ihr nicht so verhasst gewesen, wie dieser Kerl hier und zum ersten Mal hieß sie es willkommen, tödlich zu sein.
Sie hörte auf, sich zu wehren und ergab sich der Heftigkeit des Kusses. Sollte er sich doch so viel nehmen wie er wollte,… solange er noch konnte.
Als sie gerade nach Cohen greifen wollte, damit er ihr nicht entkam, sollte er begreifen, was vor sich ging, brach der Kontakt ab. Sein schwerer Körper war weg. Cat blinzelte und erblickte Dareon, der Cohen mit beiden Händen die Luft abdrückte. Seine Finger bohrten sich in die Kehle des gegnerischen Elevenders und sein Gesicht verhieß, dass er sich jenseits aller Vernunft befand. Erst als der Mann in seinem Griff schlapp wurde, seine Hände kraftlos hinunter fielen und die Beine nicht mehr zappelten, erst dann ließ er ihn einfach los wie eine heiße Kartoffel.
Benommen sah Cat sich um. Die Gegner lagen alle ausgestreckt zu ihren Füßen. Dareon musste sie im Kampf besiegt haben. Jetzt stand er über seinem letzten Opfer und blickte starr und voller Hass auf den Reglosen hinab.
Sie erhob ihre zittrige Stimme. „Ist er…? Hab‘ ich ihn... oder du?“
Dareons Kopf fuhr zu ihr herum, als hätte er sie eben erst bemerkt und bevor sie sich versah, war er bei ihr. Ganz nah. Sein Gesicht wies diesen entrückten, abgedrehten Ausdruck auf, der ihr irgendwie unheimlich war. Sie erwartete ein Donnerwetter, zog schon den Kopf ein. Er sagte auch etwas, aber sie konnte es immer noch nicht verstehen. Zwar hatte sie keinen Piepton mehr in den Ohren, doch ihr Gehör verweigerte jeden Dienst.
‚Keine Sorge, der Wichser lebt,… obwohl er das wohl kaum verdient hat!‘
Völlig überraschend trafen sie sanfte Fingerspitzen, mit leichtem Druck wurde ihre Wange abgetastet. ‚Nichts gebrochen.‘ Auch seine geistige Stimme war weich, klang plötzlich ganz anders. Das Anstecktuch seines Anzugs wurde zweckentfremdet, als er das Blut unter ihrer Nase wegwischte und auch die Stellen unter ihren Ohren vorsichtig säuberte. ‚Geht’s dir gut?‘
Sie sah in entflammte Augen, die zeigten wie viel in diesem Moment in ihm vorging.
‚Ging schon mal besser. Mein Gehör hat sich verabschiedet.‘
‚Das wird wieder. Elevender heilen sehr schnell, wir behalten keine dauerhaften Schäden.‘ Ein letztes zärtliches Streicheln über ihre Wange, dann wandte er sich um und erklärte ihrem Team telepathisch, was vorgefallen war. Er hatte sich Cat erneut entzogen, flüchtete sich in Professionalität und Aktionismus. Sie war ziemlich fertig und seine Worte hatten sie zwar etwas beruhigt, dennoch dürstete sie nach mehr von dieser liebevollen Art.
Die anderen Teammitglieder reagierten mit Entsetzen auf den Bericht, aber als Dareon durchgab, dass es ihnen gut ging, beruhigten sie sich wieder. Der große blonde Elevender holte derweil etwas aus einem Gürtel, der um seinen Knöchel geschnallt war. Dann ging er zu dem Körper, der ihm am nächsten lag und bückte sich zu diesem hinunter. Eine winzige Spritze kam zum Vorschein und wurde sogleich in den Hals des Bewusstlosen versenkt.
‚Was machst du da?‘, fragte Cat unruhig, voller Panik, dass er die Männer töten wollte, so grimmig, wie er sie anschaute.
‚Die haben unsere Gesichter gesehen. Ich gebe ihnen etwas, damit sie sie wieder vergessen.‘
Er stand auf und trat zum Nächsten.
‚Aber wie das?‘
‚Ein infektiöses Protein, das die Erinnerung der letzten Stunden durcheinander bringt. Hat Xandra sich ausgedacht. Gutes Zeug übrigens, X!“
‚Danke, danke‘, kam es von der hübschen Frau im Auto. ‚Jordan hat auch geholfen. Jetzt beeilt euch und schwingt eure Hintern raus aus diesem Irrenhaus!‘ Eine Pause. ‚Sorry, Cat.‘
Völlig neben sich stehend folgte Cat dem routinierten Elevender die Treppe hinunter. Sie stand definitiv unter Schock, während ihr Begleiter ruhig und professionell schien. Genauso schnell, wie er sich in eine Kampfmaschine auf zwei Beinen transformiert hatte, war die Rückverwandlung zum ruhig kalkulierenden Spion vonstatten gegangen. Sein Gesicht hatte nach dieser heftigen körperlichen Auseinandersetzung noch nicht mal einen Kratzer.
Beinahe wäre sie gestolpert und hätte einen nicht gerade damenhaften Abgang hingelegt, aber Dareon packte sie am Arm, bevor sie wirklich fallen konnte. Nachdem sie sich gefangen hatte, zerrte er sie ohne ein Wort weiter, erst vor dem Durchgang zu dem großen Raum mit den Besuchern blieb er stehen.
‚Bring‘ deine Kleidung in Ordnung.‘ Damit rückte er sein Revers gerade und fuhr sich durch die Locken. Cat verstand und brachte die verworrenen Schichten ihres Kleides wieder in die richtige Reihenfolge, wünschte sich dabei, sie könnte das gleiche mit ihrem aufgewühlten Verstand tun. Das Haar ließ sich nur behelfsmäßig glätten, denn ein paar Strähnen hatten sich unwiderruflich aus dem schicken Knoten gelöst. Dennoch hatte er erstaunlich gut gehalten, Blaise sei Dank. Dareon prüfte ihr Aussehen mit einem letzten kühlen Blick. Obwohl er dabei so distanziert wirkte, erhitzte sich Cats Körper unter dieser Musterung. Ihr frenetischer Atem stockte, sie fühlte sein Augenmerk wie eine Berührung auf der Haut.
‚Die Prellungen werden noch eine Weile zu sehen sein, also halte den Kopf unten.‘ Die Wut in seinen Gedanken verwirrte sie. Hatte sie etwas falsch gemacht? ‚X, wir kommen jetzt.‘
Sie bekam keine Gelegenheit diese Frage zu klären, denn schon wurde ihr ein starker Arm umgelegt, der sie am Rand der Menge vorbei zum Ausgang dirigierte. Vorsichtig schmiegte sie die linke Wange an ihn, damit keiner ihre Blessuren sah, doch dieser Akt war beinahe zu viel für sie. Nicht nur, dass Dareon sich unnatürlich versteifte, Cats Herz schien aus ihrer Brust heraus springen zu wollen.
Die Türsteher schenkten ihnen nur wenig Beachtung, als sie so vertraulich umschlungen an ihnen vorbei kamen und am Fuße der steinernen Eingangstreppe wartete bereits Xandras großer SUV. Cat genoss trotz ihres Zustandes jede Sekunde in Dareons Armen, bis sie sich beim Einsteigen von einander lösten. Die Trennung glich einer Amputation.
Xandra saß mit gespannter Miene auf dem Rücksitz, ein Blick nach vorn zeigte, dass Christian den Part des Fahrers übernommen hatte. Auch sein sonst so sorgloses Gesicht sah ernst und konzentriert aus. Kaum waren die Türen geschlossen, startete er den Wagen und fuhr gemächlich die runde Ausfahrt hinunter. Sobald sie die hohen Grundstücksmauern passiert hatten, nahm Xandra Cats Blutergüsse unter die Lupe.
‚Ach Süße, es tut mir Leid! Ich hätte wirklich niemals gedacht, dass euch etwas zustoßen könnte. Warte, lass‘ mich deine Verletzungen heilen.‘
Erst nachdem Cat zugestimmt hatte, widmete sich die Ärztin ihrer Aufgabe. Ihre Handfläche schwebte dabei nur einen Zentimeter über Cats Haut, eine wohlige Wärme entstand plötzlich an dieser Stelle und sie spürte schon, wie das Pochen nachließ. Nur wenige Augenblicke später war der Schmerz verschwunden.
‚Wahnsinn!‘ Cat betastete ihr Jochbein, es fühlte sich vollkommen heil an. ‚Danke!‘
‚Schon gut. Das wäre auch von allein besser geworden, es hätte nur länger gedauert. Jetzt zu deinen Ohren.‘
Der zweite Teil der Prozedur dauerte länger und Cat bemerkte, dass Dareon sie nicht aus den Augen ließ. Wortlos und unbeteiligt saß er am anderen Ende der Rückbank. Trotzdem schien er unruhig zu sein, als ob er Cats eigene Verfassung widerspiegelte. Ihre Ohren waren ganz heiß und kribbelten, nachdem Xandra sich schließlich zurückgezogen hatte. „Besser so?“
Die Stimme der blonden Elevenderin hörte sich zunächst ein wenig verzerrt an und Cat hatte den Eindruck, ihre Ohren seien belegt. Doch nachdem sie einen Druckausgleich gemacht hatte, funktionierte ihr Gehör genauso wie vorher. Erleichtert seufzte sie.
„Ich kann wieder hören! Gott sei Dank!“
„Sonst alles in Ordnung?“ Ein durchdringender saphirblauer Blick traf Cat.
Sie machte eine Bestandsaufnahme. Sicher, sie war verstört und stand wahrscheinlich immer noch unter Schock, aber auch dieses Mal war sie nicht zerbrochen. Es gab sogar etwas, das sie noch mehr beschäftigte, als der bloße Nachhall der physischen Gewalt.
„Ja, ich denke schon. Ich meine, abgesehen davon, dass ich mir beinahe in die Hosen gemacht hätte und mein Adrenalinspiegel wahrscheinlich Wochen braucht, bis er sich normalisiert hat. Ich werde es schon überleben, es ist nur…“
‚Was?‘
Cat schaute zu Dareon, bevor sie den Entschluss fasste, preiszugeben was ihr auf der Seele lag. Und als sie es schließlich tat, war es, als erzählte sie es allein ihm. Irgendwie erwartete sie, dass er verstand. „Ich… wollte ihn… ich meine, ich wollte Cohen… töten…“
Xandra legte ihr sofort tröstend die Hand auf den Unterarm. „Cat, du darfst dich deswegen nicht fertig machen. Er hat dich angegriffen, du wolltest nur eine Gefahr für dein Leben abwenden! Sogar das Gesetz der Menschen gesteht dir in solchen Fällen zu, dich so lange zu wehren, bis du sicher bist. Das Ergebnis spielt dabei keine Rolle. Cohen hatte sich selbst für sein Schicksal entschieden.“
„Ich weiß.Es ist nur, bisher wollte ich nicht töten, aber es ist trotzdem einfach so passiert. Heute wollte ich es, aber es kam nicht dazu. Ich bin…, es ist… es fühlt sich einfach merkwürdig an.“
„Nach so einer Ausnahmesituation steht man ein wenig unter Schock, das ist völlig normal und vergeht bald.“ Cat lächelte die fürsorgliche Frau neben sich verhalten an. Sie war dankbar für die freundlichen Worte, aber Xandra hatte nicht begriffen, worum es Cat ging.
Dareons dunkle Stimme ließ sie überrascht aufhorchen. „Bist du erleichtert… oder enttäuscht?“
Sie hatte es gewusst! Er hatte erfasst, was in ihr vorging und es kam ihr einfach nur vertraut vor, dass er das so mühelos konnte. Sie zögerte beschämt. „Ich denke,…beides…“
„Das ist gut so.“
„Was???“ Behauptete er hier gerade, dass es in Ordnung war, sich zu wünschen, man hätte das Töten zu Ende gebracht?!
„Das bedeutet, du hast deine Menschlichkeit noch nicht verloren.“
Bevor sie über diese Sichtweise nachdenken konnte, machte sich Empörung in ihr breit. „Ich bin doch kein Monster! Ein Teil von mir ist darüber entsetzt, dass ich es überhaupt wollte… Ich meine, wie konnte ich das nur wollen?“
Jetzt sah er sie direkt mit diesem starren Blick an. Jede Emotion war daraus gewichen, doch Cat konnte der Faszination, die darin lag, nicht entfliehen. „Wenn es nötig gewesen wäre, hätte ich jeden von diesen Kerlen getötet. Ohne mit der Wimper zu zucken. Und ohne noch ein einziges Mal darüber nachzudenken.“
„So etwas kannst du in diesem Moment doch nicht einfach so raushauen, D!“, rügte Xandra eindeutig verstimmt und auch Cat hatte an dieser harten Aussage zu knabbern. Er wollte sie doch nur erschrecken, oder etwa nicht? Bisher hatte sie ihn wütend, ungehobelt und leidenschaftlich erlebt, aber jetzt zeigte sich noch eine weitere Seite an Dareon, eine, die ihr nicht gerade behagte. Er war verbittert und das hatte sie aus jeder Silbe heraushören können, denn offenbar verabscheute er selbst, dass er so dachte.
„Wie lange machst du diesen Job schon?“
„Wahrscheinlich zu lange und doch noch nicht lange genug.“
Cat stellte ihn sich unwillkürlich in Rüstungen aus verschiedenen Zeitaltern vor. Wie alt er wohl war, wie viele Kämpfe er ausgefochten und was er alles erlebt hatte. Trotz dieser düsteren und besorgniserregenden Art, wirkte er weiterhin wie ein Magnet auf sie, zog sie an, obwohl er alles dafür tat, die abzustoßen. Halb in ihren bewundernden Gedanken vertieft murmelte sie: „Das glaube ich gern. Du wirkst wie ein erfahrener Krieger…“ ‚…unglaublich sexy!‘
…
Alle Köpfe im Auto flogen zu ihr herum und durch den übernatürlichen Funk hörte sie sofort Romans neugierige Stimme. ‚Wer ist sexy?‘
Cat lief knallrot an. Am liebsten wäre sie hier und gleich im Boden versunken. Oh je, wie peinlich! Sie traute sich nicht, zu checken wie Dareons Gesicht aussah. Aber das brauchte sie gar nicht. Die Stille sprach für sich und sie konnte sich schon denken, wie wütend ihn das Gesagte, beziehungsweise Gedachte, gemacht haben musste. Sie bildete sich sogar ein, seinen Zorn regelrecht zu spüren.
Chris lachte in seinen Gedanken. ‚Cat findet…‘
‚Cat findet gar nichts! Niemand ist sexy! Alles gut.‘ Xandra sprang zum Glück ein, bevorder blonde Elevender noch mehr ausplappern konnte. „Halt‘ bloß die Klappe, Chris, oder ich schwöre, ich werde dir in nächster Zeit jedes Mal die Tour vermasseln, wenn du eine Tussi aufreißen willst!“
„Was willst du machen? Dich als meine Freundin ausgeben?“ Im Rückspiegel war sein verschmitztes Grinsen zu erkennen.
„Das hättest du wohl gerne! Vergiss es, ich finde andere Mittel und Wege. Du erlebst dein blaues Wunder, wenn du jetzt auch nur einen weiteren Kommentar zu diesem Thema bringst!“
Unterdessen nahm Cat allen Mut zusammen und schielte zu Dareon hinüber, der immer noch nicht reagiert hatte. Er sah entschlossen aus dem Fenster, hatte sich von der Szene im Wagen abgewendet. Ihr gedemütigtes Ego wünsche sich Trost von ihm, doch sie konnte nicht sehen, was seine Mimik verriet und er verweigerte weiterhin jede Aufmerksamkeit, während die beiden anderen Elevender unaufhörlich stritten und so für eine gewisse Ablenkung sorgten. Chris hielt sich zwar in Bezug auf Cats Ausrutscher zurück, dafür ließ er nicht davon ab, Xandra zu necken, bis sie Blackridge Mannor erreicht hatten. Kaum stand der SUV, war Dareon raus zur Tür.
Die Anderen folgten ihm langsamer und holten ihn erst im Foyer ein, wo er bei Ferroc und dem Team aus dem andren Wagen stand, das offensichtlich vor ihnen zurückgekommen war. Nachdem sie dazu gestoßen waren, überschüttete auch Ferroc Cat mit Entschuldigungen und beteuerte immer wieder, dass er auf keinen Fall mit diesem Ausgang des Abends gerechnet hatte. Cat hingegen wiederholte unaufhörlich, dass es ihr ja gut gehe und ihr Team sie wie versprochen beschützt hatte. Genau genommen, Dareon. Ihre noch immer schlotternden Beine straften sie Lügen, aber sie weigerte sich vor dem Schock zu kapitulieren. Wollte stark wirken, wo sie sich empfindsam und zerbrechlich fühlte.
Daraufhin wurde der Abend rekapituliert und Ferroc lobte Cat dafür, dass die einzige brauchbare Information durch sie erlangt worden war. Außerdem berichtete er, dass ihr Eindringen bemerkt und einige der Abhörgeräte bereits wieder entfernt worden waren. Vier Männer mit einem beeinträchtigten Gedächtnis hatten die Gegner wohl alarmiert. „Sie haben noch nicht alle Wanzen gefunden und das werden sie wahrscheinlich auch nicht, schließlich kann kein Scanner die Dinger ausfindig machen. Außerdem ist die Spyware online und funktioniert tadellos. Wir werden sehen, was sich daraus machen lässt, nachdem ihr in dem Haus keine wichtigen Dokumente finden konntet.“
Nach der kleinen Besprechung entließ Ferroc die Gruppe und wünschte allen eine gute Nacht. „Bis auf du, D! Mit dir habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen.“ Er gab dem Angesprochenen mit einer Geste zu verstehen, ihm zu folgen und gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf. Wahrscheinlich waren sie auf dem Weg in das Büro des Stützpunktleiters. Cats Augen folgten Dareon, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte und so lange hoffte sie noch auf irgendeine Reaktion. Die natürlich ausblieb. Das hätte sie sich ja denken können. Jetzt gesellte sich auch noch Frustration zu dem Chaos an Emotionen, das in ihr herrschte. Sie war viel zu aufgewühlt, um jetzt ins Bett gehen zu können.
„Ich glaube, ich kann im Augenblick unmöglich schlafen“, sagte sie zu Xandra, die als Einzige bei ihr stehen geblieben war, während die Anderen sich in alle Himmelsrichtungen verstreuten.
„Verständlich. Ich hätte da eine Idee. Lust auf einen Mitternachtsimbiss?“
Cat hatte keinen Hunger, aber alles schien ihr besser, als jetzt allein in ihrem Zimmer zu sitzen. Und tatsächlich, als sie die Küche betraten, roch es nach Vanillezucker und Früchten. Ein tröstliches Aroma, das ihr ein Stück der Anspannung nahm. Blaise füllte gerade Teig in eine riesige Tortenform und schabte dann die Schüssel mit geübten Bewegungen aus. Während sie beide näher kamen, sah die freundliche Elevenderin auf.
„Ich hatte gehofft, dass du noch wach bist und irgendeine Leckerei zauberst. Mein Magen verdaut sich gleich selbst.“ Xandra setzte sich an einen der hohen Stühle auf der gegenüberliegenden Seite der Arbeitsfläche und Cat folgte ihrem Beispiel.
„Mache ich doch immer, wenn ich nicht schlafen kann. Ich habe mir Sorgen um euch gemacht.“
„Euch???“ Das klang eindeutig zweideutig. Xandras Augenbrauen verschwanden fast unter ihrem Haaransatz.
Blaise hielt mitten in dem Vorhaben inne, die Kuchenform in einen großen Ofen zu schieben. „Ja, euch! Immerhin ist Cat eine Zivilistin!“
Die andere Elevenderin sah bei diesem Hinweis betreten zu Boden und diesmal fühlte sich Cat verpflichtet, einen der Gefallen, die sie bereits erhalten hatte, zurück zu zahlen. Beschwichtigend schaltete sie sich ins Gespräch ein. „Es ist ja alles gut gegangen. Ich habe gar nicht viel abbekommen und Dareon hat gleich vier Gegner auf ein Mal ausgeschaltet!“ Erst am Ende bemerkte sie, wie Groupie-mäßig das klingen musste.
„Oh Mann, Cat! Musst du gleich alles ausplaudern?“
„Wie, du hast fast gar nichts abbekommen? Was ist denn passiert?“
Die große Elevenderin seufzte resignierend und berichtete der erschrockenen Blaise von dem Abend. Cat ergänzte ihr Wissen an den jeweiligen Stellen und wie sie so ein weiteres mal durchging, was geschehen war, schien sie sich langsam an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie dies alles wirklich er- und überlebt hatte. Anscheinend hatte sie mehrere Wiederholungen der ganzen Geschichte gebraucht, um sich damit abzufinden. Endlich ließ auch der Schrecken nach, der tief in ihren Knochen gesessen hatte.
Der Kuchenboden war bereits wieder aus dem Ofen und kühlte auf einem dünnen Gitter aus, als sie ihre Erzählung beendeten. Blaise hatte Tee gekocht und vor jeder stand nun eine dampfende Tasse. Der Geruch von warmem Teig erfüllte den Raum. Es duftete einfach köstlich und nun regte sich Cats Magen doch.
Blaise betrachtete sie mitleidig. „Das tut mir so leid! Ehrlich, ich habe angenommen, es würde lustig werden.“ Die kleine Elevenderin schien sich ernsthaft schuldig zu fühlen, also langte Cat wie selbstverständlich nach ihrer Hand.
„Jetzt ist aber Schluss damit! Ihr habt euch genug entschuldigt. Ich kannte das Risiko und Dareon hat richtig reagiert. Schwamm drüber!“ Wahrscheinlich verdankte sie ihm ihr Leben. Ein Gedanke, der sie womöglich für immer an ihn binden würde. Sie drückte die Finger der Anderen bestätigend. „Und die Sache hat auch was Gutes. Ich glaube, das mit dem Eifersüchtig-machen hat funktioniert.“
Freude glitt über die Züge der beiden Frauen. Dieses Thema schien sie sofort abzulenken.
„Ich sagte doch, er ist auch nur ein Mann! Und noch dazu einer, der erstaunlich fürsorglich klang, als er dich nach dem Angriff gefragt hat, ob es dir gut geht.“ Xandra grinste breit.
„Dann habe ich es mir nicht nur eingebildet?“
„Auf keinen Fall, seine Stimme war weich wie Butter.“ Sie tauchte ihren Zeigefinger demonstrativ in die dicke Früchtecreme, die zum späteren Bestreichen des Kuchens bereits neben den anderen Backzutaten stand. Blaise fischte sofort nach der Hand in der Leckerei.
„Hey!“
„Komm‘ schon, das Zeug sieht so lecker aus und ich verhungere hier gleich!“
Nach einigem Gejammer von Xandras Seite, gab Blaise schließlich nach und versorgte sie beide mit einem monströsen Stück saftigem Boden und einem fetten Klacks des süßen Toppings.
„Oh. Mein. Gott. Das ist himmlisch!“, sagte Cat noch mit vollem Mund, als sie den ersten Bissen gekostet hatte. Der fruchtige und zugleich cremige Geschmack vereinte sich auf der Zunge zu einer tropischen Grenzerfahrung. Einfach köstlich! Auch Xandra gab einen Laut reinster Verzückung von sich und schloss genussvoll die Augen, aber Blaise winkte nur ab.
„Das ist eine Fingerübung für mich, wenn ich nachdenken muss.“ Den Rest von Boden und Creme verarbeitete sie flink mit Hilfe eines silbernen Backrahmens zu einer hohen Torte, die anschließend in den Kühlschrank wanderte.
Währenddessen diskutierten sie kichernd und gackernd über Dareons Verhalten und Cat schwelgte in der Erinnerung an die Berührungen, seine Nähe und seine Fürsorge. Jetzt, da sie davon gekostet hatte, ihr ein Ausblick ins Paradies gewährt worden war, hatte sich ihre Entschlossenheit nur noch verstärkt, alle Barrieren dieses geheimnisvollen Kerls aus dem Weg zu räumen. Noch nie war ein Wunsch so stark gewesen. Sie musste ihn irgendwie dazu bringen, diese unbeschreibliche Anziehungskraft zwischen ihnen zuzulassen. Auch wenn sie keine Ahnung hatte wie. Ihr einziger Anhaltspunkt war, dass sie ihn offensichtlich aus der Ruhe bringen konnte, wenn andere Männer sie berührten oder sie in Gefahr war.Beides konnte sie schließlich nicht ständig heraufbeschwören. Nach einem weiteren Stück Torte, literweise Teeund fruchtlosen Überlegungen kamen sie doch zu dem Schluss, dass Cat erst mal eine Grundlage brauchte, auf der sie aufbauen konnte. Xandra schlug vor, sie sollte zu diesem Zweck an Dareons Kampfsportunterricht teilnehmen.
Wenn das nicht der einzige brauchbare Einfall gewesen wäre, hätte Cat sich auf diesem Ohr taub gestellt. Doch ihre begrenzten Möglichkeiten brachten sie schließlich dazu, zuzustimmen.
Cat gähnte und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. Sie musste dringend auf die Toilette und mittlerweile hatte sie sich so weit entspannt, dass sie doch endlich müde geworden war. Das war ihr Zeichen zum Aufbruch, weswegen sie sich von den beiden Elevenderinnenverabschiedete und ihr Bett zum neuen Ziel aus erkor.
Ein ungehaltener Fluch entglitt ihr, als der Aufzug ein Stockwerk höher für einen weiteren Passagier hielt. Sie befürchtete, ihre Blase würde gleich bersten.
Die silbern glänzenden Türen glitten zur Seite und enthüllten genau den Mann, um den ihre gesamte Gedankenwelt kreiste. Eine abgeschlagene Version zwar, doch der verdrießliche Gesichtsausdruck, den er aufsetzte als er sie entdeckte, war ihr nur zu gut bekannt. Vergessen war der Drang zur Toilette.
Dareon zögerte, dann drehte er sich um und wollte schon in die andere Richtung davon gehen. Da platzte Cat der Kragen. Die gesamte Anspannung des heutigen Abends kehrte mit einem mal zurück und entlud sich mit einem donnernden Tosen in ihrem Kopf, brachte sie beinahe zum Brüllen.
„Bin ich so abstoßend, dass du noch nicht mal mit mir in einem Aufzug fahren kannst?“ Während sie einen Schritt vor tat, um die Türen vom Schließen abzuhalten, versuchte sie, die aufkeimenden Tränen zu unterdrücken. Verdammt, nein! Sie würde auf keinen Fall vor ihm heulen, wollte viel lieber wütend sein. „Oder bist du einfach nur ein Feigling?“
Ein bitteres Lachen wehte zu ihr herüber, er warwie angewurzelt stehen geblieben undfixierte sie mit tödlicher Konzentration. „Es ist alles andere als feige, eine Entscheidung zu treffen und daran festzuhalten. Du willst einfach nicht wahrhaben, dass ich kein Interesse an dir habe. Und wenn du das nächste Mal irgendwas über mein Aussehen denkst, dann behalte den Scheiß‘ für dich.“ Die Worte wurden dermaßen scharf vorgebracht, dass Cat unwillkürlich die Schultern hochzog. Außerdem konnte sie nicht verhindern, dass ihr die Beleidigung einen Hieb in die Magengrube versetzte, so fühlte es sich zumindest an. Dass er ihre Gefühle so mit Füßen trat, entwürdigte sie auf eine Art, die sie nicht für möglich gehalten hätte. Die Kränkung vervielfältigte die Wut zusätzlich, versetzte sie in eine Art innerliche Raserei, weswegen sie den Aufzug verließ und auf den erstaunten Kerl zu stapfte. Am liebsten hätte sie ihm einfach Eine gescheuert.
„Du bist ein Lügner!“ Sie deutete erbost auf Dareon. „Wer weiß, vielleicht glaubst du den Mist sogar selbst, den du da verzapfst, aber du schaffst es nicht, die Wahrheit zu verbergen. Du bist nicht nur feige, sondern auch ein schlechter Schauspieler!“
Genervt rollte er die Augen. „Deine Wunschträume interessieren mich einen feuchten Dreck! Kapier’s endlich, du gehst mir am Arsch vorbei. Ich weiß langsam wirklich nicht mehr, wie ich es noch deutlicher sagen soll.“
„Bitte schön, dann beweis‘ es!“ Ihr Ärger brachte sie dazu, alles auf eine Karte zu setzen.
Misstrauisch betrachtete er sie von oben herab. Seine düstere Miene verdunkelte sich noch mehr, eine höhnische Grimasse verzerrte die wunderschönen Züge. „Ich muss dir überhaupt nichts beweisen!“
„Ich verspreche, dann lasse ich dich für immer in Ruhe. Du musst meinen Anblick nicht mehr ertragen.“ Ihr Herz begann erwartungsvoll zu pochen. Als sie sich in diesen Streit gestürzt hatte, war ihr nicht klar gewesen, wohin das Ganze führen konnte. Voller Spannung sah sie in diese blassblauen Augen, die sie für ihre Sehnsucht verdammten.
„Ein einziger Kuss. Wenn da nichts zwischen uns ist, mache ich in Zukunft einen großen Bogen um dich.“
„Du hast sie doch nicht mehr alle!“, schnappte Dareon, doch seine Stimme war plötzlich eine Oktave tiefer gerutscht. Der Winterhimmel in seinen Iriden hatte die Schattierung gewechselt.
„Du solltest das Angebot ergreifen, ich kann eine ziemlich nervige Stalkerin sein.“
„Habe ich bemerkt.“ Die Entgegnung klang schon nicht mehr ganz so feindselig und Cats Hoffnung wuchs noch ein kleines Stückchen.
„Das war noch gar nichts! Es könnte so viel schlimmer kommen.“ Sie wagte es, die Finger auszustrecken und spielerisch über die Knopfreihe es weißen Hemdes zu streichen. Beginnend bei seiner steinharten Brust, über den Solar Plexus hinab zum Bauchnabel. Woher sie nach der erneut sehr heftigen Abfuhr die Courage nahm, wusste sie selbst nicht. Unter dem Hemd konnte sie feste Muskelpakete ertasten, war im Begriff, noch tiefer zu gehen. Da schob Dareon ihre Hand resolut von sich weg, ließ sie aber erst nach einem weiteren Moment los.
Sie wollte ihn eigentlich nur bedrängen, damit er den Handel einging, trotzdem bemerkte sie, dass die Stimmung zwischen ihnen gekippt war. Der Zorn wurde von einer erotischen Spannung durchsetzt. Davon angeheizt sprach Cat nun in einem verführerischen Ton.
„Viel, viiieel schlimmer.“
Einer plötzlichen Eingebung folgend, raffte sie den weiten Rock des Kleides und langte nach ihrem Slip. Betont langsam zog sie ihn verborgen von den vielen Stoffschichten herunter und nachdem sie wieder hoch gekommen war, entdeckte sie, dass Dareons Mund weit offen stand. Seine Augen folgten jeder ihrer Bewegungen. Also faltete sie das Kleidungsstück provokant sorgfältig zusammen und steckte es dann in ihre Handtasche. Sein Adamsapfel hüpfte wild auf und ab, als er schluckte.
Eine diebische Freude über ihre augenblickliche Macht hob ihre Mundwinkel. Herausfordernd sah sie zu ihm auf.
„Du kannst es sofort beenden. Ich will nur einen einzigen Kuss.“
Dareon war wie hypnotisiert. Seine Selbstbeherrschung drohte, unter der erotischen Ausstrahlung der kleinen Frau pulverisiert zu werden. Der Anblick des kleinen Dreiecks aus schwarzer Spitze brachte ihn ins Schwitzen, weckte dieses ungewollte Begehren. Dazu noch das Wissen, dass sie ihm jetzt ohne Höschen unter dem Kleid gegenüber stand. Beinahe hätte er sich auf die Lippen gebissen. Es war wirklich schwer, weiterhin wütend zu sein, wenn er sie so sehr wollte. Es brachte ihn fast um den Verstand, dass er es sich verwehrte, Cat zu berühren. Ihr Angebot wirkte wie ein Funke in ausgedörrtem Gras, flächenbrandartig überflutete ihn das Verlangen nach diesem Kuss.
Er wollte wirklich dagegen ankämpfen, doch dann sah er sie wieder in Cohens Fängen, aus Nase und Ohren blutend, mit einem dunkelblauen Fleck unterm linken Auge. Der Schock, der ihn erfasst hatte, brachte ihn immer noch aus dem Gleichgewicht. Dass Cat Gewalt angetan worden war, hatte eine ganz neue Dimension an Gefühlen eröffnet. Ihm war vorher nicht bewusst gewesen, dass er vor Hass brennen konnte, während er gleichzeitig so viel Beschützerinstinkt und Zärtlichkeit empfand, dass es ihn demütig machte.
Er hätte in diesem Augenblick für sie getötet. Ihn hatte nur zurückgehalten, dass er den Schrecken in ihrem Gesicht nicht sehen wollte, wenn sie erkannte, welche Grausamkeit in ihm lauerte. Trotzdem musste sie erfahren, wozu er im Stande war. Bei ihrem Gespräch im Auto hatte er sofort kapiert, was sie meinte, denn auch ihm tat es Leid, dass er Cohen nicht für seine Vergehen zahlen lassen konnte. Noch immer hätte er ihm liebend gerne den Hals gebrochen. Aber gleichzeitig war ein primitiver Teil von ihm der Auffassung gewesen, dass Cat wissen sollte, dass er ohne Reue getötet hätte. Er wollte sie abschrecken und doch hätte er am liebsten ‚für dich‘ angefügt. Wie ein psychopathischer Rosenstrauß. Verflucht, sie raubte ihm tatsächlich den gesunden Menschenverstand.
Seine Gedanken kreisten, während er in dieses lebendige Grün starrte und mit sich rang. Die wilde Sorge um ihr Wohlbefinden hatte tiefe Risse in seine eisernen Vorsätze geschlagen und das verzweifelte Sehnen nach ihrer Haut gab ihm jetzt den Rest.
Ein kleiner Blitz hinter seinen Augen, vielleicht ein Kurzschluss in seinem Gehirn, wen interessierte das schon. Sobald sein Verstand auch nur die Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, auf Cats Deal einzugehen, hatte sein Körper die Gelegenheit genutzt, die Zügel in die Hand zu nehmen.
Kaum hatte er sich versehen, war er den einen Schritt vorgegangen, der sie noch von einander getrennt hatte. Cats Augen wurden groß, die Brust hob und senkte sich rasch. Das Erstaunen spiegelte sich in ihrem Gesicht wider.
Die zitternden Hände packten ihre Schultern, Dareons Sinne befanden sich im Ausnahmezustand und er hatte seine Vernunft definitiv in den Urlaub geschickt. Wäre er doch bloß immer noch wütend gewesen! Wo war der Zorn plötzlich, wenn er ihn brauchte?
Es half nichts.Unwillkürlich beugte er sich vor. Das Blut rollte in heißen Wellen durch seine Adern, rauschte in seinen Ohren. Der rote Schimmer auf ihren Lippen schien zu verführerisch, um zu widerstehen und dann…. Dann konnte er gar nicht mehr denken.
Er küsste nur noch.
Kopflos und drängend zunächst, weil er den ersten Hunger stillen musste. Seine Zunge kam wie von selbst ins Spiel, rohe Begierde wütete in ihm. Dann spürte er, wie weich und nachgiebig sie war. Bisher hatte sein steifer Schwanz die Führung übernommen, aber ihre Süße traf ihn direkt ins Herz.
Dareons Griff lockerte sich und er strich den schlanken Hals hinauf, grub die Fingerspitzen in den vollen Haaransatz. Plötzlich verspürte er das Bedürfnis, sanft zu sein, vorsichtig mit diesem zierlichen Wesen umzugehen. Cat schmiegte sich an ihn, ihre Arme schlangen sich um seine Taille und er verlor sich immer mehr in ihrem Geschmack und den erregenden Geräuschen, die sie machte. Sie strebten einander entgegen wie Magnete. Er bestand nur noch aus Empfindungen, während er sie sacht in den Armen hielt. War absolut wehrlos gegen ihre Invasion.
Erst als er spürte, dass er dabei war, eine Grenze zu überschreiten, etwas unwiderruflich zu verändern, kam er wieder halbwegs zu sich. Zaghaft löste er seine Lippen von den ihren und sah in die glasigen Augen. Ihr Gesicht war von seinem Kuss gerötet, der Blick verhangen, so verdammt heiß, dass er am liebsten einfach weiter gemacht hätte. Aber da jetzt sein dummes Herz im Spiel war, konnte er das nicht. Er durfte sie nicht ausnutzen, wo er doch vorhatte, auf keinen Fall eine langfristige Sache daraus zu machen. Wenn er sich jetzt zurückzog und ihr glaubwürdig klar machen konnte, dass ihm dieser Kuss nichts bedeutet hatte, dann musste sie sich an die Vereinbarung halten.
Doch noch nicht mal das brachte er über sich.
Frustriert seufzte er und zog sie in eine feste Umarmung, legte die Wange auf ihr Haar. Gestatte sich noch einen Moment lang dieses unglaublich befriedigende Gefühl.
„Ich könnte behaupten, dass deine Nähe nichts bei mir bewirkt, aber das stimmt nicht. Ach verdammt, Cat…. Ich fühle mich zu dir hingezogen, sehr sogar, aber ich kann…, nein, ich will das nicht zulassen. Es.. es geht einfach nicht.“
Er ließ sie los und trat zurück.
„Du musst das akzeptieren. Es ist meine freie Entscheidung, das, was zwischen uns ist, nicht weiterzuverfolgen.“
Traurig studierte sie seine Miene, hielt den rechten Unterarm vor den Bauch, als wäre ihr schlecht geworden. „Aber warum?“ Ihre Stimme war nur ein leiser Hauch.
„Das ist ganz allein meine Sache…. Es liegt nicht an dir.“ Die dämliche Floskel war raus, bevor er sich zurückhalten konnte. Cat schloss die Augen und holte tief Luft.
„Ist es wegen deiner verstorbenen Freundin?“
Dareon wurde ganz kalt. Obwohl er diese Geschichte sonst gerne zur Tarnung verwendete, war es ein Schock, Cat darüber sprechen zu hören. Dass gerade sie seinem Geheimnis so nahe kam, versetzte ihn in Panik. Das gab den letzten Ausschlag, die Sache hier und jetzt zu beenden.
„Ja. Und das wird sich niemals ändern. Besser du siehst dich nach jemandem um, der bereit ist, dir zu geben wonach du suchst. Ich kann es nicht.“
Sie verdiente ja so viel Besseres als ihn.
Er sah nicht zurück, als er davon ging. Er wusste, er wäre stehen geblieben, deshalb fiel diese Option aus. Es war ein bisschen, als hätte er einen Teil seines Herzens bei ihr zurück gelassen, wie er sich Schritt für Schritt von ihr entfernte. Der Verlust war nicht nur emotionaler, sondern auch körperlicher Natur.
Doch es war die einzig richtige Entscheidung.
Ja, ganz sicher.
Xandra hatte schon wieder eine äußerst kurze Nacht gehabt. Nachdem Cat zu Bett gegangen war, hatte sie zum wiederholten Male versucht, Blaise ins Gewissen zu reden. Ihre Freundin hatte einen Narren an Vincent Slater gefressen, ausgerechnet diesem Eisklotz. Blaise dagegen war warmherzig und liebevoll, das genaue Gegenteil. Das war eine toxische Kombination, denn Xandra konnte sich nicht vorstellen, wie die fröhliche Elevenderin mit dieser Gefühlskälte zurechtkommen sollte. Sie musste endlich begreifen, dass sie sich da eindeutig den Falschen ausgesucht hatte.
Dies war jedoch nicht der einzige Grund, weshalb Xandra fast kein Auge zugetan hatte. Sie hatte wach zwischen den weichen Federn gelegen, mit dem Handy in der Hand. Immer kurz davor, einfach Evrills Nummer zu wählen. Sie hätte zu gern seine Stimme gehört, aber sie wollte ihn nicht belügen müssen, also hatte sie es gelassen. Außerdem hatte sie die Mission des letzten Abends beschäftigt, weswegen sie kurz nach dem Aufstehen vor Ferrocs Türe gestanden hatte.
Er war bereits wach gewesen, jedoch hatte es keine Neuigkeiten gegeben. Außer, dass Jordans Spyware immer noch nicht entdeckt worden war und zwei Wanzen ebenfalls sendeten. Daraufhin hatte sie sich um Punkt zwei auf ihrer Liste gekümmert. Ein paar Anrufe später hatte sich allerdings heraus gestellt, dass es ziemlich schwer war, etwas über den Venus Orden herauszubekommen. Die Kontakte, die sie bisher erreicht hatte, waren alle nicht im Bilde gewesen, hatten noch nicht einmal gewusst, wovon sie sprach. Am frühen Nachmittag würde sie noch ein paar Bekannte in der Stadt treffen, aber wenn die nicht helfen konnten, war sie vorerst am Ende ihres Lateins angelangt.
Vor dem Frühstück wollte sie noch bei Cat vorbei schauen. Als diese gestern zu Bett gegangen war, hatte sie gefasst gewirkt. Aber Xandra konnte sich nicht vorstellen, dass es einen nicht mitnahm, wenn man von einem übernatürlichen Wesen angegriffen und verprügelt wurde. Sie war von der zierlichen Elevenderin beeindruckt. Man hatte ihr ansehen können, dass ihr die neue Situation Angst gemacht hatte, dass sie geschockt gewesen war, von dem Trubel und der Gewalt. Doch in dieser zarten Frau steckte eine kleine Kriegerin. Sie hatte sich nicht unterkriegen lassen. Weder von der Neuigkeit, dass sie eine tödliche Gabe besaß, noch von einem direkten Gefecht. Xandra hoffte, Cat zum Bleiben bewegen zu können. Sie wäre zweifelsohne ein Gewinn für die Legion gewesen. Wer wusste schon, was sie mit einem passenden Training alles erreichen könnte.
Xandra klopfte verhalten an Cats Tür. Als sie keine Antwort bekam, gewann die Ärztin in ihr die Oberhand und sie drehte leise den Türknauf. Es war nicht abgeschlossen.
Auf dem ordentlich gemachten Bett lagen die zwei großen Tragetaschen, die sie gestern beim Einkaufen bekommen hatten. Beide waren voll gepackt. Cat kam aus dem Bad und tat noch etwas zu dem Inhalt in der Einen.
„Was machst du da?“
Die Andere zuckte zusammen und fuhr herum. „Himmel! Du kannst mich doch nicht so erschrecken!“
„Entschuldige. Ich habe geklopft, aber niemand hat geantwortet. Deswegen wollte ich nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Also, was soll das?“ Sie zeigte auf das Gepäck auf der schokobraunen Tagesdecke.
„Ich gehe“, sagte Cat, ohne Xandra dabei anzusehen.
„Wie, du gehst? Ich dachte, du wolltest noch eine Woche bleiben.“
„Ich habe es mir anders überlegt. Kannst du mich nachher nach Ceiling zurück bringen?“
„Cat, Moment mal…“
„Ich kann die Sachen auch hier lassen, aber ich dachte, sie passen sowieso keinem außer mir.“
Xandra ging hinüber und legte die Hand auf Cats Unterarm. Die sah auf. „Was ist passiert? Wieso willst du plötzlich so überstürzt hier weg?“
Überrascht beobachtete sie, wie Tränen in die Katzenaugen traten. Die kleine Elevenderin blinzelte sie weg und ließ sich aufs Bett fallen, barg das Gesicht in den flachen Händen.
„Dareon, er…. Wir haben…, ich kann einfach nicht mehr bleiben.“
Das gepresste Schluchzen wurde von ihrer Haut gedämpft, war kaum zu verstehen.
„Was hat er gemacht?“
Sie legte der bebenden Frau einen Arm um die Schultern und da sprudelte die ganze Geschichte aus ihr heraus. Xandra hörte sich alles ohne Kommentar an, obwohl sie gerne geflucht hätte. Männer! Die kapierten wirklich gar nichts. Manche stellten sich einfach zu dumm an, um glücklich zu werden. Cat wäre wahrscheinlich gut für Dareon gewesen, dochanscheinend hatte der es gestern Nacht geschafft, ihr jede Hoffnung zu nehmen.
„D ist ein Idiot. Er weiß gar nicht, was er verpasst. Aber deswegen musst du doch nicht abreisen.“
Die Angesprochene schüttelte langsam den Kopf, sie sah aus wie ein Häufchen Elend. „Ich habe versprochen, ihn in Ruhe zu lassen. Ich glaube, das kann ich nicht, wenn ich bleibe.“
„So schlimm?“
Ein hoffnungsloses Schnauben entfuhr Cat, sie stützte den Kopf mutlos auf der Hand ab. „Ziemlich schlimm. Es hat mich völlig unvorbereitet getroffen.“
„Ach, Süße. Er hat doch gesagt, dass er auch etwas empfindet. Willst du nicht versuchen, das aus ihm heraus zu kitzeln, wenn er dir so wichtig ist?“
„Nein. Du hast diesen Blick nicht gesehen. Es hat keinen Sinn.“ Sie stand auf, nahm eine Zigarette aus der Schachtel und ging hinüber zum Balkon. Xandra folgte und sah Cat beim Rauchen zu. Sie wirkte ziemlich niedergeschlagen, wie sie dort mit verkrampften Schultern stand.
„Und was ist mit den Nachforschungen wegen deiner Familie und dem Tod von deinem Freund? Was ist mit deiner Gabe? Ich finde schon jemanden, der dir helfen kann.“
„Das kann ich auch von zu Hause aus machen. Dass ich gehe, heißt ja nicht, dass ich aus der Welt bin. Wir bleiben in Kontakt und ich kann euch jederzeit besuchen, oder ihr mich.“
„Aber du kannst nicht nach Hause. Die Sucher und die Behörden wissen wo du wohnst.“
„Ich komme bei einer Freundin unter, bis ich etwas Neues habe. Ich habe sie schon angerufen.Sie denkt, ein Wasserrohrbruch hätte meine Wohnung unbewohnbar gemacht. Könntest du mich also bitte fahren?“
Xandra wollte kein weiterer Einwand in den Sinn kommen. Auch wenn es ihr schwer fiel Cat unverrichteter Dinge gehen zu lassen, sie hatte nicht das Recht die junge Frau hier fest zu halten.
„Ich muss nachher sowieso nach Ceiling. Ich kann dich mitnehmen.“
„Danke.“
Sie erntete einen erleichterten Blick. Und weil sie nichts mehr zu sagen wusste, verabredeten sie sich in einer halben Stunde in der Garage. Mit einem merkwürdigen Gefühl im Bauch verließ Xandra das bald wieder herrenlose Zimmer und setzte Ferroc über Cats Abreise in Kenntnis. Er war genauso überrascht und begleitete sie wenig später hinunter zu den Autos, um sich von Cat zu verabschieden.
Herzlich nahm er die schmale Person in den Arm und hielt sie einen Moment fest. „Du wirst hier immer willkommen sein. Das weißt du, oder?“
Cat nickte lächelnd und erwiderte die Umarmung ihrerseits. Der Anblick des ungleichen Paares brachte Xandra zum Schmunzeln.Als sich beideim Wagen befanden, wartete sie damit, den Motor zu starten.
„Sicher, dass du dich nicht noch von jemand anderem verabschieden willst?“
„Oh, ja. Richte Blaise bitte schöne Grüße aus und sag‘ ihr, dass es mir Leid tut.“
„Die meine ich nicht.“
„Ach, so.“ Cat sah zum Fenster hinaus und schüttelte den Kopf. „Lieber nicht. Es ist alles gesagt.“
Seufzend gab Xandra nach. Nun hatte sie nichts mehr, womit sie gegen Cats Flucht aufwarten konnte. Schließlich gab sie Gas und ließ das Anwesen zügig hinter sich. Da die Stimmung im Wagen recht beklommen war, erzählte Xandra von ihrem Versuch, etwas über eine Gruppierung von aufgeklärten Menschen herauszufinden. Die Story rund um den Venus-Orden und auch ihr persönliches Debakel mit Evrill brachte sie beide auf andere Gedanken. Sie schnatterten die ganze Fahrt über, versuchten Ausreden zu erfinden, die einen Anruf bei dem Inhalt von Xandras schlaflosen Nächten entschuldigten.
Kichernd hielt sie letztlich vor einem weiß gestrichenen Haus in einer ansonsten heruntergekommenen Gegend. Eine rundliche Frau kam die Vordertreppe hinunter und begrüßte Cat überschwänglich. Diese stellte die Unbekannte daraufhin als Mary vor und holte das Gepäck aus dem Kofferraum.
Nachdem Mary ihr die beiden Taschen abgenommen hatte, ging sie davon, um ihnen Zeit für ein Auf Wiedersehen zu geben. Xandra zog die kleine Frau an sich, die in den wenigen Tagen, die sie sich jetzt kannten, fast so etwas wie eine Freundin geworden war.
„Versprich‘ mir, dass wir bald telefonieren. Du kannst mich immer anrufen, egal was du brauchst.“
„Gleichfalls. Melde dich, wenn du etwas hörst.“
Xandra nickte, dann ging sie zurück zum Auto. Beim Einsteigen sah sie ein letztes mal zurück.
„Wenn es echt ist, hört es nicht auf, nur weil du wegläufst.“
Cat lächelte traurig und zuckte hilflos mit den Schultern. „Nein.“, gab sie zu. „Aber es ist, wie du gesagt hast. Man kann zwar nicht vergessen, doch man kann lernen, damit umzugehen.“
Drei Wochen später…
Dareon sah Sterne und ein ungehaltener Fluch entwischte ihm, als Chris erneut einen heftigen Treffer landete. Er tastete mit der Zunge nach dem Riss in der Unterlippe, schmeckte Blut und grunzte unflätig. Seine tiefschwarze Laune bewirkte, dass ihn dieser kleine Schmerz ganz wild machte. In seinem nächsten Angriff lag unbändiger Zorn, aber seine Konzentration reichte seit einer ganzen Weile nicht mehr aus, um den Freund zu besiegen.
Dareons Aggressionen machten ihn fahrig und unkontrolliert. Wieder trat er nach seinem Gegner und verfehlte ihn, dafür traf Christians Knie seine linke Arschbacke. Das Pochen schwoll an und ein Keuchen entrang sich ihm. Er würde mindestens ein Stunde lang nicht sitzen können und was das Gehen betraf…. Nope, das wollte gerade auch nicht mehr funktionieren, stellte er fest, als er das Bein absetzte. Er hob die Arme und beendete den Kampf. Dieser Treffer war eine Demütigung und nicht der erste dieser Art, den er in letzter Zeit eingesteckt hatte.
Christians schwere Hand landete auf seiner Schulter. „D, du bist erbärmlich.“
„Danke“, gab er trocken zurück und humpelte zur nächsten Wand, um sich dagegen sacken zu lassen. Sich auf seinen vier Buchstaben zu erholen, kam wohl nicht in Frage. Chris folgte ihm völlig entspannt.
„Wie lange willst du noch so weiter machen?“
„Solange es mir eben passt.“ Oder solange er es noch aushalten konnte.
Er schlief nicht, hatte keinen Appetit und war launisch. Kurzum, er war zu nichts zu gebrauchen. Seit drei Wochen plagte ihn nur ein einziger Gedanke. Er begleitete ihn auf Schritt und Tritt, hatte sich in seinem Kopf festgesetzt, wie einer dieser beschissenen Hakenfische aus dem Amazonas. Er ziepte bei jedem Blinzeln, jeder Bewegung, jedem Atemzug. Denn seit Catlynn Blackridge verlassen hatte, fehlte ihm anscheinend der rechte Arm. Er war aus dem Gleichgewicht.
„Wie du willst. Wegen mir kannst du es auch so lassen, ich steh‘ drauf, dir den Arsch zu versohlen. Und du offensichtlich auch.“ Christian grinste breit und die schneeweißen Beißerchen wurden sichtbar.
„Bild‘ dir bloß nichts darauf ein.“
„Wie käme ich denn dazu. In diesem Zustand hättest du noch nicht mal gegen die kleine Campbell eine Chance.“
Der Name bohrte sich in sein Trommelfell und unerwünschte Bilder quälten ihn. Cats hoffnungsloser Blick verfolgte ihn Tag und Nacht, wenn er die Augen schloss. Auch jetzt holten ihn die Eindrücke ein.
„So wird sich deine Suspendierung noch eine Weile ziehen. Ferroc müsste ja bescheuert sein, dich einzusetzen.“
„Daran brauchst du mich nicht zu erinnern“, antwortete Dareon ärgerlich. Doch in Wahrheit war das das Geringste seiner Probleme. „Wie läuft es mit der Cohen-Sache?“
„Beschissen. Seit dem Ball haben sie die Firmengebäude hermetisch abgeriegelt und kein Cohen taucht mehr ohne Bodyguard-Schar in der Öffentlichkeit auf. Sie sind sehr wachsam geworden. Wir behalten sie im Auge, aber sie bieten keine Lücken.“ Christian ließ sich auf den Boden sinken. „Die Spyware hat einen riesigen Datenhaufen geliefert. Ferroc hat ein paar Suchprogramme drüber laufen lassen und Xandra sichtet gemeinsam mit Jordan das Ergebnis. Sie meint, es ist ziemlich viel. Die Auswertung wird noch eine Weile dauern.“
„So langsam wird die Zeit knapp.“ Dareon stieß sich von der Wand ab und humpelte zu den Ständern für die Waffen, dort konnte er sich wenigstens am Oberschenkel an eine Querstrebe lehnen. Dabei fiel sein Augenmerk auf den Palmstick, den er Cat damals gegeben hatte. Er hatte sich während ihrer gesamten Mission in ihrer Handtasche befunden, war nicht mal zum Einsatz gekommen und doch hätte er schwören können, dass sie ihn gekennzeichnet hatte.
Als er das kleine Metallstück in ihrem verlassenen Zimmer auf dem Bett vorgefunden hatte und ihm klar geworden war, dass er bekommen hatte, was er von ihr verlangt hatte, bekam der Gegenstand eine andere Bedeutung für ihn. Er war alles, was ihm von Cat geblieben war. Seither trug er die kleine Waffe immer bei sich, nur beim Sport legte er sie wegen der Verletzungsgefahr ab.
„Stimmt. Außerdem hat Xandra noch andere Dinge zu tun und ziemlich die Nase voll von dem ganzen Papierkram. Wir fahren nachher zu einem Kontakt von ihr, wegen einer Aufgabe von Chronos.“
„Braucht ihr Hilfe?“ Unauffällig griff Dareon nach dem kleinen Palmstick und ließ ihn in seine Tasche gleiten.
„Wir schauen auch bei Cats Eltern vorbei.“
Dareon horchte auf. „Warum?“
„Ich darf es dir nicht sagen.“
„Was soll das heißen?“
„Na, dass Xandra nicht will, dass du involviert bist. Sie hält es für das Beste für Cat.“
Empörung machte sich in ihm breit. Vor drei Wochen war sie aus seinem Leben verschwunden und die Fakten, die er von ihr kannte, konnte er an einer Hand abzählen. Das störte ihn zwar, aber bisher hatte er damit leben können. Die Erinnerungen hatten ihn über den Verlust hinweggetröstet und da er sich dieses Los selbst ausgesucht hatte, verweigerte er sich das Recht, dagegen aufzubegehren. Doch jetzt nahm ihm jemand die Wahl ab, unterstellte sogar, dass seine Beteiligung schlecht war. Und obwohl diese Annahme wahrscheinlich richtig war, regte sich nun Widerstand in ihm.
„Das ist ja wohl nicht ihre Entscheidung.“, knurrte er ungehalten und schnaubte verdrießlich.
„Richtig. Es war Catlynns Entscheidung und sie hat sie getroffen, als sie Blackridge verlassen hat. Was du so wolltest, oder etwa nicht?“ Christian war aufgestanden und starrte ihm herausfordernd entgegen.
Sein Freund traf den Nagel wie immer auf den Kopf. Dareon selbst hatte es so gewollt, trotzdem konnte er einfach nicht aufhören, an sie zu denken, von ihr zu fantasieren. Ein Teil von ihm wünschte sich, nach ihr zu suchen und sie zurück zu holen. Lediglich sein Verstand und der eiserne Wille, der ihn schon so lange aufrechterhielt, sorgten dafür, dass er es bisher bleiben gelassen hatte. Jedoch schienen ihn diese widersprüchlichen Gefühle mürbe gemacht zu haben, denn der kleine Seitenhieb von Xandra reichte schon aus, um Platz für einen brüllenden Instinkt zu machen. Nichts und niemand hatte das Recht, ihn von Cat fern zu halten. Außer er selbst vielleicht.
Plötzlich tat sein Herz weh. Überrascht rieb er sich über die Brust.
„Bereust du es schon?“, riss ihn Chris aus seinen verhängnisvollen Gedanken und grinste fies.
„Nein.“ Er beeilte sich, dies klar zu stellen. Dabei empfand er wahrscheinlich genau das. Reue.
Chris legte nur leicht den Kopf schief und betrachtete ihn eingehend. „Das kommt noch. Ich gebe dir eine Woche, spätestens dann drehst du durch. Dein Auge zuckt schon ganz komisch.“ Schmunzelnd ging er an Dareon vorbei und verließ die Halle. Dieser wünschte, er könnte auch einfach davon gehen, aber die schmerzvolle Leere in seinem Thorax konnte er nicht einfach abschütteln.
Er hatte das Bedürfnis, sich dafür zu bestrafen. Vielleicht würde sein verdammtes Herz dann lernen, dass es Cat vergessen musste. So steuerten seine Füße den Ort an, an dem sein Schmerz anschwoll und ihn regelrecht malträtierte.
Keine fünf Minuten später öffnete er die Tür zu Cats ehemaligem Zimmer.
Als er sich aufs Bett fallen ließ und die Nase in die weichen Kissen steckte, meinte er, immer noch ihren Geruch wahrnehmen zu können. Er hatte dafür gesorgt, dass hier alles so blieb, wie sie es zurück gelassen hatte. Beinahe jeden Abend lag er, wo Cat gelegen hatte, suchte so auf scheinheilige Weise ihre Nähe, obwohl er sie weggeschickt hatte. Heute war die Sehnsucht noch stärker als sonst.
Xandras Worte echoten in seinem Kopf und eine gehässige Stimme verhöhnte ihn. Erinnerte daran, dass er sich selbst in diese Situation manövriert hatte. Aber sie konnte ihn nicht davon abhalten, mit seiner Entscheidung zu hadern. Er wusste, warum er sie getroffen hatte, jedoch musste er sich fragen, ob es diesen Schmerz wert war.
Dareon rollte sich auf die Seite und zog die Beine an. Die Embryonalstellung passte zu seiner aktuellen Verfassung, wenn sie auch keinen Trost spendete. Nichts half die Sehnsucht zu schmälern und da übermannten ihn die Erinnerungen an ihren Kuss. Er hatte sich verboten, daran zu denken. Nichtsdestotrotz zwängten sich die Bilder in seinen Kopf, er konnte es nicht stoppen.
Weiche Lippen auf seinen, Gänsehaut überall, sein schwer klopfendes Herz. Das Verlangen nach mehr. Sein Schwanz richtete sich auf und drängte sich gegen den Reißverschluss seiner Hose. So langsam fand er Gefallen an dieser Art der Selbstzüchtigung. Das Kopfkarussell war erregend und verbreitete zu gleich diesen süßen Schmerz. Ein ungeahntes Aphrodisiakum.
Bald schon war Cat überall, obwohl sie physisch gar nicht anwesend war und er musste sich fragen, was für einen Sinn das alles hatte, wenn er sie ja doch nicht vergessen konnte.
Unschlüssig erhob er sich und ging eine Weile vor dem Bett auf und ab. Als er schließlich das Zimmer verließ, wusste er bereits, dass er den heutigen Besuch bei Mylie ausfallen lassen würde.
Die Klänge des hübschen Flügels hallten in dem großen Vorführungssaal wider. Die hervorragende Akustik sorgte dafür, dass die Melodie Cat umgab, sie durchströmte und davon trug. Sie genoss die tragischen Töne, die sie in eine harmonische Reihenfolge gebracht hatte. Dareons Lied, so nannte sie es. Das Stück war in Erinnerung an ihren Kuss entstanden.
Dieser unglaubliche, wundervolle Kuss.
Zum ersten Mal hatte sie dabei keine Furcht verspürt, musste sich nicht sorgen, was ihre Gabe wohl anrichten würde. Sie hatte sich ganz auf den Mann konzentrieren können und die Berührung war einer Offenbarung gleich gekommen. Sie hatte nicht nur seine festen Lippen und den atemberaubenden Geschmack wahrnehmen können. Nein, da war so viel mehr gewesen. Auch wenn sie es nicht genau benennen konnte, hatte sie doch das Gefühl gehabt, plötzlich eine Türe aufgestoßen zu haben. Als hätte sie durch den Kontakt eine Verbindung zu Dareon aufgebaut. Vielleicht hätte sie diesen Eindruck erkundet, wenn sie nicht so überrascht von dem Feuerwerk in ihrer eigenen Emotionswelt gewesen wäre. Der Kuss hatte sie tief berührt, ihr Herz angesprochen. Es hatte sich so richtig angefühlt und umso schmerzhafter war seine Zurückweisung gewesen. Er musste etwas Ähnliches wie sie gespürt haben, das hatte er ja auch zugegeben und trotzdem hatte er sie fort geschickt. Alles beendet, bevor es überhaupt begonnen hatte.
Cats Finger bewegten sich wie Traumtänzer über die kleinen Planken, während sie ihren wehmütigen Gedanken nachhing. Dieser kleine Kuss war dennoch die schönste Erinnerung, die sie ihr Eigen nennen durfte. Sie wollte sie aufbewahren, niemals vergessen, denn sie hatte nicht vor, ihr Glück noch einmal zu versuchen. Wenn Dareon sie nach solch intensiven Empfindungen trotzdem nicht wollte, was sollte ihn denn dann noch umstimmen?
Immerhin hing er anscheinend an einer Frau, die er nicht loslassen konnte. Und Cat gedachte nicht, mit einer Person zu konkurrieren, die nicht mehr atmete. Jemand, der in perfekte kleine Erinnerungen verpackt war und dessen glorifizierten Schatten sie immer neben sich spüren würde. Allein, so zu denken, kam ihr pietätlos vor. Nein, gegen eine Tote wollte sie gar nicht gewinnen.
Cat versuchte, sich damit abzufinden, zu akzeptieren, dass sie das Einzige, das sie jemals mit Leib und Seelegewollt hatte, eben nicht haben konnte. Sie bemühte sich wirklich, doch sie merkte, dass sie mit jedem Tag mehr abstumpfte. Sich immer mehr in sich vergrub, um mit der brennenden Sehnsucht leben zu können. Es war, als ob etwas in ihr verkümmerte und ob sie wach war oder schlief, alles verschwamm vor ihren Augen, nichts hatte mehr Bedeutung.
Nur Dareons Lied.
Wie eine Süchtige gierte sie erneut jede Nacht nach seinem Klang und nach den Eindrücken, die es aufleben ließ. Nur wenn sie alleine war, gestattete sie sich, darin zu schwelgen und in ihrer Trauer zu baden.
Sie legte die Hände flach auf die Tasten und lauschte dem Schlussakkord der melancholischen Melodie. Cat schluckte erneut alle Tränen hinunter, die sich auf ihre Wangen schleichen wollten, verfluchte sie. Doch trotzdem wollte sie nicht missen, dass sie sich nun in dieser Situation befand. Schließlich hätte das auch bedeutet, Dareon niemals kennen gelernt zu haben und das kam nicht in Frage. Vielleicht war es erbärmlich, aber sie hatte alles genommen, was sie bekommen konnte.
Masochismus hin oder her, auch wenn es wehtat, war es doch besser als nichts. Lieber suhlte sie sich in diesem Schmerz, als nichts mehr von Dareon zu haben und obwohl ihr bewusst war, dass das tatsächlich nicht gerade für ihre geistige Gesundheit sprach, war sie nicht bereit es einzustellen.
Es war schon weit nach Mitternacht, als sie die große Eingangstüre des Opernhauses verschloss und sich auf den Heimweg machte. Sie wohnte immer noch bei Mary, weil sie die Einsamkeit einer eigenen Wohnung im Moment nicht ertragen konnte. Ihre Freundin hatte nichts dagegen und auch Dan samt seiner Familie hatten sie freundlich aufgenommen, ohne Cat zu hetzen, sich wieder etwas Neues zu suchen. Sie fühlte sich wohl und verstand sich gut mit Dans Frau Sarah, die meist zu Hause war und sich um die beiden kleinen Kinder kümmerte.
Obwohl ihr Haushalt von Armut gezeichnet war, verstand die junge Frau sich sehr gut drauf, eine heimelige Atmosphäre für alle Bewohner zu schaffen. Sie gaben Cat Halt, wo sie sich doch so verloren fühlte. Auch jetzt war sie froh, das kleine aber gut gepflegte Gebäude zu betreten und den Geruch von Kindern, Wäsche und frischem Kaffee in sich aufzunehmen. Moment, frischer Kaffee?
Sie hörte es in der Küche rumoren und folgte den Geräuschen. Dan stand an der Zeile aus einfachem Buchenholz und kippte das tiefschwarze Gebräu in eine große Tasse. Cat begegnete ihm oft, wenn sie spätnachts nach Hause kam. Er war dann meist gerade aufgestanden und machte sich bereit, um zur Arbeit aufzubrechen.
Sie wollte den armen Kerl nicht erschrecken, weswegen sie im Türrahmen stehen blieb und sich vorsichtig räusperte. Dan sah auf und lächelte, als er sie erblickte. „Guten morgen.“ Ein Schmunzeln verzog seine liebenswürdigen Gesichtszüge. „Oder sollte ich lieber gute Nacht sagen?“
„Wie du willst.“ Sie schlief sowieso kaum noch, es machte also tatsächlich keinen Unterschied. Während sie ihm ebenso ein verhaltenes Lächeln schenkte, wanderte sie zu einem der Schränke und nahm sich eine Tasse heraus. In Anbetracht ihrer Schlaflosigkeit konnte sie sich jetzt auch einen Schluck Kaffee gönnen.
Dan griff sich die Kanne und goss ihr ebenfalls ein.
„Danke. Wie laufen die Geschäfte?“
„Besser. Aber ich muss heute früher los. Meine Aushilfe ist krank und ich darf alleine backen.“ Wie um die Worte zu bekräftigen leerte er seinen Becher mit zwei großen Schlucken.
„Brauchst du Hilfe? Ich könnte einspringen“, bot sie wie gewohnt an.
Dan musterte sie einen Augenblick lang verstohlen. „Hältst du das für eine gute Idee? Du solltest schlafen gehen. Nimm’s mir nicht übel, aber du siehst wirklich fertig aus.“
Cats Wangen verformten sich zu einem zynischen Grinsen. „Das mit dem Schlafen klappt sowieso nicht, also kann ich dir ebenso gut helfen. Ich verspreche, dass ich mich mit meinem gruseligen Aussehen von deiner Kundschaft fernhalte.“
„So war das zwar nicht gemeint,… aber gut, wenn du es so willst. Vorher wird etwas gegessen, sonst nehme ich dich nicht mit. Du bist nur noch ein Strich in der Landschaft.“
Kein Wunder, seit drei Wochen fehlte ihr jeglicher Appetit und sie brachte nur etwas hinunter, wenn ihr gerade mal nicht leicht übel war. Sie wollte schon ablehnen, als ihr seine bekümmerte Miene auffiel. Er machte sich Sorgen. Cat war so gerührt, dass sie nachgab und sich von ihm ein Brötchen mit Butter und selbstgemachter Marmelade reichen ließ. Schnell verdrückte sie die klebrigen Häppchen und Zwang ihre Kehle alles unten zu behalten. Trotzdem war es, als steckten ihr die zerkauten Bissen im Hals, während sie sich mit Dan zu seiner Bäckerei aufmachte. Diese lag in einem großen Einkaufszentrum in einem besseren Stadtteil. Sie mussten zuerst die Bahn nehmen und dann noch ein Stück durch das wohlhabende Viertel laufen.
Als sie an ihrer Haltestelle aussteigen wollten, klingelte Cats Telefon. Sie folgte Dan aus dem Wagon und grub indessen in ihrer Tasche nach dem kleinen Gerät. Sie fragte sich noch, wer sie um diese Uhrzeit wohl zu erreichen versuchte und fühlte sich automatisch an Jayce erinnert. Doch dann sah sie den Namen auf dem Display und hob freudig ab.
„Hi, Xandra.“
„Hey, Süße. Du klingst schon besser, als bei unserem letzten Telefonat.“
„Du weißt ja, die Zeit heilt alle Wunden“, wiegelte sie lapidar ab und biss sich gleich darauf auf die Zunge. Nein, nicht alle, verbesserte sie sich im Stillen selbst. „Wie geht’s Blaise und… ähm… Chris?“
Xandra schmunzelte leicht in den Hörer. „Gut. Chris sitzt gerade neben mir, wir sind auf dem Rückweg von einem Treffen. Deswegen rufe ich an. Wir waren noch bei deinen Eltern.“
Cat musste unwillkürlich schlucken. „Ich dachte, sie wären noch auf Geschäftsreise.“
„Bis heute morgen. Ich wollte dich sofort anrufen, nachdem wir dort waren. Das geht dir bestimmt nicht aus dem Kopf…“
„Danke, dass du dich darum gekümmert hast. Das ist viel mehr, als ich gehofft hatte.“ Ihr Magen krampfte sich unangenehm zusammen, während sie auf die Neuigkeiten wartete. „Und? Was sagst du?“
Xandra seufzte am anderen Ende der Leitung. „Deine Eltern sind verklemmte Spießer, aber Elevender sind sie keine.“ Eine Pause entstand, in der Cat erleichtert Luft holte. Klar änderte das nichts an ihrer Vergangenheit, aber wenn ihre Eltern sie im Stich gelassen hätten, obwohl sie gewusst hatten, was mit ihr losgewesen war, hätte es noch mehr wehgetan.
„Wieso hast du mir nicht erzählt, dass sie reich sind?“
„Spielt das eine Rolle? Ich habe nichts mehr mit ihnen zu tun. Schon lange nicht mehr.“
„Ich frage nur, weil das die Vermutung nahe legt, dass sie irgendwie im Dunstkreis der Hegedunen stehen. Das muss nicht heißen, dass sie wissen, mit wem sie da zusammen arbeiten, aber sie haben sich auf jeden Fall die Hände schmutzig gemacht.“
„Überrascht mich nicht“, brummte Cat nur. Sie konnte sich gut vorstellen, dass ihre Eltern nicht gerade ein Ausbund an Moral waren. Ihr gegenüber hatten sie sich jedenfalls nicht anständig verhalten. Prestige und Außenwirkung war alles, was für sie zählte.
„Ok, ich wollte nur, dass du Bescheid weißt. Wenn ich mehr erfahre, rufe ich wieder an.“
Cat bedankte sich noch mal und legte nach weiterem höflichem Smalltalk auf. Dan hatte sie während des Gesprächs im Auge behalten und war schweigsam neben ihr her gelaufen.
„Gute oder schlechte Nachrichten?“
„Keine Ahnung. Wahrscheinlich beides. Das ist kompliziert, aber so viel kann ich dir verraten: Meine Eltern sind Idioten.“
Dan lachte herzhaft und es hallte auf der verlassenen Straße wider. Sie waren die einzigen Passanten zu dieser späten Stunde und nur die hell leuchtenden Straßenlaternen waren Zeugen ihrer Unterhaltung.
„Haben wir nicht alle Elternprobleme?“
Cat verkniff sich darauf hinzuweisen, dass sie eine Elevenderin war und ihre Elternprobleme, wie er es nannte, wahrscheinlich tiefer reichten als die der meisten. Stattdessen wollte sie etwas Nichtssagendes erwidern, als es plötzlich in ihrem Nacken kribbelte. Der Schauer breitete sich auf ihren gesamten Körper aus und Cat blieb stehen. Mit zunehmender Verwirrung sah sie sich um.
Die Fenster der schönen Häuser in dieser wohlhabenden Gegend waren dunkel. Die Blätter der Bäume am Wegrand rauschten in der warmen Brise dieser lauen Sommernacht. Entfernt vernahm sie die typischen Motorengeräusche der Großstadt. Ihre Augen tasteten die Dunkelheit ab, fanden aber nichts, was sich als Ursache für ihr gegenwärtiges Unwohlsein festmachen ließ.
„Was ist los?“, fragte Dan besorgt.
Sie riss sich von ihrer Erkundung los und schüttelte sich leicht, um die Gänsehaut loszuwerden. „Nichts.“
Damit gingen sie weiter, jedoch wurde Cat dieses merkwürdige Prickeln auf der Haut nicht los. Fast hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. An der nächsten Kreuzung war sie schon so weit, sich erneut umzudrehen, da schoss etwas hinter einer nahe liegenden Häuserecke hervor.
Cat wollte erschrocken ausweichen, zu spät jedoch. Das Etwas verwandelte sich in einen Jemand, der mit ihr zusammenprallte und sie zu Boden stieß. Die Person landete auf ihr und der Aufprall presste ihr die Luft aus der Lunge.
Geistesgegenwärtig stützte sich der Andere auf die Hände und reduzierte sein Gewicht auf ihr. Während sie reflexartig nach Sauerstoff schnappte, sah sie in dunkle Augen auf. Ein entschuldigender Ausdruck lag auf dem Gesicht des jungen Mannes, dunkles Haar lugte unter einer Basecap hervor.
„Mist. Tut mir echt Leid.“ flüsterte er und wollte aufstehen, knickte aber gleich wieder ein. Mit schmerzverzerrten Zügen saß er jetzt neben Cat und hielt sich den Knöchel. Sie richtete sich auf.
„Alles ok?“
„Ja, ich muss nur….“. Der Kerl wurde von lautem Sirenengeheul unterbrochen, das näher zu kommen schien. Erschrocken kam er humpelnd auf die Füße und sah sich fast panisch um. Sein Blick blieb an einem kleinen Rucksack hängen, den er anscheinend beim Sturz verloren hatte. Der Verschluss war aufgegangen und Schmuck in den verschiedensten Ausführungen hatte sich auf den Bürgersteig ergossen. Im Licht der Straßenlaternen schimmerte das Edelmetall verräterisch auf dem grauen Asphalt.
„Hast du das gestohlen?“ Dan starrte den Fremden ungläubig an und sprach damit auch ihre Schlussfolgerung aus.
„Wir müssen schließlich essen. Da wo das herkommt, ist mehr als genug davon. So viel können diese reichen Pinkel gar nicht fressen“, rechtfertigte sich dieser barsch und versuchte, mehr schlecht als recht, zu seiner Beute zu gelangen.
Das genügte Cat als Antwort. Seit sie in die Geheimnisse der Elevender und vor allem der Hegedunen eingeweiht worden war, sah sie vieles aus einem anderen Blickwinkel. Alles, was sie tagtäglich erlebte, bestätigte das, was sie von Xandra und Ferroc gehört hatte. Auch wenn sie das nicht gerne zugab. Da sie außerdem immer half, wenn jemand ihre Hilfe brauchte, fiel ihr die Entscheidung jetzt denkbar leicht, einem flüchtigen Dieb zur Seite zu stehen.
„Warte“, sagte sie. „So kommst du nicht weit. Die werden dich kriegen.Dan, kannst du ihn stützen? Und nimm‘ ihm die Kappe und die Jacke ab.“
Der Bruder ihrer Freundin sah sie verwirrt an, tat aber, wie ihm geheißen. Die Sirenen kamen immer näher, schon flackerten die ersten roten und blauen Lichter über die Gebäudefassaden um sie herum.Cat kniete sich neben die Diebesbeute. Schnell schob sie alles zurück in den Rucksack und warf ihn dann samt der Kleidung des Flüchtigen über die hohe Grundstücksmauer des Hauses, das ihnen am nächsten stand. Zum ersten Mal war sie froh darüber, dass diese reichen Pinkel sich von der Außenwelt abschirmten.
Kaum hatte sie sich zu dem schwankenden Duo gesellt, um Dan beim Stützen zu helfen, hielt eine Polizeistreife neben ihnen.
„Und ab jetzt bist du sternhagelvoll.“
Der Fremde sah sie an, als wäre sie von allen guten Geistern verlassen worden, nickte dann jedoch. Gerade noch rechtzeitig, denn schon stiegen zwei leicht untersetzte Polizisten aus dem Wagen und kamen auf sie zu. Der eine hatte die Rechte auf die Waffe an seinem Gurt gelegt und musterte das Dreiergespann vor ihm misstrauisch. Seine rasselnde Stimme wehte zu ihnen herüber.
„Guten Abend die Herrschaften. Was machen wir denn um diese Uhrzeit hier?“
„Ach wir haben nur zu lange gefeiert. Unser Kumpel hier ist ziemlich betrunken. Wir bringen ihn nach Hause.“ Cat bemühte sich um ein lässiges Lächeln und der Fremde zwischen ihr und Dan hickste vernehmlich. Er schwankte so sehr, dass sie ihn eben noch halten konnten.
Auch der zweite Polizist mischte sich in altklugem Ton ein. „Wo haben wir denn gefeiert? In dieser Gegend gibt es keine Bars.“
Cats Hirn war mit einem mal wie leergefegt. Ihr wollte einfach keine Erklärung einfallen. Zum Glück half ihr Dan aus der Patsche. Er fummelte in seiner Hosentasche und reichte dem Klugscheißer eine Visitenkarte.
„Meine Bäckerei ist ganz in der Nähe. Wir haben dort auf einen erfolgreichen Tag angestoßen und sind jetzt auf dem Weg zur nächsten Straßenbahnstation.“
Der Kollege schielte dem Anderen über die Schulter und machte ein erfreutes Gesicht. Seine Hand wanderte zu dem Wanst unter der Uniform und er strich wie in Gedanken darüber. „Die kenne ich. Sie machen wirklich gute Donuts.“
„Danke.“ Dan lächelte erleichtert. Doch während der eine Polizist ein Schleckermaul zu sein schien, war der andere wesentlich strebsamer.
„Wie dem auch sei. Haben sie hier jemanden vorbei kommen sehen? Er hatte eine Schirmmütze auf und einen kleinen Rucksack dabei.“
Alle drei schüttelten den Kopf, und der Fremde packte noch ein Hicksen obendrauf, was die Gesetzeshüter dazu veranlasste, sie noch ein mal mit ihren Blicken zu durchlöchern, dann jedoch den Rückzug anzutreten. Mit einer knappen Verabschiedung verließen sie das Trio am Straßenrand und brausten kurz darauf in ihrer Dienstkarosse davon.
Cat atmete auf und fühlte sich mindestens eine Tonne leichter. Sie ließ den Dieb los. „Alles klar? Kannst du gehen?“
Er probierte es und nickte dann. „Mann, ich weiß gar nicht, wie ich mich bei euch bedanken soll.“
Sie wollte schon abwinken, aber Dan kam ihr zuvor, indem er dem Flüchtigen ebenfalls eine Visitenkarte seiner Bäckerei zusteckte. „Du könntest mein Kunde werden, aber du musst bezahlen.“ Er lächelte verschmitzt, während er mit dem Zeigefinger wedelte. „Das ist übrigens Cat, und mein Name ist Dan.“ Er streckte seine Hand vor.
Der Dieb sah erstaunt darauf hinunter und ergriff sie schließlich zögerlich.
„Ich heiße Micham, aber meine Freunde nennen mich Mich.“
Weitere zwei Wochen später…
„Ach, komm‘ schon. Ich weiß, du willst es auch“, raunte Christian und rutschte mit seinem Barhocker näher heran.
„Hör‘ endlich auf zu nerven. Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass ich keins deiner Betthäschen werde und damit basta.“
Xandras barscher Tonfall schien ihn nicht aufzuhalten. Seine Finger strichen ihren Arm hinauf, folgten der Kontur ihrer nackten Schulter. Eine wohlige Gänsehaut entstand und sie musste ein Schaudern unterdrücken. Den Seufzer konnte sie nur knapp stoppen, bevor er aus ihrem Mund purzelte. Es war einfach so verdammt lange her.
Die Durststrecke zog sich hin, da weder der passende Kerl, noch genügend Zeit zur Verfügung standen. Sie trauerte ihrer zweiten Chance mit Evrill nach, war diese schließlich in unerreichbare Ferne gerückt. Außerdem sah sie seit Wochen nichts anderes als ungeordnete Datenberge über die McCarteys und ihre Firma. Auch hier konnte sie keine Erfolge verzeichnen. Sicher war da einiges, das die McCarteys in ein schlechtes Licht gerückt hätte, aber bisher waren sie auf nichts gestoßen, womit man die Cohens oder die Lebensmittelgentechnik torpedieren hätte können.
Endlich schaffte sie es, Christians Hand rüde wegzuschubsen. Ein ungeduldiger Laut kam aus seiner Richtung. „Und was ist, wenn ich kein Betthäschen will?“
Xandra lachte schallend. In der Bar des Anwesens saßen noch ein paar andere Bewohner Blackriges und genossen der Augustabend. Die meisten von ihnen drehten sich nach den beiden blonden Elevendern am edlen Marmortresen um und beäugten Xandra bei ihrem Lachanfall. Sie hielt sich den Bauch, als sie sich wieder fangen konnte. Indessen hatte sich Chris‘ Miene verfinstert.
„Wüsste nicht, was daran so komisch sein soll.“
„Pfff. Allein die Vorstellung ist einfach zum Schießen.“ Xandra gluckste immer noch und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Chris hatte mit Sicherheit viele gute Eigenschaften, in letzter Zeit hatte sie sich des Öfteren davon überzeugen können, da sie regelmäßig zusammen gearbeitet hatten. Jedoch zählte die Fähigkeit zur Monogamie nicht dazu. Und für so etwas war sich Xandra einfach zu schade, egal wie toll der Rest an ihm auch sein mochte.
Als sie schließlich wieder eine klare Sicht hatte, suchte sie den Blick ihres Sitznachbarn. Der starrte stur sein Ebenbild im Spiegel zwischen den Alkoholregalen gegenüber an. Seine Finger zerfledderten das Etikett der halbleeren Bierflasche, die vor ihm stand. Nach kurzem Überlegen stupste sie ihn mit der Schulter an.
„Wehe du spielst hier die beleidigte Leberwurst. Ich meine, du hast deinen Ruf Jahrhunderte lang aufgebaut. Jetzt leb‘ damit.“
Chris verdrehte bei ihren Worten die Augen. „Die Dinge ändern sich. Menschen ändern sich. Warum soll ich das dann nicht können?“
„Du kannst es natürlich schon. Aber es stellt sich die Frage, ob es dir jemand abnimmt.“
„Warum?“ Christian drehte sich schwungvoll zu ihr um und blickte sie herausfordernd an. Als sie ihn musterte, musste sie allerdings gleich wieder kichern.
„Vielleicht solltest du bei deinem Äußeren anfangen.“
Verdutzt sah er an sich herunter und da schien auch ihm aufzufallen, dass er ein schwarzes T-Shirt mit dem neongelben Aufdruck ‚Ich bin zwar kein Gynäkologe, aber ich seh’s mir trotzdem mal an‘ trug. Selbst er musste nun grinsen.
„Ok, ich geb’s ja zu. Das war nicht die beste Wahl.“
„Nicht die beste Wahl?!“, echote Xandra höhnisch. Nur zu deutlich standen ihr all die vielen Frauen vor Augen, die sie in seinen Armen gesehen hatte. „Vergiss‘, was ich gesagt habe. Ob mit T-Shirt, oder ohne. Dir steht einfach ins Gesicht geschrieben, was du für einer bist.“
„Da bist du dir wohl ziemlich sicher. Aber was weißt du denn schon über mich?“
„Ich bitte dich. Ist ja nicht so, als würdest du ein Geheimnis aus deiner Art machen. Du bist ein guter Jäger und hast Humor. Aber deine Arroganz ist manchmal kaum auszuhalten und außerdem…. Seien wir mal ehrlich, du bist eine Schlampe.“ Xandra fand, mit diesem knappen Umriss traf sie es ziemlich gut, doch der Schönling neben ihr schnaubte nur.
„Und du glaubst, das ist alles? Meinst du, dein Charakter lässt sich mit zwei Sätzen beschreiben?“ Jetzt sah er Xandra direkt an und während sie noch mit dem aufkeimenden schlechten Gewissen kämpfte, bemerkte sie, dass sie plötzlich nicht mehr wegschauen konnte. Sie kannte ihn tatsächlich nicht auf persönlicher Ebene und hatte sich auch nie dafür interessiert. Seine ganze Rumhurerei hatte sie abgestoßen. Doch wie sie jetzt in diese bemerkenswerten blauen Augen blickte, musste sie sich wohl oder übel eingestehen, dass es da noch mehr zu wissen gab.
„Nein, sicher nicht. Aber du gibst dir ziemlich viel Mühe, damit man nicht merkt, dass mehr hinter der Christian-Show steckt.“
Seine Augen weiteten sich, dann kniff er sie zornig zusammen. „Schwachsinn. Du hast Schiss.“ Angriffslustig beugte er sich vor.
Xandra wich nicht einen Millimeter zurück. Sie hatte noch nie klein bei gegeben und würde jetzt nicht damit anfangen. „Falls ich jemals Schiss gehabt haben sollte, dann bestimmt nicht vor dir.“ Ihre Nasenspitzen berührten sich fast.
„Nicht vor mir. Du hast Angst, du könntest etwas empfinden, wenn du mir zu nahe kommst. So ist es doch?!“
Einen Augenblick lang klappte ihr doch tatsächlich die Kinnlade runter, so überrascht war sie von dieser Anschuldigung. Noch bevor sie rational dagegen argumentieren konnte, brausten unerwartete Bilder durch ihren Kopf. Alle zeigten sie den unbestreitbar attraktiven und charmanten Christian. Verwirrt schüttelte sie sich, in der Hoffnung, die Gedanken zu verscheuchen. Ja, der Kerl war lecker, aber das war es dann auch, versuchte sie sich einzureden.
„Oh Mann, Chris. Was soll das? Du hast einen ganzen Harem, der auf dich wartet. Wieso ist es so wichtig, was ich denke? Brauchst du noch mehr Bestätigung für dein monströses Ego?“
„Du weichst aus.“
„Ach, wirklich? Ich glaube, ich verstehe noch nicht mal, was genau du von mir willst.“
Er lehnte sich zurück und betrachtete sie skeptisch. In seinem Gesicht spiegelte sich die Unzufriedenheit über den Verlauf des Gesprächs, dann schien ihm etwas einzufallen. Er öffnete den Mund, überlegte es sich aber anders und brach zunächst ab. Beim zweiten Versuch war sein Tonfall plötzlich vorsichtig.
„Nein, ich glaube, im Moment möchtest du es gar nicht wissen. Du bist noch nicht bereit für das, was ich von dir will. Fürs erste werde ich dir beweisen, dass da mehr ist.“ Er legte sich die Hand auf die Brust. Die Geste und schnulzigen Worte machten Xandra sofort misstrauisch. Der Typ hatte so viele Maschen auf Lager, wer wusste schon, ob er gerade eine bei ihr abzog. Sie hatte schon öfter darüber nachgedacht, dass er einen Riecher dafür haben musste, was Frauen hören wollten.
„Und wie willst du das anstellen?“
„Ich zeige dir etwas.“
Gut, dass ihre Augenbrauen angewachsen waren, sonst hätten sie sich jetzt himmelwärts verabschiedet. „Das ist ja wie in der dritten Klasse! Ist es etwas Selbstgebasteltes?“
Christian strafte sie mit einem sarkastischen Blick und griff unvermittelt nach ihrem Ellenbogen. Schwungvoll erhob er sich und zog sie dabei ebenfalls auf die Beine. Ihr kurzes Sommerkleid hätte sich beinahe am Hocker verhakt, sie konnte sich gerade noch frei machen, als er sie entschlossenmitschleifte.
Den Gedanken, sich zu wehren, verwarf sie bald. Die Neugierde siegte. Ob es ein Trick war oder nicht, sie war angefixt. Xandra tat seine augenblickliche Stimmung als merkwürdige Laune ab und fragte sich, was diese noch alles zutage fördern mochte. Vielleicht hatte sie die seltene Gelegenheit, ihn mal nicht im Aufreißer-Modus zu erleben.
Der blonde Elevender führte sie quer durch die Bar und zur Terrassentür hinaus. Schwüle Luft empfing sie beide, während sie sich einen Weg durch die Tische auf der kleinen Terrasse bahnten. Diese lag auf der Rückseite des Haupthauses und grenzte direkt an die große Wiese, die zwischen ihm und den anderen Gebäuden lag. Christian wählte einen der vielen gewundenen Pfade und bereits nach wenigen Metern war Xandra klar, wo es hingehen sollte.
Sie musste ihre Hoffnung von vorhin wohl begraben.
Energisch machte sie sich los und blieb stehen. „Oh, nein. Vergiss‘ es! Ich gehe weder mit dir in die Sauna, noch in den Swimmingpool. Kommt gar nicht in die Tüte.“
„Könntest du fünf Minuten lang so tun, als wäre ich nicht der Teufel höchst persönlich? Ich werd‘ dich schon nicht auffressen.“ Er hatte sich zu ihr umgedreht und fuchtelte mit den Armen. Sein helles Haar leuchtete sogar im Dunkeln, schoss es ihr kurz durch den Kopf. „Ich will dir nur zeigen, was ich mache, wenn wir nicht auf der Jagd sind.“
„Der Hinweis macht’s nicht besser, Chris. Schließlich weiß ich genau, was du in deiner Freizeit… treibst.“ Sie hatte schon wieder einen Schwung Frauengesichter vor ihrem geistigen Auge und hätte gerne noch einen nicht gerade freundlichen Kommentar oben drauf gesetzt. Wieso plagten sie diese Bilder jetzt? Sie hatte sich doch schon lange damit abgefunden….
„Nicht das!“, versetzte er energisch. „Ich verspreche, dass es nicht darum geht. Bitte, glaub‘ mir.“ Er machte eine solch ernste, treuherzige Miene, dass Xandras ganzer Widerstand bröckelte und sie zu schwanken begann. Ärgerlich über sich selbst fauchte sie leise.
„Na gut. Also los, bringen wir’s hinter uns.“
Als sie den Weg wieder aufnahmen, liefen sie neben einander her. Kurze Zeit später hatten sie das flache, langgezogene Gebäude erreicht, in dem sich die kleine Badelandschaft samt Sauna befand. Zudem gab es ein paar Räume und Gerätschaften für physiotherapeutische Maßnahmen, die Xandra selbst regelmäßig nutzte, wenn einer ihrer Schützlinge verletzt war.
Alles war dunkel, der große Pool im vorderen Teil des Gebäudes lag still und verlassen da. Seine ovale Form passte sich der Biegung der Fensterfassade gegenüber an, durch die man einen schönen Blick über die Wiese und einen Teil des Waldes hatte. Ihre Schritte hallten in dem hohen, mit hellblauen Fließen ausgekleideten Raum. Christian führte sie auf die andere Seite des Wassers und hieß sie, sich auf einen der dort stehenden Holzliegestühle zu setzen.
Ihr Begleiter ließ sich nicht neben ihr nieder, sondern ging zu der elektronischen Schaltzentrale in einem kleinen, abgetrennten Raum. Mit einer Fernbedienung in der Hand kam er zurück und kurz darauf ertönte ein schönes Musikstück. Zu ihrer Überraschung handelte es sich um Klassik. Zarte Geigenklänge wurden durch die blanken Wände verstärkt.
Der überaus attraktive Elevender schritt an der Längsseite des Beckens entlang und Xandra bemerkte seit langer Zeit mal wieder, wie er diese lässige Eleganz zur Schau trug. Diese Manier, die ihn so selbstsicher und kompetent aber doch nahbar erscheinen ließ. Ein charmanter Junge mit Geschäftsmannattitüden. Plötzlich wurde ihr ganz warm und das hatte leider nichts mit den heißen Temperaturen zu tun, die sich hier im Schwimmbad hinter der Glasfront gesammelt hatten.
Ihre Augen folgten ihm aufmerksam, bis er wortlos eine Position im Schneidersitz am Beckenrand bezog. Sie konnte es nicht sehen, doch vermutete sie, dass er die Augen geschlossen hatte. Er schien sich zu konzentrieren und da sie seine Gabe kannte, beobachtete sie die glatte Wasseroberfläche genau.
Da! In der Poolmitte hatte sich eine kleine Fontäne gebildet und plötzlich schossen links und rechts noch mehr in Höhe, nacheinander, zum Takt der langsamen Musik. Als es fünf an der Zahl waren, begannen sie im Kreis zu wandern, wurden im Wechsel größer und kleiner. Immer weiter bildeten sie Formen und Konfigurationen passend zur Melodie, lösten sich geschmeidig wieder von einander oder agierten separat. Es wirkte nicht wie eine feste Choreografie. Mehr schien es, als kämen die Bewegungen direkt aus Christian heraus. Er ließ es einfach fließen. Bei dieser unwillkürlich sehr zutreffenden Bezeichnung verzogen sich ihre Lippen zu einem unbeschwerten Lächeln.
Xandra beobachtete, wie aus den Fontänen noch kompliziertere Gebilde wurden und welche vollendete Synchronität deren Schöpfer zustande brachte. Dann wechselte das Lied zu einem Pianostück und die durchsichtigen Säulen glitten übergangslos zurück in den Pool. Kurz war sie enttäuscht, dass es schon vorüber war, da erwuchs aus der spiegelnden Oberfläche eine neue Figur. Nur wenige Sekunden brauchte Christian, um die Silhouette einer Tänzerin zu erschaffen. Xandras Mund öffnete sich mit einem erstaunten Laut. Der weibliche Körper war nicht besonders detailliert, aber er bewegte sich unablässig zu den Klängen des sanften Klavierstücks. Ein echter Tanz mit der eleganten Grazie einer Ballerina. Wunderschön anzusehen.
Die Show hatte einen ganz eigentümlichen Zauber. Das Mondlicht, das durch die Fensterfront fiel, ließ die Erscheinung aus Wasser geheimnisvoll glitzern. Der Pool war ihre Bühne, auf der sie ein beeindruckend bewegendes Solo hinlegte. Ohne ihr Zutun spürte Xandra, wie sich etwas in ihr verschob. Ihr Blick glitt hinüber zu dem Marionettenspieler auf dem Fließenboden, bohrte sich in dessen Hinterkopf. Was war nur los mit ihr?
Sie war auf den Beinen, ohne sich einer Entscheidung bewusst zu sein. Genauso wenig hatte sie geplant, sich ganz nah neben ihn zu setzen, sodass sich ihre Ellenbogen berührten.
Chris hatte tatsächlich die Augen geschlossen. Sie bildeten einen Halbkreis aus langen blonden Wimpern, deren Enden nach oben gebogen waren. Welche Verschwendung für einen Kerl, dachte Xandra.
Sie sah gerade noch rechtzeitig zum Wasser, um mitzubekommen, wie eine zweite Figur entstand. Ein männlicher Tänzer, der sich zu einem romantischen Pas-de-deux anschloss.
Mein Gott, in den sicheren Schritten lag so viel Kreativität. Ein tiefgründiges Verständnis für Schönheit. Niemals hätte sie diese Eigenschaften bei dem leichtlebigen und oberflächlichen Christian vermutet.
Schließlich kam das Musikstück zum Ende und ein herzzerreißendes Finale schloss die atemberaubende Kür ab. Verstohlen wischte Xandra sich die Augenwinkel trocken, beinahe hätte sie ein paar Tränchen verdrückt. Während die beiden Akteure des Schauspiels langsam in ihre ursprüngliche Form zurückflossen und eine erneut unberührt wirkende Fläche bildeten, öffnete Chris die Augen. Übergangslos suchten sie ihren Blick.
Er wartete wohl auf ein Urteil, aber sie brachte kein Wort heraus. Eine absolute Seltenheit bei ihr und wenn sie es sich recht überlegte, war es ihr beim letzten Mal in einer hitzigen Debatte mit Evrill passiert. Und für den empfand sie etwas. Nur ungern gab sie zu, dass sich immer mehr abzeichnete, dass Christian doch eine gewisse Macht über sie zu haben schien.
Xandra erwiderte seinen intensiven Blick stumm, scherte sich nicht darum, dass es unter anderen Umständen merkwürdig gewesen wäre, sich so lange anzustarren. Doch hier und jetzt schien es ihr nur natürlich. Er brach letztlich die nicht unangenehme Stille.
„Ich hätte wenigstens einen fiesen Kommentar erwartet, gespickt mit den Wörtern Weichei und Schwuchtel.“
Sie grinste schon wieder versonnen. „Nein, diesmal nicht. Ich finde keine Worte, die das beschreiben können.“
„Ist das gut?“ Sie hörte die Hoffnung aus der Frage heraus und seufzte nach kurzem Zögern ergeben.
„Schätze schon.“ Leider. Sie hatte immer noch das Gefühl, mit jedem Kompliment nur Öl in das Feuer seiner Überheblichkeit zu gießen. Wachsam ermahnte sie sich zur Zurückhaltung. Sie wollte diesen Charakterzug nicht zusätzlich unterstützen.
„Ich hoffe, du bist angemessen beeindruckt. So was kriegt nicht jede zu sehen.“
Womit sie wieder beim Thema waren. Die Erwähnung der vielen anderen Frauen wischte ihr das Lächeln aus dem Gesicht, wirkte wie eine eiskalte Dusche.
„Stimmt, sonst kommst du auch ohne diesen Schnickschnack ans Ziel.“
„Sag‘ mal, hab‘ ich eben was verpasst? Mr. Hyde, wo haben sie Dr. Jekyll gelassen?“
„Da wo du ihn niemals finden wirst. Mich kannst du mit diesem Scheiß‘ nicht einwickeln.“
Der erzürnte Tonfall brachte ihn offenbar aus der Ruhe und Empörung verzog die hübschen Züge. Das war der Nachteil, wenn man so von sich überzeugt war wie er. Genau dies verlieh ihren Bemerkungen erst ihre Durchschlagkraft.
„Mach‘ mal halblang. Du hast die Kernaussage des Satzes nicht kapiert. Ich wollte damit sagen, dass du was Besonderes bist, also benimm‘ dich nicht wie eine streitsüchtige Furie.“
Bei der Beleidigung biss Xandra die Zähne so fest zusammen, dass sie fast zersprangen. „Ich bin keine streitsüchtige…. Was hast du da gerade gesagt?“ Sie musste sich einfach verhört haben.
„Das hast du schon verstanden.“
Hatte sie, konnte es aber gar nicht glauben. „Bist du etwa auf Droge?“
„Jetzt wirst du fies.“ Er schien ernsthaft gekränkt von ihrer Reaktion. Christian wandte den Kopf ab und grummelte ungehaltene Flüche, die Silben klangen wie ein einziger genuschelter Satz.
Irritiert versuchte sie, das Gespräch ins Lächerliche zu ziehen, was normalerweise bei ihm funktioniert. „Sei‘ vorsichtig. Ich könnte sonst auf die Idee kommen, dass du Qualität doch von Quantität unterscheiden kannst.“
„Nur weil ich das Eine zu schätzen weiß, heißt das nicht, dass ich das Andere nicht erkenne.“ Ihr Aufmunterungsversuch zeigte keinerlei Wirkung, er klang immer noch frostig.
„Entschuldige, aber deine plötzliche Begeisterung für Letzteres kommt sehr unerwartet. Daran muss ich mich erst gewöhnen.“ Aus einem Reflex heraus legte sie ihre Hand über seine, mit der er sich auf dem Boden abstützte.
Sofort schnellte Christian herum und grinste breit.
Verdammter Mistkerl! Er war gar nicht gekränkt gewesen, stattdessen hatte er mit ihrem Pflichtgefühl für Anstand gespielt. „Du hast mich verarscht!“
„Nur ein Bisschen.“
„Du mieser…“
Bevor Xandra sich für ein Schimpfwort entschieden hatte, befand sie sich auf seinem Schoß und kippte in seinen Armen nach hinten. Sie schnappte überrascht nach Luft und er beugte sich über sie. Sein Gesicht kam näher. Sie konnte erkennen, dass das Blau seiner Augen zu den Pupillen hin immer heller wurde und ein Teil ihres Verstandes bemerkte, dass es dieser Umstand sein musste, der die Farbe so leuchten ließ. Xandra konnte plötzlich nur noch flach atmen und ihr Magen wurde flau. Ihre Reaktion brachte sie völlig aus dem Konzept.
Deshalb verpasste sie den Moment, den er ihr gelassen hatte, um ihn wegzuschieben und im nächsten senkten sich schon heiße Lippen auf die ihren.
Vorher hätte sie mit absoluter Sicherheit gesagt, dass Christian ein paar Körperteile einbüßen würde, sollte er es jemals wagen, sie zu küssen. Als er es jetzt tatsächlich tat, war von dieser Entschiedenheit nichts zu spüren. Im Gegenteil, ihr Körper erzitterte, als Hormone ihn durchfluteten. Dieser Kuss war wie ein Regentropfen, der auf ausgedörrte Erde fiel. Zunächst blieb er noch an der Oberfläche, aber schon bald saugte Xandra ihn auf wie ein Schwamm. Sie reagierte auf Chris‘ fordernde Zunge und ließ sie ein.
Bei Gott, sie war so hungrig und ihr Körper schrie geradezu nach mehr. Ganz bestimmt war das der einzige Grund, warum sie diesem Treiben nicht sofort ein Ende setzte. Stattdessen legte sie die Arme um seinen Nacken und fühlte die breite, durchtrainierte Brust an ihrer. Automatisch drängte sie sich ihm entgegen, völlig verwirrt von dem Überfall ihrer eigenen Libido. Der Kerl schmeckte fantastisch nach Mann und weckte ein dunkles, sinnliches Begehren. Nie hätte sie geglaubt, dass gerade dieser Elevender ein solches Feuer in ihr entfachen konnte. Immerhin war es Christian.
Widerstreitende Argumente schossen durch ihren Kopf, aber sie stoppten sie nicht. Es fühlte sich viel zu gut an, gehalten und begehrt zu werden. Wahrscheinlich war es Xandras Durststrecke zuzuschreiben, dass sie nicht mehr ausschließen konnte, dem Drängen der Stelle zwischen ihren Beinen nachzugeben. Dort pochte es gefährlich und sie presste die Schenkel zusammen. Die verräterischen Dinger hatten sich bereits ohne ihr Wissen geöffnet.
Im Nachhinein war sie froh, dass in diesem Augenblick das Telefon klingelte. Wer wusste schon, wie weit sie sonst gegangen wäre. Atemlos löste sie sich von Chris. Die Hände gegen seine Schultern gestemmt, schob sie ihn von sich weg. Endlich konnte sie wacklig von ihm herunter kriechen und griff dabei nach dem Handy.
„Ja?“, krächzte sie in den Hörer.
Ein Redeschwall ergoss sich aus dem Lautsprecher, Xandra verstand beim ersten Mal nicht viel. Sie begriff aber, dass sie Cat am Apparat hatte und diese völlig außer sich war.
„Beruhige dich, Süße! Sprich‘ langsamer.“
Ein zittriges Schluchzen kam durch die Leitung. „Jemand ist verletzt. Du musst herkommen. Bitte, mach‘ schnell!“
Cat legte beklommen auf. Ihr Daumen hinterließ einen rotgezeichneten Fingerabdruck auf der Taste mit dem durchgestrichenen Hörer. Sie schob sich das Haar aus dem Gesicht und war sich nur am Rande bewusst, dass sie jetzt wahrscheinlich fremdes Blut auf der Stirn hatte. Michams Blut.
Es war einfach überall. Die rote Flüssigkeit bedeckte ihre Arme bis zu den Ellenbogen, Spritzer zierten ihre Kleidung und Schuhe. Große Pfützen befanden sich auf dem Boden rund um den großen Metalltisch, auf dem sonst Teig geknetet und geformt wurde. Sogar Dan war über und über voll damit. Ihre Augen folgten den martialischen Spuren bis zu dem zuckenden Körper, der dort in der Mitte der Backstube lag.
Micham war offensichtlich angeschossen worden. Zwei mal. Die Kugeln hatten sich in seine Seite gebohrt und er verlor viel zu schnell viel zu viel Blut. Den Beweis dafür hatte sie an den Händen kleben.
Seit sie ihr Handy hervorgeholt und Xandra angerufen hatte, war Dan an ihren Platz geglitten, um einen Knäuel Handtücher auf die Wunden zu drücken. Eigentlich hatte sie den Notruf verständigen wollen, doch Mich hatte sie mit aller ihm verbliebenen Kraft angefleht, es nicht zu tun.
Cat hatte recht schnell kapiert. Kein Krankenwagen, keine Ärzte, die Schusswunden entdeckten und die Polizei verständigten. Wahrscheinlich war er bei einem Gesetzesbruch verletzt worden. Zum Glück hatte sie übernatürliche Hilfe in petto. Nicht zum ersten Mal erwies sich der Trip nach Blackridge als nützlich. Er hatte so vieles in ihrem Leben in Bewegung gesetzt.
Ein Stöhnen von der provisorischen Liege lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen. Die Tatsache, dass sie gebraucht wurde, überwog den Schrecken und die Berührungsängste. Ihre Beine trugen sie zu Micham und Dan hinüber. Sie ergriff die Hand des Verletzten und drückte sie fest.
„Hilfe ist unterwegs, halte durch!“
Michs blasse Lippen bewegten sich, aber es kam kein Laut heraus. Seine Augen versuchten, sie zu fixieren, es gelang ihnen jedoch kaum. Immer wieder schweiften sie ab und Cat fürchtete, dass er bald ohnmächtig werden würde. Also sprach sie weiter mit ihm, ermahnte ihn, wach zu bleiben. Die Sekunden zogen sich in die Länge wie Kaugummi, nur mühsam wurden sie zu Minuten. Unglaublich, wie sich das Zeitempfinden in solchen Situationen veränderte.
Dann endlich klopfte es energisch an der Hintertür.
Cat ging, um zu öffnen und empfing eine besorgte Xandra mit Christian im Schlepptau. Sie trat sogleich zur Seite und die Ärztin erfasste die Lage innerhalb einer Sekunde. Es waren keine Worte nötig, die Bilder sprachen für sich. Geschäftig trat sie an den Tisch und Chris stapfte hinter her. Er hatte zwei große schwarze Taschen dabei.
„Ist er ein Mensch?“
Dan hatte die Fremden scharf beobachtet und machte auf die Frage hin ein verständnisloses Gesicht. Cat antwortete mit einem Nicken, woraufhin Xandra sich ohne Umschweife über den Patienten beugte, dessen Augenlider nur noch unbeständig flatterten. Sie tastete nach dem Puls und kontrollierte die Atmung, warf einen Blick auf den blutigen Stoff unter Dans Händen.
„Er schafft es nicht. Bis ich ihn geheilt habe, ist er verblutet. Chris, gib mir das Infusionsbesteck.“ Sie bekam, wonach sie verlangte und legte in Windeseile einen Zugang in der Ellenbeuge, an den sie einen großen Beutel Flüssigkeit anstöpselte. Der blonde Elevender wurde als Infusionsständer abgestellt, wobei er Xandra weiterhin mit Materialien versorgte. Über das Ventil direkt am Zugang verabreichte sie dem Patienten den Inhalt mehrerer Spritzen und Michams Augen schlossen sich langsam, seine Arme und Beine erschlafften.Dan wurde zur Seite geschoben.
„Bitte stell‘ dich nach oben und überwache seine Atmung. Falls er nicht mehr selbstständig atmen sollte, musst du das für ihn übernehmen. Die Maske mit Beutel ist in der Tasche.“ Marys Bruder folgte den ruhig vorgebrachten Anweisungen. Xandra brauchte nicht laut zu werden, um Dominanz auszustrahlen. Ihre Fähigkeiten und die Souveränität mit der sie sie einsetzte waren überzeugend genug. Sie hatte indessen die Schusswunden inspiziert und nahm sich jetzt das Skalpell.
„Cat, komm‘ hier rüber zu mir. Schnapp‘ dir die Taschenlampe und leuchte für mich, ich werde Licht brauchen. Seine Milz ist getroffen, ich muss die zuführende Arterie in seinem Bauchraum abbinden.“
Es klang ganz logisch und Cat versuchte, sich ein Beispiel an der routinierten Frau zu nehmen, die gerade eine rote Flüssigkeit über die Wunden und die Haut drum herum goss und in Handschuhe schlüpfte. Kaum hatte sie sich mit ihrer Lampe positioniert, wurde der erste Schnitt gesetzt und bevor sich Cats Magen zur Rebellion entscheiden konnte, kamen zwei zerbeulte Patronen zum Vorschein. Schließlich legte die Elevenderärztin die Instrumente zu Seite und steckte eine Hand in die Wunde. „Jetzt ist die Blutung vorerst eingedämmt und ich kann ihn heilen.“
Ihr Arm begann zu leuchten und auch Michams Haut glomm unter dem Einfluss ihrer Gabe. Dan schrie auf und stolperte zurück. Mit dem ausgestreckten Finger deutete er auf die Lebensretterin in Aktion.
„Was…, um Himmelswillen, was seid ihr?“
Keiner außer Cat kümmerte sich um ihn. Beruhigend versuchte diese auf ihn einzuwirken. „Das sind meine Freunde, Dan. Sie haben unglaubliche Fähigkeiten. Bitte vertrau‘ mir, ich erkläre dir später alles. Aber jetzt musst du dich zusammenreißen und mit uns an einem Strang ziehen. Keiner wird dir was tun, ok?“
„Was soll das heißen, sie haben Fähigkeiten?“ Seine Stimme war schrill geworden.
„Nichts Schlimmes! Bitte glaub’ mir. Sie sind keine Bedrohung, sie wollen nur helfen. Aber du musst auch mitmachen.“ Cat sprach mit eindringlichem Tonfall und anscheinend hatte sie endlich das Richtige gesagt, denn Dan kehrte an seinen Platz zurück. Wenn auch sehr zögerlich und mit deutlichem Misstrauen in den Augen.
Xandra hatte unterdessen die Heilung vorangetrieben. Diese Phase zog sich weiter hin, aber als sie ihre Hand wegnahm und mit einem sauberen Tuch das Blut wegwischte, war nichts als rosige, unberührte Haut übrig geblieben.
Erleichterung durchflutete Cat und ihre Knie wurden weich. Die akute Anspannung wich aus ihr und hinterließ ein zittriges Bündel. Sie wurde von Xandra auf einen Stuhl gedrängt, dann löste die Freundin Dan ab. Auch er setzte sich, das Haar stand ihm zerzaust vom Kopf ab. Mit dem ganzen Blut und dem grünlichen Teint um die Nase bot er einen wilden Anblick.
„Der Patient wird bald wieder zu sich kommen. Das Ketamin hört gleich auf zu wirken. Vielleicht wird er ein bisschen verwirrt sein, dann müsst ihr ihn beruhigen.“ Während Xandra redete, brachte sie den Kopf des Patienten in eine überstreckte Position, so konnte er besser atmen. „Kann mir mal jemand erklären, was zum Teufel passiert ist?“
Cat sah wie in Trance zu ihr auf und sie musste erst ihre Gedanken ordnen, bevor sie berichten konnte. „Keine Ahnung. Micham kam schon so hier an.“
„Ist er ein Freund von dir?“
„Wir haben ihn vor zwei Wochen kennen gelernt, als er gerade vor der Polizei auf der Flucht war. Er hatte Schmuck gestohlen und wir haben ihm aus der Patsche geholfen. Seit dem kam er fast täglich auf einen Kaffee vorbei und hat sich mit Dan angefreundet.“
Argwöhnisch betrachtete die Elevenderin den dunkelhaarigen Mann vor ihr, bevor sie Cat mit einem strafenden Blick bedachte. „Du weißt, dass du dich eigentlich von der Polizei fern halten solltest?!“ Sie seufzte aus tiefstem Herz über Cats reumütiges Gesicht. „Was wisst ihr sonst noch über ihn?“
Dan übernahm es, zu antworten. „Nicht viel. Er ist heute Nacht ohne Vorwarnung hier aufgetaucht und bat uns, keinen Krankenwagen zu rufen.“
„Aha.“ Auch Xandra zog ihre Schlüsse aus den Fakten. „Was für ein Schätzchen.“
Da schlug der Gegenstand des Gesprächs die Augen auf. Er blinzelte ein paar Mal, dann setzte er sich mit einem lauten Schrei auf und fasste sich an die Seite. Als seine tastenden Hände nur gesundes Fleisch fanden, suchte er immer ungläubiger. Schließlich kam er offenbar zu dem Schluss, dass da tatsächlich keine Wunden mehr waren und sah sich misstrauisch nach seinen Rettern um. Seine angstgeweiteten Augen fixierten die beiden Elevender sofort und er wirkte alles andere als begeistert. Nicht gerade die Reaktion, die Cat erwartet hatte.
„Wer seid ihr und was habt ihr mit mir gemacht?“ Der Vorwurf in den Worten war nicht zu überhören. Ob er eben noch verletzt war oder nicht, er hatte kein Recht Xandra so zu behandeln. Cat öffnete den Mund, aber der blonde Elevender kam ihr zuvor.
„Hey! Die Lady hat dir gerade das Leben gerettet, also zeig‘ gefälligst ein bisschen Dankbarkeit. Sonst sorge ich dafür, dass du dich wieder in dem Zustand befindest, in dem du warst, bevor sie Hand an dich gelegt hat. Verstanden?!“ Es war keine Frage.
Zum ersten Mal erkannte Cat, dass Christian nicht nur der lustige Possenreißer war. Im Augenblick wirkte er sehr bedrohlich. Seine Haltung verdeutlichte, dass er über hundert Kilo reine Muskelmasse verfügte, die Micham zermalmen konnten.
„Christian.“ Eine Ermahnung aus der Richtung der Lady, dann wandte die sich an den Menschen auf dem Metalltisch. „Sie hatten eine lebensgefährliche Verletzung und ich habe das Nötige getan, um Sie vor dem sicheren Tod zu bewahren. Sie sind nur etwas verwirrt von dem Betäubungsmittel.“
„Sie können mich nicht belügen. Sie sind Hegedunen!“ Das letzte Wort klang wie eine Krankheit.
Cat war baff. Die beiden Elevender brauchten nur eine Zehntelsekunde, um den Schock zu verwinden. Schon war Chris vorgesprungen und drückte dem Menschen eine Waffe an den Kopf. Dan und Cat stießen Schreckenslaute aus und kamen gleichzeitig auf die Füße, alle riefen laut durch einander. Die Situation drohte schnell zu eskalieren, doch dann brachte ein schriller Pfiff Ruhe in das Chaos. Die Köpfe der Versammelten wandten sich zu Xandra, die ihre Ohren zum Klingeln gebracht hatte.
„Schluss jetzt. Waffe weg, Rambo.“ Chris starrte sie einen langen Moment an, ohne zu reagieren. Der Lauf der Baretta war unvermindert auf die menschliche Schläfe gerichtet. Etwas spielte sich zwischen den beiden Elevendern ab. Nach einer gefühlten Ewigkeit schien Xandra gewonnen zu haben und ihr Kollege senkte den Arm mit der Waffe. Jedoch nur zögerlich, außerdem behielte er sie gezückt in der Hand.
Die übernatürliche Ärztin sah Mich fest in die Augen. „Wir sind keine Hegedunen. Wenn Sie wissen, was die sind, dann verstehen Sie sicher, wenn ich Ihnen sage, dass wir zwar dem gleichen Volk angehören, aber nicht der selben Gruppierung. Genau genommen können wir die Hegedunen genauso wenig leiden wie Sie, wie ich annehme.“
Der Gesichtsausdruck des Angesprochenen blieb feindselig, er rümpfte nur die Nase. „Können Sie das beweisen?“
„Können Sie beweisen, dass Sie nicht für sie arbeiten? Im Übrigen hätte Ihnen ein Hegedune niemals geholfen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.“
Während Micham grübelte, entstand eine Pause. Anscheinend kam er zu dem Schluss, Xandras Worte möglicherweise als wahr zu erachten. „Welcher Gruppierung gehören Sie dann an?“
„Wenn ich Ihnen das sagen würde, müsste ich Sie töten“, erwiderte Xandra mit einem falschen Lächeln. „Und jetzt sind Sie dran. Woher wissen Sie von den Hegedunen?“
Seine Miene verschloss sich. Reserviert zuckte er lediglich mit den Schultern, allerdings schien ihm dabei etwas weh zu tun. „Man hört so einiges.“
„Wer ist jetzt der Lügner?“
„Wenn ich es ihnen sagen würde, müsste ich sie töten.“
„Nur zu! Trau‘ dich. Gib‘ mir einen Grund“, ermunterte Christian und grinste bösartig. Dabei sah er immer noch unglaublich gut aus. Wie ein Racheengel.
„Wir wissen doch beide, dass sie keine Chance hätten. Warum belassen wir es nicht dabei?! Wir haben nicht vor, Ihnen etwas anzutun, wenn Sie uns keine Probleme machen.“ Xandra blieb rational und bot dem Menschen einen Ausweg. „Wir gehen jetzt und Sie vergessen, dass wir uns jemals begegnet sind.“ Schon hatte sie sich in Bewegung gesetzt und begann, den medizinischen Kram einzupacken. Christian rührte sich nicht vom Fleck und beobachtete Micham mit tödlicher Aufmerksamkeit. Dieser traute sich dennoch, etwas zu sagen.
„Warten Sie. Kann ich vielleicht telefonieren, bevor Sie gehen?“
„Was soll das? Ist das ein beschissene Falle?“ Sofort befand sich der Waffenlauf wieder auf Augenhöhe. Der Mensch hob die Arme.
„Ganz ruhig, Kumpel. Ich wurde unerwartet angeschossen. Wie hätte ich da eine Falle aushecken sollen?“
„Ich weiß nicht, sag‘ du es mir.“
„Geht nicht, wenn es keine gibt.“ Micham wirkte ziemlich cool für jemanden, der gerade in die Mündung einer Waffe schaute. Sogar in Cat keimte der Verdacht auf, dass er vielleicht nicht einfach nur ein kleiner Dieb war, der auf diese Weise seine Familie über Wasser hielt. Sie kannte nicht mal seinen Nachnamen. Wer war dieser Mann wirklich?
Xandra umrundete den Tisch und als sie bei ihrem Kollegen angelangt war, legte sie ihm entschlossen die Hand auf die Schulter. Die Berührung beruhigte den großen Kerl offenbar und er entspannte sich ein wenig. Allerdings wich er nicht zur Seite. Die blonde Jägerin schob sich trotzdem vor ihn, bildete einen lebendigen Schutzwall vor Micham, doch Cat bezweifelte, dass dieser das zu schätzen wusste.
„Micham, Sie scheinen ein schlauer Bursche zu sein. Allerdings begreifen Sie wohl nicht, in welcher Lage Sie sich befinden. Sie leben nur, weil wir es so wollen. Und Sie dürfen ihr Gedächtnis allein deshalb behalten, weil wir es so wollen. Es bräuchte lediglich eine winzige Injektion, um Sie vergessen zu lassen, dass Sie überhaupt verletzt waren. Zudem bin ich mir sicher, mit ein bisschen Recherche finden wir heraus, warum jemand auf Sie geschossen hat und wer weiß, vielleicht möchte sich die Polizei gerne mit Ihnen unterhalten. Ich hoffe, wir verstehen uns.“
Xandras Drohungen waren sehr sachlich formuliert, verloren deshalb aber nicht an Bedeutung. Gerade der besonnene Ton machte klar wie ernst es ihr war. Micham senkte nur den Kopf und schaute böse.
„Hören Sie. Ich habe noch nie Leute wie Sie getroffen, die nicht zu den Hegedunen gehören.Wenn das stimmt, habe ich ein paar Bekannte, die sehr an einem Kontakt interessiert wären.“
Cat, Christian und Xandra sahen ihn mit riesigen Augen an, ihr Erstaunen machte es still im Raum. Dan stand ohnehin unter Schock und sagte schon seit einer Weile nichts mehr.
Cat konnte sich noch gut an das Gespräch mit Xandra auf dem Weg zu Mary erinnern und die Möglichkeit, hier unerwartet gefunden zu haben, wonach ihre Freundin nun schon seit geraumer Zeit suchte, schuf eine freudige Aufregung in ihr.
„Sind diese Leute vom Venus Orden?“, rutschte es ihr schließlich raus, nachdem sie sich fast die Zunge zerbissen hatte, um die Klappe zu halten.
„Cat!“, kam es warnend von der blonden Elevenderin, doch Micham hatte sich gleichzeitig aufgerichtet und blickte sie überrascht an. Seine Augen verengten sich wieder misstrauisch. Er wurde immer wütender, fast meinte Cat, seine Kiefer mahlen zu hören.
„Habt ihr mich ausspioniert?“ Sein Grollen war an Dan und sie selbst gerichtet, die beide sogleich vehement abstritten. Der Bäckermeister warf die Arme in die Höhe.
„Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon ihr die ganze Zeit redet. Was ist hier eigentlich los?“
„Dann ist es also wahr?“ Xandra ignoriert Dan und war auf den Menschen zugegangen.Die Aufregung brachte ihre Augen zum Leuchteten, hauchte rote Flecken auf die Wangen. Auch Christian war das aufgefallen, sicherheitshalber folgte er mit wenig Abstand. „Sie kennen Leute vom Venus Orden?“
Mich verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich sage nichts mehr, bevor ich nicht telefoniert habe.“
Die beiden Elevender steckten die Köpfe zusammen und berieten sich. Es dauerte allerdings nicht lange, da bekam der Kerl auf dem Metalltisch ein Handy gereicht. Die Waffe fand ihren Weg zurück nach oben.
„Lautsprecher an. Und wenn du ein Wort darüber verlierst wo du bist, puste ich dir den Schädel weg.“
„Das weckt Vertrauen“, kommentierte der Dunkelhaarige Chris‘ Anweisungen sarkastisch. Doch er fügte sich. Nachdem er eine Nummer gewählt hatte, ertönte sofort ein lautes Tuten. Spannung legte sich über die Lauschendensolange sie darauf warteten, dass jemand abnahm. Obwohl das alles Cat gar nicht betraf, nahm sie unwillkürlich Anteil an den Interessen ihrer Freundin. Die blonde Elevenderin war freundlich und gütig, Cat wünschte sich den Erfolg sehr für sie.
Endlich ertönte ein Klicken, dann eine männliche Stimme.
„Wer ist da?“
„Hier ist Mich. Sag‘ erst mal nichts. Ich musste den Lautsprecher anmachen. Wir haben Zuhörer.“
Der Andere gehorchte und Micham erklärte ihm mit wenigen Sätzen die Situation. Als er bei dem Punkt angelangt war, an dem die zwei Elevender ins Spiel kamen, konnte man ein erschrockenes Zischen aus dem Lautsprecher hören.
„Sie sind also keine Hegedunen?“
„Sagen sie zumindest….“
„Gib‘ sie mir.“
Erstaunt reichte der Mensch den Hörer an Xandra weiter, die ihm ihre Hand schon entgegenstreckte. So aufgeregt sie auch war, die Stimme, mit der sie sich meldete, klang professionell und souverän. Leider schaltete sie dann die Lautsprecherfunktion aus und wanderte zielstrebig ins Nebenzimmer. Der Rest der Unterhaltung wurde nur noch zwischen zwei Ohren ausgetragen.
Da der blonde Schönling den ehemals Verletzten mit Argusaugen bewachte, wandte sich Cat dem armen Dan zu, der mittlerweile einen recht aufgelösten Eindruck machte. Nachdem der Schreck über das viele Blut und die Überraschungen abgeflaut war, hatte er anscheinend genug Zeit gehabt, sich zu fragen, was das alles zu bedeuten hatte.
Sie nahm seine Hand und führte ihn erneut zu einer Sitzgelegenheit. Für dieses Gespräch war eine stehende Position denkbar ungeeignet und sie bezweifelte, dass Dan sich noch lange auf den Beinen halten konnte. Anschließend gab sich Cat Mühe, ihm auf verständliche Weise das zu erklären, was sie wusste. Aber es war klar, dass er in etwa so reagieren würde wie Cat selbst, als sie zum ersten Mal von Elevendern, Hegedunen und deren geheimen Machtstrukturen gehört hatte. Dabei hielt sie den politischen Kram sehr knapp, weil sie selbst nicht alles verstand. Dan war kein hysterischer Typ und nahm die Informationen recht gefasst auf, dafür dass er vom Aussehen her einem Zombi glich und seine Kleidung mittlerweile vor geronnenem Blut stand.
„Und du bist auch ein… eine Elevenderin?“ Das Wort schien ihm noch Schwierigkeiten zu bereiten.
„Ja.“
„Seit wann weißt du es?“
„Seit fünf Wochen.“
Völlig unerwartet nahm er sie in den Arm und drückte sie fest. „Das muss schwer für dich sein. Das mit dem Kapitalismus macht Sinn, aber das Andere…. Es klingt wie aus einem schlechten Film.“
„Stimmt“, pflichtete sie ihm bei, erleichtert darüber, dass er ihr zu glauben schien. Naja, nur kurze Zeit zuvor hatte er mit ansehen dürfen, wie Xandra ihre bemerkenswerte Gabe eingesetzt hatte. Wenn ihn das nicht überzeugte…. „Hast du keine Angst vor uns?“
„Nein. Ich frage mich viel eher, wie ich den Laden so sauber kriegen soll, dass ich hier wieder backen kann.“
Christian mischte sich von der anderen Seite des Raumes ein. „Bleiche. Viel Bleiche.“
„Sie haben wohl Erfahrung mit sowas.“
„Wie kommst du denn darauf?“ Er lächelte verschmitzt. „Ich bin übrigens Chris, das da draußen ist Xandra.“
Noch während Dan nickte, kam die zuletzt Genannte wieder zur Tür herein. Sie hatte ein freudiges Strahlen im Gesicht.
„Wir haben ein Treffen mit dem Orden!“
Die Sonne war schon seit einer Stunde untergegangen, als Cat das stattliche Opernhaus gemeinsam mit Mary verließ. Sie verabschiedeten sich von ihren Kolleginnen und machten sich auf den Weg. Heute hatte Cat auf ihre Zeit am Klavier, nach Dareon schmachtend, verzichtet. Stattdessen wollte sie bei ihrem ehemaligen zu Hause vorbei schauen. Im Schutz der Dunkelheit musste es doch möglich sein, wenigstens ein paar ihrer Besitztümer zu holen. Nicht, dass ihr Herz an irgendeinem Gegenstand gehangen hätte, aber ihr fehlte schlicht das nötige Kapital, um sich neue Sachen zu kaufen. Sie hatte immer noch an den Kosten für den geänderten Ausweis und die anderen Papiere zu knabbern.
„Hast du eine Ahnung, was mit Dan los ist?“, fragte Mary aus heiterem Himmel und unterbrach Cats Gedanken. Heute war es brütend heiß gewesen und die Schwüle trieb ihr denn Schweiß auf die Haut. Vielleicht war es auch das heikle Thema.
„Wie meinst du das?“
„Er war den ganzen Tag über so nachdenklich, irgendwie in sich gekehrt. Du hast ihm doch in letzter Zeit oft in der Bäckerei ausgeholfen. Läuft es vielleicht nicht gut? Hat er Probleme?“
Außer, dass er in der letzten Nacht in ein Blutbad und eine Beinahe-Hinrichtung verwickelt gewesen war und mit Cat bis in die Morgenstunden geputzt hatte, fiel ihr da spontan so gar nichts ein.
„Nein, soweit ich weiß, ist alles bestens.“
Da sie beide nicht backen hatten können, musste Dan einen Verdienstausfall in Kauf nehmen. Trotzdem hatte er kulanter Weise zugestimmt, die Sache für sich zu behalten. Cat pflichtete ihm bei der Annahme bei, dass man ihn ja doch nur für verrückt erklären würde, wenn er die Geschichte irgendjemandem erzählen sollte. Überraschend hatte er sie regelrecht ausgequetscht, während sie gemeinsam rote Pfütze um rote Pfütze beseitigt hatten.
Dabei hatte sich der Bäcker sehr für die politische und wirtschaftliche Macht der Hegedunen interessiert. Er war sogar richtig leidenschaftlich geworden und hatte mehr Begeisterung als Cat selbst gezeigt. Das Thema übernatürliche Kräfte klammerte er vorerst noch aus, aber er behandelte sie nicht anders als vorher. Sie war dankbar für die Loyalität, die er damit zeigte und hatte vor, auch weiterhin bei ihm auszuhelfen. Aber erst nach ihrem Besuch in ihrem ehemaligen zu Hause.
Cat unterhielt sich noch eine Weile mit ihrer Freundin und versuchte, diese bezüglich ihres Bruders zu beruhigen. Kurz vor dem schlichten weißen Haus ihrer Gastgeber verabschiedete sie sich von Mary und stieg in die Straßenbahn ein. Gemäß der späten Stunde, es war kurz nach Mitternacht, befanden sich nur wenige Fahrgäste im Abteil. Sie suchte sich einen Sitzplatz weit entfernt von den anderen Insassen und wälzte Xandras Angebot im Kopf hin und her.
Bei dem Telefonat heute Nachmittag hatte sich die blonde Elevenderin sogleich nach ihrem und Dans Befinden erkundigt. Nachdem Cat ihr diese Sorge genommen und sie kurz über den gestrigen Abend gesprochen hatten, hatte Xandra berichtet, dass Roman weiterhin versuchte, das Rätsel um Jayces Tod zu lüften. Bisher habe er aber keine Erklärung für das Geschehene finden können, weswegen er mit Cat darüber reden wollte, ob ihr noch irgendetwas Spezielles aufgefallen war. Dann hatte die Ärztin mit einer unerwarteten Möglichkeit überrascht. Die Worte hallten in Cats Kopf, als wären sie eben erst gefallen.
„Ich weiß, du wolltest nur mit Dareon üben. Aber… in der neuen Gruppe von auszubildenden Elevendern gibt es jemanden, der dir mit deiner Gabe helfen könnte.“
Bis morgen musste sie sich in dieser Sache entscheiden. Dann würde sie mit Roman und Xandra einen Kaffee trinken, um über Jayce zu reden. Sogar nach einigem Überlegen war sie nicht imstande, eine Wahl zu treffen. Es wäre klasse ihre Elevender-Fähigkeit zu beherrschen, aber aktuell konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen, jemand anderen zu küssen als Dareon. Und wahrscheinlich würde sich das nicht so bald ändern.
Andererseits wollte sie dem Objekt ihrer Begierde nicht so viel Macht über sich einräumen, dass es sie davon abgehalten hätte, ihr Leben zu führen. Sicher, da war der schlimmste Liebeskummer aller Zeiten, aber sie brauchte der Sehnsucht nach diesem Mann ja nicht alles unterzuordnen.
Die Kehrseite der Medaille war, dass sie nach Blackridge musste, um ihre Gabe trainieren zu können. Und da würde sie zwangsläufig irgendwann Dareon begegnen. Die Vorstellung hatte eine übermächtige Anziehungskraft auf Cat, aber gleichzeitig war ihr das Risiko bewusst, dass die ganze Misere dann von vorn beginnen könnte. Die verzwickte Sachlage brachte ihren Kopf zum Rauchen. Bis der Zug ihre Haltestelle erreichte, konnte sie sich immer noch nicht zu einer Entscheidung durchringen.
Das schwüle Klima drückte nun richtig und es waren dicke, schwarze Wolken am Nachthimmel aufgezogen. Schon fielen die ersten Tropfen, die bald mehr und mehr wurden und sich zu einem ausgewachsenen Sommergewitter verdichteten. Cat nahm die Beine unter die Arme und beeilte sich, nach Hause zu kommen. Trotz des schnellen Schrittes waren ihre Klammotten bald komplett durchnässt und nach nur wenigen Metern wurde sie wieder von diesem Gefühl erfasst, das in letzter Zeit öfter vorgekommen war.
Es prickelte im Nacken. Eine Gänsehaut überzog ihre Unterarme, ungeachtet der nächtlichen Hitze der Großstadt. Diese Empfindungen hatten sich in den letzten beiden Wochen derart gehäuft, dass sie schon zu Dauergästen geworden waren. Cat schrieb sie ihrer aktuellen Verfassung zu und versuchte meist, sie zu ignorieren.
Endlich erreichte sie das Gebäude, in dem ihre Wohnung lag und holte den Schlüssel hervor.
Die ersten Regentropfen platschen auf seine Stirn, kaum dass er die Bahn verlassen hatte. Ein kurzer Blick genügte, um die davon eilende kleine Gestalt zu entdecken. Wie gewohnt hängte er sich an ihre Fersen. Cat zu folgen war inzwischen schon fast wie atmen. Er tat es ohne nachzudenken. Musste einfach in ihrer Nähe sein und für seinen Seelenfrieden war es essentiell zu wissen, ob es ihr gut ging.
Der kleine Schock-Moment der gestrigen Nacht erwachte vor seinen Augen. Er war wild vor Sorge gewesen, als er beobachtet hatte, wie ein blutüberströmter Mann und wenig später auch Xandra und Christian die Backstube betreten hatten, in der Cat nachts zu arbeiten schien. Er hatte sich bereitgehalten, einzugreifen, falls er ungewöhnliche Geräusche vernehmen sollte. Doch seine Kollegen hatten dafür gesorgt, dass alles ohne viel Aufruhr schon kurze Zeit später wieder vorbei gewesen war. Erst hatte der Mensch den Laden verlassen, immer noch rot befleckt, aber augenscheinlich geheilt. Das musste Xandras Werk gewesen sein. Sie und Christian waren kurz danach gefolgt, wobei sie sich sehr wachsam umsahen. Dareon hatte sich weiter in die Schatten zurückgezogen. Den beiden war zuzutrauen, dass sie ihn entdeckten.
Heute brauchte er nicht so vorsichtig zu sein. Es hatte sich erwiesen, dass Cat keine Erfahrung mit Verfolgern zu haben schien. Denn sie achtete kaum darauf, ob jemand sie beschattete. Nur beim ersten Mal, als er ihr gefolgt war, hatte sie sich nach ihm umgesehen. Natürlich hatte sie ihn nicht entdeckt, er war zu erfahren in diesem Geschäft, um sich von einem Grünschnabel erwischen zu lassen. Außerdem war Cat wohl abgelenkt gewesen, als dieser Dieb sie zu Boden gerissen hatte. Dareon konnte sich immer noch kaum beherrschen, wenn er an diesen Moment dachte. Es hatte ihn jedes Quäntchen Willen gekostet, nicht einzuschreiten. Nur die Tatsache, dass er innerhalb eines Herzschlages bei ihr gewesen wäre, hatte ihn durchhalten lassen. Und dass wenig später die Polizei auf der Bildfläche erschienen war.
Wie er sie so vom gegenüberliegenden Dach aus beobachtet hatte, war ihm aufgefallen, wie schlau sie war. Auch gestern hatte sie das bewiesen. Nicht dass er das bezweifelt hatte, er hatte nur keinen Gedanken daran verschwendet. Der andere Kram fesselte ihn schon genug.
Cat besaß ein großes Herz, voll mit Loyalität und Verantwortungsbewusstsein. Trotz ihrer Statur strahlte sie eine innere Stärke aus. Dieser schien sie sich aber überhaupt nicht bewusst zu sein, was sie in seinen Augen noch attraktiver machte. Stattdessen gestaltete sie ihr Äußeres wie eine kleine Rebellin, ihm fiel kein besseres Wort dafür ein. Besonders wenn man bedachte, dass sie in gehobenen Kreisen aufgewachsen war.
Er zog den Kopf ein, damit keine Wassertropfen seinen Nacken hinunter kriechen konnten und musterte Cats Outfit. Auch heute war es komplett schwarz, Springerstiefel, ein kurzer Rock und eine Lederjacke. Er hätte nicht gedacht, dass er so was anziehend finden würde. Trotzdem war es noch schlimmer, wenn sie einen Pyjama trug. Im Schlaf glätteten sich ihre Züge und sie wirkte weich, unbeschwert. Ein Anblick, der sich tief in seinen Verstand gegraben hatte, genau wie ihr Geruch. Er glich auf so wundersame Weise dem seiner Mutter, dass es ihn jedesmal staunen ließ.
Er schämte sich fast ein wenig, dass er nicht wiederstehen hatte können, über sie zu wachen, wenn sie schlief. Zudem war ihm irgendwie bewusst, dass er seine eigene Entscheidung unterwanderte und damit auch den Kampf, den er ausgefochten hatte, ad absurdum führte. Aber er folgte einem Bedürfnis, das unbedingt gestillt werden wollte. Dieses band ihn an Cat wie die Schwerkraft den Mond an die Erde.
Dareon bemerkte den Regen kaum, so gefesselt war er von ihr. Beinahe wäre er gestolpert, deswegen zwang er sich, mehr auf seine Umgebung zu achten. Cat schien ihr Ziel erreicht zu haben, denn sie blieb vor einer alten Kaserne stehen. Bei genauerem Hinsehen erwiesen sich die Gebäude in der Gegend als ähnlich gestaltet. Er drückte sich hinter die nächste Ecke, als Cat sich kurz umsah und dann in der Eingangstür verschwand.
Er wartete. Es waren kaum Leute unterwegs, aber aus einem Fenster hörte er einen Fernseher, aus einem anderen drang Babygeschrei. Sein Blick fiel auf das Straßenschild und der Name ließ ihn verstehen. Das war die Adresse, die in Cats Akte stand. Hier hatte sie gewohnt, bevor sie nach Blackride gekommen war. Ihre Geschichte hatte sein Herz stocken lassen, aber sie war ein weiteres Teil des Cat-Puzzles. Und er gierte danach, es zu vervollständigen. Dass er das ohne ihr Wissen tat, machte ihn wahrscheinlich zum Stalker.
Sei’s drum. Er hatte sich sogar an Xandra und Christian gehängt, Gespräche belauscht, nur um ein paar Infos heraus zu filtern. Den Tiefpunkt hatte er folgedessen längst erreicht. Am Anfang war er deswegen wütend auf sich gewesen. Mit der Zeit war dieBedeutung des Zorns verschwunden, seine Sehnsucht war einfach zu stark gewesen.
Im oberen Stockwerk ging ein Licht an. Cat kam am Fenster vorbei, bewegte sich anscheinend in einen anderen Raum. Dareon überquerte daraufhin die Straße und umrundete das Haus. Nicht lange, da hatte er sie hinter einer weiteren Glasscheibe wieder gefunden. Licht ergoss sich in die Dunkelheit, an dieser Seite des Gebäudes war es das einzige Zimmer, das beleuchtet war. Cat packte offensichtlich, denn sie trug einen Kleiderhaufen nach dem anderen hin und her. Von dem kleinen Rasenstück aus, das die Nachbarhäuser trennte, konnte er nur ihren Oberkörper sehen. Das war auf keinen Fall genug.
Etwas weiter hinten befand sich eine alte Eiche. Ein paar ihrer ausladenden Äste erstreckten sich fast bis vor Cats Fenster. Dareon erlag der Versuchung und schlich zu dem breiten Stammhinüber. Er klammerte sich an die grobe, rissige Rinde und kletterte hinauf. Nach zweieinhalb Metern wurden die Arme des Riesen dicker, sodass sie sein Gewicht trugen. Ab hier war es ein Leichtes den Rest der Strecke zu schaffen, dann fand er sich endlich auf Höhe des ersten Stockes.
Er drückte sich an das Holz und blieb im Schatten der dichten Blätter. Leider konnte er so nur schräg in ihr Fenster schauen, damit hatte er seine Sicht kaum verbessert. Kurz zögerte er, bevor er sich den Ast entlang, auf Cat zu bewegte. Sie kam für ein paar Sekunden in sein Blickfeld, verschwand aber gleich wieder. Lediglich ihr Schatten verriet ihm, dass sie noch im Zimmer war.
Moment, plötzlich tauchte ein zweiter Schatten an der Wand auf. Groß und reglos. Lebte sie etwa mit jemandem zusammen? Er hatte darüber nichts in ihrer Akte gefunden.
Neugierig geworden ging er das Risiko ein, sich noch ein wenig weiter nach vorn zu schieben. Der dunkle Umriss begann, sich auf Cats zuzubewegen. Dareon reckte den Hals und….
Die dunkelhaarige Elevenderin stand vor ihrem Bett und packte ihren Kram in ein paar große Taschen, hinter ihr wurde jemand sichtbar. Ein… Kerl, komplett in Schwarz und vermummt!
Bevor sein Hirn zu dem Schluss kam, dass das kein Mitbewohner war, hatte sich der ungebetene Besucher auf die kleine Frau gestürzt. Dareons Herz stockte, nur um gleich darauf zum Galopp anzusetzen. Innerhalb dieser Millisekunde spülte sein Blut eine geballte Menge Adrenalin durch seinen Organismus, ein unbändiger Zorn kochte auf, Muskeln spannten sich an, bereit in Aktion zu treten. Er rannte los, benutzte den Ast solange er ihn noch tragen konnte. Als er spürte, wie dieser unter ihm nachgab, sprang Dareon ab.
Mit den Füßen voran, die Arme schützend vor dem Gesicht, brach er durch die dicke Scheibe. Glassplitter bohrten sich in seine Haut, aber er schenkte ihnen keine Beachtung. Seine ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf Cat, die sich im Klammergriff des riesigen, männlichen Angreifers befand. Sie wehrte sich, trat in alle Richtungen aus, hatte jedoch nicht ansatzweise genug Kraft, sich zu befreien. Der Unbekannte sah auf, als Dareon im Scherbenregen erschien.
Cat war blass vor Schreck, ihre Augen weit aufgerissen. Sie hatte Blut an der Lippe, ein dunkles Rot auf der hellen Haut. Mit einem Mal schob sich ein ganzer Schleier von dieser Farbe vor seine Augen und er hörte selbst, wie er tief und laut knurrte, während er zum Angriff überging. Gnadenlose Furcht trieb ihn zum Äußersten, es war eine panische Angst um Cat. Seine Cat.
Der Gegner erkannte, dass er beide Hände brauchen würde, um ihn abzuwehren. Er ließ die kleine Frau los, die röchelnd zu Boden sackte, und fing Dareons Vorstoß ab. Der boxte und trat in wilder Raserei. Sie machte ihn hart und schnell, doch der Andere hatte Einiges entgegenzusetzen. Die rohe Stärke verdeutlichte, dass der Kerl ein Elevender sein musste und nur einen Hieb später ziepte es auf Dareons Haut. Das passierte meist, wenn er eine übernatürliche Gabe zu spüren bekam, die durch seine eigene neutralisiert wurde.
Die Augen des Kerls verengten sich, als er bemerkte, dass seine Elevender-Fähigkeit, wie auch immer sie aussehen mochte, keine Wirkung auf Dareon hatte. Er stieß ihn von sich, aber D behielt das Gleichgewicht. Dann umkreisten sie einander lauernd. Cats schluchzende Atemzüge und das Knirschen der Scherben unter ihren Sohlen waren die einzigen Geräusche im Raum. An den Bewegungen des anderen Mannes erkannte er, dass sie einander in Kraft und Technik ebenbürtig waren, schlechte Vorzeichen für diese Rettungsaktion.
Dareons einziger Vorteil war, dass er emotional auf Hochtouren lief, seine Gefühle ihm einen unbeugbaren Willen verliehen. Er würde eher sich selbst opfern, als noch einmal zuzusehen, wie eine Frau, die ihm etwas bedeutete, verletzt oder gar getötet wurde. Mit aller Entschlossenheit warf er sich erneut auf den Gegner, doch der nutzte seinen Schwung, um ihn gegen die nächste Wand zu schleudern. Er hatte den Aufprall kaum weggesteckt, sein Kopf dröhnte bedenklich, da war der Andere auch schon bei ihm. Sein Knie schoss nach oben, Dareon parierte und konterte mit einem Ellenbogen, der ebenfalls abgefangen wurde. Daraufhin setzte ein Handgemenge ein, das Dareon fest gegen die Mauer in seinem Rücken drängte. Beide jagten sie ihre Deckung zum Teufel und schlugen auf einander ein. Die Fausthiebe brachten seine Welt ins Wanken, er schmeckte Blut, aber die Befriedigung, seine Fingerknöchel hart in fremdes Fleisch zu treiben, ließ ihn durchhalten.
Da traf ihn ein Schlag an der Schläfe, einen Augenblick lang war es schwarz vor seinen Augen. Seine Sicht kehrte zwar wieder, gesprenkelt mit bunten Lichtpunkten, aber die Sekunde reichte dem Gegner aus, den Unterarm auf seinem Hals zu parken und ihm die Luft abzudrücken. Gleichzeitig rammte er ihm die Eier in den Unterleib. Dareon keuchte, der Schmerz durchfuhr seinen ganzen Körper, zog sich bis in die Arme und Beine. Er war unfähig die nächsten Treffer zu vermeiden, seine Muskeln waren wie gelähmt.
Plötzlich hörte der Schlagregen auf. Der Druck an seiner Kehle verschwand. Dareon blickte auf und sah Cat, die sich an den Rücken des Vermummten klammerte!
Der versuchte nach ihr zu greifen, doch sie duckte sich flink unter seinen Armen weg und holte aus. Das Licht spiegelte sich in der Fläche der dreieckigen Glasscherbe zwischen ihren Fingern. Dann ließ Cat sie hernieder sausen und rammte das spitze Ende tief in den Nacken des Mannes unter ihr.
Der brüllte auf und bockte wie ein getroffener Stier. Er bekam ihre Haare zu fassen, riss daran, bis Cat aufheulte und losließ. Mit einem Ruck warf er sie am Schopf davon, als hätte sie das Gewicht eines Handtuchs. Sie flog weit, krachte in den Schrank und blieb bewusstlos liegen.
Dareons Mund öffnete sich zu einem markerschütternden Laut. Cat so zu sehen, öffnete die Schleuse zu jeglicher Kraftreserve, die er besaß. Er nahm Schwung und rammte dem Kerl seine Schulter in den Magen. So beförderte er ihn zu Boden, ließ sich auf ihn fallen. Mit geballten Fäusten prügelte er die Scheiße aus diesem Drecksack heraus, der es gewagt hatte, Cat zu verletzen. Aber Schmerz und Blut waren nicht genug, nicht mal annähernd. Mit beiden Händen packte er den Kopf unter der Sturmhaube und verdrehte ihn so fest er konnte. Fuchtelnde Arme trafen seine Schultern, die Gegenwehr war nur noch kläglich. Die Sturmhaube löste sich und rutsche nach oben. Ein junges Gesicht kam zum Vorschein, er erkannte es nicht wieder.
Der Wiederstand gab nach und ein krepetierendes Geräusch bewies, dass er den Hals des Angreifers gebrochen hatte. Augenblicklich wurde der reglos, seine Gliedmaßen sanken kraftlos zu Boden. Das blutverschmierte Antlitz versteinert, leere Augen, die ins Nichts starrten.
Dareon ließ von ihm ab und kam auf die Beine. Humpelnd rannte er zu Cat hinüber. Er musste Teile des Kleiderschranks zur Seite räumen, um sie zu bergen. Ihr bleiches Gesicht kam zum Vorschein. Die Augäpfel bewegten sich unter geschlossenen Lidern. Tiefe Erleichterung erlaubte es ihm, wieder frei einzuatmen. Er dankte dem lieben Herrgott, dass sie lebte, obwohl er sonst in keinster Weise gläubig war.
Mit zitternden Händen tastete er ihre Arme und Beine ab. Wenn etwas gebrochen war, mussten die Knochen zügig reponiert werden, damit die schnellen Heilkräfte der Elevender sie nicht schief zusammenschmiedeten. Er konnte zwar keine Brüche finden, aber Cats Teint war leichenblass und sie regte sich immer noch nicht.
Fieberhaft suchte er nach einer Lösung. Sein Auto stand in einem anderen Stadtteil und er konnte sie nicht in ein Krankenhaus bringen. Er brauchte Xandras Hilfe. Sein Telefon verband ihn zuverlässig mit Ferroc. Dareon schilderte die Lage und sein Kollege gab durch, dass Roman und Quentin gerade in der Nähe unterwegs waren. Er würde die beiden vorbei schicken, um sie abzuholen und zu der Elevender-Ärztin nach Blackridge zu bringen.
Dareon legte auf. Sein Herzschlag dröhnte hektisch in seinen Ohren. Cat durfte einfach nicht sterben. Er unterdrückte das Schlottern seiner Knie und hob sie aus dem Holzhaufen, bettete sie sachte auf seinem Schoß. Hielt sie ganz fest an seine Brust gedrückt. Maßlose Zärtlichkeit erfüllte jede Zelle in ihm und er strich sanft über das dunkle Haar, steckte seine Nase zwischen die seidigen, kühlen Strähnen.
Das Gefühl, das in ihm aufstieg, brach alle Schranken, die er um sein Herz gebaut hatte. Er konnte es leugnen so viel er wollte, sich selbst konnte er ja doch nichts vorspielen.
Catlynn Campell war sein Gegenstück. Sie hatte sich tief in ihm eingenistet und es gab absolut nichts auf dieser weiten Welt, das daran etwas ändern konnte.
Die Bewusstlosigkeit war wie Treibsand. Je mehr Cat aufwachen wollte, desto tiefer sank sie hinein. Es war ein harter Kampf, sich herauszuziehen, zurück an die Oberfläche zu gelangen. Nur langsam kehrte die Realität zurück. Es dauerte, bis sie ihren Körper wieder fühlen konnte. Ein dumpfes Ziehen imKopf hieß sie willkommen und plötzlich mischten sich Fetzen einer Unterhaltung in den Nebel.
„Du musst irgendwas falsch gemacht haben! Sonst wäre sie doch schon wach.“ Die dunkle Stimme klang aufgebracht.
„Bockmist. Sie ist geheilt. Gib‘ ihr noch ein paar Minuten“, antwortete eine Frau.
„Dann hast du eben etwas übersehen! Untersuch‘ sie nochmal.“
„Du fängst an, mir auf den Sack zu gehen, D. Mach‘ du deine Arbeit und ich mache meine. Wieso hast du sie überhaupt hier her gebracht?“
„Kannst du sie wecken?“
Die Frau knurrte. „Ich sagte, lass‘ ihr noch ein paar Minuten. Sie kommt schon zurück, wenn sie bereit ist.“
Das war wohl Cats Stichwort. Ihre Wimpern klebten zusammen, trennten sich nur widerwillig, als sie blinzelte. Grelles Licht stach in die Dunkelheit, brannte sich in ihre Netzhaut. Das Dröhnen zwischen ihren Schläfen verstärkte sich und ein leises Stöhnen entfuhr ihr.
„Cat?“ Jemand setzte sich neben sie. Das Bett erzitterte leicht unter dem neuen Gewicht. „Süße, bist du wieder da?“
Cat antwortete mit noch mehr Blinzeln, die Helligkeit war immer noch unangenehm. Mit dem wiederkehrenden Bewusstsein meldeten sich auch andere Körperstellen. Ihre Handfläche pochte leicht, die Lippen fühlten sich spröde und rissig an, ihre Kehle glich der Wüste Gobi. Rau und staubtrocken.
„Mmhhh.“ Der Laut reizte Cats Hals und sie musste husten. Etwas stupste gegen ihren Mund.
„Hier, trink!“ Das war wieder die tiefe Männerstimme. D. Sie gehörte Dareon.
Als diese Info eingesunken und verarbeitete war, ging ein Ruck durch Cat. Ihr Herz stolperte über die vielen Schmetterlinge in der Magengegend. Sie riss die Augen ganz auf, musste ihn einfach sehen.
Dareon stand neben dem Bett und beugte sich über sie. Seine Miene war düster, er schien wütend, hielt ihr aber geduldig einen Becher samt Strohhalm hin. Sie sah in den blassblauen Winterhimmel, als sie die Lippen um das Plastikröhrchen schloss und etwas Flüssigkeit ansog. Die ersten Schlucke waren unangenehm, aber je mehr sie trank, desto durstiger wurde sie.
Während Dareon sie aufmerksam beobachtete, glättete sich seine Stirn, die Fältchen um die Augen verschwanden und der markante Kiefer entspannte sich. Eine diffuse Wärme breitete sich in Cats Brust aus.Er schaute sie ganz und gar nicht so an, wie damals, als sie ihn zum letzten Mal gesehen….
Da poppten die Erinnerungen auf wie ein Airbag. Bilder von einem vermummten Kerl und einem erbitterten Kampf. Die Erkenntnis, wie sich der Widerstand menschlicher Haut anfühlte und wie, wenn er überwunden war. Auch der Schock des Aufpralls gegen den Schrank hallte durch ihre Knochen. Cat hörte auf zu trinken, bevor ihr Magen sich umdrehte und das Wasser wieder hoch kam.
„Tut noch was weh, Süße?“
Sie wandte den Kopf zu der Frauenstimme. Es war Xandra, die am Rand des Bettes saß. Hinter ihr standen Ferroc, Christian, Roman und Quentin. Ein ganzer Menschenauflauf in diesem ihr unbekannten Zimmer. Die Einrichtung sprach aber deutlich für Blackridge, genauso wie die Anwesenden.
„Nur der Kopf. Halb so wild.“ Cat konnte nur krächzen und versuchte ein Lächeln.
„Wohl kaum!“, kam es von Dareon. „Du hattest eine Hirnblutung. Du solltest dich ausruhen.“ Er sprach sehr sanft mit ihr, doch als er sich zu den anderen umdrehte, wechselte er den Tonfall. Ihn als Unfreundlich zu bezeichnen, wäre noch freundlich gewesen. „Raus mit euch.“
Die Angesprochenen tauschten bedeutungsschwere Blicke. Auf Ferrocs Nicken hin setzten sie sich aber in Bewegung. Xandra zögerte und langte nach Cats Hand.
„Wenn du irgendwas brauchst, musst du nur rufen. Ich bleibe in der Nähe.“ Den letzten Teil des Satzes sagte sie so laut, dass er eindeutig nicht nur für Cat bestimmt war.
Die kapierte nicht ganz, warum sich alle so merkwürdig verhielten, doch es dämmerte langsam, als die Meute das Zimmer verlassen hatte und Dareon die Tür schloss. Von drinnen.
Cats Atem stockte. Was zum Teufel…?
Er drehte sich um und ging zum Bad hinüber. Auf dem Weg zog er sich das T-Shirt über den Kopf. Sein wunderschöner Oberkörper kam zum Vorschein. Glatte Haut, die sich über gewölbte Muskeln spannte. Keine einzige Blessur zeugte von dem kürzlich ausgetragenen Kampf auf Leben und Tod. Xandra musste sie beide geheilt haben, denn Cat erinnerte sich nur zu gut an sein demoliertes Gesicht, das er sich bei dem Versuch sie zu retten zugezogen hatte.
„Ist das dein Zimmer?“
Dareon blieb stehen, den Kopf gesenkt, mit dem Rücken zu ihr. Er nickte.
„Warum hast du mich her gebracht?“
„Damit Xandra dich heilen konnte, warum sonst.“ Er verschwand im Raum nebenan und ließ eine verwirrte Cat zurück. Das einsetzende Rauschen bestätigte, dass er eine Dusche nahm.
Was sonst? Was sonst??? Der wollte sie wohl auf den Arm nehmen! Wich ihren Fragen einfach aus. Grummelnd verschränkte Cat die Arme. Sie war schon leicht angefressen und da fiel ihr noch etwas anderes ein.
Warum war Dareon genau in dem Augenblick in ihrer Wohnung aufgetaucht, als sie dort angegriffen worden war?
Was ihr Hirn nach einer Weile des Grübelns ausspuckte, versetzte sie noch mehr in Rage. Sie war aus dem Bett, bevor sie einen klaren Gedanken gefasst hatte. Ihr streikender Kopf ließ sich zwar nicht ignorieren, aber sie schaffte es bis zur Badezimmertür. Diese bot erstaunlich wenig Widerstand, denn sie war nicht verschlossen.
Wasserdampf gesättigte Luft schlug ihr entgegenund sie durchpflügte sie wie ein Eisbrecher, unaufhaltsam, bis ihr Blick auf einen nackten Körper hinter einer geriffelten Glasscheibe fiel. Die verschwommenen Umrisse hatten eine fesselnde Wirkung, setzten ihrem Vorstoß ein Ende. Cat blieb stehen und spürte, wie Hitze in ihr aufstieg. Ihre Wangen mussten tiefrot leuchten, wenn sie danach ging, wie das Blut darin pochte.
Was zum Teufel sie gerade vorgehabt hatte, wollte sie lieber nicht ergründen. Sicher wäre dies kein guter Anfang für ein Gespräch gewesen, von dem sie sich Antworten erhoffte. Sie trat den Rückzug an, mit dem metaphorischen eingezogenen Schwanz, und betete darum, nicht entdeckt zu werden.
So viel Glück hatte sie nicht.
„Auf Stipvisite?“
Cat versteinerte regelrecht und wäre gerne augenblicklich im Fliesenboden verschwunden. Was hätte sie jetzt dafür gegeben, ihre Gabe gegen so eine coole Fähigkeit eintauschen zu können. Einfach schwupp, und sie wäre raus aus dieser prekären Situation. Aber nein, sie musste ja der Giftfrosch unter den Elevendern sein.
Cat wagte es nicht, sich zu Dareon umzudrehen. Die Dusche wurde abgestellt und ein Rascheln hinter ihrem Rücken verriet, dass ein Handtuch zum Einsatz kam. Hervorragende Idee, wie sie zugeben musste. Doch bei dem Gedanken daran, was gerade verhüllt wurde, biss sie sich auf die Lippen. Sie vernahm die Zirkulation ihres Blutes so deutlich, als brandete es gegen ihre Trommelfelle.
Nachdem sie nichts sagte, ihr wollte einfach kein flapsiger Spruch einfallen, stieg Dareon aus der Wanne. Sie erkannte die quietschenden Geräusche von nasser Haut auf Porzellan und das Tapsen blanker Füße über den Badvorleger. Wahrscheinlich stand er jetzt direkt hinter ihr und sie hätte schwören können, dass sein Blick ihren Nacken versengte.
„Du solltest im Bett sein.“
Cat wollte schon etwas Patziges erwidern, da fiel ihr auf, dass er sie gerade in sein Bett geschickt hatte. Der fiese Kommentar wollte raus, aber dieser Weisung zu widerstehen, überstieg ihre Kräfte. Mit unsicherem Gang schlurpte sie los und schaffte es tatsächlich unfallfrei zurück. Während Cat zwischen die Federn kroch, bemerkte sie erst das riesige T-Shirt am Körper. Viel zu groß, um einer Frau gehören zu können. Blieb nur zu hoffen, dass Xandra ihr das Ding übergezogen hatte.
Der große Elevender war ihr gefolgt. Als er sich bückte und ihr die Decke überwarf, ließ sich nicht mehr vermeiden, ihn anzusehen. Feuchte, zerzauste Locken verbargen seinen Blick, der breite Brustkorb und die langen Arme beschrieben kraftvolle Bewegungen. Wassertropfen glitzerten auf seiner goldenen Haut. Cat beobachtete gebannt, wie eine den hübschen Torso hinab rann, über ein ausgeprägtes Muskelrelief rollte und dann von den Falten des Handtuches aufgesogen wurde.
Der frenetische Puls tickerte in ihren Halsarterien, sie spürte es bis in die Schläfen, was ihrem Kopf gar nicht gut tat. Der Druck trieb ihr die Tränen in die Augen.
Da wurde sie aus ihrer sitzenden Position sanft in die Kissen gedrückt. Dareons besorgter Blick durchlöcherte sie.
„Brav liegen bleiben. Du musst dich ausruhen. Deine Verletzung war kein Pappenstiel.“
Apropos… „Wer war der Kerl in meiner Wohnung?“
Dareon setze sich neben sie, die Nähe war betörend. „Ein Sucher der Hegedunen. Sie müssen deine Adresse aus den Akten des Bezirkskrankenhauses gehabt haben.“
„Was wollen die von mir?“
„Wir wissen es nicht.“ Er fuhr sich aufgebracht durchs Haar. „Die Hegedunen schnappen sich immer wieder Elevender. Vielleicht, um sie für sich zu gewinnen, vielleicht um eine Gefahr aus dem Weg zu räumen. Wir können nur spekulieren. Roman meint, dass dein Kumpel Jayce vielleicht auch einem Sucher zum Opfer gefallen ist. Aber normalerweise werden sie nicht vor Ort eliminiert. Rome möchte nachher mit dir darüber sprechen.“
„Ich weiß.“ Cat stutzte. Woher kannte Dareon Jayces Geschichte? Und wenn ihm die geläufig war, was wusste er noch? Und wie war er an die Informationen gelangt?
„Warum warst du überhaupt da?“
Die Hand, die er nach ihr ausstreckte, erstarrte auf halbem Weg. Er brach den Blickkontakt ab, stand auf und ging zum Kleiderschrank hinüber. Ohne ein Wort kramte er nach einer Hose und als die gefunden war, machte er sich erneut auf den Weg ins Bad. Diese Art, Cat Antworten zu verweigern, ging ihr allmählich gehörig gegen den Strich.
„Bist du mir gefolgt?“
Dareon stoppte vor der Tür und legte die Stirn an das Holz. Cat glaubte schon, sie würde wieder abgespeist werden, als er endlich doch sprach. „Ich war um deine Sicherheit besorgt. Zu Recht, wie sich gezeigt hat.“
Das war zwar keine Antwort im herkömmlichen Sinne, schließlich enthielt sie weder ein „Ja“ noch ein „Nein“. Aberimmerhin leugnete Dareon nichts. Das bedeutete doch… Cat schnappte hektisch nach Luft und setzte sich auf.
„Was soll das? Erst willst du mich unbedingt loswerden und dann stalkst du mich? Wie lange geht das schon? Und was denkst du dir dabei? Du kannst doch nicht einfach….“ Eine Erkenntnis setzte sich zwischen den wirren Gedanken durch. Er hatte sie aufgefordert, sich von ihm fernzuhalten, doch umgekehrt hatte der Deal offensichtlich nicht gegolten. „Du verdammter Heuchler! Glaubst du, du kannst allen Kontakt ausklammern, der dir unangenehm ist und dir nur die Rosinen rauspicken? Du darfst mich sehen, aber ich dich nicht? Damit machst du es dir sehr einfach, alles bleibt unter Kontrolle, nicht wahr? Ich verstehe schon.“
Er stieß unwirsch die Tür auf. „Dann gibt es wohl nichts mehr zu erklären.“ Sie fiel hinter ihm ins Schloss, wurde aber schon nach wenigen Sekunden wieder geöffnet. Dareon hatte das Handtuch gegen eine weite Sporthose aus dunklem Stoff getauscht und steuerte zum Eingang des Zimmers.
„Doch, eine Sache wäre da noch.“ Cat ballte die Hände um ein paar Falten der Bettdecke. Nicht zum ersten Mal ereilte sie das Bedürfnis, Dareon zu schütteln. „Wieso hast du mich ausgerechnet in dein Zimmer gebracht? Das passt nicht ins Bild, oder was meinst du?“
„Wie auch immer“, murrte er lapidar, während er den Türknauf drehte.
„Tatsächlich?!“ Na, warte! „Dann kann ich ja gehen.“
Sie schwang die Beine aus dem Bett und sah sich nach ihren Sachen um. Es dauerte nicht lange, sie am Fußende zu entdecken. Ein Haufen dunkler Klammotten aus Leder und Stoff, schwarze Springerstiefel daneben. Um sie gefahrlos aufheben zu können, musste Cat sich am unteren Ende der Matratze abstützen. Ihr war immer noch etwas schwindelig. Ob dies von der Verletzung oder der gegenwärtigen Auseinandersetzung stammte, konnte sie allerdings nicht sagen. Unwichtig, sie wollte nur noch hier raus.
Plötzlich schob sich ein Arm hinter ihre Kniekehlen und zog die unter ihr fort. Mit einem schrillen „Huch!“ fiel Cat rückwärts. Ein weiterer starker Arm fing ihren Sturz ab, dann wurde sie hoch gehoben. Während sie sich von dem Verlust des Bodens unter ihren Füßen erholte, sah sie zu Dareons grimmigem Gesicht auf. Er schenkte ihr keine Beachtung und trug sie kommentarlos zum Bett zurück.
So nicht, Freundchen, dachte sie voller Inbrunst und begann zu zappeln. Dareon hatte seine liebe Mühe, sie fest zu halten. Cat bemerkte, dass er ihr nicht wehtun wollte, was ihr einen entscheidenden Vorteil gab. Sie wehrte sich noch heftiger, der kleine Kampf musste einen bizarren Anblick bieten. Als ihr Ellenbogen nur knapp Dareons Kinn verfehlte, gab er endlich auf und setzte sie ab.
Schnaufend richtete Cat sich auf und zog mit einem Ruck das T-Shirt nach unten, das bei der Aktion ihre Schenkel hinauf gerutscht war. Sie würde nicht nachgeben, nicht zulassen, von Dareon wie eine Marionette behandelt zu werden.
„Nein! Du kannst dir nicht einfach aussuchen, welchen Teil von mir du haben willst und welchen nicht. Entweder ganz, oder gar nicht! Und jetzt lass‘ mich durch!“
Sie wollte an ihm vorbei stürmen, aber er versperrte ihr den Weg.
So ein Mist! Der Kerl war einfach riesig und nach seinem Körperbau zu urteilen, in etwa so stark wie ein Kleintransporter. Wenn er sie nicht gehen ließ, hatte sie keine Chance. Und der Anblick des Waschbrettbauchs und der definierten Brust vor ihrer Nase machte die Sache auch nicht gerade leichter.
Zorn breitete sich in ihr aus. Zum einen über ihn, natürlich. Zum anderen aber auch über sich selbst. In diesem Augenblick störte es sie unheimlich, dass er eine derartige Anziehungskraft besaß. Doch der Trotz gewann die Oberhand.
„Ich werde schreien!“, drohte sie und funkelte ihn böse an. „Xandra ist ja in der Nähe.“
Dareon reagierte lediglich mit einem ebenso ärgerlichen Blick, also öffnete Cat den Mund und holte tief Luft.
Das Nächste, an das sie sich erinnern konnte, waren feste Lippen auf den ihren. Der Kuss kam völlig überraschend. Jegliche Gegenwehr verpuffte mit einem Schlag, machte Platz für die himmlischen Eindrücke, nach denen sie sich so lange gesehnt hatte. Irgendwo im Hinterkopf schrillte eine Alarmglocke. Sie hielt Dareon definitiv für gerissen genug, sie ablenken zu wollen, doch Risiken und Nebenwirkungen interessierten sie im Moment herzlich wenig.
Dieser Luxus eines unbeschwerten Kusses, aber vor allem, dass es Dareon war. Beinahe zu schön, um wahr zu sein. Aus Angst, sie könnte sich alles nur einbilden, fanden ihre Hände seine Schultern. Cats Klammotten fielen achtlos zu Boden, während sie seinen Nacken umfasste und ihn zu sich herunter zog, die Realität umklammerte. Dass sie das konnte, bewies, dass er voll bei der Sache war. Nie hätte sie ihn auch nur einen Zentimeter bewegen können, wenn er es nicht gewollt hätte.
Cat küsste verzweifelt zurück, fest entschlossen, sich so viel zu nehmen, wie sie kriegen konnte. So überrumpelt sie auch war, die Gelegenheit würde sie nicht ungenutzt verstreichen lassen. Gierig schob sie ihre Zunge vor und traf auf seine, begann einen langsamen Tanz. Dareon zuckte zurück und schmunzelte in ihren Mund.
„Auch in der Zunge?! Im Ernst?!“
Er wartete jedoch nicht auf eine Antwort, sondern machte da weiter, wo er aufgehört hatte. Das war schon verwunderlich, aber dann übernahm er auch noch die Führung und Cat folgte in ihrer Unerfahrenheit. Sie hatte noch nie geknutscht und stellte erfreut fest, wie wundervoll es sich anfühlte. Ihr ganzer Körper stand unter Strom, alle Nervenenden kribbelten. Sie wollte sich an Dareon schmiegen, doch da er sich weit nach vorn beugen musste, ging es nicht.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, wurde sie erneut angehoben und ihre Beine schlangen sich sogleich um seine muskulöse Taille.Sie wurde in eine feste Umarmung gezogen und ganz in den atemberaubenden Kuss vertieft, bemerkte sie nur am Rande, wie er sie zum Bett trug. Erst als die Welt in eine Schieflage geriet, begriff sie, dass er sich mit ihr zusammen in die Laken fallen ließ.
Sein schweres Gewicht war in keinster Weise unangenehm. Im Gegenteil, es bewirkte, dass sich ein roher, ungestümer Teil von ihr rührte. In den tiefen ihres Seins erwachte eine ursprüngliche Begierde und brach sich Bahn. Mit einem mächtigen Schrei nahm sie ihren ganzen Körper ein, ließ ihre Haut empfindlich für jede Berührung werden und entflammte auch noch eine andere Region, südlich ihres Äquators.
Cat küsste immer wilder, jetzt wo sie es einfach so konnte, war es alles, was sie wollte. Ihre Hände strichen über straffe glatte Haut, mit dem leichten Flaum von Dareons Behaarung. Ihre Finger fanden einen Weg seinen Nacken hinauf und krallten sich in das volle Haar. Und wer hätte das gedacht, es fühlte sich noch viel besser an, als in ihrer Vorstellung. Die Spitzen waren krause, darunter wurde es so weich wie Daunen. Oder wie Watte. Es war so schön und doch noch lange nicht genug.
Diese völlig unbekannte Leidenschaft begann in ihr zu wüten, zog sie immer tiefer in den Strudel hinein. Mit einem Ruck drängte sie ihre Hüften gegen seine, spürte etwas Hartes und rieb sich selbstvergessen daran. Dareon stöhnte in ihren Mund und packte ihren Po, presste sie fester gegen seine Erektion. Merkwürdig, aber es war genau das, was sie gebraucht hatte.
Das Selbe empfand sie, als er ihr einen Augenblick später das T-Shirt über den Kopf zog. Nicht einen Gedanken kostete sie ihre plötzliche Nacktheit, ihre Lippen suchten bereits wieder die seinen, das Gefühl von Haut auf Haut glich prickelnder Elektrizität.
Cat bekam den Eindruck, eine Verbindung zu ihm hergestellt zu haben, etwas, das unmöglich erschien, aber doch beinahe greifbar war. Als könnte sie tief in ihn hinein sehen, eine unendliche Welt, die nur auf sie wartete. Etwas rastete ein, fand seinen Platz, besser konnte sie es nicht beschreiben. Sie wusste nicht, ob sie an Wiedergeburt glauben sollte, aber in diesem Moment fühlte es sich verdammt noch mal so an.
Damit schickte sie jede ihrer Regeln und Vorsätze, all ihre Annahmen bezüglich Dareon und des Lebens im Allgemeinen zum Teufel. Kam sich verwegen und sexy vor, vielleicht war sie auch ein wenig high. Cats Hände tasteten sich seinen Torso hinab, fanden zielstrebig den Bund der weichen Stoffhose und zupften daran. Erwartungsvoll hielt sie den Atem an.
Ein fester Griff legte sich um ihre Handgelenke und drückte zu.
Dareon stoppte ihre Bewegungen und löste sich von ihren Lippen. Er stieß einen unzufriedenen Laut aus und ließ dann den Kopf nach vorn fallen. So lehnte seine Stirn an ihrem Schlüsselbein.
Cat wartete auf eine Erklärung, doch der Körper des Elevenders über ihr verharrte reg- und wortlos in derselben Position. Allerdings war die Tatsache, dass er sie aufgehalten hatte, für sich gesehen auch eine Art Aussage. Eisige Angst floss in Cats Brust und umschloss ihr Herz. Wollte er es etwa beenden?
„Was ist los?“
Dareon bekam keine Luft, aber es war ihm scheißegal. Cat küsste und saugte an seinen Lippen, als hätte sie nie etwas Besseres gekostet. Die Verbindung zu der kleinen Elevenderin hatte ihn geradezu überrollt und dann einfach hinweg gespült. Er hatte davon gehört, von diesem eigentümlichen Band zwischen Gegenstücken, aber nicht mal im Traum hätte er sich vorstellen können, was es tatsächlich bedeutete, wie es sich anfühlte.
Es war, als hätte er einen Blick auf ihr Innerstes erhascht. Auf Cats Eigenschaften, Wünsche, Träume, Gefühle, ihr leidenschaftliches Herz und die reine Seele. Nichts blieb ihm verborgen und doch hätte er kein Detail genau betiteln können. Der Mix war zu groß, zu unendlich, um mit einem Mal erfasst werden zu können. Dazu würde er mehr Zeit benötigen.Und im Augenblick, war er mehr als gewillt, sich diese Zeit zu nehmen.
Die Sache hatte mit einer Kurzschlusshandlung begonnen, als er Cat geküsst hatte, um sie zum Schweigen zu bringen. Aber wie so viele Dinge im Leben, hatte er nicht vorhersehen können, dass sein Körper eine eigene Dynamik entwickeln würde. Verloren in dieser Trance war er über sie hergefallen, hatte ihr das T-Shirt vom Leib gerissen und jetzt spürte er Cats Hände und Lippen bis tief unter die Haut, wollte nur noch in ihr versinken.
Da vernahm er ein Zupfen am Hosenbund und für einen Moment lang wäre er breit gewesen, Cat dabei zu helfen, das Ding in Fetzen zu schreddern, je schneller desto besser. Alles, was seinen Schwanz zwischen ihre Schenkel brachte.
Doch diese tief verankerte Bindung hielt ihn auf. Verdammt, Sex war eine Sache, aber Cats Vertrauen und ihre unschuldige Lust öffneten sein Herz weit, um sein Gegenstück in Empfang zu nehmen. Damit betrat er eine neue Ebene, auf der sich seine Begierde hinten anstellen musste. Ihre war viel wichtiger und sie verdiente mehr als einen überfallsmäßigen Fick.
Mit aller Kraft riss er sich zusammen und löste sich von Cat. Er griff nach ihren Handgelenken, hinderte sie daran, seine Hose hinunter zu ziehen. In seinem aktuellen Zustand wäre die Sache dann schneller vorbei gewesen, als sie „Schnellschuss“ sagen konnte. Gott…, wie lange war sein letztes Mal her? Allein, dass er sich nicht erinnern konnte, sagte wohl alles über Zeitpunkt und Person.
Er ließ seinen Kopf an Cats Hals sinken. Tief durchatmen, mahnte er sich selbst und sein Schwanz war auch ganz gut beraten, der Anweisung zu gehorchen.
„Was ist los?“, fragte sie und Dareon hörte die Unsicherheit in ihrer Stimme, vielleicht auch ein wenig Furcht.
Noch einmal sog er tief Luft ein, und damit auch ihren Duft, was die Lage keinen Deut besser machte. Er hob das Haupt und sah ihr in die Augen, zum ersten Mal in diesem leidenschaftlichen Rausch.
„Habe ich dir überhaupt gesagt, wie schön ich dich finde?“
Cat schluckte, dann schüttelte sie beklommen den Kopf.
„Das hätte ich aber tun sollen.“ Sein Augenmerk wanderte tiefer. Erst jetzt, als er sich zur Gemächlichkeit zwang, entdeckte er all die Eigenheiten ihres Körpers. Neben dem Zungenpiercing erwarteten ihn da noch mehr hübsche Überraschungen. „Denn das bist du. Einfach wunderschön.“
Seine Finger glitten den schmalen Hals hinunter, folgten einer Spur von Sommersprossen in ihrem Dekolletee und umkreisten schließlich eine der kleinen, straffen Brüste. Die andere war tätowiert und gepierct. Der rosa Nippel mit dem kleinen Stahlring bildete das Zentrum einer schwarzen Spirale, die ein paar mal kreiste, bevor sie sich unterhalb der Brust verjüngteund seitlich ihre Taille hinab wand, um in dem schwarzen Slip zu verschwinden.
Erfreut beobachtete Dareon, wie sich Cats Brustwarzen aufrichteten, als er den dunklen Linien folgte. Wenig später erlag er dem Drang, das Selbe auch mit der Zunge zu tun. Er saugte und leckte, bis Cat unter ihm stöhnte. Wahrscheinlich waren seine Eier auf dem besten Weg blau anzulaufen, aber er hielt sich weiterhin eisern zurück, wollte sie entdecken, erfahren, was sie mochte. Fest biss er die Zähne zusammen bis es vernehmlich knirschte.
Dennoch zitterten seine Finger, als er sie auf die Seiten des schlichten Baumwollslips legte. An ihrem zierlichen Körper war das Teil heißer als jede schwarze Spitze und ihm floss reflexartig das Wasser im Mund zusammen. Mit einem Blick nach oben bat er um Erlaubnis.
Große, grüne Augen waren gebannt auf ihn gerichtet. Cats Atem ging hektisch, die Lippen hatte sie leicht geöffnet. Auf ihr Nicken hin zog er das Höschen langsam herunter und nachdem er freigelegt hatte, was er so heftig begehrte, … musste er erneut schmunzeln.
„Du bist rothaarig?“
„Ja“, krächzte sie und versuchte, sich zu bedecken. „Die Haare und die Augenbrauen habe ich gefärbt.“
Dareon schob sanft ihre Hände beiseite. „Warum? Es ist eine hübsche Farbe.“ Als er bemerkte, wie sie sich bei der Frage versteifte, drängte er nicht weiter. Sie sollte nicht an etwas denken, das sie bedrückte. Stattdessen küsste er ihren Nabel, der ebenfalls gepierct war, dann die Innenseiten ihrer Oberschenkel, wo sich das hübsche Abbild eines Admiralfalters befand. Cat keuchte beifällig und die Freude darüber, dass ihr seine Berührungen gefielen, zauberte ein Lächeln in seine Mundwinkel. Er wollte, dass sie sich sicher fühlte und er würde alles ihm Mögliche dafür tun dass das auch in Zukunft so bleiben würde. Dieses Bedürfnis stammte tief aus seiner Seele, stellte eine Wahrheit dar, die die Macht besaß, alles zu verändern.
Mein, hallte es durch seinen Schädel und er biss unwillkürlich in die zarte Haut oberhalb des Schmetterlings, wohlwissend, dass es eine besitzergreifende Kennzeichnung war. Cat spreizte daraufhin die Beine noch ein Stück weiter, als wäre der Biss ein geheimer Zugangscode gewesen. Der Anblick, den sie ihm so bot, trieb ihn beinahe in den Wahnsinn und nur mit Mühe und Not konnte er sich davon abhalten, zu kommen.
Ehrfürchtig wanderte er die Schenkel hinauf, setzte vorsichtige Küsse auf ihr Zentrum. Jeder Einzelne ließ Cat erbeben, eine Gänsehaut überzog ihre Gliedmaßen. Das Gleiche galt für Dareon. Mann, sie schmeckte besser als alles, was er jemals zwischen die Finger bekommen hatte. Er widmete sich seiner Tätigkeit voller Hingabe, genoss, wie Cat sich unter ihm wand, ihm die Hüften entgegen reckte.Sie glühte vor Sinnlichkeit, ihre Finger fuhren in sein Haar, wühlten darin und erstaunlicherweise mochte er wirklich alles daran. Das leichte Ziepen, die Wärme ihrer Haut, wie sie seinen Kopf sacht führte.
Gerne hätte er sie noch länger geleckt, aber Cat griff nach seinen Schultern und zerrte ihn nach oben. Und er wusste bereits, was sie sich von ihm wünschte, kein Wort war nötig, er fühlte es einfach. Diese instinktive Symbiose hätte ihn abschrecken sollen, war sie schließlich genau das, wovor er davon gelaufen war. Doch hier zwischen ihren Schenkeln, ihr Geruch überall um ihn herum, in seiner Nase, auf seiner Zunge, ihr schwer pochendes Herz unter seinen Händen, gab es keinen anderen Weg. Es schien unausweichlich.
Kurz darauf musste er feststellen, dass das Beste an bequemen Sporthosen mit Gummizug war, dass man sie sich mit Lichtgeschwindigkeit vom Leib reißen konnte. Der Bund wehrte sich kein Bisschen, als Cat ihn packte und beseitigte. Sie schien mindestens so ungeduldig wie er selbst. Der Blick, mit dem sie seinen erwiderte, sprach Bände. Verlangen, Freude, aber auch Ungläubigkeit standen darin, mehr oder weniger das, was auch er empfand. Doch dann schlang sie die Beine um seine Hüften und zog ihn heran, er stieß gegen ihre verführerische Mitte.
Dareon schnurrte vor Erregung. Es summte tief in seiner Brust, aber gleichzeitig schoss ihm durch den Kopf, dass Cat sein Gegenstück war…, was auch bedeutete, dass eine reelle Chance bestand, sie zu schwängern. Das Schnurren in seiner Kehle wurde zu einem frustrierten Knurren, als ihm auch klar wurde, dass er nichts zur Verhütung hier hatte. Es war schon lange nicht mehr nötig gewesen.
Trotzdem, er war schon zu weit gegangen, um jetzt abzubrechen. Nicht nur, dass er es nicht übers Herz brachte, Cat das anzutun, nein, auch er hatte die Road-of-no-return betreten. Es fühlte sich schlicht falsch an, zu zögern oder gar aufzuhören.
Mit einem ursprünglichen Ziehen in der Magengegend versenkte er sich in ihrer Hitze, nahm sie ganz und gar in Besitz und es war, als hätte er die beiden Hälften eines großen Ganzen vereint. Die Grenzen seines Wesens verschwammen, vermischten sich mit Cat, bis er nicht mehr wusste, wo er aufhörte und sie anfing. Ihre Bewegungen, jedes einzelne Zucken, spiegelten sich in seinem Körper. Es war eine Invasion, aber er wurde nicht überwältig, nicht bezwungen, sondern getragen und gestärkt. Er verlor nichts und gewann alles.
Zum Glück war er noch so geistesgegenwärtig, sich aus ihr zurück zu ziehen, als er nur kurz nach ihr losließ. Trotz des Coitusinterruptuses blies es ihm den Schädel weg, jede Welle dieses herrlichen, unvergleichlichen Gefühls verwandelte sein Hirn in Brei und seine Knochen in Gelatine. Schwer keuchend brach er auf Cat zusammen, aber die zierlichen Gliedmaßen unter ihm erinnerten bald daran, sich von ihr herunter zu rollen.
Dareon sah an die Decke, spürte wie der Sturm langsam verebbte und Ruhe einkehrte. Erst als er wieder gleichmäßig atmen konnte, bemerkte er das leichte Rucken des Bettes. Sein Kopf schoss herum und er heftete den Blick auf Cats Profil. Sie hatte die Augen geschlossen und den Unterarm über die Stirn gelegt. Ihr Körper vibrierte beinahe unmerklich, während Tränen unter den langen, geschwungenen Wimpern hervortraten und die Schläfe hinunterliefen. Oh mein,… sein Herz zog sich schmerzvoll zusammen.
Er nahm ihr den Arm vom Gesicht und drehte es zu sich. Sie öffnete die Lider, helles, lebendiges Grün leuchtete ihm entgegen.
„Warum weinst du?“
Sofort sah Cat wieder weg und zuckte unbestimmt mit den Schultern.
„Bereust du es jetzt?“
„Du lieber Himmel, nein!“ Vorsichtige Finger legten sich auf seine Wangen und inspizierten seine Lippen eingehend, fuhren die Umrisse mit dem Daumen nach. Aber Cat schaute ihn immer noch nicht direkt an.
„Was ist es dann?“ Gott, wenn er ihr wehgetan haben sollte, würde er sich selbst kas….
Cat nahm die Hand, die an ihrem Kiefer ruhte und führte sie tiefer, bis sie genau über ihrem Herzen lag. „Es ist ein schönes Gefühl. Genau hier.“
Er hätte sich freuen sollen, das wusste er. Aber anstatt der innigen Wärme machte sich eisige Panik in ihm breit, ließ ihn erstarren. Ihre Beschreibung lag gefährlich nah bei einem Wort, das er schon immer gefürchtet hatte. Auch seine Mutter hatte seinen Vater geliebt, ebenso war es umgekehrt gewesen. Und was hatte es ihnen gebracht? Zumindest die sanfte Frau, die ihn geboren hatte, war tot, tot und nochmal tot. Und der Kerl, der ihn gezeugt hatte, naja, an den wollte Dareon in diesem Moment auf keinen Fall denken. Es hätte alles nur noch schlimmer gemacht.
Seine Reglosigkeit fiel Cat natürlich sofort auf. Ihr Gesicht verschloss sich augenblicklich. Er meinte, ihre Enttäuschung durch den Hautkontakt hindurch zu spüren. Die schlanken Muskeln unter seinen Händen verhärteten sich.
Gequält und zerrissen zwischen dem, was sein könnte und dem, was war, fiel ihm nichts Besseres ein, als Cat zu küssen. Es war ein tiefer, langer Kuss. Zärtlich, aber doch zurückhaltend. Und Dareon hoffte, dass die Berührung alles ausdrückte, was er nicht sagen konnte.
Als er sich wieder zurück lehnte, suchte er nach sicherem Boden. Um sich zu erden, verdrängte er die schwarzen Gedanken an die Vergangenheit und strich Cat ein paar Strähnen des Ponys aus der Stirn.
„Bist du hungrig?“
Sie wirkte nicht zufrieden, nickte jedochbesänftigt. Also erhob er sich und plante, nur die erlesensten Speisen auszusuchen und sie dann in seinem Bett damit zu füttern. Doch während er nach seiner Hose suchte, war ihm bewusst, dass kein Festmahl auf Erden wieder gut machen konnte, was er eben verbrochen hatte.
„Wenn du die Anstandsdame spielen willst, kannst du bei mir warten.“
Christian lehnte an der Tür zu seinem Zimmer, es lag genau neben Dareons, und grinste sie frech an. Xandra sah dem Rest ihres Teams wehmütig nach und schob den Vorschlag im Kopf hin und her. Den ganzen Tag hatte sie es geschafft, Chris aus dem Weg zu gehen. Aber in dem Tohuwabohu um den Angriff und Cats Verletzungen, hatte es sich nicht vermeiden lassen, auf ihn zu treffen.
„Besser nicht.“
Er hob eine Augenbraue. „Willst du etwa wie ein Wachhund hier auf dem Flur sitzen? Schätze, dann bleibe ich auch. Könnte lustig werden.“
Verdammt! Es sah nicht so aus, als ließe sich der Model-Elevender so schnell abwimmeln. Sie grummelte und rümpfte die Nase. Nachzugeben gefiel ihr selten und normalerweise tat sie es nur, wenn es überzeugende Argumente dafür gab.
„Fein!“, fauchte sie. „Aber keine miesen Tricks!“
Chris nickte ohne eine Miene zu verziehen und öffnete ihr die Tür. Xandra stürmte mit erhobenem Haupt an ihm vorbei, doch der „Bring‘-es-hinter-dich-Modus“ schaltete auf Standby, als sie in den großen Raum trat und sich umsah.
Überrascht sog sie den Duft ein, der das Zimmer erfüllte. Es roch frisch und blumig…, und ein wenig nach Christian. Am liebsten hätte sie geflucht, da sie feststellen musste, dass ihr der Geruch gefiel. Vielfältiges Plätschern drang in ihre Ohren, was von mehreren Brunnen stammte, die er augenscheinlich aufgestellt hatte. Zwei kleine elektrische mit einem gurgelnden Quell über geschliffenen Steinkugeln standen auf beiden Seiten des Bettes, ein großer befand sich an der Wand neben dem gläsernen Schreibtisch. Es war ein Ungetüm aus rauem Granit, mit einer etwas höher gelegenen, ovalen Schale, aus der das Wasser hinunter in ein noch großzügiger dimensioniertes Becken rann.
Der Rest der Einrichtung glich im Großen und Ganzen ihrem eigenen Heim, bzw. jedem anderen Zimmer in Blackridge, aber er hatte ihr einen persönlichen Touch verliehen. Der obligatorische Plasmabildschirm fehlte, stattdessen stand dort ein alter amerikanischer Kühlschrank in Kirschrot, darauf eine Schattenlilie. Zu ihrer Verwunderung war es nicht die einzige Pflanze im Raum. Entlang der Fensterfront zog sich ein kniehohes Holzbänkchen, auf dem eine Vielzahl von Blumen und anderen Gewächsen Platz fand. Xandra entdeckte Zimmerpalmen, aber auch Mimosen und Orchideen, sowie eine riesige Wüstenrose. Das erklärte, warum es wie auf einer Blumenwiese roch.
Sie spürte, wie Christian hinter sie trat. „Erst Wasserakrobat und jetzt auch noch Indoor-Gärtner?“
„Ich umgebe mich eben gern mit schönen Dingen.“
Als sie sich zu ihm umsah, bemerkte sie, wie er sie eindringlich begutachtete. Schnell suchte sie sich einen Sitzplatz, um seinen Blicken und dem damit verbundenen, merkwürdigen Gefühl zu entkommen. Zumindest mit einer Annahme hatte Christian recht gehabt, seine Nähe machte sie nervös, aber ob ihr das gefiel, konnte sie noch nicht sagen.
Sicher, der Kuss in der vergangenen Nacht war schön gewesen, ach was, atemberaubend, doch er änderte rein gar nichts an Xandras Einstellung. Eine Komplikation, die immer zwischen ihnen stehen würde, wenn sie sich auf ihn einlassen sollte. Deshalb war es besser so wie es war.
Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich auf den Schreibtischstuhl fallen und streckte die Beine weit unter dem Glas aus. „Was jetzt?“
Christian nahm sich einen Stuhl aus der Ecke und setzte sich ihr gegenüber. „Magst du Poker?“
„Kommt auf den Einsatz an.“
„Wie wär‘s mit Klammotten?“ Sie brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass er verschlagen lächelte… und dabei einfach zum anbeißen aussah.
„Wie wär’s mit Kopfnüssen?“
„Spielverderberin!“ Der vorwurfsvolle Ton wurde durch ein leises Lachen abgemildert. „Na gut, aber wir nehmen lieber echte Nüsse.“
Er lehnte sich weit zurück, bis der Stuhl kippte. So balancierte er, während er ein Päckchen schokolierter Erdnüsse aus einem kleinen Schränkchen hervorzauberte und dann auch noch zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank nahm. Die Karten lagen bereits neben dem hochmodernen Computer auf der anderen Seite der Glasfläche.
Xandra schnappte sie sich und mischte, indessen öffnete der blonde Elevender die Flaschen und formte zwei Haufen aus den bunten Kugeln. Einen schob er zu ihr hinüber, den anderen behielt er für sich selbst.
„Texas Hold’em oder Five Card Draw?“, fragte sie, bevor sie austeilte.
„Such’s dir aus.“
Sie entschied sich für Letzteres, da es zu zweit einfach mehr Sinn machte und gab jedem fünf Karten aus. Xandra inspizierte ihre und trank einen Schluck kühles Bier. Genau das Richtige in dieser heißen Sommernacht. Der Regen vorhin hatte die Luft zwar etwas abgekühlt, aber es war immer noch schwül. Sie spürte genau, wie die kalte Flüssigkeit ihre Kehle hinab lief, ihr von innen heraus Erleichterung verschaffte.
Leider war ihr Blatt nicht ganz so zufriedenstellend und sie legte vier Karten zum Tausch ab. Auch Christian folgte ihrem Beispiel, allerdings waren es bei ihm nur zwei. Xandra bekam eine Dame, passend zu der, die sie schon besaß und ein weiteres Pärchen Siebenen. Um sich nicht zu verraten, nippte sie erneut an ihrem Getränk und aß demonstrativ eine Schokoerdnuss. Die Botschaft war deutlich, sie würde ihre bald nicht mehr brauchen, da sie dann seine hatte.
„Hm, meinst du, du kannst dir das leisten?“ Christians Miene blieb reglos, als er fünf verschiedenfarbige Dragees als Einsatz in die Tischmitte schob. Er proklamierte das perfekte Pokerface.
„Weißt du was? Ich leiste mir das tatsächlich und erhöhe um Zwei. Und wo wir schon dabei sind, werde ich gleich noch Eine essen.“ Diesmal war es an Xandra fies zu grinsen, dann schob sie sich wie vorhergesagt eine Nuss zwischen die Lippen.
Christians Augen blieben an ihrem kauenden Mund hängen und er schluckte hart. „Ähm, ja… ich gehe mit und will sehen.“
Nachdem der Einsatz im Pot ausgeglichen war, klatschte Xandra ihre Karten triumphierend auf das Glas.
„Fang‘ schon mal an zu weinen.“
„Das überlasse ich lieber dir, Baby.“ Christian präsentierte gönnerhaft seine Hand. Vor ihm lag ein hübsches Fullhouse mit Sechsen über Zehnen. Er lachte auf und sackte den Gewinn ein. „Wenn ich so wenig Kohle hätte wie du, würde ich sie nicht auch noch verspeisen.“
Sein überhebliches Lächeln machte die Niederlage noch viel schlimmer und Xandra formte mit den Lippen ein lautloses „Fuck you“.
„Das wäre Verschwendung. Ich habe bessere Möglichkeiten.“
Unter dem eindringlichen Blick dieser strahlend blauen Augen hatte Xandra das Bedürfnis, die obersten Knöpfe ihrer kurzärmligen Sommerbluse zu schließen. Sie tat es nicht, aber die Haut brannte, als hätte allein seine Aufmerksamkeit ihren Ausschnitt in Flammen gesetzt. Ärgerlich fächelte sie sich Luft zu.
„Könntest du das Thermostat etwas runter stellen?“
„Sicher.“ Er stand auf und ging zu dem kleinen Schalttableau an der Wand hinüber. „Aber egal wie kalt ich es mache, die Sorte Hitze wird davon nicht vergehen.“
„Was weißt du schon“, grummelte Xandra ertappt und mischte erneut. Sie knallte die Karten förmlich auf den Tisch und als er sich wieder gesetzt hatte, wollte sie ihn mit ihrem speziellen Todesblick strafen.
Doch diesmal lächelte er nicht. Kein Spott lag in seinem Gesicht und…, verdammte Axt, ein ernster Christian war mindestens genauso sexy wie ein schelmischer. Hohe Wangenknochen und wohlgeformte Lippen. Wie das Licht seine Gesichtszüge von oben betonte, ließ er Michelangelos David wie einen versifften Penner aussehen. Diese Augen, die aus einer anderen Galaxie zu stammen schienen. Es war schwer zu glauben, dass die Farbe der Iriden menschlichen Ursprungs war.
Schweigen legte sich über beide, während sie ihre Karten studierten. Xandra war angepisst und an seiner Haltung erkannte sie, dass es ihm ähnlich erging. Sie mochte Christian, wirklich, aber er hatte so ein Talent, genau ihre Knöpfe zu drücken. Leider gefiel ihr sogar das irgendwie und dieser Umstand passte ihr noch viel weniger.
„Wie läuft es eigentlich mit den McCartey-Daten?“
Xandra zuckte nur desinteressiert die Schultern. Sie war immer noch mürrisch. „‘s läuft. Wir haben etwa Dreiviertel durch und noch kein Jackpot. Der Rest muss bis nach dem morgigen Treffen mit dem Orden warten.“
„Soll ich dich begleiten?“
„Wenn du willst. Ich brauche sowieso ein ganzes Team.“
Ein lautes Geräusch von nebenan ließ sie beide hoch schrecken. Xandra war schon auf den Beinen, voller Sorge, was Dareon diesmal mit Cat angestellt hatte. Doch bevor sie die Tür erreicht hatte, setzte eine Geräuschkulisse ein, die eindeutig bewies, dass Cat Gefallen daran zu finden schien.
Christians schallendes Gelächter mischte sich in die rhythmischen Töne aus dem Nebenzimmer und Xandra fiel wenig später mit ein.
„Ich glaube, du bist da drüben völlig überflüssig.“ Er stockte und sah sie hoffnungsvoll aus großen Augen an. „Außer natürlich, du stehst auf Dreier.“
Xandra seufzte und zerzauste sein überaus weiches Haar. „Träum‘ weiter, Chris!“
Der Weg hinunter ins Erdgeschoss schien eine Ewigkeit zu dauern. Aus Christians Zimmer hörte er gedämpftes Gekicher, doch das beschäftigte ihn nicht lange. Er konnte immer noch nicht ganz glauben, was er eben getan hatte. Aber seine Gummibeine, das angenehme Kribbeln in der Lendengegend und die empfindlichen Lippen erzählten eine deutliche Geschichte. Es musste also tatsächlich passiert sein. Er hatte mit Catlynn geschlafen, seinem Gegenstück.
Und jetzt kapierte er auch, was all die Elevender-Paare so versonnen lächeln ließ, wenn es um dieses Thema ging. Der Sex war einfach überirdisch gewesen, nicht von dieser Welt. Unnötig zu erwähnen, dass keine Frau, mit der je geschlafen hatte, damit auch nur ansatzweise konkurrieren konnte. Und er nahm mal an, dass sich das auch niemals ändern würde. Tja, sie war eben wie geschaffen für ihn. Wortwörtlich.
Doch so wunderbar das Gefühl dieser unendlichen Verbindung war, so viel Angst empfand er dabei auch. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er Cat wieder vor Augen, mit zerschundenem Gesicht, Blut an den Lippen, blass wie der Tod. Dass diese Blessuren eines Tages vielleicht nicht von einem Fremden stammen würden…, allein die Furcht davor machte ihn krank.
Während er in den Aufzug stieg, sah er auf seine Hände hinunter. Sie zitterten und er ballte die Finger, bis die Knöchel weiß unter der Haut hervortraten. Ein paar Gelenke knackten und er ließ los, bevor er sich etwas brach. Wut und Jähzorn steckten tief in ihm, waren in seinen Genen verankert, unabwendbar verseuchten sie seinen Körper und seinen Verstand. Bis vor zwölf Jahren hatte er geglaubt, dass er diese Eigenschaften unterdrücken und ein normales Leben führen konnte. Das hatte er auch, wenn man die Flut von Frauen, die er mit Chris erobert und benutzt hatte, und all die Kämpfe, in die er sich voll Todessehnsucht gestürzt hatte, als Leben bezeichnen konnte. Doch dann hatte er Mylie getroffen.
Die damaligen Geschehnisse hatten ihm klar gemacht, dass es kein Entrinnen gab. Eines Tages würde er die Kontrolle verlieren und dabei die, die er am meisten liebte, in den Abgrund ziehen. Es stand in seinen Sternen, der Schicksalsstrang war längst gesponnen und alles, was er tun konnte, war, andere von ihm fernzuhalten, um sie vor dem sicheren Ende zu beschützen. Das, und zu verhindern, dass diese Seuche an etwaige Kinder weitergegeben wurde.
So gesehen war ein Gegenstück kein Geschenk. Es war ein Fluch. Nicht für ihn, aber für Cat würde es einer werden, wenn er sich bei einem kleinen Streit zwischen ihnen in das Ungeheuer verwandelte, das in seinen Zellen schlummerte. Er wusste, wenn er sie so innig liebte, wie das Gegenstücke normalerweise taten, würde sie einen hohen Preis dafür zahlen und das konnte er nicht zulassen. Sie sollte seine Schulden nicht begleichen müssen.
Ein lautes Ping verkündete die Ankunft im Erdgeschoss und Dareon lenkte seine Schritte Richtung Küche. Dabei betete er um eine kosmische Eingebung, irgendeine Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte, oder eine Art karmische Leuterung. Er wusste, um Cat vor Schaden zu bewahren, sollte er sich von ihr fernhalten, doch ein elementarer Teil von ihm wollte das einfach nicht einsehen. Dieser war felsenfest davon überzeugt, dass sie an seine Seite gehörte und nirgendwo anders hin. Und wenn er diesem Instinkt folgte, würde er sich in sie verlieben. Die Sorte von Liebe, bei der man ohne den anderen weder essen, noch schlafen, noch denken konnte und….
Verdammt!
Es war bereits geschehen. Als er die Symptome aufzählte, ließ sich der Umstand nicht mehr bestreiten. Er liebte Cat.
Shit!
Voller Wut kickte er gegen die Schwingtür zur Küche, die daraufhin aufflog, von der Wand abprallte und ihm prompt wieder entgegenkam. Sie traf ihn völlig unvorbereitet am Jochbein und verpasste ihm damit wahrscheinlich ein blaues Auge. Das Zweite in dieser Nacht, die schon verrückt begonnen hatte und offensichtlich kein Ende nehmen wollte. Als er die Tür erneut öffnete und eintrat, blickten ihm drei verwunderte Elevender entgegen.
Blaise stand hinter der riesigen Metalltheke, auf deren anderen Seite Quentin und Roman auf zwei hohen Barhockern saßen. Augenscheinlich hatte die beste Köchin auf Blackridge etwas vom Abendessen aufgewärmt und es den beiden Jägern serviert, denn es roch nach Tomate und Gewürzen, vor den Männern stand jeweils ein dampfender Teller. Ein Blick auf die Uhr über Dareon bewies, dass es ein Frühstück war. Die Zeiger standen auf halb fünf am Morgen.
„Du bist mal wieder bestens gelaunt, wie ich sehe“, kam es von Rome. „Hat dich der Hunger dich aus dem Bett getrieben? Da bin ich auch immer mies drauf.“
Dareon nickte nur. Er würde sich einfach eine riesen Portion geben lassen und dann schnell wieder verschwinden. Natürlich erst, nachdem er noch ein paar erlesene, reife Früchte und vielleicht einen süßen Nachtisch aufgetrieben hatte.
„Ihr seid noch wach. Wie kommt’s?“
„Quen und ich sind noch mal zu Cats Wohnung zurück gefahren.“ Der Puerto Ricaner deutete mit dem Daumen auf seinen zurzeit rothaarigen Kumpel. Dieser hatte es sich zur Aufgabe gemacht, seine Haarfarbe so oft zu wechseln wie seine Unterwäsche, was zu den verrücktesten Kombinationen führte. Als Dareon die aktuelle, für Quentins Verhältnisse relativ züchtige Färbung bemerkte, musste er sofort wieder an Cat denken und verglich die beiden Schöpfe. Der Ton, den sie besaß, war nur ein paar Nuancen heller als Quentins, sattes Kupfer statt dem eher ins Braun tendierenden Rot des Jägers.
Rome unterbrach diesen Gedankengang, als er fortfuhr. „Wir haben ihre Taschen eingesammelt und die Leiche mitgenommen.“ Jetzt horchte Dareon tatsächlich auf.
„Irgendwas, das ich wissen sollte?“ Um diese Frage korrekt beantwortet zu bekommen, hätte er Roman erst erklären müssen, dass Cats Angelegenheiten von nun an seine Angelegenheiten waren. Das ließ er dann doch lieber bleiben.
„Cats Gepäck befindet sich jetzt in ihrem alten Zimmer auf Blackridge und den toten Kerl haben wir runter in die Krankenstation verfrachtet. Xandra wird morgen Proben nehmen und Fotos machen, damit wir ihn identifizieren können. Und noch was….“ Er nahm etwas aus der Innentasche seiner Uniformjacke und legte es auf das mit Gebrauchsspuren gezeichnete Metall. „Beim Durchsuchen der Leiche haben wir das hier entdeckt.“
Dareon trat an den Tisch und begutachtete das Fundstück. Helles Licht aus dem Deckenstrahlerspiegelte sich auf der blankpolierten Oberfläche des kleinen Plastikrecktecks. Es hatte Form und Maße einer Visitenkarte. Das Material war durchsichtig, aber an einigen Stellen befanden sich schwarze Markierungen. Kleine Quadrate und etwas, das aussah, wie ein Strichcode.
„Schon eine Vorstellung, was das darstellen soll?“
„Der Scanner zeigt, dass es Elektronik enthält“, antwortete Quentin. „Wahrscheinlich eine Karte mit Magnetchip.“
„Könnt ihr ihn auslesen?“ Der Chip war noch nicht mal mit dem Auge sichtbar.
„Ich bringe das Ding nachher bei Ferroc vorbei, vielleicht kann er es knacken.“ Roman zögerte, bevor er die nächste Frage stellte. „Wie geht’s Cat?“
Auch Blaise mischte sich da ein, wesentlich vorlauter als sonst. „Ja genau, Dareon. Wie geht es ihr?“ Sie lächelte hinterlistig. Verdammt, sie hing eindeutig zu viel mit Xandra rum. Deren Art färbte schon auf die sonst so verträgliche Elevenderin ab.
Dareon schnaubte verdrießlich und wandte dem Trio den Rücken zu. „Klar geht’s ihr gut.“ Er hatte sie gerade beim Vögeln zum Heulen gebracht und war dann auch noch auf ihrem Herz herum getrampelt, aber bekanntlich war gut ein dehnbarer Begriff. Er ließ sich Zeit damit, einen Teller aus einem der vielen Metallschränke zu holen. Als er sich endlich umdrehte, setzte er zu einem Ablenkungsmanöver an.
„Wieso bist du eigentlich nicht zu Hause bei deiner Frau und deinen Kindern?“, fragte er an den dunkelhäutigen Elevender gerichtet, der daraufhin verstummte und den Kopf über seine Mahlzeit senkte.
„Das wüsste ich allerdings auch gerne.“ Quentin wollte Dareon anscheinend beistehen, obwohl er eigentlich ziemlich gut mit Roman befreundet war. Der rothaarige Elevender mit den stets traurigen Augen war eher von der stillen Sorte, aber loyal und einfühlsam. Dass er sich öffentlich auf etwas stürzte, das seinem Kumpel offensichtlich sehr nahe ging, war eher untypisch. Was Dareon vermuten ließ, dass er gute Gründe dafür hatte.
Schnell schaufelte sich der Puerto Ricaner ein paar Löffel Ratatouille in den Mund, bis die Backen prall gefüllt waren. Er zeigte mit bedauernder Miene auf die gewölbten Wangen, so konnte er natürlich nicht sprechen. Unschuldig zuckte er mit den Schultern.
Quentins Augen schienen noch einen Tick wehmütiger zu werden, aber er ließ das Thema gut sein und widmete sich ebenso der Nahrungsaufnahme.
„Gib‘ mir deinen Teller, Schatz.“
Dareon schreckte auf und blickte zu Blaise hinüber, die ihm die Hand entgegenstreckte. Das Porzellan war schnell übergeben und beladen, sie streute sogar noch ein paar frische Kräuter über Gemüse, Kartoffeln und Fleisch. Jetzt lief selbst ihm das Wasser im Mund zusammen, auch wenn die Ingredienzien nicht gerade zur Uhrzeit passten.
„Hier, lass‘ es dir schmecken.“
Dankbar nahm er die Gabe entgegen, beugte sich über die herzliche Frau und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. Er hatte es nicht geplant, es passierte einfach so. Verwundert sah sie zu ihm auf, doch dann lächelte sie freundlich und drückte seinen Arm. So leise, dass es keiner außer ihm hören konnte, flüsterte Blaise: „Sie tut dir gut. Das kann ich sehen.“
Dareon zuckte zurück und starrte sie eindringlich an. Versuchte herauszubekommen, wie viel sie wusste. Leider stand es nicht auf ihrer Stirn geschrieben. Also immer schön leugnen. „Keine Ahnung, was du meinst.“
Damit nahm er sich Besteck aus den Fächern und schnappte sich den Teller. Im Kühlschrank bediente er sich an den Erdbeeren und dem Tiramisu und ignorierte die sechs erhobenen Augenbrauen, als er so vollbeladen an den Anderen vorbei ging. Mit einer knappen Verabschiedung wollte er die drei verlassen und war gedanklich schon oben in seinem Bett, wo er Cat mit leckerem Lamm verwöhnen und hoffentlich von der Liebes-Geschichte ablenken würde.
Kurz vor der Tür hörte er Roman noch rufen. „Erdbeeren und zwei Gabeln, ich hab’s genau gesehen!“
Na klar, jetzt konnte der Penner wieder reden. Gaaaanz toll.
Quentin und Roman hatten schweigend gegessen und verabschiedeten sich kurz nach Dareon. Blaise kannte beide schon so viele Jahre und weil sie gar nicht verhindern konnte, am Leben der Menschen in ihrer Umgebung Anteil zu nehmen, war ihr auch heute bald aufgefallen, dass der Puerto Ricaner traurig und sein Kumpel deswegen besorgt zu sein schien. Sie hatte schon von Xandra gehört, dass Ferroc sich ebenfalls Gedanken über den Familienvater machte, also beschloss sie, so bald wie möglich mit Yumi zu sprechen. Wenn jemand wusste, was vor sich ging, dann sie. Und der Laune ihres Mannes nach zu urteilen, konnte sie den Beistand im Moment wohl gut gebrauchen.
Blaise räumte die Reste des Mahls auf und wischte alle Oberflächen ab. Eine Arbeit die ihr in Fleisch und Blut übergegangen war. Ein Koch hielt seinen Arbeitsplatz sauber, das war die oberste Regel, wenn man sich nicht mit Lebensmittelvergiftungen herumschlagen wollte. Zumindest galt das für menschlichen Bewohner von Blackridge, Elevender konnten sich ja nicht den Magen verderben.
Während sie den Lappen auswrang, musste sie bereits gähnen. Es war wirklich spät geworden, sonst stand sie bereits in einer Stunde wieder auf, um das morgendliche Buffet vorzubereiten. Die Aufregung im ganzen Haus hatte auch sie vom Schlafen abgehalten. Zum Glück gab es noch viele andere helfende Hände in der Küche, die Blaises‘ Teil der Arbeit übernahmen, wenn sie mal nicht da war. Das meiste von den Speisen wurde sowieso noch am Vortag nach dem Abendessen zubereitet.
Sie trocknete sich gerade die Hände ab, als die Tür hinter ihr erneut klapperte.
Dass niemand sie begrüßte und auch keine Schritte zu vernehmen waren, legte eine Vermutung nahe, wer sie da mit seiner Anwesenheit beehrte. Ein Schauer rieselte ihren Rücken hinab und in der Magengegend wurde es irgendwie flau. Sie drehte sich um, erblickte genau was sie erwartet hatte und… das Herz rutschte ihr in die Hose.
Seit jener Konversation vor fünf Wochen war er abends nicht mehr in der Küche erschienen und hatte sich auch sonst ziemlich rar gemacht.
Slater zeigte ihr wie immer sein verschlossenes Gesicht. Das schwarze Auge musterte sie kritisch, während er unentschlossen von einem Bein aufs andere trat. Blaise witterte vorsichtig. Jetzt, da ihr sein Geruch bekannt war, hätte sie ihn aus einem ganzen Raum voll Leute, aus einer Million von Düften heraus schmecken können. Ihre Gabe war in diesem Fall ein echtes Geschenk,… oder ein Quälgeist.
Moschus und Kardamom kitzelten in ihrer Nase, der Duft von Waldbeeren legte sich über ihre Geschmacksknospen. Alle Geruchsnuancen untermalt von einem Hauch Eis. Sie atmete tief ein und versuchte, die Luft in jeden Winkel ihrer Lungen zu bekommen. Sie wollte wenigstens ein kleines Stückchen von Vincent haben und wusste, dass er es nie freiwillig hergeben würde.
„Ich dachte, du wolltest mir aus dem Weg gehen.“ Um einen belanglosen Tonfall bemüht, zwang sich Blaise weg zu sehen. Stattdessen faltete sie den Spüllappen sorgfältig zusammen.
Es mussten Minuten vergangen sein, bis seine tote Stimme etwas erwiderte.
„Das stimmt.“
Sie wartete auf weitere Erklärungen, aber als sich der rosa Stoff nicht mehr kleiner falten ließ, ging ihr die Beschäftigung und damit auch die Geduld aus. Komischerweise fehlte ihr die nur bei Slater.
„Hast du gedacht, um diese Zeit ist keiner hier unten?“
„Ja.“
„Tja, aber ich bin hier. Und du bist trotzdem reingekommen. Was hat deine Meinung geändert?“
„Der Hunger.“
Unfassbar, wie ungerührt und kalt er blieb!
„Es sind ein paar Reste übriggeblieben. Sollten sogar noch warm sein.“ Sie wies zum großen Topf auf dem Herd hinüber. „Bedien‘ dich.“
Er tat, wie ihm geheißen und Blaise beobachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen. Sie hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Bei jedem Anderen hätte sie gesagt, dass es ein nahezu normales Verhalten war. Aber bei ihm…. Immerhin hasste Slater Gesellschaft, das hatte er ihr immer wieder eingeschärft, und dennoch stand er dort drüben in der Küche. Nahm ihre Anwesenheit in Kauf.
„Wieso bist du noch wach?“
Blaise traute ihren Ohren nicht, als die Frage sie erreichte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich sortiert hatte. „Ähm, ich, ähhh…. Es gab ein paar Probleme mit Cat. Sie wurde bei sich zu Hause angegriffen.“
„Hat sie es überlebt?“ Das war wohl seine Wortwahl für Geht es ihr gut. Himmel, es gab so viele wunderbare Merkwürdigkeiten an ihm zu entdecken. Blaise schüttelte den Kopf, um den Weg zu unterbrechen, den ihre Gedanken eingeschlagen hatten.
„Das… tut mir leid.“
Oh mein Gott, war das etwa eine Beileidsbekundung, die da aus seinem Mund gekommen war? Beinahe hätte sie sich nach fliegenden Schweinen umgesehen und höchstwahrscheinlich war die Hölle soeben zugefroren. Armer Beelzebub.
„Was? Ach so, nicht nötig. Es geht ihr gut. Dareon hat sie beschützt und Xandra hat ihre Wunden geheilt.“
Slater nickte nur zurückhaltend. Er hatte seinen Teller befüllt, sich mit Messer, Gabel und einer Serviette versorgt und… genau genommen, gab es nun nichts mehr für ihn zu tun. Sie wagte nicht zu hoffen, dass er hier essen würde und ging in Richtung Tür, bereit, die Küche mit ihm zu verlassen.
Aus den Augenwinkeln meinte sie zu bemerken, dass der verschlossene Elevender zögerte, bevor er ihr folgte. Es war nur ein winziger Moment, sie war sich noch nicht mal sicher, dass es tatsächliche ein Zögern gewesen war. Vielleicht war er einfach nur in Gedanken versunken oder wollte sich eigentlich noch einen Nachtisch holen, hatte sich aber dann doch dagegen entschieden.
Egal. Sie war müde und traute sich selbst nicht, wenn es um Vincent Slater ging. Wahrscheinlich sollte sie sich nicht in wilde Hoffnungen stürzen. Heute Abend war schon ein kleines Wunder geschehen, immerhin war er aufgetaucht und hatte sich sogar mit ihr unterhalten. Oder zumindest so etwas Ähnliches. Noch mehr weltbewegende Veränderungen in einer Nacht widersprachen wohl den Gesetzen der Natur.
Im Flur angekommen hielt sich Slater hinter ihr. In dieser Formation liefen sie zur großen Eingangshalle und Blaise war sich seiner eisigen Präsenz im Rücken überaus bewusst. Sein Geruch war überall und sie hätte sich gern ein Glas davon abgefüllt, für schlechte Zeiten.
Gleich würden sie sich trennen, dachte Blaise, als sie den riesigen Raum mit der Freitreppe erreichten. Nachdem Slater heute Abend fast gesellig gewesen war, oder wenigstens ein schwacher Abklatsch davon, erwartete sie, dass er sich von ihr verabschieden würde. Doch das tat er nicht. Ohne sich umzusehen lief er weiter und wenig später fiel das große Eingangsportal hinter ihm ins Schloss.
Sie stellte sich vor, wie er allein über den Innenhof ging, seine dunkle Gestalt mit den Schatten verschmolz und sein geheimnisvolles Wesen ein weiteres Mal außer Reichweite geriet. Diese unbestimmte Sehnsucht in ihrer Brust protestierte vernehmlich und Blaise musste besorgt feststellen, dass ihr heutiges Zusammentreffen das Gefühl nur verstärkt hatte. Sie wünschte sich so sehr….Ja, was wünschte sie sich eigentlich genau?
So viel war klar, sie wollte ihm nahe sein. Aber wie genau das aussehen sollte, hatte sie sich immer noch nicht überlegt. Und sie hatte Angst, die Frage zu klären würde der ganzen Geschichte den Zauber nehmen.
Die Entscheidung fiel im Bruchteil einer Sekunde. Eben stand Blaise noch am Fuß der großen Treppe und im nächsten Moment war sie durch das Holztor ins Freie geschlüpft. Es dämmerte bereits, einzig der Morgenstern blinkte noch am Himmel. Die Helligkeit, die sich vom Horizont aus übers Firmament ausbreitete, hatte das dunkle Nachtblau in zartes Azur verwandelt, einzelne Wolken waren in Rosa getaucht. Das Sommergewitter hatte sich verzogen und frische, gereinigte Luft hinterlassen. Nichtsdestotrotz war es warm. Ein weiterer heißer Sonnentag kündigte sich an. In dem hellblauen Ballonkleid mit Spagettiträgern war Blaise nicht kalt.
Sie sah sich um, aber Slater war bereits verschwunden. Keine Ahnung wo er wohnte, dafür hatte sie ihren übernatürlichen Geruchssinn, den sie nun zum ersten Mal einsetzte, um jemanden zu finden. Ihre Gabe auf diese Weise zu nutzen, war ihr vorher nie in den Sinn gekommen. Sie war mit ihrer Aufgabe hinterm Herd zufrieden gewesen und hatte sich nicht darum gekümmert, mit ihren Fähigkeiten zu experimentieren. Vincent Slater weckte offensichtlich neue Seiten in ihr.
Der eisige Hauch hing wie eine Fahne in der Morgenluft und es war erstaunlich einfach, der Spur zu folgen. Diese führte sie an den Garagen vorbei, über ein Stück Wiese und in den Wald hinein. Zwischen den dicken Stämmen verschiedener Nadelbäume war der subtile männliche Geruch stark mit den erdigen und herben Düften von Moos und Tannenharz vermischt. Trotzdem ließ sie sich nicht abschütteln und bemerkte, dass ihre Gabe die Hürde locker meisterte.
Unter dem dichten Blätterdach war es noch nicht so hell und Blaise musste sich neben den Gerüchen auch auf das niedrige Unterholz konzentrieren, das sich zwischen ihre Knöchel schieben und sie zu Fall bringen wollte. Der Regen hatte den Boden abgekühlt und jetzt stieg leichter Dunst auf, bedeckte ihre Füße mit dünnem Nebel.
Blaise war wohl eine ganze Weile über Stock und Stein gestolpert, denn irgendwann verlor sie die Orientierung. Nur Slaters Duft leitete sie durch den düsteren Wald und….
…Etwas schlang sich um ihre Schultern und eine Hand legte sich auf ihren Mund, dämpfte ihren unwillkürlichen Aufschrei. Das Herz wäre ihr fast stehen geblieben und da wurde sie mit dem Rücken gegen einen festen Körper gezogen. Am Duft erkannte sie wer es war.
Slaters Mund legte sich an ihr Ohr und die tiefe Stimme mit dem leeren Tonfall vibrierte auf ihrer Haut. „Hat dir deine Mutter denn nicht beigebracht, dass in dunklen Wäldern schlimme Dinge lauern?“
Selbst wenn sie gewollt hätte, Blaise brachte kein Wort heraus. Sie konnte nicht sprechen, war schon mit dem Atmen überfordert, aber merkwürdigerweise hatte sie keine Angst. Obwohl sie die vielleicht haben sollte. Dennoch, da waren nur dieser plötzliche Hitzeschub und eine Aufregung, die alle Nervenenden zum Kribbeln brachte. Sie hatte nicht damit gerechnet, jemals von Slater berührt zu werden und ihre Reaktion darauf überraschte sie noch mehr.
Ohne nachzudenken, bog sie den Rücken durch und presste ihren Po gegen feste Oberschenkel.
Slater zischte vernehmlich, klang wie eine Schlange. „Wenn du weißt, was gut für dich ist, lässt du das gefälligst bleiben.“
Wie gesagt, sie konnte es nicht. Es war wie ein Drang und fühlte sich so verdammt gut an.
Ein heftiger Stoß zwischen die Schulterblätter beförderte sie zu Boden. Der Aufprall war nicht besonders hart, die Tatsache geschubst zu werden dagegen schon. Der Nadelteppich federte ihren Sturz ab, nur die ausgestreckten Hände bekamen ein paar Kratzer.
Doch kaum hatte sie sich abgefangen, lag Slater auf ihr. Sein Gewicht drückte sie nieder, er packte ihre Handgelenke und fixierte sie über ihrem Kopf. Mit einer Bewegung, die verboten gehörte, rieb er seinen Schritt an ihrem Allerwertesten. Und, oh Gott, was sie da spürte, war eindeutig zu fantastisch, um wahr zu sein.
Er begehrte sie. Offensichtlich. Und Blaise konnte nicht verhindern, dass ihr ganzer Körper auf den Vorstoß antwortete. Sie seufzte unwillkürlich.
„Deswegen bist du doch hier, nicht wahr?“
Ihre Gedanken rasten und sie stammelte die Antwort. „N…nein. N…nicht…n.. nur….“
„Leugnen ist zwecklos. Ich kann es spüren.“
„Was???“
„Dein Verlangen.“ Sie fühlte seine Nase im Nacken und bekam eine Gänsehaut. „Es strömt dir aus jeder Pore.“
Ohne Vorwarnung schob sich eine Hand in ihren Ausschnitt. Der plötzliche Übergriff ließ Blaise nach Luft schnappen, aber als Slater eine Brust umschloss und zudrückte, war der Schreck bereits verschwunden. Die raue Haut gegen ihre Weichheit verstärkte das Brodeln in ihrem Inneren und feuchte Hitze sammelte sich zwischen ihren Beinen. Ihr Becken hob sich automatisch, reckte sich ihm auf ungehörige Weise entgegen.
Slaters darauffolgendes Schmunzeln klang kalt und freudlos. „Die Frage ist nur, ob du mit dem umgehen kannst, was du dir wünschst. Aber das werden wir gleich sehen.“
Grob wurde der obere Teil ihres Kleides nach unten gezerrt. Ein Träger war so schlau, ohne Protest zu folgen, der andere zerriss durch den unbarmherzigen Zug. Der weite Ballonrock befand sich dagegen bald um ihre Taille geknautscht und ein Ruck zertrennte die Leiste des Strings, den sie trug. Alles ging so schnell, geistig kam Blaise nicht mehr mit. Aber ihr Körper folgte dem Tempo, hatte einen eigenen Willen entwickelt.
Slaters Handgriffe waren weder feinfühlig noch liebevoll, doch anscheinend heizte ihr genau das ein. Als sie das Ratschen eines Reißverschlusses vernahm, wurde ihr klar, dass es gleich geschehen würde. Direkt hier auf dem Waldboden, ohne Küsse, ohne Zärtlichkeit.
Und bei Gott, sie würde es zulassen, obwohl sie ihm quasi bewegungslos ausgeliefert war. Voller Spannung erwartete sie den wilden, harten Sex, machte sich ungeduldig bereit, spürte ihren rasenden Herzschlag, die hektischen Atemzüge. Starke Finger gruben sich in das Fleisch an ihren Hüften, Slaters andere Hand drücke ihren Kopf zu Boden. Ihr Gesicht fand sich zwischen Laub und Tannennadeln.
Es kümmerte sie nicht. Sicher hätte sie seine fehlende Freundlichkeit davon abbringen sollen, aber sie war bereits gesprungen, musste jetzt auf ihren Fallschirm hoffen. Die Büchse der Pandora war geöffnet.
Unvermittelt hielt der Elevender über ihr inne. Sein Griff wurde fester und er schüttelte sie ein einziges Mal. „Verdammt, Frau. Hast du denn vor gar nichts Angst?“
Sie konnte noch nicht mal Blinzeln, da war Slater bereits aufgesprungen. Der fehlende Körper auf ihrem war ein Schock und ein kühler Lufthauch erinnerte, dass ihre Kehrseite entblößt war, nicht mehr von ihm bedeckt wurde. Während Blaise sich verdutzt auf die Ellenbogen stützte, zog sie den hellblauen Stoff über den blanken Hintern. Dann sah sie sich vorsichtig um.
Slater stand ein paar Meter entfernt und atmete genauso stoßartig wie sie selbst. Er hatte das Haupt gesenkt und seine Hände zitterten, als sie die Hose zuknöpften.
Er drehte sich um und ging davon, würdigte sie keines Blickes, geschweige denn einer Erklärung. Und wie sie da auf dem Waldboden saß, innerlich und äußerlich aufgewühlt, die Kleider ruiniert, das Haar zerzaust und voller Blätter, offenbarte sich ihr plötzlich, was genau sie von Vincent Slater wollte. Denn das Gefühl, das sich in ihr breit machte, war mehr als reine Enttäuschung oder die Scham über ihre Unterwerfung und die darauf folgende Zurückweisung.
Ihr Herz blutete. Heiße Tränen schlichen sich auf ihre schmutzigen Wangen und während sie sich noch an den Gedanken gewöhnte, dass ihr Interesse an Slater über bloße Freundschaft, Mitgefühl oder gar Sex hinausging, musste sie sich noch etwas eingestehen. Wäre er jetzt zurückgekommen, um zu Ende zu bringen, was er begonnen hatte, hätte sie nicht die Kraft besessen ihn abzuweisen. Trotz der Demütigung hätte sie sich nicht gewehrt, nicht mal ein bisschen.
Oh Mann, sie saß tief in der Tinte. Aber sowas von.
Es war schon komisch. In dem Moment, in dem Cat die Augen aufschlug, wusste sie sofort, wo sie sich befand und wie sie dahin gelangt war. Der Nachhall der Ereignisse der gestrigen Nacht weckte ein warmes Gefühl und sie kuschelte sich tiefer in die Federn, die bis vor ein paar Stunden absolut unerreichbar gewesen waren. Ein wohliges Summen in Haut, Muskulatur und Knochen erinnerte an die unglaublichen Stunden mit Dareon. Sie rollte sich zur Seite, um den Verursacher dieses Weltwunders betrachten zu können, doch die andere Betthälfte war leer.
Die Flut der Enttäuschung war eiskalt und Cat setzte sich mit einem Kloß im Hals auf. Dann aber entdeckte sie etwas auf dem Nachttisch.
Es war ein weißes Stück Papier mit einer klassischen, männlichen Handschrift. Hektisch griff sie danach und hielt es sich ganz nah unter die Nase.
„Musste Unterricht geben. Fühl‘ dich wie zu Hause. D.“
Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Mit den Fingern fuhr sie die feinen Lettern nach, empfand sie als besonders schön, weil Dareon sie geschrieben hatte. Sie ließ sich zurück in die Kissen sinken und drückte das Schriftstück an ihre Brust. Mit einem Seufzer schloss sie die Lider und versank in den schönen Erinnerungen. Sie hatte ja nicht geahnt, wie Sex sein konnte.
Wenn man jemanden einfach so oft küssen konnte, wie man wollte und auch noch etwas für denjenigen empfand, war der körperliche Kontakt schlicht überwältigend. Und da war diese innige Verbindung zwischen ihnen gewesen, etwas tief Verwurzeltes, das sie nicht genau beschreiben konnte. Dieses Gefühl hatte sie darüber hinweg getröstet, wie Dareon auf ihre Andeutung eines Liebesgeständnisses reagiert hatte.
Warum hatte sie auch damit herausplatzen müssen? Es war so gut gelaufen, aber sie musste es natürlich überstürzen und ihr Herz auf den Tisch packen. Gut gemacht, Cat.
Für die Zukunft war es wohl besser, ihn nicht zu bedrängen. Sie mochte vielleicht wie eine Katze heißen, aber in Wahrheit war Dareon der Kater von ihnen beiden. Er kam nur, wenn er es wollte und blieb auch nur so lange, wie es ihm gefiel. Trotzdem konnte er süß und verschmust sein, wie sich herausgestellt hatte. Denn nachdem er aus der Küche zurückgekehrt war, hatte er darauf bestanden, sie mit Köstlichkeiten zu füttern. Nicht einen Handstrich hatte sie selbst tun dürfen. So waren eine riesige Menge Lamm und Gemüse, Erdbeeren und Tiramisu zwischen ihre Lippen und dann in ihren Magen gelangt. Und wie Dareon sie dabei gemustert hatte, trieb ihr jetzt noch den Schweiß auf die Haut. Er hatte Cat mit den Augen genauso verschlungen, wie sie das Essen.
Um ehrlich zu sein, war ihr absolut schleierhaft, was diesen Umschwung bei Dareon verursacht hatte. Aber da er ihr gefolgt war, sie beschützt, gerettet und dann auch noch mit ihr geschlafen hatte, wollte sie es gar nicht so genau wissen. Es war besser, das Glück nicht herauszufordern.
Es fühlte sich an, als hätte sie endlich einen Fuß in der Tür, und jetzt musste sie vorsichtig vorgehen, um sich auch ganz hindurch zwängen zu können. Und ihre aktuelle Laune war so hervorragend, dass sie sich nicht mit etwaigen Problemen ihres Vorhabens beschäftigen wollte. Ihr war eher nach Singen, oder besser gleich Tanzen.
Beschwingt rutsche sie an die Bettkante und ließ die Beine baumeln. Unter dem dünnen Laken war sie splitterfasernackt, doch das schien ihr nur angemessen, in Anbetracht des Grundes dafür. Noch nicht mal die Tatsache, dass es anscheinend jemand auf sie abgesehen hatte, sie vielleicht sogar töten wollte, konnte ihr die Stimmung vermiesen. Schließlich hatte Blackridge ihr erneut Unterschlupf gewährt und sie war genauso herzlich empfangen worden, wie beim letzten Mal.
Da fiel ihr ein, dass Dan sie gestern bestimmt in der Bäckerei vermisst hatte und auch Mary inzwischen wahrscheinlich krank vor Sorge war. Der Stand der Sonne deutete bereits auf die Mittagszeit hin.
Als sie den Hörer des schnieken Telefons auf dem Nachttisch zwischen Ohr und Schulter klemmte, überlegte sie sich eine neue Ausrede. Den Wasserrohrbruch konnte sie nicht noch ein Mal benutzen, die Lüge hatte sie schon erzählt, als sie aus Blackridge weg gewollt und nicht in ihre eigene Wohnung gekonnt hatte.
Bereits nach dem ersten Tuten nahm jemand ab und Cat erklärte der völlig aufgelösten Mary, dass sie gestern Nacht einem Freund geholfen und dann bei ihm übernachtet hatte. Das war immerhin nicht komplett gelogen. Ihre Freundin war erleichtert und verstand, dass Cat unter den gegebenen Umständen noch ein Bisschen bleiben wollte. Sie ließ Grüße an Dan ausrichten, versprach, sich bald wieder zu melden und beendete das Gespräch.
Außerdem organisierte sie sich erneut eine Aushilfe für die Arbeit und gab auch dort Bescheid. Eine Bekannte war froh, für sie einspringen zu dürfen und so waren beide zufrieden. Vielleicht war Cat voreilig, aber das Schicksal hatte sie erneut zu Dareon geführt und wer war sie schon, dagegen aufzubegehren?
Sie wickelte sich in das taupefarbene Laken und stand auf. Gestern hatte sie keinen Gedanken an ihre Umgebung verschwendet, doch jetzt weckte diese eine gewisse Neugier. Sie befand sich zwar in einem typischen Blackridgezimmer, Form, Farbe und Bettbereich waren die Selben, aber statt des Glastisches stand dort ein schweres Exemplar aus Holz. Er war mit Werkzeug beladen und während Cat näherkam, entdeckte sie Teile eines Automotors sowie einen zerlegten Vergaser. Das Bild des roten Camaros, den sie am ersten Tag in der Garage gesehen hatte, schoss ihr durch den Kopf. Deswegen war Dareon so überrascht gewesen, als er gehört hatte, dass sie etwas für Autos übrig hatte. Ihm ging es anscheinend ebenso.
Ihr wurde ganz warm ums Herz, als sie begriff, dass Gemeinsamkeiten es ihr vielleicht leichter machen würden. Auf der Suche nach mehr, sah sie sich genauer um. In der Ecke am Fenster lag ein riesiger Haufen Kampfsportutensilien.
Gut, mit Erfahrungen auf diesem Gebiet konnte sie vielleicht nicht punkten, aber das hieß nicht, dass sie es nicht lernen konnte.
Während sie noch überlegte, wo sie jetzt am Besten Kleidung herbekommen sollte, fiel ihr Blick auf drei große Taschen vor dem breiten Einbauschrank. Es waren genau die Exemplare, die sie gestern in ihrer Wohnung gepackt hatte.
Ein wildes Grinsen hob ihre Mundwinkel so weit, dass es beinahe weh tat und sie hüpfte vor Freude wie ein Flummi im Kreis. Offensichtlich würde sie bleiben. In Dareons Zimmer. Einfach so. Tja, die besten Dinge geschahen wohl genau dann, wenn man sie am wenigsten erwartete.
Flink stellte sie sich unter die Dusche und wagte es sogar, dort Shampoo und Duschgel zurück zu lassen, was eine diebische Freude in ihr auslöste. Vor dem Spiegel angelangt, starrte ihr eine Fremde entgegen. Die strahlte fast, hatte Lachfältchen um die Augen und ein glückliches Lächeln auf den Lippen. Mann, sie erkannte sich kaum wieder.
Das kleine Schränkchen über dem Waschbecken war nur spartanisch bestückt. Sie entdeckte lediglich eine Handvoll Toilettenartikel, gerade genug für eine Rasur und die Grundhygiene. Dareon war eben ein Mann, der seine Zeit nicht mit Cremen, Pudern und Zupfen verschwendete. Damit konnte sie leben. Diese raue Art hatte eindeutig was für sich.
Als Cat im Bad fertig war, befanden sich dort ihre Haar- und Zahnbürste, Shampoo und Duschgel, sowie ein von ihr benutztes Handtuch. Sie hatte ihre Spuren bewusst hinterlassen, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob das vielleicht zu weit ging.
Auf dem Weg zur Tür bekam sie jedoch Zweifel und kehrte noch mal um. Alles verschwand wieder in ihren Taschen. Egal wie sehr sie sich wünschte, sie könnte es einfach stehen lassen, wo es gewesen war. Als ob sie sich damit Sicherheit verschaffen könnte. Doch sie widerstand dem Drang. Vorsicht war die Mutter der Porzellanvase.
Es war merkwürdig, nicht aus ihrem eigenen Zimmer zu treten, aber sie fand bald den Weg zu den Aufzügen und dann hinunter ins Erdgeschoss. Nachdem Dareon sie gestern mit Nahrung vollgestopft hatte, war sie noch nicht hungrig und so lenkte sie ihre Schritte Richtung Turnhalle. Aller Wahrscheinlichkeit nach hielt er sich dort auf und Cat wollte den Vorsatz, bei ihm Unterricht zu nehmen, endlich in die Tat umzusetzen.
Ganz in ihren Tagträumen versunken, bog sie um eine Ecke und prallte unvermittelt mit jemandem zusammen.
„Na, gut geschlafen?“ Xandras Tonfall strotzte nur so vor Zweideutigkeit.
Cat errötete und nickte nur. Sie vermied einen Blick in die saphirblauen Augen der großen Elevenderin und versuchte nicht daran zu denken, dass ihre Freundin gestern in der Nähe geblieben war, als sie mit Dareon… ähm, ja.
Sofort fand sie sich in einer festen Umarmung. „Schön. Ich freue mich ehrlich für dich.“
Ein plötzlicher Schlag traf Cats Schulter völlig unvorbereitet. Er tat nicht wirklich weh, aber sie erschreckte sich ordentlich.
„Hatte ich dir nicht gesagt, dass du nicht in deine Wohnung zurück kannst? Was hast du dir bloß dabei gedacht? Du könntest tot sein!“
Cat zog den Kopf ein. Xandra hatte ja recht, es war töricht gewesen. Und wer durfte einem so etwas sagen, außer enge Freunde? Denn das waren sie mittlerweile tatsächlich und obwohl die blonde Frau schimpfte, fühlte sich die Erkenntnis irgendwie gut an.
„Was gibt es da zu Lächeln?“
„Naja, ich dachte Blaise sei die Glucke von euch beiden.“
Xandra machte große Augen und schaute verdutzt, dann lachte sie lauthals los. Nachdem sie sich beruhigt hatte, legte sie Cat einen Arm um die Schultern und zwinkerte verschmitzt. „Erzähl‘ das bloß nicht weiter. Ich habe einen knallharten Ruf zu verlieren.“
Cat hob zwei Finger zum Schwur und die Elevenderin nickte zufrieden.
„Also, da du bei Dareon vorangekommen bist, was hast du jetzt vor?“
„Puh, keine Ahnung. So weit habe ich noch nicht voraus geplant. Aber ich wollte eben zum Kampfsportunterricht.“
Xandra schien darüber hoch erfreut. „Darf ich dann annehmen, dass du deine Gabe mit D trainieren wirst?“
„Ähm, ich…“
„Du musst dich nicht sofort entscheiden. Meine Kandidatin ist zur Ausbildung hier und bleibt noch mindestens zwei Wochen.“
„Moooment.“ Cat löste sich von der hübschen Elevenderin. „Dein Plan B war eine sie?“
„Glaubst du, wenn ich einen Kerl angeschleppt hätte, hätte Dareon ihn am Leben gelassen?“, konterte die Andere mit schiefgelegtem Kopf und verschränkten Armen.
Cat schluckte, dann musste sie schon wieder breit grinsen. Das war wohl Antwort genug.
„Dachte ich mir.“
Xandra begleitete sie ein Stück und während sie gemeinsam über die saftig grüne Wiese schlenderten, stieß der puertoricanische Elevender zu ihnen.
Er deutete auf Cat. „Hey genau die, nach der ich gesucht habe.“
Damit schloss er sich der Unterhaltung an und sie erhielt eine detaillierte Beschreibung der Identität des Angreifers in ihrer Wohnung. Wie Dareon schon berichtet hatte, war er ein Sucher der Hegedunen gewesen. Sein Name sagte Cat nichts, aber Xandra behauptete, dass er ziemlich berühmt war.
Roman stimmte dem zu und fügte an: „Er hatte eine Schlüsselkarte bei sich. Wir versuchen herauszufinden, wo man damit rein kommt.“
„Wie seid ihr denn an diese Informationen kommen?“
„Ich habe die Leiche untersucht und Ferroc…“
„Was??? Welche Leiche?“
„Du weißt es noch gar nicht?“ Cat schüttelte den Kopf. „Nach dem du verletzt worden warst, musste Dareon den Kerl in Notwehr töten. Roman und Quentin haben den Körper dann abgeholt und nach Blackridge gebracht. Deine Taschen übrigens auch.“
Merkwürdig, beides so lapidar in einem Satz zu hören. Cat hätte sich wohl bei dem Südländer bedanken sollen, aber sie war zu gefesselt von dem Bericht.
Und… Dareon hatte für sie getötet… Das hinterließ einen fiesen Nachgeschmack, auch wenn sie davon ausging, dass der vermummte Mann es nicht viel besser verdient hatte.
Cat wandte sich an Roman. „Dareon sagte, du glaubst, dass das auch mit Jayce zu tun haben könnte. Immerhin waren hinter ihm auch zwei maskierte Elevender her.“
„Das stimmt, die Form beider Angriffe deutet darauf hin.“
„Aber Dareon meinte auch, dass die Hegedunen sich immer wieder Elevender schnappen. Das hast du damals auch erzählt, als du mich aus der Irrenanstalt befreit hast, Xandra. Welchen Vorteil hätten sie dann von Jayce‘s Tod gehabt?“
„Vielleicht hat er zu viel gewusst. So was kommt schon mal vor“, kam es von Xandra. „Es gibt einzelne aufgeklärte Menschen, die mit ihnen aber auch mit uns zusammenarbeiten. Auch hier auf Blackrigde leben ein Paar.“
Nein, Jayce hatte nicht für jemanden gearbeitet, er hatte fürchterliche Angst gehabt. Dass er nicht bei ihr bleiben wollte und der neue Ausweis von Bruce. Das alles sprach dafür, dass Jayce auf der Flucht gewesen war.
Da fiel Cat etwas ein und das Blut gefror in ihren Adern zu Eis. Oh… mein…. Verdammt, wieso war ihr das nicht schon damals aufgefallen…?
Du bist wie ich. Sie werden kommen.
„Jayce hat immer wieder gesagt, wir wären gleich und ich solle mich in Acht nehmen, weil jemand kommen und nach mir suchen würde.“
Roman kratzte sich unschlüssig am Kopf. „Das ergibt keinen Sinn. Es sei denn…“
„Jayce war ein Elevender“, ergänzte Xandra.
Bingo.
„Moment.“ Die Blonde hob die Hand, als wollte sie dem Gedankengang Einhalt gebieten. „Dein Kumpel ist an multiplen Knochenbrüchen gestorben. Wäre er ein Elevender gewesen, hätte ihn das höchst wahrscheinlich nicht umgebracht, zumindest nicht sofort.“
Cat überlegte und versuchte, sich jene Nacht noch einmal genau ins Gedächtnis zu rufen. „Jayce sah sehr geschwächt aus. Bei einem Menschen hätte ich gesagt, er stünde kurz vor dem Verhungern oder habe eine schwere Krankheit. Außerdem konnte man an seinem Nacken ein paar Narben sehen. Ihm muss etwas Schreckliches zugestoßen sein.“
Rome und Xandra horchten auf und suchten sogleich den Blick des Anderen.
„Hey, was ist?“
„Elevender haben keine Narben“, antwortete der große Südländer. „Das passt alles irgendwie nicht zusammen.“
„Aber er sagte, ich sei wie er. Was könnte er denn sonst damit gemeint haben?“
Beide Elevender schauten ratlos drein.
„Was weißt du noch über ihn?“
„Hm, als wir uns kennenlernten, lebte er offensichtlich auf der Straße und war drogenabhängig. Ich war seine Dealerin.“ Ihr Tonfall sollte klar stellen, dass sie keineswegs stolz auf diese Episode ihres Lebens war.
„Er war klug und nett, viel zu gut für diese Szene. Dann, er muss ungefähr 16 gewesen sein, ist er einfach verschwunden, ohne eine Spur. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, bis zu der Nacht, in der er gestorben ist. Da stand er in diesem miesen Zustand plötzlich vor meiner Tür.“
Sie berichtete von den damaligen Geschehnissen, aber die Verwirrung der beiden Anderen schien sich nicht zu lichten.
„Weißt du, ob Jayce sein richtiger Name war?“
Bedauernd schüttelte Cat den Kopf.
„Die Polizei konnte seine Identität auch nicht klären. In ihren Datenbanken taucht er nur als Jon Doe auf. Seit den frühen 2000ern wird jeder Mensch mit Fingerabdrücken in die Einwohnerlisten aufgenommen. Das bedeutet, Jayce war den menschlichen Behörden niemals bekannt.“
Xandra unterbrach Roman. „Oder jemand hat seine Unterlagen gelöscht.“
„Könnt ihr das nicht herausfinden?“
„Jordan könnte es vielleicht. Aber dazu müssten wir wissen, wo wir nach etwas Fehlendem suchen sollen. Ohne Anhaltspunkt könnten wir auch gleich versuchen, einen Stecknadelkopf im Marianengraben zu finden.“
Folgedessen erreichten sie an diesem Punkt eine Sackgasse. Cat kickte gegen ein paar Grashalme. Sie standen immer noch mitten auf der Wiese und die Sonne brannte vom Himmel. In ihren schwarzen Sportklamotten war ihr schon ziemlich warm geworden.
„Eine Möglichkeit gibt es noch“, warf der Puerto Ricaner ein. „Wenn du einen Ort samt Datum weißt, an dem du Jayce mal getroffen hast, könnten wir die Videoaufnahmen in der Umgebung checken. Vielleicht können wir ihm folgen. Immerhin sind die meisten Straßen und Plätze schon seit Jahrzehnten kamera- oder satellitenüberwacht.“
Cat fasste sich unwillkürlich an den Kopf und wünschte, sie hätte einen Geistesblitz. „Das ist über vier Jahre her! Wie soll ich….“ Sie stockte. Warte mal… „…. Er hat mir etwas zum 23. Geburtstag geschenkt. Dafür ist er extra zu meinem Stammplatz gekommen. Das war der 18.03. 2096 an der Ecke Junionsquare-Avenue und 72ste Ost. Kurz darauf muss er dann verschwunden sein.“
„Na, das ist doch was!“ Roman legte ihr die Hand auf die Schulter und nickte aufmunternd. „Damit können wir arbeiten.“
„Kriegst du das alleine hin?“
„Ich habe ein Foto aus der Polizeiakte. Ich denke, das schaffe ich. Wieso?“
„Weil unsere Kleine hier jetzt Training hat und ich unser Treffen mit dem Venus-Orden vorbereiten muss.“ Die hübsche Frau setzte diesen ‚Mit-meinem-Lächeln-kriege-ich-alles-was-ich-will‘-Gesichtsausdruck auf und wandte sich an Cat. „Ich dachte, vielleicht könntest du mich zu dem Meeting begleiten. Micham kennt dich und offensichtlich vertraut er dir und deinem Freund. Dann hätten wir schon mal einen Stein im Brett, so zu sagen.“
Cat stimmte ohne zu zögern zu. „Sicher. Du hast mir jetzt zum zweiten Mal das Leben gerettet, ich würde dir wahrscheinlich sogar eine Niere spenden. Vielleicht auch zwei.“
„Ha. Erstens, Elevender benötigen in der Regel keine Organtransplantationen und zweitens, deine Verletzungen wären auch so geheilt. Wahrscheinlich. Aber danke, ich weiß das zu schätzen.“ Schlanke Finger drückten Cats Arm bestätigend und Xandra sah sie mit einem warmen Blick an.
„Ich bin froh, dass du zurückgekommen bist.“
„Gekommen worden bin, meinst du?!“
„Wie auch immer, das Ergebnis bleibt doch das Selbe, oder? Sei in zwei Stunden in der Eingangshalle, dann fahren wir los.“
Eine Umarmung später verabschiedete sie sich und auch Roman folgte der hoch gewachsenen Elevenderin zurück zum Haupthaus. Cat sah ihnen nach, bis sie verschwunden waren und setzte dann ihren Weg fort.
In ihrem Kopf schwirrte es nur so. Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie mit ihrer Annahme bezüglich Jayce richtig lag. Er war ein Elevender gewesen. Doch wie hatte er dann so sterben können?
Die Begabten, die sie bisher getroffen hatte, strotzten nur so vor robuster Gesundheit. Ihr Kumpel dagegen war das Abbild eines Choleraopfers gewesen, kachektisch und ausgezehrt. Lauter widersprüchliche Tatsachen, die sich nicht zu einem stimmigen Bild zusammen fügen lassen wollten. Zum Glück musste Cat dieses Rätsel nicht allein lösen. Sie hätte sich keinem anvertrauen können, außer den Elevendern der Legion, und es fühlte sich irgendwie gut an, beinahe zu dieser Gemeinschaft zu gehören. Immerhin waren hier alle wie sie. Begabt….
Wie das schon klang. So positiv. Aber bis zum heutigen Tage hatte sie das nie so empfunden. Jetzt jedoch, da sie all die freundlichen Leute und ihr Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit kennen gerlernt hatte, änderte sich das.
Ein Elevender zu sein, hatte auch seine guten Seiten. Es gab einem die Macht für das zu kämpfen, an das man glaubte.
Von der Sekunde an, in der Cat die Halle betrat, begann er zu grinsen. Als hätte sie es angeknipst, wie man einen Lichtschalter betätigte. Sein Blick heftete sich auf die kleine Elevenderin und er ging automatisch auf sie zu. Es schien ganz natürlich.
Dareon hatte kaum ein Auge zugetan, damit er Cat beim Schlafen zusehen konnte. Neben ihr zu liegen, die weichen Gesichtszüge zu betrachten, ihren Atem zu hören. Das hatte ihm Frieden geschenkt. Nicht eine Minute dieses kostbaren Gefühls hatte er vergeuden wollen, indem er einfach ins Reich der Träume entglitt.
Also war er heute Morgen zwar etwas gerädert, aber glücklich zum Training aufgebrochen. So glücklich, wie er es seit Jahren nicht gewesen war, vielleicht auch länger. Es war befremdlich, so viel gute Laune zu empfinden. Das letzte Mal, als er so etwas wie Erleichterung in seiner immerwährenden Misere verspürt hatte, an dem Tag, an dem sie Cohen in diesem Club aufgestöbert hatten, war Mylie der Grund dafür gewesen. Aber sie würde immer die Vergangenheit repräsentieren, mit all ihren Verhängnissen. Mit all den Leben, die er nicht retten, sowie jenen, denen er kein Ende hatte setzen können.
Cat dagegen war die Zukunft. Mit einer frischen Brise und… ja, vielleicht war es sogar Hoffnung. Denn als er heute morgen bemerkt hatte, wie weich sein Herz wegen ihr war, wagte er tatsächlich zu glauben, er könnte sein Vermächtnis doch irgendwie besiegen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, jemals die Hand gegen Cat zu erheben oder ihr sonst irgendetwas zu Leide zu tun.
Eine gehässige Stimme meldete sich in seinem Kopf. „Das war bei deinen Eltern und deinem Bruder genau so, mein Freund.“
Allà Deus ex macchina verscheuchte Cat die bösartige Stimme, als sie direkt vor ihm stehen blieb und ihm ein strahlendes Lächeln zu warf. Nur sie konnte ihn derartig fesseln.
„Hi.“
„Hi.“
„Hast du gut geschlafen?“
„Ja. Ich… mag dein Bett.“ Sie errötete leicht. Die rosigen Wangen riefen nach seinen Fingerspitzen und diese gehorchten augenblicklich. Er strich sanft über die glatte Haut.
„Ich mag es auch. Wenn du darin liegst“, sprach’s… und küsste sie, ohne nachzudenken, als wäre es eine alte Gewohnheit. Er war selbst ein wenig verblüfft, aber Cats zarte Lippen zogen ihn in eine andere Welt. Offensichtlich scherte er sich nicht mehr darum, irgendetwas geheim zu halten. Naja, die meisten seiner Freunde ahnten es ja sowieso schon.
Als er den Kopf hob, begriff er, dass Cat etwas in ihm bewegt hatte. Von ihm unbemerkt, hatte sie alle Grenzen niedergerissen. Sogar die, denen er sich gar nicht mehr bewusst gewesen war. Und das nicht mit dem Sex, sondern einfach, indem sie neben ihm geschlafen hatte. Vielleicht war sie doch eine Art Wunderheilerin, zumindest in seinem Fall.
Er schüttelte den Kopf ungläubig, während er ihr schönes Gesicht betrachtete.
„Ähm, D?“
Er schreckte auf. „Ja? Was?“
Cat sah sich demonstrativ um und er folgte ihrem Hinweis.
Seine Schüler, die bis vor einer Minute noch geschäftig trainiert hatten, standen da wie Salzsäulen. Die ganze Halle war voll und jeder Anwesende starrte sie beide an, keiner machte einen Mucks. Dareon konnte die Verwunderung in den vielen Augen erkennen. Oh Mann, die mussten ihn ja für Graf Dracula höchstpersönlich gehalten haben.
„Hab‘ ich etwa gesagt, ihr dürft eine Pause machen?“ fragte er laut, woraufhin die Menge hektisch zu ihrer Tätigkeit zurückkehrte. Sie übten Schläge und Tritte, aber er hätte seinen Arsch darauf verwettet, dass vierzig Paar Ohren jedes Wort verfolgen würden, das er mit Cat wechselte.
„Kümmer‘ dich nicht um die“, raunte er ihr zu, während er sie an sich zog. „Neugieriges Pack.“ Er hoffte, das Pack hörte genau hin.
Sie lachte nur und zuckte mit den Schultern. „Wenn es für dich ok ist, ist es das für mich auch.“
„Gut, dann…. Wie ich sehe, hast du deine Taschen gefunden.“
„Ja, ich…. Danke….“
Dareon erkannte die Frage hinter dem darauf folgenden Schweigen. „Du kannst erst mal in meinem Zimmer wohnen. Also, wenn du willst.“ Immerhin konnte er so am besten auf sie Acht geben.
Cats Lächeln war wie der Sonnenaufgang. Es erhellte jeden Winkel seines Seins und sie gab ihm das Gefühl, als hätte er eben einen Berg versetzt. Vielleicht war es auch so.
„Heißt das ja?“
„Natürlich, liebend gerne…, ähm ich meine, ja, warum nicht.“
Etwas hüpfte in seiner Brust, außerdem wurde es dort ganz warm. Er schien einen Hochofen verschluckt zu haben. Ach, Herr Gott, er liebte sie einfach und einen Augenblick lang war er kurz davor, es ihr zu sagen. Doch das löste immer noch Furcht aus, als würde er mit dem Aussprechen seinen Fluch aktivieren. Das war lächerlich, das wusste er selbst, aber die Angst ließ sich nicht verscheuchen. Auch nicht, als Cat eine Hand auf seine Brust legte, direkt über sein dröhnendes Herz.
„Du musst nichts tun, zu dem du noch nicht bereit bist.“
Er nickte erleichtert, bevor ihm auffiel, dass sie damit den Einzug gemeint hatte. Nun, der Zug war wohl abgefahren. „Nicht der Rede wert“, sagte er nur und legte seine Hand über die ihre, drückte sie kurz. „Warum bist du denn hier?“
„Ich wollte ein Bisschen mehr übers Kämpfen lernen.“ Ihre Sporthosen waren ein deutlicher Fingerzeig. „Und danach… ähm, also, ich dachte, wir könnten an meiner Gabe feilen, jetzt, da du…“ Sie stoppte sich, indem sie sichtbar auf ihre Zunge biss.
Aber Dareon lachte lediglich und strich ihr ein paar seidige Ponysträhnen aus dem Gesicht. Er fand es sehr schade, dass sie ihr Haar benutzte, um sich zu verbergen. „Jetzt, da ich nicht mehr den Schwanz einziehe, meinst du?“
„Ähm,… so würde ich das nicht…“
„Aber ich.“
„Dann, ja. Jetzt, da du nicht mehr den Schwanz einziehst.“ Sie lächelte frech wegen der harten Worte. „Kleiner Feigling.“
„Über das klein müssen wir uns noch mal unterhalten. Ich glaube, du hast gestern Nacht nicht richtig aufgepasst.“
Sie bedachte ihn mit einem angedeuteten Schubs gegen die Schulter, als er heiter grinste. Doch sie wirkte in keiner Weise erzürnt und es war so schön, einfach herum albern zu können. Als wäre er völlig unbeschwert. So hatte er sich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gefühlt, da war immer ein Schatten gewesen.
Jetzt nicht mehr, jetzt war da nur Cat und sie allein.
Folglich bemühte er sich, ihrem Wunsch umgehend zu entsprechen und rief eine von den neuesten Schülerinnen zu sich. „Glory, komm‘ doch bitte mal her.“
Die junge Elevenderin löste sich aus der Menge.Sie war nur ein paar Zentimeter größer als Cat und hatte auch erst vor kurzem zu trainieren begonnen. Für den Anfang war sie eine geeignete Partnerin für seine Süße. Er stellte die beiden gegenüber auf und rief dann auch die anderen Anfänger, damit sie nach vorn sahen.
Mit dem erfahrensten Schüler zeigte Dareon eine neue Übung und begutachtete dann, wie sich die Rookeys schlugen. Cat machte sich gut, trotz ihrer Größe, und die Technik hatte sie unglaublich schnell verinnerlicht. Er ließ die Gruppe weiter üben und kümmerte sich eine Weile um die Fortgeschritten. So verging die Zeit wie im Flug. Er fühlte sich wohl und war völlig in seinem Element.Die Stimmung in der Turnhalle war blendend, ganzanders als sonst, als ob sich alle seiner Laune angepasst hätten.
Tja, der Unterricht war eben nur so gut wie der Lehrer. Dafür musste er sich wohl an die eigene Nase fassen.
45 Minuten später beendete er das Training und scheuchte die Meute hinaus. Lediglich Cat blieb zurück, in der Mitte der blauen Matten stehend, und wartete auf ihn. Sie war so klein und zierlich, dass Dareon darüber schmunzeln musste, wie gut sie im Bett harmoniert hatten. Dort war der Größenunterschied zwischen ihnen beiden kaum spürbar gewesen. Die Erinnerung erregte ihn und er steuerte wie von selbst auf Cat zu.
„Glory ist nett.“
„Sie ist in Ordnung.“ Aber kein Vergleich zu der Frau, die vor ihm stand. Wie konnte sie jetzt an eine fast Fremde denken, er dachte nämlich nur an sie. Schwungvoll nahm er ihre Hand und zog sie heran. „Wenn ich mich richtig erinnere, wolltest du etwas üben…“ Überrascht bemerkte er, wie seine Stimme eine Oktave tiefer gerutscht war.
„Bist du dir wirklich sicher, dass das ok für dich ist? Ich will nicht, dass du dann….“
Dareon legte ihr einen Finger auf die Lippen. „Süße, wenn ich mir noch sicherer werde, platze ich.“ Damit schnappte er sich ihre andere Hand und legte sie auf seinen erwachenden Schwanz, hielt ihren darauffolgenden, erstaunten Blick. „Was? Hast du gedacht, ein Mal wäre mir genug?“
Es schmerzte, wie unsicher sie sich bezüglich seiner Zuneigung gab. Es fühlte sich falsch an. Aber das hatte er ja selbst verursacht, nicht wahr? Immerhin hatte er eine prächtige Inszenierung dafür hingelegt.
„Es ist nur…. Vorher warst du so… und jetzt bist du so…. Und ich krieg‘ das irgendwie noch nicht ganz zusammen.“
Hm, das klang ganz danach, als wartete sie nur darauf, wieder weggestoßen zu werden. Ein fieser Stich in der Brust bestrafte ihn für sein Werk und er musste unwillkürlich über die ziepende Stelle reiben. Es wäre so einfach, ihre Zweifel vom Tisch zu fegen und die Wahrheit würde auch ihn auf eine Weise befreien, so erkannte er in diesem Augenblick. Doch die Furcht vor seinem böswilligen Erbe war stärker. Also behielt er erneut für sich, wie sehr er sie liebte und dass sie sein Gegenstück war. Stattdessen suchte er nach anderen Möglichkeiten, Cat Sicherheit zu geben.
„Ich brauchte eben etwas länger für die Einsicht. Aber ich stehe zu meinen Entscheidungen.“ Zumindest meistens, wenn es nicht gerade um Cat ging. So vertrauenswürdig war die Aussage wohl doch nicht.
Aber der Anflug von Erleichterung in Cats Gesicht bewies, dass sie ihm nur zu gern glauben wollte. Auch wenn er sich offensichtlich widersprach. Sie hatte viel für ihn übrig, das stand in ihrer Mimik geschrieben und diese offene Zuneigung machte sie sehr verletzlich. Ein Umstand, der ihm nur allzu bewusst war. Gott, wenn sie sich noch näher kamen, würde sie ihm die Macht zugestehen, sie zerstören zu können, wenn er es wollte.
Und sie war so fragil. Alles, was Dareon im Sinn hatte, war sie zu halten, sie lachen zu sehen. Er betete stumm darum, dass er vielleicht doch der Richtige für diesen Job war. Der Wunsch erfüllte ihn mit Ambitionen, die er nie gekannt hatte. Er wollte Cats Vertrauensvorschusses würdig sein.
„Ich helfe dir gerne bei deiner Gabe, ok?“
„Ok“, flüsterte sie mit einem zarten Lächeln auf den Lippen.
„Dann los.“
Er brauchte einen abgeschiedenen Ort, wo nicht jederzeit jemand herein kommen konnte. Aber in sein Zimmer, oder ein anderes, wollte er auch nicht gehen. Dort gab es ein Bett und genügend gemütliche Stellen, um sich zu mehr hinreißen zu lassen, als zu ein paar Küssen. Und das würde unweigerlich geschehen, wenn er die zu Zügel zu locker ließ.
Schließlich entschied er sich für den unwirtlichsten Ort, der ihm einfiel, auch wenn das ganz schön unromantisch war. Diesen Kompromiss musste er eingehen, wenn er sich auf seine Aufgabe konzentrieren wollte. Dabei war er sich noch nicht mal sicher, ob es überhaupt funktionieren würde.
Mit Cat im Schlepptau ging er über die Wiese zurück zum Haupthaus. Die Sonne brannte ihm an diesem Augusttag sofort auf Nase und Schultern. Die Hitze, die auf seiner Haut entstand, war jedoch nicht halb so glühend wie jene, die Cat in seinem Innern erzeugte.
Auf halbem Weg spürte er, wie sie zaghaft ihre Finger in die Hand schob, die er locker neben seinem Körper herführte. Wieder hüpfte es in seiner Brust und mittlerweile war Dareon zu dem Schluss gekommen, dass es sich um sein Herz handeln musste, das anscheinend fröhlich Samba tanzte.
Ein Lächeln schlich sich in seine Mundwinkel und er griff zu, verschränkte seine Finger mit den ihren. Und es war merkwürdig. Trotz der vielen Jahre in der Legion, als Teil dieser fest verwachsenen Gemeinschaft und trotz all der Freundschaften, die ihn begleiteten, hatte er sich nie so nicht-allein wie jetzt gefühlt. Mit Cat neben sich, erschien die Welt heller und bunter, lauter, geradezu schreiend schön, so warm und einladend.
Er hätte Sorge darüber empfinden sollen, wie sehr ihm plötzlich gefiel, dass er sich nicht an seine Regeln gehalten hatte. Er hätte vor dem Kontrollverlust, der sich abzeichnete, erzittern sollen. Doch stattdessen ging er diesem süßen Tod entgegen, empfing ihn mit weit offenen Armen.
Hand in Hand schlenderten sie durch die große Eingangshalle. Alle Leute, denen sie begegneten, musterten das Zweiergespann aufmerksam. Die meisten waren Jägerkollegen aus anderen Teams oder Frischlinge in der Ausbildung. Bevor er sich unwohl fühlen konnte, obwohl es keine Anzeichen dafür gab, zog er Cat zu den Aufzügen. Als sie eingestiegen waren und die Türen sich schlossen, lehnte sich die kleine Elevenderin an ihn.
„Wo fahren wir hin?“
„Ganz runter“, antwortete er mit erstickter Stimme.
Das war’s. Keine weiteren Fragen. Sie überließ sich völlig seiner Führung und das Herz wurde ihm eng. Ihr Vertrauen ließ ihn erstarren.
Unten angekommen wandte er sich nach rechts und sie folgten einem langen Korridor. Dessen stählerne Wände waren nur schwach durch die Perlschnur von LED-Lämpchen in der Decke beleuchtet. Gerade hell genug, um sich orientieren zu können. Alles auf Blackridge war so gebaut. Effizient, aber energiesparend.
Dareon deutete auf die große, doppelte Schwingtür an der sie vorbei gingen. Durch die Ritzen um das Metall herum drang gleißendes Licht in den düsteren Flur. „Da drin sind die Gewächshäuser.“
„Unter der Erde? Wahnsinn. Wie groß sind sie?“
Dareon hob die Achseln. Er hatte keine Ahnung. Der vordere Abschnitt der unterirdischen Beete musste allein schon ein Fußballfeld messen. Dahinter verdeckten Obstbäume die genaue Sicht auf das andere Ende der gigantischen Halle.
„Ziemlich groß.“
„Warum baut ihr die Nahrungsmittel selbst an? Ich meine, Klammotten kauft ihr ja auch in der Stadt.“
„Nur, weil im Moment keiner auf Blackridge lebt, der weben und schneidern kann. In anderen Stützpunkten der Legion gibt es durchaus Mitglieder, die diese Fähigkeit besitzen. Und wir bauen alles selbst an, weil die Hegedunen seit über einem Jahrhundert dafür sorgen, dass die Menschheit an vollen Tischen verhungert.“
Cat blieb stehen und sah erschrocken zu ihm auf. „Wie…, wie sollten sie das machen?“
„Dazu haben sie viele Methoden.“ Kurz entschlossen zog er sie zurück zur Doppeltür und drückte den Öffnungsknopf. Die Flügel glitten mit einem Zischen zur Seite und sie traten in das strahlende Licht hinein. Es dauerte eine Weile, bis seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, dann hörte er, wie Cat die Luft entwich.
Sie standen auf einem kleinen, gepflasterten Abschnitt, wo einige Gärtner-Gerätschaften feinsäuberlich aneinander gereiht waren. Große Schlauchrollen auf Rädern, Schaufeln und Harken, Schubkarren und einiges mehr. Vor ihren Augen öffnete sich die weite Halle, die er eben beschrieben hatte. An den Decken befanden sich keine LEDs, sondern Strahler mit mehreren tausend Watt Leistung. Man konnte gar nicht genau hinsehen, ohne dass sie einem ein Loch in die Netzhaut brannten. Etwas tiefer hing ein geometrisch angelegtes System von silbernen Rohren, die die kilometerlange Sprinkleranlage versorgten. An der Wand befand sie das digitale Schalttableau, mit dem man alles bedienen und einzelne Bereiche separat beleuchten oder bewässern konnte. Die hochmoderne Lüftungsanlage erzeugte lediglich ein leises Surren, das bewies, dass sie überhaupt existierte. Sehen konnte man sie jedenfalls nicht.
„Komm‘ ich zeige dir was.“
Über die kleinen gepflasterten Wege zwischen den Beeten führte er Cat ein Stück hinein in die Pflanzenpracht. Bis sie ein paar große Sträucher mit großen, saftig grünen Blättern erreichten, die an hölzernen Stützen festgebunden worden waren.
Cat beugte sich vor und berührte eine der knallroten Früchte. „Ist das eine Tomate?“
„Yup. Ganz genau.“
„Sie ist viel roter. Fast wie Blut.“
„Sieht nicht aus, wie das Zeug, das man im Supermarkt kaufen kann, was?“
„Hätte sie kaum wieder erkannt.“ Cat rümpfte die Nase. „Und sie duftet. So etwas habe ich noch nie gesehen oder gerochen.“
„Der Grund dafür sind die Inhaltsstoffe. Wir benutzen hier sehr ursprüngliche Pflanzensamen. Die Hegedunen dagegen haben Anfang des letzten Jahrhunderts eine Firma geschaffen, die den Lebensmittelmarkt zu einer lukrativen Geldquelle machen sollte. Sie begannen, neue Pflanzensorten zu züchten, zuerst mittels Kreuzung, dann mit Hilfe von Gentechnik. Diese Sorten waren resistenter gegen Schädlinge, brachten mehr Nettogewicht an Ernte und damit mehr Ertrag. Zugunsten der Haltbarkeit reduzierte man die verderblichen Inhaltsstoffe in den Agrarerzeugnissen, womit sie aber an Gehalt, an Nährstoffen und Vitaminen verloren. Mittlerweile vertreibt dieser Konzern nur noch Saatgut, das so verändert ist, dass es keine eigenen Samen mehr produziert. Die einzelnen Bauern müssen also immer wieder bei dieser Firma einkaufen. Und bald schon wird die Gentechnik per Gesetzt als Standadmethode in der Agrarproduktion verankert werden, wenn wir es nicht verhindern.“
„Meinst du mit Firma die Cohens?“
Dareon nickte langsam. „Genau genommen Cohen Industries.“
Cat sah sich in dem blühenden und grünenden Paradies um, als sähe sie zum ersten Mal die Bedeutung des Ortes. Die unberührte, unverdorbene Schönheit in Mitten einer Welt voll Lügen. Sie hob bestürzt die Finger an die Lippen.
„Mein Gott, wie ließ sich so etwas nur durchsetzen?“
„Indem die Hegedunen in allen internationalen Gremien und Regierungen, in Chefsesseln und Vorständen systemrelevanter, mutlinationaler Unternehmen sitzen und die Weichen so stellen, dass Gesetze den Cohen-Konzern schützen. Gesetze, die die Bauern zwingen, dieses Saatgut zu kaufen. Und sollten sie sich trotzdem weigern, versucht man erst, sie zu bestechen. Wenn das nicht hilft, kommen die Drohungen. Freunde und Verwandte werden korrumpiert, um sich gegen den Betreffenden zu wenden. Und sollte ihn das nicht brechen, wird er eben beseitigt.“
Die harte Wahrheit schien Cat zu treffen. In ihren Augen schimmerte Feuchtigkeit, als sie ihn anblickte.
„Es muss doch Menschen geben, denen das aufgefallen ist. Ich meine, ich kenne nur die blass roten Tomaten-Exemplare, die man heutzutage kaufen kann. Aber damals, als die Veränderung begonnen hat, muss doch jemand etwas bemerkt haben.“
Dareon lächelte freudlos über die Ungläubigkeit in ihrer Stimme. Er kannte sie nur zu gut, von jenen, die in der Menschenwelt aufgewachsen waren. Aber diesbezüglich konnte er keinen Trost bieten. Dieser existierte schlichtweg nicht. Das war ja die Tragödie, in der die Menschheit steckte. Er setzte sich wieder in Bewegung und bedeutete Cat, ihm zu folgen.
„Kennst du die Geschichte vom Frosch im Kochtopf?“
Sie schüttelte stumm den Kopf, während sie sich aufmerksam umsah und all die reifen, bunten Gemüsesorten bestaunte. Hier und da strich sie im Vorbeigehen über weiche Blätter und zierliche Triebe.
„Wirfst du den Frosch in den Topf, wenn das Wasser bereits kocht, wird er sofort wieder heraus hüpfen. Setzt du ihn aber in das kühle Wasser und erhitzt dieses dann ganz langsam, wird er ahnungslos darin schmoren, ohne zu bemerken, was mit ihm passiert.“
Die kleine Elevenderin neben ihm verzog angewidert das Gesicht. „Das ist eine barbarische Geschichte.“
„Ja“, stimmte er wehmütig zu. „Das ist sie. Jeden einzelnen Tag.“ Nach einer kurzen Pause, in der er Cat beobachtete und einzuschätzen versuchte, wie viel er ihr zumuten konnte, fuhr er fort. Sie schien traurig, aber gefasst.
„Diese Veränderungen der Nahrungsmittel führten nicht nur zu den ökonomischen Vorteilen in Produktion und Vertrieb, sondern auch zu einem subtilen Aushungern der Bevölkerung. Die Menschen haben genug zu essen, aber die Nährstoffe darin reichen nicht annähernd aus. Volle Bäuche, leere Energiespeicher. Und wenn Menschen Vitamine und lebenswichtige Aminosäuren fehlen, werden sie krank. So kann das System noch mehr von ihnen profitieren, indem die Medizinindustrie sie ausbeutet, ohne sie zu heilen, bis sie schließlich jämmerlich sterben. Womit sie den Hegedunen erneut in die Hände spielen. Seitdem die Technik die meisten Aufgaben in der Arbeitswelt übernehmen kann, haben die Hegedunen keine Verwendung mehr für das Heer von Arbeitssklaven. Sie können nicht überall Kriege führen, also benutzen sie solche Methoden, um die Bevölkerungszahl zu reduzieren.“
Cat sah jetzt irgendwie verloren aus, wirkte winzig zwischen den endlos anmutenden Feldern und Beeten. Sie schluckte hart und versuchte anscheinend, diese ihr neue Realität zu verdauen. Dareon musste einfach zu ihr und sie fest halten. Er konnte die Welt nicht ändern, aber er konnte ihr zeigen, dass sie mit dieser Bestürzung, mit der Last dieses Wissens, nicht allein war. Cat lehnte sich an ihn und vergrub das Gesicht in den Falten seines schwarzen ärmellosen Shirts. Ihre Nase bohrte sich in seinen Solarplexus, aber nicht im Traum wäre ihm eingefallen, Abstand zwischen sie beide zu bringen.
„Ich verstehe einfach nicht, wie das möglich sein kann“, stammelte sie nach einer Weile der Stille.
„Naja, es ist, wie ein mächtiger Politiker einmal gesagt hat: Sie beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen sie weiter.“
Cat machte sich von ihm los. Plötzlich formte sich eine tiefe Falte auf ihrer Stirn. Sie wirkte betroffen und… schuldbewusst. „Himmel. Ich habe mich nie für Politik interessiert. Ich bin eine von diesen Menschen, die nie geschrien haben, nie aufgestanden sind, weil sie nichts begriffen haben. Weil ich mich noch nicht mal dafür interessiert habe!“ Während ihrer Rede schritt sie einen Kreis ab und warf aufgebracht die Hände in die Luft.
„Ferroc hat mir schon einiges erzählt, das ziemlich verstörend war. Aber glaubst du, das hätte mich aufgeweckt?“ Als er nichts sagte, antwortete sie selbst. „Nein, natürlich nicht. Ich war zu beschäftigt mit meinem persönlichen Drama und mit d….“ Ihre Hand presste sich reflexartig auf den Mund, aber er hatte schon verstanden. Lächelnd zog er an ihrem Arm, bis sie ihre Lippen wieder freigab.
„Mit mir, wolltest du sagen.“
Betreten sah die Dunkelhaarige auf ihre Schuhspitzen. „Ja.“
„Weißt du, dafür kannst du nichts. Die Hegedunen halten den Einzelnen so beschäftigt mit Arbeit und Konsum, großen und kleinen Problemen auf der Welt, dass er weder die Zeit, noch den Nerv hat, sich politisch zu engagieren. Stattdessen zeigen sie in der Werbung und im Fernsehen die perfekte Welt, voll Schönheit und Reichtum, die sich alle zum Vorbild nehmen sollen, der sie hinterher hecheln sollen. Trotzdem, nur weil wir, die wir aufgewacht sind, uns sorgen und Verantwortung übernehmen, heißt das nicht, dass wir nicht unser eigenes Leben führen dürfen. Und die Vergangenheit kannst du nicht ändern, die Zukunft dagegen schon.“
Jetzt richtete sie ihre wunderbar grünen Augen wieder auf ihn, legte den Kopf schief und betrachtete lange sein Gesicht, bevor sie wieder etwas sagte. „Ich wusste ja, dass du heiß bist, aber ich hätte dich nicht für so weise gehalten.“
„Ha, die Anderen würden dir da sicher widersprechen.“
„Dann sind sie alle blind.“
„Dein Wort in Gottes Ohren“, lachte Dareon und beugte sich zu ihr hinunter, strich sacht über ihre Lippen, verweilte dann dort zu einem ehrfürchtigen Kuss. Der verwandelte seine Gliedmaßen in Wackelpudding und schoss ihm direkt zwischen die Beine. Auch aus Cat schienen die Bitterkeit und die Anspannung zu weichen. Sie seufzte leise und als er sie kurz Luft holen ließ, schmunzelte sie an seinem Mund.
„Hier wolltest du also mit mir üben?“
„Eigentlich nicht. Ich wollte zum Herzen Blackridges, ein Raum voller Generatoren. Möglichst unwirtlich sollte es sein, dann kann ich mich vielleicht beherrschen.“ Sein Blick war so erhitzt, dass er nicht erklären musste, welche Art von Beherrschung er meinte.
Cat packte seinen Kragen und er ließ sich von ihr hinunter ziehen. Ihr Gesicht strahlte voller Vorfreude und in ihren Augen blitzte es gefährlich.
„Und wenn ich das gar nicht will?“
Während Cat Dareon durch die unterirdischen Korridore folgte, fühlte sich ihr Herz immer noch schwer an von der traurigen Erkenntnis. Sicher, sie hatte es gehört und wieder gehört, aber nie hatte es so real gewirkt, wie in dem Moment, als sie diese dunkelrote, saftige Tomate zwischen den Fingern gehalten und beinahe nicht erkannt hätte.
Und sie hatte das Summen von Bienen vernommen, schließlich sogar eine entdeckt. Ein kleines Wunder, gab es diese Spezies schließlich kaum mehr in freier Natur. Unwillkürlich musste sie sich auch fragen, was sonst noch alles gelogen war. Denn die Kontrolle der Lebensmittel und des Geldsystems war bestimmt nicht die einzige böse Machenschaft der Hegedunen.
Sicher hätte sie sich den verstörenden Eindrücken nicht so leicht entziehen können, wäre Dareon nicht an ihrer Seite gewesen.Dass er plötzlich so unbefangen mit ihr war, so… liebevoll, hätte sie fast gesagt, war das Einzige, das sie von dem Drama ablenkte, das sich offensichtlich schon seit Jahrhunderten von den Menschen unbemerkt abspielte.
Ihr Begleiter führte sie trotz ihrer Einwände tiefer in das Labyrinth von Fluren, bis sie endlich vor einer dick wirkenden, stählernen Tür Halt machten. Dareons Pflichtbewusstsein amüsierte Cat ein wenig.
Der Raum, den sie betraten, hatte Betonwände und war nicht gerade klein, auch wenn er nicht die Ausmaße des Gewächshauses besaß. Seine Decken waren viel niedriger, die Luft nicht ganz so frisch. Dennoch, es roch nicht nach Öl oder Gas, wie sie es in einem Zimmer voller Generatoren erwartet hätte. Acht quadratische Maschinen von der Größe einer Bierkiste waren in gleichmäßigen Abständen über den Boden verteilt. Das Kabelwerk und die elektrische Konsole im vorderen Bereich nahmen mehr Platz ein.
„Das sollen Generatoren sein?“
„So ist es.“ Dareon nahm sich die zwei Stühle, die vor dem Tisch mit dem elektrischen Hirn der Anlage standen und stellte sie in der Raummitte auf. „Die KeShe-Foundation hat sie vor über 90 Jahren entwickelt. Auf welchem Prinzip sie basieren, musst du Jordan fragen.Ich verstehe leider gerade mal die Technik, die in einem Auto steckt.“
„Womit werden sie versorgt?“
„Ähm,… mit nichts, soweit ich weiß.“
Cats Augenbrauen hüpften in die Höhe. Das wurde ja immer schöner. Noch eine Errungenschaft, die der Menschheit vorenthalten wurde. Denn diese gewannen ihre Energie nach über zwei Jahrhunderten immer noch aus auf Kohlenstoff basierenden Brennstoffen, von denen die Experten ihnen schon seit 150 Jahren erzählten, dass sie bald zu Neige gehen würden. Womit die Preise natürlich in die Höhe geschnellt waren. Jetzt musste Cat selbst über die bombastische Unverfrorenheit dieser Lüge lächeln. Doch es war ein bitteres Lächeln.
Oh Mann, ihre Welt hatte sich nochmal gedreht und wieder ihr Bild vom Universum zerstört. Wie bei einem Zauberwürfel. Man brachte die eine Reihe in Ordnung, nur um festzustellen, dass man eine Andere wieder verschoben hatte.
Dareon setzte sich und Cat folgte seinem Beispiel. So bezogen sie gegenüberliegende Positionen und ihre Knie stießen beinahe an einander. Cat kam sich vor wie auf dem heißen Stuhl.
„Also, wie es nicht geht, weiß ich“, sagte sie und meinte damit ihre Gabe. Dareons Miene trübte sich für einen Augenblick und Cat bekam das seltsame Gefühl, dass er an das Selbe dachte, wie sie.
„Weißt du von…?“ Martin. Und Peter.
Dareon nickte ruhig. Dann beugte er sich vor, stütze die Ellenbogen auf die Oberschenkel und nahm ihre Hand. „Ziemliche Scheiße, die dir da wiederfahren ist. Es tut mir Leid, dass sich niemandrechtzeitig um dich gekümmert hat.“
Er schaute ihr in die Augen, als wollte er sich entschuldigen. Und obwohl sie nicht richtig begriff, warum sein Blick sie um Verzeihung bat, hätte sie ihm in diesem Moment alles gegeben, wonach es ihn verlangte.
Sie schob ihre Finger zwischen seine und versank in dem klaren Winterhimmel. Sie konnte nicht anders, als seine hübschen Züge anzustarren, an seinem weichen Mund hängen zu bleiben. Sein Aussehen war auf eine kernige Weise attraktiv, aber der Mund, der war… einfach zum dahin Schmelzen. Ihr Puls beschleunigte sich bei dem Gedanken an ihr Vorhaben, schickte kleine, hektische Stoßwellen durch ihren Körper.
Langsam lehnte sie sich vor und hielt die Augen bewusst offen, als sich ihre Lippen trafen. So konnte sie jede Regung in seinem Gesicht lesen. Zuerst lag ihm ein sexy Zwinkern in den Augenwinkeln, dann wurde der Ausdruck ernster, konzentrierter. Als sie den Kuss gerade vertiefen wollte, zog er sich zurück.
„Du musst schon versuchen, deine Gabe unter Kontrolle zu bringen.“ Sie hörte die Heiterkeit in den Worten, die oberflächlich gesehen eine Ermahnung waren. Ein kleiner Gewissenbiss machte sich bemerkbar. Er hatte ja recht, sie war einfach zu versessen darauf, ihn kopflos zu küssen. Wieder und wieder.
Er musste erraten haben, wo sie mit ihren Gedanken war. „Wenn du gar nicht trainieren willst, sollten wir vielleicht doch lieber nach oben gehen.“
„Ist ja gut, Herr Oberlehrer“, fiel sie mit leierndem Tonfall ein. Ihre zuckenden Mundwinkel kündeten jedoch von der fehlenden Ernsthaftigkeit ihrer Ansage. Zur Antwort kniff er sie oberhalb vom Knie. Die Stelle, an der es sich besonders merkwürdig anfühlte, irgendwo zwischen unangenehm und kitzlig.
Nachdem Cat seine Hand tadelnd wegschubst hatte, schüttelte sie die Haare aus und atmete tief durch. Versuchte, sich auf ihre Gabe zu konzentrieren, nicht auf den verführerischen Kerl auf dem Stuhl gegenüber.
Aber wie bewegte man einen Muskel, den man noch nie benutzt hatte, den man noch nicht einmal bewusst wahrnahm?
„Herr Gott, ich habe keine Ahnung, wie das gehen soll.“
„Ok, pass‘ auf. Wir machen jetzt progressive Muskelentspannung. Das ist ein System bei dem der Körper lernt, wie er welchen Körperteil, welche Muskelfaser, gezielt ansteuern kann.Dazu suchst du dir am Anfang irgendeine Bewegung aus, aber du machst sie nur so leicht, dass sie von außen kaum zu sehen ist.“
Cat sah zweifelnd zu ihm auf. „Und das soll helfen?“
„Vertrau' mir“, sagte er.
Das tat sie. Kein Zögern und kein Zaudern. Wobei ihr bewusst wurde, wie weit sie sich schon vorgewagt hatte und wie viel sie Dareon zugestand, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Also spannte sie ganz leicht den Hintern an, bemüht, seinen Anweisungen genau zu folgen.
„Hast du’s gesehen?“
„Nein.“ Er musste sich augenscheinlich ein Grinsen verkneifen. „Das ist gut so. Noch mal.“
„Jetzt?“
„Nein.“
„Und jetzt?“
„Nope.“
„Was ist mit jetzt?“
Dareon hob die Hände, während er leise lachte. „Also ich glaube, du hast das Grundprinzip verstanden. Gehen wir zum nächsten Schritt über. So wie du dir die Muskelpartien vorgestellt hast, die du bewegen wolltest, so stellst du dir jetzt deine Gabe dabei vor. Du musst nicht wissen, wo dieser spezielle Muskel sitzt, um ihn kontrollieren zu können. Das wissen Kinder zu anfangs auch nicht, wenn sie laufen lernen. Sie probieren es einfach aus.“
„Trial and Error? Das ist dein Vorschlag?“ Die Frage kam recht spöttisch über ihre Lippen und sie biss sich sogleich auf die Zunge.
„Durch Visualisieren geleitetes Trial and Error“, verbesserte er sie fröhlich. Ihm war offensichtlich überhaupt nicht bewusst, was er da von ihr verlangte. Ihr schien es immer noch unmöglich. Dareon musste die Skepsis in ihrem Gesicht gelesen haben, denn er legte ihr bekräftigend die Hand auf die Schulter.
„Du hast keine anderen Möglichkeiten. Warum versuchst du es nicht einfach? Stell dir deine Gabe vor und dann, wie du sie abschaltest.“
Leise fluchend gab sie schließlich nach und schloss die Augen. Lustigerweise schoss ihr sofort ein bestimmtes Bild in den Kopf, als sie sich ihre Fähigkeit vorstellte. Kirschrote Lippen, zum Kuss leicht geöffnet. Sie dachte intensiv an diese Imagination, überlegte, wie sie sich anfühlen würde, wie ihre Stimme klingen würde, auch wenn ihr das unsinnig vorkam. Dann versuchte sie, die Gabe zu unterdrücken.
So tief versunken in ihren Gedanken, traf sie der weiche Mund völlig überraschend. Es war eine geschäftsmäßige Berührung, nichts was sie hätte erregen sollen. Aber das tat es doch und Cat erzitterte. Das Bild vor ihrem inneren Augeentfleuchte ihrem mentalen Griff.
„Fast“, kommentierte Dareon anerkennend, aber Cat fauchte nur verdrießlich.
„Du lenkst mich ab.“
„Bitte schön. Probier‘ es noch mal und sag‘ mir, wenn du bereit bist.“
Cat gehorchte und wiederholte die Prozedur. Hinter ihren Lidern, in der Dunkelheit ihres Verstandes, konnte sie das Bild schnell glasklar sehen. Fühlte die Fähigkeit, die sich dahinter verbarg und zwang sich erneut, sie abzuschalten. Beim zweiten Mal war es schon leichter gewesen. Als sie glaubte, sie könne die Vorstellung festhalten, nickte sie vorsichtig.
Obwohl sie sich gewappnet hatte, passierte erneut dasselbe, wie wenige Minuten zuvor. Gut, vielleicht hatte sie das Abbild der roten Lippen eine Millisekunde länger fixieren können. Frustriert ließ Cat den Kopf hängen und sackte auf ihrem Stuhl zurück.
„Das wird nie was.“
„Ich bin mir absolut sicher, dass du das hinkriegst.“
Cat sah verwundert hoch, weil er so überzeugend geklungen hatte. Und so wirkte er auch. Zumindest in diesem Punkt vertraute er auf sie. In sie. Das weckte fröhliche Schmetterlinge in der Magengegend und gab ihr eine Zuversicht, die sie nie für möglich gehalten hätte. Als ob ihr Unterbewusstsein entschieden hätte, dass seine Beurteilung die einzig Richtige und Wichtige war.
Das gab ihr die Kraft, weiter zu machen. Sie versuchten es wieder und wieder, zunächst ohne sichtbaren Erfolg. Erst nach einer Ewigkeit, wie es Cat vorkam, meinte Dareon nach einem Kuss, dass sie es geschafft hatte, die Stärke ihrer Gabe ein Wenig zu verringern. Nichts, was sie in Jubelgeschrei hätte ausbrechen lassen, aber es war ein Anfang.
Beim nächsten Mal bemühte sie sich, alles genauso zu machen wie vorher und plötzlich… gab es etwas nach. Nur zäh ließ es sich verdrängen, aber sie spürte den Moment, in dem sie gewonnen hatte.
Erstaunt riss sie die Augen auf und sah direkt in Dareons, die nicht minder überrascht drein blickten.
„Das war’s. Du hast es.“ Er klang eine Spur ungläubig.
„Wirklich, sie war ganz weg?“ Cat auch.
Auf sein ehrfürchtiges Nicken hin, schoss sie aus ihrem Stuhl in die Höhe und tanzte kichernd im Kreis. Ihr Herz war so erfüllt mit Erleichterung und Freude, es musste der schönste Tag ihres Lebens sein. Zuerst Dareon und dann das. Beinahe zu viel des Guten.
Aber nur beinahe.
Jauchzend sprang sie aufden Schoß dieses einzigartigen Mannes und küsste ihn stürmisch.
„Danke, danke, danke! Ich…“ liebe dich! „… danke dir. Von ganzem Herzen.“
Dareon ließ sich ergeben mit Küssen überhäufen und grinste zufrieden. „Das hast du selbst geschafft. Aber mach‘ nur weiter, das ist die beste Bezahlung aller Zeiten.“
Seine Arme schlossen sich wie ein Käfig um sie, in dem sie sich jedoch nicht eingesperrt fühlte. Eine Hand besitzergreifend um ihren Nacken gelegt, vertiefte er den Kuss. Ein tiefes Summen drang aus seiner Kehle, so wohlig wie das Schnurren eines Katers. Das kannte sie schon aus ihrer ersten Nacht und es rief lebendige, verzehrende Erinnerungen wach.
Beschwingt davon, klammerte sie sich an seine breiten Schultern und wiegte ihren Körper gegen seinen, von der Brust bis zu den Hüften. Dabei spürte sie unter sich die größer werdende Erektion.
„Gütiger Himmel“, stieß Dareon heiser hervor, als Cat seinen Mund freigab und tiefer wanderte. Sie küsste sich die starken Muskelstränge an seinem Hals hinab, knabberte zart an der glatten Haut und ließ ihren Unterleib immer sinnlicher kreisen, bis sie sich langsam an ihm rieb. Völlig losgelöst und sorgenfrei.
Dies fand Dareons Zustimmung. Das erkannte sie daran, wie er beide Hände in ihre Pobacken grub und ihre Bewegungen unterstützte, verstärkte. Wie er den Kopf zur Seite neigte und damit ihrer Zunge mehr Spielraum gab.
Flink schob sie das schwarze dünne Shirt nach oben und fuhr mit den Fingern jede Rille seines Sixpacks nach. Sein Unterbauch zuckte immer stärker, je näher sie dem Bund der Hose kam. Verwegen steuerte sie darauf zu, zog sich wieder zurück. Tat es wieder und nocheinmal, wollte ihm eine süße Folter bereiten. Dann kletterte sie kurz entschlossen von seinem Schoß, um sich zwischen seinen gespreizten Beinen niederzulassen. Cat setzte die leidenschaftliche Tortur mit ihren Lippen fort und sah, wie Dareon sie mit einem lodernden Blick verfolgte.
Erst als er ihren Namen rau durch die zusammengebissenen Zähne presste, küsste sie die Beule, über die sich der dunkle Stoff spannte. Unter ihren Händen wurde Dareons Körper hart wie Granit. Während sie den Knoten in der Kordel der weiten Trainingshose öffnete, hörte sie nur Dareons stoßartige Atemzüge und das Singen des Verlangens in ihren Knochen, das sie unaufhörlich antrieb.
Ungeduldig zerrte sie an dem dunklen Stoff und Dareon hob blitzartig den Hintern. Übermütig kichernd wäre sie fast nach hinten gekippt, hielt sich aber gerade noch an seinen Schenkeln fest. Der Anblick ließ sie jedoch verstummen. Gestern hatte sie ihn auf und in sich gespürt, aber von Nahem war er so wunderschön. Unglaublich erotisch. Cat leckte sich über die Lippen und war verblüfft von dem überwältigen Drang, ihn in den Mund zu nehmen, ihn stöhnen zu hören.
Als sie es tat und die Lippen um ihn schloss, bäumte sich Dareon unter ihr auf und ließ den Kopf in den Nacken fallen. Der Laut aus seiner Kehle hallte von den blanken Wänden wieder.
„Oh, Gooott. Du machst mich waaahnsinnig.“
Cat ließ die Zunge auf und ab gleiten. Die Metallkugel des Piercings rieb an samtiger Haut über einem stahlharten Kern. Und sie bemerkte schnell welche Wirkung das auf Dareon hatte. Während sie ihn mit dieser süßen Qual verführte, zuckte sein Körper immer unkontrollierter, Schauer rieselten über die Haut an seinen Armen. Hände wühlten sich in ihr Haar, ohne Druck auszuüben.
Sie konnte den Blick nicht von ihm lösen. Sein kraftvoller Kriegerkörper bot ein beeindruckendes Bild. Die Sehnen am Halsansatz traten deutlich hervor und die gebändigte Macht, die unter seiner goldenen Haut schlummerte, wurde immer offensichtlicher.
Und sie hielt all das in ihren Händen. Hatte die Kontrolle, während er sich hingab.
Es war ein berauschendes Gefühl.
Vage begriff sie, dass das auch eine Form von Vertrauen war. Und er ehrte sie, indem er ihr dies schenkte.
Cat konnte spüren, wie sich Dareon dem Höhepunkt näherte. Ihre Bewegungen wurden fiebriger und sie genoss es geradezu, ihn auf diese Klippe zuzutreiben. Doch bevor sie den Abgrund erreicht hatten, wurde sie mit einem gezischten Fluch weggestoßen.
Während sie erschrocken nach Luft schnappte, hatte Dareon sie auf die Beine gestellt und umgedreht. Ein Biss in die linke Pobacke brachte sie zu einem leisen Aufschrei. Dann riss er die schwarze Yogapants und den Slip herunter und zog sie rückwärts auf seinen Schoß. Mühelos hob er sie an, damit er eindringen konnte.
Oh Gott. Sie fühlte ihn überall. Seine Hände unter dem Shirt, auf ihrer nackten Haut, auf ihren Brüsten. Seine Bewegungen tief in ihr. Er nahm alle Sinne ein, beherrschte ihr Universum. Plötzlich war Dareon alles was sie wusste, was sie kannte und was sie brauchte.
Erneut spannte sich dieser durchsichtige Faden zwischen ihnen, die Verbindung, die sie schon beim ersten Mal entdeckt hatte. Als existierten sie beide für diese kurzen Momente in perfekter Synchronität. Dieses Mal war sie vorbereitet und versuchte einzelne Details auf Dareons Seite zu ertasten, aber es war schwer, weil sie keine Übung damit hatte und gleichzeitig in den Strudel ihres eigenen Verlangens gezogen wurde. Dennoch erkannte sie das Gefühl, das sie tief in ihm erspähte. Es war warm und weich, so allumfassend und voller Hingabe, dass es nur eins bedeuten konnte. Cat stockte der Atem bei der Erkenntnis.
Er empfand tief für sie, auch wenn er es nicht sagte.
Seine Finger fuhren zwischen ihre Beine und streichelten die verzweifelt pochende Stelle, ließen ihre Begierde feurig auflodern. Heißer Atem im Nacken, Küsse auf feuchter Haut. Und irgendwo am Rande ihres Verstandes fragte sie sich, wieviele Arme Dareon wohl tatsächlich haben musste, wenn er es schaffte, sie an so vielen Orten gleichzeitig zu berühren.
Dann setzte ihr Verstand aus und sie wurde von tosenden Wellen davon getragen. Diese herrliche Erlösung breitete sich von ihrem Schoß aus, eroberte ihren ganzen Körper, bis sie glaubte, er löse sich in Abermillionen kleine Moleküle auf, nur um sich daraufhin wieder neu zusammen zu setzen. Undefinierbare Worte purzelten aus ihrem Mund, sie verstand selbst nicht, was sie murmelte. War völlig verloren, während Dareon ihr durch das Chaos half.
Halb weggetreten, vernahm sie, wie er ächzte, dann hob er sie abrupt von sich herunter. Sie landete weiter vorn auf seinen Schenkeln. Nur eine Sekunde später spürte sie das Zittern jedes Muskels in seinem Körper und die warme Flüssigkeit, die ihren Po benetzte.Eine unbekannte Befriedung darüber ergriff ihr Herz und sie musste unwillkürlich Lächeln.
Der Elevender lehnte seine Stirn zwischen ihre Schulterblätter und sie keuchten eine Weile im selben Takt. Als sich Cats Puls langsam beruhigte, zog Dareon sie wieder an sich, bis sie mit dem Rücken an seinem Oberkörper lehnte, den Kopf in seiner Schulterbeuge. Eine feste Umarmung gab ihr Halt.
„Das mit dem Generator-Raum hätte ich mir sparen können“, sagte er an ihrem Ohr. Sie bekam schon wieder eine Gänsehaut.
„Du hast dir redlich Mühe gegeben.“
Das kommentierte er mit einem tiefen Schmunzeln. „Das hast du also gemerkt?“
„Aber ja.“ Cat griff nach hinten und legte die Hand auf seinen Kiefer. Ein minimaler Bartschatten kratzte unter ihren Fingern. „Trotzdem fragst du das nächste Mal besser, bevor du eine Entscheidung für uns beide triffst.“
Uns beide… das klang einfach… himmlisch.
Und wo sie schon beim Thema waren. „Möchtest du…, ähm also, sollen wir vielleicht Kondome besorgen?“ Es war ihr nicht entgangen, dass er sich jedesmal zurück zog wenn er kam. Zuerst war Cat dankbar dafür gewesen, doch dann war ihr eingefallen, was Xandra erzählt hatte. Elevender bekamen weder herkömmliche Krankheiten, noch war es wahrscheinlich, dass sie Kinder zeugten, wenn sie nicht gerade Gegenstücke waren.
Sie liebte Dareon, aber sie glaubte nicht, dass gerade sie so viel Glück haben sollte, in ihm ihren Seelenpartner gefunden zu haben. Vor allem, wenn man ihren gemeinsamen Anfang betrachtete. Hätte es bei ihnen dann nicht reibungsloser verlaufen müssen?
„Ich kümmere mich darum“, raunte er. „Es ist…. Ich will einfach vorsichtig sein.“ Seine Stimme klang besorgt und Cat beeilte sich, ihm dies auszureden.
„Das ist ok. Wirklich. Mach‘ dir keinen Kopf.“
Darauf folgte eine lange Stille und sie spürte nur, wie seine Daumen sachte über ihre Unterarme strichen, wie sich sein Brustkorb unter ihr hob und senkte.
Unvermittelt fuhr Cat auf.
„Oh mein Gott. Wie spät ist es?“
„Was? Keine Ahnung. Ich schätze drei Uhr. Wieso?“
„Shit“, zischte sie ungehalten und wand sich aus seinem Griff. „Ich muss los, Xandra wartet auf mich.“ Wenn er recht hatte, hatte sie höchstens noch zehn Minuten, bis die Anderen ohne sie aufbrechen würden.
Als sie aufstand, wäre sie beinahe über ihre eigenen Füße gestolpert, denn die Yogahose hatte sich um ihre Knöchel gewickelt.
Dareon verhinderte, dass sie auf der Nase landete und kicherte hinter hier.
„Warte, so kannst du auf keinen Fall gehen.“
Ein Blick über die Schulter, zeigte, wie er sich das Shirt über den Kopf zog und damit erst ihren Po und dann sich selbst säuberte. Kaum war das geschehen, zog Cat die Hosen hoch, lehnte sich nach vorn und gab ihm einen schnellen Kuss.
„Bis später.“
„Ja.“
Sie wollte losstürmen, aber Dareon schnappte sich ihre Hand und zog sie erneut zu sich herunter. Halb lachend, halb quietschend landete sie wieder auf seinen Schenkeln und er küsste sie auf die Weise, die einem das Herz höher schlagen ließ und die sich unvergesslich in den Verstand brannte. Nach einer kleine Ewigkeit, vielleicht waren es auch nur Sekunden, löste er seine Lippen und gab ihr einen kleinen Schubs.
„Na los. Mach‘ schon. Aber beeil‘ dich!“
Nach einem letzten Blick auf den sexy Wickinger sprintete Cat mit einem breiten Grinsen im Gesicht zur Tür hinaus. Im Laufen zog sie ihre Kleidung zurechtund öffnete den Pferdeschwanz, aus dem nicht nur ein Paar Haarsträhnen entkommen waren. Sorgfältig band sie ihn neu und versuchte ihr Inneres zu beruhigen. Wenn sie das nicht schaffte, würde ihr jeder sofort an der Nasenspitze ansehen, was sie eben getrieben hatte.
Wenigstens konnte sie den schnellen Atem und das gerötete Gesicht mit ihrem Sprint erklären, dachte sie, als sie aus dem Aufzug in die Eingangshalle schoss. Dort stand erneut eine vertraute Gruppe von Elevendern.
Über ihnen hing die gespannte Erwartung vor dem Einsatz.
Xandra schaute sich um, als sie gerufen wurde. Cat kam gerade aus dem Aufzug geschlittert und wirkte, als wäre sie im Eiltempo her gerannt.
„Bin ich zu spät?“, fragte sie keuchend, nachdem sie neben Xandra gestoppt und sich auf ihre Knie gestützt hatte.
„Nein, genau pünktlich. Ich bin auch eben erst angekommen.“
Die kleine Elevenderin richtete sich auf und blies sich ein paar Strähnen des Ponys aus den Augen. Da entdeckte Xandra die roten Stellen rund um ihren Mund und im Dekolletee des schwarzen Trainingsshirts. Sie wollte wirklich nicht Lachen, aber es war ein harter Kampf. Ihre Stimme klang erstick, als sie Cat schließlich ansprach.
„Wo kommst du denn her?“
Ihre Freundin wirkte erschrocken und mied ihren Blick. „ Vom Training natürlich.“ Aber Xandra bemerkte, wie die Dunkelhaarige ein fröhliches Lächeln unterdrückte, der Glanz in ihren Augen war nicht zu übersehen.
Xandra beließ es dabei. Himmel, sie wollte das auch! Sie wünschte sich dieses Strahlen in ihrem eigenen Gesicht, dieses leichte Glühen der Haut. Und zwar nicht hervorgerufen durch einen anonymen Fick, sondern durch tiefe, innige Zuneigung. Scheiße, wahrscheinlich hätte sie sogar ihren rechten Arm gegeben, nur um wenigstens einen Hauch von dem zu erleben, was Cat hatte.
„Fertig?“, riss sie Ferroc aus ihren Gedanken.
„Ja. Die Posten sind verteilt und Jordan hat sich in die Videoüberwachung der Mall gehackt. Auf den Monitoren der Sicherheitsfuzzis wird eine Dauerschleife laufen.“
Der Venus-Orden hatte um einen öffentlichen Treffpunkt gebeten und ein Einkaufzentrum mitten in Harper’sQuarter ausgewählt. Daraus konnte Xandra ableiten, dass diese Leute wussten, was sie taten. Schließlich konnte keine von den beiden Parteien in einer Menschenmenge einfach drauf los ballern. Sie würden beide ihre Entdeckung durch die Hegedunen riskieren, wenn die Polizei plötzlich auf der Matte gestanden und an die hundert Augenzeugen vorgefunden hätte.
Der allgemeine Lärmpegel in einem gut besuchten Einkaufszentrum würde einen Lauschangriff abwehren, außerdem konnte man unter einem Haufen Fremder gut eigene Mitarbeiter verstecken. Genau das, was auch Xandra vorhatte. Slater, Quentin, Rome und fünf weitere Jägerkollegen würden sich in der Mall verteilen, während Chris, Cat und Xandra die drei Abgesandten des Venus-Ordnens treffen würden. Eigentlich hätte sie Dareon gerne ebenso dabei gehabt, er gehörte einfach in die eingespielte Maschinerie des Teams. Doch Ferroc hatte sich nicht erweichen lassen, da die Beteiligung des Wickinger-Elevenders nicht zwingend notwendig war.
Sie hatte ein wenig Bauchschmerzen, dass sie nicht mehr über diese möglichen neuen Partner wusste. Normalerweise wäre sie nie derart unvorbereitet zu einem solchen Meeting erschienen. Wieder stellte sie ihre Entscheidung infrage, den Anruf nicht zurückverfolgen zu lassen, den Micham von ihrem Handy aus getätigt hatte. Jedoch glaubte sie zum einen nicht, dass der Anschluss noch funktioniert hätte, zum anderen wollte sie nicht riskieren, die Menschen mit forschen Erkundigungen zu verschrecken. Immerhin war soetwas nicht gerade vertrauenerweckend.
Jetzt war es sowieso zu spät. Es war Zeit aufzubrechen und sie musste mit dem arbeiten, was ihr zur Verfügung stand. Während sie ihren Gedanken nachgehangen hatte, war Cat zu der Traube um Christian gelaufen und Xandra nutzte die Gelegenheit.
„Tu‘ mir einen Gefallen und mach‘ dich nicht verrückt, während wir weg sind.“
Ferroc hob eine der klar geschnittenen schwarzen Brauen. „Wie kommst du denn darauf?“
„Ich weiß ganz genau, dass du hier Furchen in den hübschen Teppich läufst, während wir eine Mission erledigen. Du bist mindestens so angespannt, wie jeder Beteiligte.“ Der riesige Maori wandte den Kopf ab, aber Xandra langte sanft nach seinem Kinn und drehte es zurück. Sie war ziemlich sicher, dass er sich oft eingesperrt fühlte, da er das Anwesen zu Gunsten der Sicherheit aller Bewohner nicht verlassen konnte. Er war ein athletischer Mann und sie hatte schon oft den Eindruck gehabt, dass es sich danach sehnte, ebenso nachts auf Patrouille gehen zu können. Dem Feind direkt gegenüber zu stehen. Obwohl er nie etwas in dieser Richtung angedeutet hatte. Dazu war er zu stolz.
„Mach‘ dir keine Sorgen. Ich erledige das ohne Kollateralschäden. Versprochen.“
Einen langen Moment sah er sie nur an. Seine dunklen Augen waren unergründlich, aber sie vermittelten doch das Vertrauen, das er in sie setzte.
„Dann verspreche ich widerum, dass ich mir Mühe geben werde.“
„Mehr wollte ich nicht.“
Sie drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und ging dann ebenfalls zu Chris und Quentin hinüber. Nach einer letzten Lagebesprechung, an der auch Roman, die anderen sechs Jäger sowie Cat teilnahmen, leutete Xandra zum Aufbruch.
Sie teilten sich auf drei Fahrzeuge auf, wobei ihre Freundin, der blonde Schönling und sie selbst zusammen fuhren. Im Auto ermahnte sie ihre zwei Kollegen, ihr das Reden zu überlassen und wenig später hatte Roman sie auch schon über seinen mentalen Funk verbunden. Man konnte Cat anmerken, dass sie Gefallen an dieser Art der Kommunikation fand.
Xandra parkte den schwarzen SUV vor der großen Mall und wartete auf das Zeichen der anderen beiden Teams, die die Aufgabe hatten, die Umgebung zu sichern und dann ihre Positionen zu beziehen. Cat war weniger angespannt als Chris und sie selbst. Tja, das Mädel wusste auch nicht, was hier auf dem Spiel stand.
Endlich ging das Signal über Funk ein und sie verließen den Wagen, um sich gemächlichen Schrittes auf den Eingang zuzubewegen. Sie trugen alle sommerliche Straßenkleidung, wenn man Cat mal außer Acht ließ und würden in dem Getümmel nicht als andersartig auffallen.
Zusammen schlenderten sie ruhig durch die riesige Drehtür mit mehreren Glasflügeln und sahen sich um. Zur Nachmittagszeit herrschte ein reger Trouble. Menschen jeden Alters eilten an ihnen vorbei oder schlenderten an den bunt leuchtenden Schaufenstern entlang. Jugendliche hatten sich am Rande des Brunnens im Eingangsbereich nieder gelassen und tranken Milchshakes oder zeigten sich gegenseitig etwas auf ihren Smartphones.
Abgemacht war, dass man sich im Erdgeschoss treffen würde, sodass beide Gruppen Beobachter auf den Emporen im ersten Stock postieren konnten. Alle wahrscheinlich mit gezückten Waffen. Eine zerbrechliche Balance, die schon beim kleinsten Fehltritt in eine gefährliche Schieflage geraten konnte.
Xandra blickte nicht nach oben. Stattdessen hielt sie Ausschau nach Micham, dem einzigen Gesicht, das sie kannte. Sie mussten nur etwa bis zur Hälfte der Einkaufsmeile vordringen, als sie ein Dreiergespann von Männern auf einer Rundbank um eine große immergrüne Pflanze entdeckte. Der, der in ihre Richtung blickte, war der Mensch, dem Xandra die Kugeln aus der Milz geholt hatte.
Er sagte etwas zu seinen Begleitern, das sie nicht verstehen konnte, dann erhoben sich auch die anderen Beiden. Xandra bedeutete ihrem Team stehen zu bleiben und sie sah zu, wie die zwei Menschen um die Pflanze herumgingen, bis sie mit Mich eine Reihe bildeten.
Der eine hatte schwarzes, kurz geschorenes Haar und eine lange Narbe vom Mundwinkel bis zum Ohr. Dann war da Micham, der ein freundliches Gesicht hatte und auf den ersten Blick wie ein Streber wirkte. Heute trug er Brille und ein Karohemd. Entweder war es eine hervorragende Tarnung oder er bevorzugte diesen Stil tatsächlich. Der hätte auf jeden Fall zu ihm gepasst.
Jedoch war es der Dritte im Bunde, der Xandras Aufmerksamkeit fesselte. Er musste um die 35 sein und war größer als die anderen Männer. Seine dunkelblaue Jeans und das straff sitzende ‚Guns N‘ Roses‘-Shirt konnten die gut trainierte Statur kaum verbergen. Das Haar –es besaß den Aschton von Straßenköter-Blond - hatte er am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengefasst. Im Deckhaar schimmerten von der Sonne ausgebleichte, hellblonde Strähnen. Genau dieselbenFarben wies der kurz geschnittene Bart auf, der sich um ein aristokratisches Gesicht legte. Die braunen Augen lagen tief und aus ihnen blitzte Intelligenz.
Instinktiv wusste Xandra, dass er der Anführer war. Und dass sie sich vor ihm in Acht nehmen musste. Wahrscheinlich nicht nur auf eine Art.
Aus unerfindlichen Gründen beschleunigte sich ihr Herzschlag, aber sie schob es auf die Aufregung wegen dem bevorstehenden Gespräch. Sie ging weiter, Chris und Cat folgten eine halbe Schrittlänge hinter ihr. Die Gruppe gegenüber tat es ihnen gleich, bis sie einander in der Mitte begegneten. Xandra stand direkt vor dem großen Kerl mit der geheimnisvollen Ausstrahlung und dem athletischen Körperbau.
„Hi, Cat“, kam es von Micham.
„Hi.“ Ihre Freundin reichte ihm ohne zu zögern die Hand, womit sie gefühlt ein Mal durch die Menge aller Anwesenden greifen musste. Obwohl Xandra ihr gerne wie einem unartigen Kind auf den Arm geklopft hätte, schien das das Eis zu brechen.
Micham stellte daraufhin seine Kollegen vor. Er deutete auf den Schwarzhaarigen. „Das ist Trick und…“ Sein Daumen wanderte weiter…
„Syn“, sagte der Anführer selbst und streckte Xandra die Hand entgegen, wobei er sie mit seinem scharfen Blick durchlöcherte. Sie erkannte die Stimme sofort wieder, mit der sie am Abend von Michams Unfall telefoniert hatte. So nah fiel ihr auf, dass seine Augen nicht nur braun waren, nein, zu den Pupillen hin changierte die Farbe ins Grün.
Sie nahm, was ihr angeboten wurde und erwiderte den Druck der langen, starken Finger. „Mein Name ist Xandra.“
„Scheeiiße.“ Dabei unterzog er sie einem kaum verborgenen Kopf-bis-Fuß-Check. „Puppe, dir glaube ich sofort, dass du eine Elevenderin bist.“ Mit dem Kopf nickte er in Richtung Christian. „Dem auch. Ihr könntet glatt aus einem verdammten Ei geschlüpft sein.“
„Der hat einen Namen“, korrigierte Xandra, da sie Chris‘ Zorn neben sich auflodern fühlen konnte. Sie kannte die Anzeichen seines Körpers bei der Jagd genau und wusste, dass er sich bereit machte. Für was auch immer. „Darf ich vorstellen: Christian… Mein Vollstrecker.“ Sie lächelte kühl. Sollte der Kerl sich ruhig den Kopf darüber zerbrechen, wie viel davon ernst gemeint war. Sie bemerkte, dass sich hier ein kleines Mächteringen anbahnte, so herausfordernd wie Syn sie ansah.
Er lachte leise auf, doch es klang nicht heiter. „Christian, der Vollstrecker.“ Er reichte auch ihrem Kollegen die Hand. „Ist mir eine Ehre.“ Aber der Tonfall verdeutlichte, dass es keineswegs eine für ihn war. „Euer Boss schickt uns die Vorzeige-Püppchen.“
„Und eurer die Höflichen?“
Diesmal bewirkte ihr Konter ein echtes Lächeln, das sogar Syns Augenwinkel erreichte. Für einen Moment lang wirkte er ganze zehn Jahre jünger… und verdammt attraktiv. Dann war es wieder verschwunden und der zynische Ausdruck kehrte zurück.
„Ihr seid also keine Hegedunen.“ Es war unmöglich zu sagen, ob er ihnen glaubte. „Eine echte Rarität unter eurem Volk.“
„Bei euch gibt’s auch nicht nur brave Lämmer.“, knurrte Chris und senkte den Kopf, um den Anführer der Menschen unter zusammen gezogenen Augenbrauen anfunkeln zu können.
„Und ihr gehört zum Orden?“ Xandra war sich bewusst, dass jede Antwort darauf eine Lüge sein konnte, dieses ganze Treffen eine geschickt eingefädelte Falle sein konnte.
„Wenn es nicht so wäre, warum sollte ich dann hier stehen und das behaupten? Vor Leuten, die potentiell Hegedunen sein könnten und Kräfte besitzen, die ich nicht kenne?“
„Vielleicht arbeitet ihr ja für die Hegedunen.“
„Vielleicht seid ihr ja welche.“
Ok, so kamen sie hier nicht weiter. Xandra seufzte und verdrehte die Augen.
„Ich hab‘ deinem Kumpel den Arsch gerettet. Das ist nicht gerade Hegedunen-Style. Die hätten ihn einfach verbluten lassen. Eine Arbeitsbiene weniger, wen kratzt das schon.“
Syn fixierte sie hochkonzentriert. „Mag sein. Und das ist der einzige Grund, warum wir heute hier sind.“ Nachdenklich runzelte er die Stirn und verschränkte die Arme. „Wir gehören zum verdammten Orden. Mein Wort muss euch vorerst genügen.“
Xandra nickte. Sie konnte nicht erkennen, ob er ihr etwas vormachte. Seine Art war undurchschaubar. Es half nur der Sprung ins kalte Wasser. Manchmal war es besser, etwas zu wagen und sich hinter her um die Konsequenzen zu kümmern. Dann wusste man wenigstens, woran man war.
„Wir sind Mitglieder der Legion. Diese Organisation versucht die Hegedunen zu stürzen, schon seit Jahrtausenden.“
„Da seid ihr aber nicht besonders erfolgreich gewesen, hm.“
„Wir sind zu wenige. Die Menschen sind es doch, die nicht aufwachen wollen.“
Syn nickte, ohne eine Miene zu verziehen. „Da hast du mit Sicherheit recht.“
Xandra schwankte unmerklich. Sie bekam diesen Kerl nicht zu fassen. Er war eine Mischung aus gekonnt versteckter Aggression und impliziter Provokation, als wollte er sie reizen und aus ihrem Schneckenhaus locken. Gleichzeitig war er aber auch ein Geschäftsmann, der mit Sicherheit jedes Wort genau überdachte. Kühle, gezielte Berechnung entschied, ob er Zuckerbrot oder Peitsche einsetzte.
Auf Syns Einladung hin quetschen sich die Sechs um einen der großen, runden Tische vor einem Burgerladen. Trick bestellte Wasser für alle, das jedoch keiner anrührte, nachdem es endlich serviert worden war. Xandra konnte geradezu spüren, wie der Anführer der Menschen sie genau betrachtete.
„Wenn du weiter so starrst, könnte man meinen, du wärst auf einem Date“, mahnte sie den Kerl höhnisch. Aber der zuckte nur mit den Schultern, ein selbstgefälliges Grinsen umspielte die Winkel seines hübschen, vollen Mundes.
„Das ist es doch auch. Immerhin hoffen wir beide, dass sich aus diesem Treffen etwas entwickelt.“
Womit sie beim Thema angelangt wären.
„Was wollt ihr?“
„Das gleiche, wie ihr. Zusammenarbeit.“ Er langte nach dem Strohhalm in seinem Becher. Das Eis darin klirrte, als er nachdenklich umrührte. „Meine Freunde in Europa sagen, dass ihr möglicher weise glaubwürdig seid. Und ich wiederum glaube meinen Freunden.“ Deswegen war er aber nicht unvorsichtig, wie er eben bewiesen hatte.
„Habt ihr auch dort Stützpunkte?“ Xandra ließ den Blick über die Menschenmenge um sie herum gleiten. Keiner blieb stehen oder schien sie überhaupt wahrzunehmen. Dann sah sie zurück zu Syn, der ihr nicht antwortete. Und das würde er auch nicht, erkannte sie in seinem Gesichtsausdruck.
„Ich dachte, du glaubst uns.“
„Wir haben vielleicht dasselbe Ziel, aber das macht uns noch nicht zu Verbündeten.“
Seine Augen wurden hart. „Vertrauen muss verdient werden, genauso wie Respekt.“
„Du wirst bestimmt verstehen, dass das auch umgekehrt gilt.“
Syn formte ein emotionsloses, beinahe blasiertes Lächeln, das Xandra irgendwie wütend machte. „Ist klar. Deine kleinen, schlüpfrigen Fantasien darfst du für dich behalten, Blondie.“
Wäre sie nicht beinahe 500 Jahre alt gewesen, wäre sie mit absoluter Sicherheit knallrot angelaufen. Einzig ihre hervorragende Ausbildung und die langjährige Erfahrung bewahrten sie davor, ihm an die Gurgel zu springen. Die Heftigkeit ihrer Reaktion überraschte sie, aber sie schaffte es, ihre Züge ungerührt wirken zu lassen, ihre Stimme zu kontrollieren.
„Ich bin überzeugt, die würden dich ohnehin überfordern. Immerhin bist du im Vergleich zu meinen Lebensjahren ein Küken. Ihr kleinen Menschlein seid so zerbrechlich. Glaub‘ mir, ich würde dich zum Frühstück verspeisen.“ Sie ließ die Worte eisig klingen.
Seine Mundwinkel hoben sich noch eine Spur weiter, während die Anderen am Tisch erstarrten, als spürten sie die Spannung, die in der Luft lag. Man hätte sie mit Feindseligkeit verwechseln können, aber das war sie nicht. Und Xandra hoffte, dass sie allein den Unterschied bemerkte.
Sie legte ihre Unterarme gelassen auf den Tisch, beugte sich vor und verschränkte die Hände. „Pass‘ auf. Du hast hier genau zwei Möglichkeiten. Entweder du kommst uns entgegen, oder du verpisst dich und stiehlst uns nicht weiter unsere Zeit.“ Zuckersüß.
Der athletische Kerl rührte ohne mit der Wimper zu zucken weiter in seinem Eiswasser. „Ich habe gehört, ihr wart letztens auf einer Party der McCarteys.“ Seine Augen huschten zu Cat hinüber. „Die haben ein wundervolles Anwesen, nicht wahr?“
Xandra hätte der kleinen Elevenderin nicht zugetraut, dass sie bei diesem direkten Affront ruhig bleiben konnte. Doch sie tat es. Nichts verriet, dass Syn genau ins Schwarze getroffen hatte, obwohl Cat genau dasselbe empfinden musste, wie Xandra und Chris: Schock.
Sie hatten ihren Gesprächspartner offenbar grundlegend unterschätzt.
Nachdem keiner etwas auf den Vorstoß erwiderte, langte der Mensch mit dem hellbraunen Haar hinter seinen Rücken. Christian und auch Xandra waren sofort in Alarmbereitschaft, ihre Hände zuckten zu den unter der Kleidung verborgenen Waffen. Und wahrscheinlich tat das auch der Rest ihres Einsatzteams, das Xandra zwar nicht sehen konnte, das den Tisch aber mit Sicherheit überwachte.‚Wartet auf mein Zeichen‘, teleportierte über den übernatürlichen Funkkanal.
Laut knurrte sie: „Das war sehr unklug.“ Xandra ließ Syn nicht aus den Augen, der sofort ins Stocken geraten war, als er die Reaktion der Elevender bemerkt hatte.
Er hob die andere Hand in die Luft, als wollte er sich ergeben. „Immer mit der Ruhe. Ich habe ein Friedensangebot für euch.“
„Ganz langsam“, flüsterte sie und kniff die Augen zusammen. Sie war bereit, jederzeit über den Tisch zu springen und jemanden K.O. zu schlagen. „Ich will deine Hand sehen. Komm‘ schon.“
Wie befohlen zog Syn seinen Arm im Zeitlupentempo hinter seinem Rücken hervor. Außer der großen Pranke kam da auch eine braune Aktenmappe zum Vorschein. Während er das Ding auf den Tisch legte, entspannte sich Xandra ein wenig und begutachtete erstaunt das Friedensangebot. Sie deutete auf die Umwelt-Pappe.
„Informationen?“
Ein Nicken des geheimnisvollen Mannes bestätigte ihre Frage. Dann griff er erneut betont langsam unter die Holzplatte des Tisches und holte ein Kommunikationsgerät hervor, das wenig später Platz neben der Mappe fand.
„Für euch. Es enthält keinen Peilsender. Ihr könnt das überprüfen. Es ist mit einem abhörsicheren, nicht nachzuverfolgenden Anschluss verbunden.“ Als Xandra danach greifen wollte, landete seine schwere Pranke auf ihrer Hand. Ein kleiner Schreckmoment bevor er sie wieder los ließ und es durchzuckte sie wie ein Blitz. „Nur du wirst den benutzten, bis ich etwas anderes sage. Sonst endet unsere Geschäftsbeziehung in derselben Sekunde.“
„Kannst du haben“, stimmte sie der Bedingung zu und hielt dem befehlenden Blick aus seinen störrischen Augen stand. „Alles, was hier besprochen wurde unterliegt der Geheimhaltung. Und sollte ich einen von euch beim Singen erwischen….“ Sie grinste bösartig und blies sich auf die Fingernägel. „Werde ich wohl doch noch frühstücken müssen. Und das wird kein Spaß für euch.“
„Ist angekommen“, erwiderte Syn abschätzig, während sie die Akte heran zog ohne sich von seinem durchleuchtenden Blick abzuwenden. Dann erhob sich die Delegation des Venus-Ordens. Sie verabschiedeten sich knapp und unpersönlich, wobei der Anführer Xandra immer noch fixierte.
Die anderen wandten sich zum Gehen, doch er beugte sich noch einmal über den Tisch.
„Hart gespielt“, raunte er in ihre Richtung, dann kehrte er ihnen den Rücken zu und spazierte mit den anderen beiden Männern davon.Ihr Team sah dem Dreiergespann nach, bis es die Mall verlassen hatte. Erst dann ließ das merkwürdige Gefühl nach, das der Fremde in Xandras Brust hervorgerufen hatte. Alle drei atmeten sie im Kollektiv auf.
Der blonde Elevender neben ihr schnaubte höhnisch. „Da will aber einer bei den ganz Großen mitmischen.“
„Ich fand ihn gruselig“, kam es von Cat, die sich die Arme rieb, als wäre ihr kalt. „Woher wusste er bloß, dass ich bei den McCarteys war?“
„Ich schätze, die Antwort darauf finden wir hier drin.“ Xandra hatte gerade die Aktenmappe geöffnet und starrte jetzt verblüfft auf Dokumente, in denen die Namen McCartey und auch Cohen nicht nur ein Mal genannt wurden.
„Verdaaammt.“
Als Cat mit ihren beiden Freunden zurück zum SUV kam, wartete dort Slater auf sie. Xandra wirkte überrascht, aber sie sagte nichts, bis sie alle eingestiegen und losgefahren waren.
„Was ist los, Slay? Ist dir irgendwas aufgefallen?“
Slater saß neben Cat auf der Rückbank und sie fühlte sich in seiner Gegenwart alles andere als wohl. Sie konnte nicht sagen warum, aber er wirkte gefährlich und kalt. Und sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass er sie bedrängte, obwohl er das in keinster Weise tat. Im Gegenteil, distanzierter hätte er sich kaum geben können.
„Der Kerl mit der Brille. Hab ihm den Rucksack abgenommen.“ Oh Mann, seine Stimme klang hölzern und leer, war bar jeder Emotion. Als wäre er nur eine fleischliche Hülle. Ohne Inhalt, ohne Seele.
Xandra suchte im Rückspiegel nach Slaters Blick, aber er sah zum Fenster raus. „Er ist also der Einbrecher, dem du zu der Wohnung eines Mitarbeiters der McCarteys gefolgt bist?“
Auf sein schlichtes Nicken hin fiel Chris ein. „Wundert mich nicht, nach Cats Erzählungen.“
Nein, auch Cat überraschte der Gedanke kaum. Sie wusste ja, dass Micham es mit dem Gesetz nicht so genau nahm, was sie ihm aber nicht verübelte. Neuerdings war es bei ihr schließlich genau so.
„Das passt auch dazu, dass sie weitere Dokumente über die Familie besitzen.“ Xandra hatte beschlossen, das Friedensangebot erst auf Blackridge genau unter die Lupe zu nehmen, aber nach Syns Aussagen zu urteilen, hatte es etwas mit den McCarteys zu tun.Cat war der Kerl nicht ganz geheuer gewesen. Die gut verpackten Unhöflichkeiten und das umfassende Wissen machten sie misstrauisch.
Während alle ihren eigenen Gedanken über das zurückliegende Treffen nachhingen, untersuchte Chris das Kommunikationsgerät nach Wanzen oder Ähnlichem, konnte aber nichts dergleichen entdecken.In nachdenklicher Stille kehrten sie auf das Anwesen der Legion zurück und Xandra parkte den Wagen neben dem ausgeschlachteten Oldtimer.
DareonsCamaro, wie sie jetzt wusste. Ob er irgendwann mit ihr zusammen daran arbeiten würde? Ob er jemals über diese andere Frau hinweg kommen und sich auf eine Beziehung einlassen würde?
Sie stoppte sich in diesem Gedankengang. Schon zu Beginn hatte sie beschlossen, nicht mit einer Toten konkurrieren zu wollen. So etwas konnte nicht gut gehen, egal wie sie es drehte und wendete. Trotzdem war da ein kleiner Stich, passend zu der Eifersucht, die sie nicht einmal vor sich selbst zugeben wollte. Es hatte keinen Sinn, sich mit diesen Sorgen auseinander zu setzen. Die würden sie ja doch nirgends hin führen.
Das Klacken der Autotüren holte sie aus ihrem Tagtraum und sie riss sich vom Anblick des hübschen, alten Fahrzeugs los. Die anderen beiden Teams fuhren hinter ihnen in die Garage und nachdem alle ausgestiegen waren, klopfte man sich hier und dort auf die Schultern, Hände wurden geschüttelt, dann löste sich die Gruppe auf. Es musste Abendessenszeit sein, denn auf dem Weg ins Haupthaus wehte ihnen der Duft von gedünsteten Zwiebeln und verschiedenen Kräutern entgegen. Cats Magen knurrte laut. Offensichtlich konnte der doch nicht nur von Luft und Liebe leben.
„Du kannst ruhig essen gehen.“ Die blonde Elevenderin deutete auf die Flügeltür zum Speisesaal, dann hielt sie die Aktenmappe hoch. „Wir kommen damit klar.“
Cat überdachte das Angebot und entschied sich am Ende wehmütig dagegen. „Danke. Ich will dabei sein, wenn ihr das lest. D hat mir mehr über die Cohens erzählt und ich möchte helfen, sie zu Fall zu bringen.“ Sie wollte so viel tun. Aufrecht gehen, anstatt feige den Kopf einzuziehen. Hin- anstatt wegsehen. Sie hatte sich viel zu lange nur mit sich selbst beschäftigt. Nun fühlte sie es. Sie hatte ihren Kram endlich halbwegs auf die Reihe gebracht und es war Zeit, Verantwortung zu übernehmen, so wie es die anderen Elevender auf Blackridge taten. Cat hatte sich nie für eine Idealistin gehalten, doch seit Kurzem war dieser Charakterzug in ihr aufgetaucht und jetzt ließ er sich nicht mehr ignorieren. Denn wenn man einmal aufgewacht war, konnte man nicht mehr zurück.
Xandra lächelte erfreut. „Gerne. Ein paar Augen mehr können sicher nicht schaden. Kommt, wir gehen direkt zu Jordan.“
Sie führte die kleine Gruppe, bestehend aus Chris, Roman und Cat hinunter ins zweite Untergeschoss. Dort waren die Flure genauso spärlich beleuchtet, wie die ein paar Stockwerke tiefer. Ihre Sohlen klackerten auf dem metallenen Boden, die Mauern waren schmucklos. Ein deutlicher Kontrast zu der majestätischen Ausstattung des Wohnbereichs. Wahrscheinlich war das gesamte Untergeschoss für Arbeiten jeglicher Art reserviert.
Schließlich blieb Xandra vor einer Tür stehen, durch die ohrenbetäubender Punkrock drang. Die Elevenderin öffnete und sie betraten einen Raum, der bestenfalls den Charme einer Junggesellenbude besaß. Gut, es gab kein Bett und keine Wäschehaufen.Doch es roch merkwürdig und jedes der gefühlten hundert Regale an drei der vier Wände war mit kleinen Maschinen und elektronischem Krimskrams vollgestopft. Die vierte Mauer war durch eine Glasscheibe ersetzt worden. Dahinter erkannte man eine ganze Reihe mannshoher, elektronischer Kästen, wahrscheinlich waren es Server.
Auf jeder verfügbaren Fläche des Zimmers lagen kleine Haufen von Metallteilen, Platinen und Messingdrähten. Sogar der Boden war damit bedeckt, einzig eine kleine Spur blanken Teppichs führte zu einem bananenförmigen Schreibtisch, ebenfalls kramfrei, über dem fünf holographische Monitore in der Luft schimmerten. Zwei unten, drei oben, beschrieben sie einen Halbkreis über dem blankpolierten Holz. Das Zentrum des futuristischen Terminals bildete ein großer, lederner Drehstuhl, der ihnen die Kehrseite der breiten Rückenlehne zuwandte. Cat staunte nicht schlecht. Sie hatte im Fernsehen von dieser Technik gehört, sie jedoch noch nie mit eigenen Augen gesehen.
„Hi Jordan. Wir haben hier ein kleines Friedensangebot vom Orden“, brüllte Xandra gegen den Lärm an und ging auf den Arbeitsplatz zu. Da drehte sich der Sessel und offenbarte diesen Technikfreak, von dem Cat schon so viel gehört hatte.
Doch, man höre und staune, es war eine Frau, die im Schneidersitz in dem weichen Leder saß.
Sie war wahrscheinlich ungefähr so groß wie Xandra und trug eine weite Stoffhose von schillerndem Orange, dazu ein olivgrünes weites Seidentop. Der Look wirkte ein bisschen fernöstlich und sehr bequem. Das vermittelten auch ihre Füße, denn sie trug keine Schuhe.
Hunderte, lange Rastazöpfe hingen über ihre Schultern und reichten fast bis zum Bauchnabel. Das Flechtwerk war rabenschwarz und ließ den Teint des schmalen, spitznasigen Gesichts noch heller wirken. Schräg gestellte, mandelförmige Augen sahen ihnen neugierig entgegen.
Die Musik erstarb.
„Dann lass‘ mal sehen“, sagte die Frau mit rauchiger Stimme. Daraufhin grüßte sie die beiden Kerleund als sie Cat entdeckte, musterte sie sie einmal von oben bis unten. „Na, hallöchen. Wen haben wir denn da? Hab ich dein Gesicht nicht schon in einer unserer Akten gesehen? Cat, stimmt’s?“
Sie nickte, war erstaunt und dann auch wieder nicht. Den Erzählungen der Anderen nach zu urteilen, wusste Jordan nahezu alles. Die schwierigsten Aufträge schienen bei ihr zu landen und wenn sie sie nicht lösen konnte, dann konnte es wohl keiner.
Jordan ließ sich die Papiere reichen und breitete sie auf dem Tisch aus. Roman, Chris und Xandra traten hinter sie, also folgte Cat. Das Computergenie ließ die Knöchel knacken, dann nahm sie sich eine selbst gedrehte Zigarette aus einer kleinen Metallbox und zündete sie an. Ein würziger Geruch erfüllte die Luft und bewies, dass die Selbstgedrehte offenbar nicht nur Tabak enthielt. Als Jordan bemerkte, wie Cat sie anstarrte, hielt sie ihr den Joint hin.
„Auch mal ziehen?“
Cat schüttelte stumm den Kopf, während sie sich wunderte, dass keiner der Anwesenden sich an dem Geruch störte. Sie verzogen noch nicht mal eine Miene, so als wäre das an der Tagesordnung. Wie zur Bestätigung griff Chris nach der Kippe und genehmigte sich ebenfalls einen tiefen Zug.
Unwillkürlich musste Cat lächeln. Das mit der Freiheit stimmte offensichtlich. Auf Blackridge konnte jeder tun und lassen, was er wollte, solange es andere nicht störte. Mit dieser Regel würde sie gut zu recht kommen.
Verwundert bemerkte sie, dass sie gerade anfing, ihren weiteren Aufenthalt zu planen, genauso wie vorhin, als sie sich entschieden hatte, an den weiteren Ermittlungen teilzunehmen. Zu früh, mahnte sie sich und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das halbe Dutzend Schriftstücke.Doch der Gedanke wollte sie nicht so ganz loslassen.
Sie hatte kaum ein Blatt begutachtet, es sah aus wie ein Kontoauszug, öffnete sich die Türe erneut und Ferroc kam herein. Auf dem Fuße folgte ihm Dareon und Cat musste automatisch breit grinsen, als sich ihre Blicke trafen. Er lächelte kurz, dann sah er sie mit einem Gesichtsausdruck an, der verhieß, dass sie ein Hühnchen zu rupfen hatten. Worum genau es sich handelte, wollte Cat jedoch nicht im Beisein ihrer Freunde herausfinden.
Ferroc wedelte mit der Hand in der Luft herum. „Puh, ich vergaß, wie es hier meistens riecht.“
„Mach‘ dich locker, Brummbär“, lachte Jordan. „Die Lüftung läuft, du wirst schon nicht ersticken.“
Der große Maori zuckte mit den Schultern, dann suchten sich auch die beiden Männer einen Weg durch das Chaos zum Tisch. Jetzt bildeten sie einen großen Kreis um das ovale Ungetüm.
„Also, was haben wir?“
„Moment, D ist nicht beteiligt. Du hast ihn suspendiert“, kam es da von Roman. Was wohl so viel heißen sollte wie ‚Schmeiß ihn gefälligst raus‘.
Cat betrachtete Dareon überrascht. Das Unangenehme an der Situation war nicht, dass es ihm peinlich zu sein schien, sondern dass ihr dadurch klar wurde, wie wenig sie von ihm wusste. Vom Körperlichen mal abgesehen, war er ein Buch mit sieben Siegeln und sie kannte weder seine Gegenwart noch seine Vergangenheit. Aber eins wusste sie ganz genau: Ihre Entscheidung war gefallen.
Bevor irgendjemand etwas zu Romans Kommentar beitragen konnte, stellte sich Cat neben den großen hübschen Elevender, der ihr so viel bedeutete und legte den Arm um seine Taille. „Wenn ihr nicht wollt, dass er etwas über die Geschichte erfährt, müsst ihr mich auch rausschmeißen.“ Dareon neben ihr erstarrte zu Stein.
Eine mit Erstaunen angereicherte Stille erfüllte den Raum und die Augen aller Anwesenden waren auf sie gerichtet. Cat musste vor Unbehagen schlucken, aber sie straffte die Schultern und sah alle nach einander herausfordernd an.
Schließlich lachte Ferroc herzlich mit seinem brummenden Bariton. „Ha, jetzt bist du ein echtes Mitglied der Legion. Die können ihre Klappe nie halten.“
Auch die Anderen stimmten in das Gelächter mit ein, was eine reinigende Wirkung auf die Stimmung hatte. Erst jetzt blickte Cat zu Dareon auf. Sein Arm hatte sich ebenfalls um sie gelegt, während sie sich vor ihn gestellt hatte. Nun drückte er sie an sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sein Gesichtsausdruck war nicht vollends zu deuten, doch er rangierte wohl irgendwo zwischen Stolz, Ungläubigkeit und Widerwillen. Hätte sie sich ja denken können, dass er diesen Move nicht ganz so amüsant finden würde.
„Also“, meinte Ferroc. „Weiter im Text.“
„Das Treffen verlief ganz gut.“ Xandra stütze sich mit einer Hand auf der Tischoberfläche ab, ihre Finger trommelteneinen nervösen Rhythmus. „Ich glaube, es waren tatsächlich Ordensmitglieder. Und sie waren voller Überraschungen.“
Ein Schnauben aus Christians Richtung unterbrach die souveräne Elevender-Ärztin. „Böse Überraschungen, meinst du wohl. Der Anführer war ein anzüglicher, selbstgefälliger Arsch und die wussten, dass wir auf der McCartey-Party waren.“
Alle tauschten besorgte Blicke bis Dareon als Erster sprach. „Wie könnten sie das herausgefunden haben?“
„Wir hatten gehofft, dass uns diese Dokumente diesbezüglich weiterhelfen könnten.“ Xandra wies auf das Zettelwerk auf dem Tisch. „Ein kleines Abschiedsgeschenk von unseren neuen Freunden. Außerdem haben sie uns ein Kommunikationsgerät gegeben, mit dem ich sie erreichen kann.“
„Das ist wirklich überraschend“, kam Ferrocs Urteil. „Und was steht in dem Papierkram?“
Jordan hielt das Schriftstück in die Höhe, das Cat sich angesehen hatte. „Das hier ist ein Kontoauszug der McCarteys.Hier sind mehrere anonyme Überweisungen eingegangen.“ Sie markierte die Zahlen mit einem Leuchtmarker. „Insgesamt über zehn Millionen Dollar.“ Abschließend nahm sie einen weiteren Zug und inhalierte tief. Dichte, kleine Rauchkringel verließen ihren Mund.
Indessen schob Roman vier der Dokumente in die Mitte des Tisches. „Und hier ist eine notariell beglaubigte Überschreibungsurkunde.“ Im unteren Eck des letzten Bogen Papiers war ein großes, amtlich aussehendes Siegel abgedruckt worden.
Ferroc beugte sich über das Schriftstück. „BioVista Technologies“, las er laut vor. „Hm. Das war kurz nach der Hochzeit.“
„Klingt nach typischer Economic-Hitman-Taktik. Zuerst haben die Cohens versucht, die McCarteys zu bestechen, dafür waren die Überweisungen. Greg McCartey hat auf der Party angedeutet, dass sie von den Cohens bedroht wurden. Das war also folglich Schritt zwei der Methode. Man erpresste die Hochzeit und damit Zutritt zum McCartey-Imperium. Dann folgte die Überschreibung von BioVista.“
Jordan fluchte. „Wieso bin ich nicht gleich darauf gekommen. Sie tippte auf die schwarze Tischfläche und ein digitales Tastenfeld leuchtete auf der blanken Fläche. Dann gab sie in rasendem Tempo Kommandos ein und die Monitor-Hologramme über ihren Köpfen flackerten auf. Zwei davon zeigten jetzt je eine lange Liste von Namen.
„Ich vergleiche die Mitarbeiterliste der McCarteys vor und nach der Hochzeit.“ Ein Name wurde rot umrandet. „Aha, eine einzige Veränderung und zwar… der CEO! Wartet, die Unterschrift auf der Überschreibungsurkunde. Das ist derselbe Name.“
„Damit ist wohl alles klar“, grummelte Ferroc. „Sie wollten McCartey-Technologies übernehmen und in der Folge wurde BioVista überschrieben.“
„Und hier kommt wohl das ins Spiel.“ Jordan legte das letzte der sechs Dokumente auf den Haufen der anderen. Es war die Kopie eines Zeitungsartikels. Varmont Times stand zuoberst geschrieben. „Ein Bericht der Lokalpresse über die Schließung von BioVistaTechnologies. Über tausend Menschen haben ihre Arbeit verloren.“
Xandra verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn der Venus-Orden uns das gegeben hat, um unser Vertrauen zu gewinnen und wir mal annehmen, dass sie uns nicht verscheißern wollen, dann deutet alles darauf hin, dass die Cohens die McCartey förmlich geschluckt haben, um diese Firma schließen zu können.“
„Was ist BioVista?“
Jordan hackte Vollgas drauf los und wenig später erschienen neue Inhalte auf den Bildschirmhologrammen über ihnen. „Die entwickeln und produzieren Medizintechnik. Ultraschall-, Röntgen- und MRT-Geräte, solche Sachen.“
„Vielleicht hätte die Firma das Cohen-Imperium bedroht “, schlug Ferroc hoffnungsvoll vor. „Wir brauchen Informationen darüber, was BioVista in den letzten Monaten vor der Schließung getrieben hat.“
„Die sind bestimmt nicht mehr öffentlich. Und in dem, was wir von den McCarteys abzweigen konnten, habe ich nichts über dieses Unternehmen gefunden. Wenn die Cohens die Daten darüber in ihrem Computersystem haben, komme ich da nicht so einfach ran. Das sind hegedunische Server. Ich brauche ein paar Stunden, um die zu knacken.“ Jordan genehmigte sich einen weiteren Zug vom Joint und grinste frech. „Aber keine Sorge, ich werde meinen persönlichen Rekord unterbieten.“
„Ok. Danke dir.“ Ferroc legte ihr eine riesige Hand auf die Schulter.
„Und was machen wir mit dem Orden?“, fragte Xandra.
„Wir wissen immer noch nicht, ob diese Informationen der Wahrheit entsprechen. Kannst du das nachchecken?“ Jordan nickte und begann schon wieder, geschäftig zu tippen, den Kippenstummel zwischen die Lippen geklemmt. „Und wer weiß schon, wie sie an diese Informationen gelangt sind. Und wie sie wussten, dass wir sie brauchen.“
„Du traust ihnen nicht“, schlussfolgerte Xandra aus Ferroc Worten.
„Du etwa?“ Christian fasste die große Elevenderin genau ins Auge, als wollte er sie mit seinem Blick durchbohren. Cat rückte ein wenig näher an Dareon. Irgendetwas lag in der Luft.
„So weit würde ich nicht gehen. Aber ich bin nicht abgeneigt, ihnen eine Chance zu geben.“
„Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein.“ Christian fuchtelte mit den Armen herum. „Die haben uns gerade bewiesen, dass sie Dinge über uns wissen, die wir geheim gehalten haben. Schmiede doch gleich einen Pakt mit dem Teufel.“
Ferroc klopfte ein einziges Mal leise auf den Tisch und die rege Diskussion erstarb, als hätte dieses Zeichen ihr einfach den Ton abgestellt. „Wie allgemein bekannt, paktieren wir nur mit dem Teufel, wenn er erklären kann, woher er diese Informationen über uns hat. Die Gründe könnten ganz simpel sein.“
„Benutz‘ doch das Kommunikationsgerät und frag‘ nach“, warf Cat arglos in die Runde, aber Christian schüttelte nur verdrossen den Kopf.
„Ja, lasst uns Onkel Syn anrufen. Der wird uns bestimmt die Wahrheit sagen.“
Xandra hob den Kopf und riss die Augen auf. Anscheinend war ihr etwas eingefallen. „Ich kenne da jemanden, der uns bei der Geschichte helfen kann. Er ist ein Kollege meines Vaters und seine Gabe entlarvt Lügen sofort. Vielleicht kann er für ein Treffen herkommen.“
„Klingt gut“, stimmte Roman zu und auch die Anderen nickten den Vorschlag ab.
Ferroc schaute sich im Kreis der Elevender um. „Gibt es sonst noch Fragen, die geklärt werden müssen?“ Als dies keiner bejahte, nickte er zufrieden. „Dann sprechen wir morgen wieder, wenn wir mehr wissen. Kümmert euch um eure Aufgaben und geht dann schlafen. Es war ein langer Tag.“
Cat musste ihm zustimmen. Das Training mit D, das Treffen mit dem Orden und jetzt diese Besprechung. Mal ganz abgesehen davon, dass sie Tags zuvor überfallen worden war. Ihre Gedanken rasten. Das alles war neu und aufregend. Doch es schlauchte auch, weswegen sie allen eine gute Nacht wünschte und dann Dareon und Roman in den Flur folgte. Auf dem Weg zum Aufzug fiel ihrem müden Hirn ein, dass Roman über ihren verstorbenen Kumpel recherchiert hatte, bevor sie zu dem Meeting mit dem Orden aufgebrochen waren.
„Was hat eigentlich die Kamerasuche über Jayce ergeben?“ fragte sie den Puerto Ricaner, als sie einstiegen und dann nach oben fuhren. Mit Dareon an ihrer Seite war es irgendwie leichter, darüber zu reden. Der gebräunte Kerl rieb sich den Nacken.
„Ich konnte ihn zwei Tage lang verfolgen, mehr habe ich noch nicht geschafft. Er hat in einem stillgelegten Bahnhof geschlafen und bei ein paar Läden Nahrungsmittel geklaut. Bisher für ein Straßenkind nichts Auffälliges. Wenn ich was finde, sage ich dir Bescheid.“
„Danke.“ Sie streckte ihm eine Hand hin, die sofort ergriffen wurde.
„Keine Ursache. Ist doch selbstverständlich. Du gehörst jetzt zu uns, das ist dir doch klar?“
Cat sah zu Dareon hoch und lächelte breit. „Schon ok. Ich kann damit leben.“
Kaum hatten sich die Türen hinter Roman geschlossen, hob er Cat hoch und presste sie gegen eine Wand des Fahlstuhls. Ein verzweifelter Kuss besänftigte den wilden Beschützerinstinkt. Der hatte sich geregt, als Dareon begriffen hatte, dass Cat mit Xandra auf einer Mission gewesen war. Ohne seinen Schutz.
Dieser Urtrieb wollte ihm einbläuen, dass Cat nirgends sicherer war, als bei ihm, auch wenn er eigentlich wusste, dass das Bullshit war. Um ehrlich zu sein, waren einige seiner Freunde wesentlich geeigneter für diese Aufgabe.
Das war die eine Seite. Zum anderen gefiel es ihm überhaupt nicht, so wenige Informationen über Cats Tätigkeiten zu bekommen. Gut, hätte er gewusst, was sie vorgehabt hatte, hätte er sich wahrscheinlich irgendwie zum Narren gemacht. Vielleicht wäre er wie eine Dampfwalze in das Treffen geplatzt. Oder er hätte sie von Vornherein auf Blackridge festgekettet. Cat hätte bestimmt keine von beiden Varianten gefallen.
Trotzdem konnte er sich das hier nicht verkneifen. Der Kuss war leidenschaftlich, kam einer Brandmarkung gleich, in deren Feuer sie beide verglühen würden. Bevor er das geschehen lassen konnte, musste er jedoch etwas loswerden, das ihn sonst wahnsinnig machen würde. Mit all seiner Willenskraft löste er sich von diesen verführerischen Lippen, die so viel mehr konnten, als küssen. Irgendwie fand er es nicht gerade schlecht, dass diese jeden außer ihn töten würden, sollte der- oder diejenige Cat zu nahe kommen.
Dareon nahm das zarte Gesicht in beide Hände und sah ihr in die Augen. „Du kannst dich doch nicht einfach in Gefahr begeben, ohne es mir zu sagen.“
„Da war keine Gefahr.“ Sie schien sich zumindest keiner bewusst zu sein. „Es war doch nur ein Treffen mitten in einem Einkaufszentrum. Xandra hätte mich nicht mitgenommen, wenn ich tatsächlich gefährdet gewesen wäre.“
„Sie hat darauf vertraut, dich schützen zu können. Das ist alles. Gefährlich war es trotzdem und das hat sie gewusst. Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen.“
„Ich auch“, hauchte Cat und strich mit den Fingern über seine Wange.
„Versprich‘ mir, dass du mir in Zukunft sagst, wenn du mit Xandra einen Einsatz machst.“
„Und was wirst du dann tun?“
„Vielleicht das hier“, knurrte er und küsste sie wieder.
Das taten sie immer noch, als sich die Aufzugtüren in ihrem Stockwerk öffneten. Er stolperte mit Cat auf dem Arm in Richtung seines Zimmers. Da seine Lippen aber mit den ihren verschmolzen waren, belief sich seine Aufmerksamkeitsspanne für die Außenwelt auf ein Minimum. Sie rumpelten gegen Türen und Flurwände, bis sie endlich in Dareons Zimmer stürzten.Gott sei Dank hatte er mittlerweile Kondome angeschafft. Sie warteten in seiner Hosentasche auf ihren Einsatz.
Er nahm Cat noch auf dem Boden vor der Tür, voll bekleidet. Nicht gerade die sanfte Art, aber er konnte sich nicht stoppen.Außerdem machte sie nicht den Eindruck, als würde sie sich daran stören. Sie keuchte und stöhnte, klammerte sich an ihm fest. Und, Mann, wie er es liebte, wenn sich ihre Fingernägel in seine Haut gruben. Die kleinen Halbmonde waren Spuren, die ihn mit einem merkwürdigen Stolz erfüllten.
Nach dem ersten Mal verlegte er den Standort in weichere Gefilde und trug Cat zum Bett, wo er sie dann genüsslich auszog. Was unweigerlich zu einer äußerst befriedigenden zweiten Runde führte.Anschließend lagen sie erschöpft zwischen den Kissen und Decken, zumindest denen, die sie nicht von der Matratze befördert hatten. Cat hatteden Kopf auf seine Schulter gebettet und sein Arm lag locker über ihrer Hüfte. Ihre Finger strichen selbstvergessen durch die blonden, kurzen Löckchen auf seiner Brust.
„Das willst du also mit mir machen, wenn ich noch mal mit auf eine Mission gehen will?“ Sie schmunzelte. „Daran könnte ich mich gewöhnen, auch wenn es etwas patriarchalisch ist.“
„Ich mich auch. Und das hier ist kein Patriarchat.“
„Sondern?“
Na, Liebe. „Betrachte es als eine zweite Option, deine Zeit totzuschlagen.“
„Weißt du, mir fällt es sehr schwer, Nein zu sagen.“
Dareon grinste in sich hinein und rollte sich auf sie. „Das kommt mir sehr gelegen.“ Sanft strich er ihren Pony zurück und betrachtete ihr Gesicht. „Irgendwann will ich dich mit roten Haaren sehen. Wäre das möglich?“
Cat biss sich auf die Unterlippe und er wollte schon alles zurücknehmen und sich geistig für sein fehlendes Feingefühl in den Hintern treten, da lächelte sie. Ein fester Kniff in den Po ließ ihn zusammen zucken
„Hmmmm. Was kriege ich denn dafür?“
„Was möchtest du denn haben?“ entgegnete er immer noch gut gelaunt, dann fiel ihm ein, dass er eben einen Fehler begangen hatte und seine Stimmung sank augenblicklich gen Gefrierpunkt. Denn es gab Dinge, die er ihr nicht geben konnte. Nicht geben wollte. Im Ergebnis machte es keinen Unterschied.
Sie blickte nach oben, als ob sie scharf nachdachte, dann breitete sich ein scheuer Ausdruck auf ihrem wundervollen Gesicht aus. „Ich möchte mehr über dich wissen. Du hast offensichtlich meine Akte gelesen und kennst den Großteil meiner Vergangenheit. Ich dagegen weiß so gut wie gar nichts über dich. Erzähl‘ mir von dir.“ Der Teil mit der Spionage schien sie nicht mehr zu kratzen, stellte er erstaunt fest.
„Was willst du denn wissen?“ Immerhin konnte er da einiges berichten, ohne die Dinge erwähnen zu müssen, die er lieber für sich behalten wollte.
„Wann und wo wurdest du geboren?“
Dareons Kopf füllte sich mit Erinnerungen an kühle Sommer und noch kältere Winter. Viel Schnee. Beinahe konnte er den eisigen Wind auf der Haut spüren, als die Vergangenheit auf ihn einstürmte. „Das war 1689 im Nordosten von Island. Die Vulkane dort waren zwar aktiv, aber das Klima war im Vergleich mild, man konnte sich dort das ganze Jahr aufhalten, was nicht überall auf der Insel der Fall ist.“
„Oh mein Gott, du bist….“ Cat hielt inne und rechnete nach. „Sage und schreibe 411 Jahre alt.“ Sie riss die Augen auf. „Verdammt. Du Opa.“
Dafür kitzelte er sie ein wenig durch und sein Opfer prustete, als er endlich von ihm abließ. „Du wirst auch so alt werden. Wahrscheinlich älter.“
„Keine Sorge, du bist ein sexy Opa.“
„Danke. Du dagegen bist noch nicht mal ein Teenager, in Elevendermaßstäben.“
„Oh, habt ihr da irgendwelche Regeln? Ist das wie Sex mit Minderjährigen?“
Das brachte ihn zum Lachen. Die Vorstellung war absurd und außerdem bei Gegenstücken völlig überflüssig. „Nein. Bestimmt nicht.“
„Dann erzähl mir von Island. Wie war es da? Wie bist du aufgewachsen?“
Na toll. Dareons absolutes Lieblingsthema. Er hatte nie gern darüber gesprochen, denn die Vergangenheit hätte zu viel über ihn selbst verraten. Er seufzte und rollte sich von Cat herunter, um an die Decke zu starren. „Ist das wirklich wichtig?“
„Nein.“ Die plötzliche Distanz gefiel ihr offensichtlich nicht, denn sie rückte sofort nach. Der kleine Kopf presste sich in seine Schulterbeuge, ihr seidiges Haar kitzelte am Hals.„Aber ich fände es schön, etwas über dich zu wissen.“
Nachdem er sich heute mit genau dem gleichen Thema befasst hatte, konnte er das gut nachvollziehen. Das änderte jedoch nichts an seinem Unbehagen. Bevor er den Mund aufmachte, entschied er, den abartigen Teil einfach weg zu lassen.
„Island ist… eher kühl. Die Landschaft, die Menschen, die Häuser….“ Ein Bild von der Blockhütte, in der er geboren worden war, bildete sich von seinem inneren Auge und er musste verkrampft schlucken. „Aus heutiger Sicht würde man das alles als urig bezeichnen. Damals gab es dort nur wenige Menschen, kleine Siedlungen. Wir lebten am See Mývatn, der sehr fischreich war. Im Sommer war es nicht besonders warm. Durch die Polnähe ging die Sonne ab Mai nicht mehr richtig unter. Die Winter waren lang, dunkel und schneereich.“ Das Eisfischen hatte er mit kaum fünf Jahren gelernt. „Und die Landschaft…“ Die würde ernie vergessen. Sie würde ihm immer ein Gefühl der Heimat vermitteln, auch wenn es keine schöne gewesen war. „…ist von Vulkanismus geprägt. Grüne Täler zwischen dunklem Lavagestein, heiße kleine Seen und Geysire, an manchen Stellen war der Boden ganz warm. Und die Polarlichter… die waren einfach unvergleichlich.“ Jede Nacht hatte er nach oben gestarrt und die grünen Schleier im Himmel bewundert. Damals hatte er noch an den göttlichen Ursprung des Naturspektakels geglaubt, weswegen er die Lichter auch heute stets als mystisch empfand. Und jedes mal wenn er in Cats Augen schaute, erblickte er das Selbe.
„Klingt wunderschön.“
„Das war es.“ Zumindest die Landschaft war es gewesen. Er rollte sich herum, damit er die Polarlichter leuchten sehen konnte. Er fand Trost in Cats Blick, und das Versprechen auf so viel mehr. Gott, wie konnte er ihr nur nahe sein, wenn er sich selbst nicht traute? Und wie lange konnte er ihren unvermeidlichen Fragen noch ausweichen?
Als er sanft begann, durch die seidigen Strähnen zu streichen, wieder und wieder, wollte er mehr sich selbst beruhigen, als sie. Wie das weiche Licht der Nachttischlampen Cats Haut zum Schimmern brachte, der wohlige Geruch, der ihm so bekannt war. Auf all das konzentrierte er sich und es funktionierte tatsächlich. Cat erdete ihn und gab ihm den Halt, den er brauchte, wenn die Vergangenheit drohte seine Seele zu verschlingen, so wie jetzt gerade.
„Das Land wurde von der dänischen Krone regiert. Mein Vater arbeitete als Fischer. Er und meine Mutter waren Gegenstücke und wir lebten in einer kleinen Kolonie von Elevendern. Es waren kaum mehr als zwanzig von ihnen.“
„Wie waren sie? Deine Eltern, meine ich.“ Ihre Frage klang so unschuldig. Und Cat hatte zwar schon einiges in ihrem Leben verkraften müssen, aber sie hatte keine Vorstellung, wonach sie sich da erkundigte. Dareon räusperte sich, doch bevor er antworten konnte, schien ihr etwas einzufallen und sie richtete sich halb auf. „Warte. Wenn sie auch Elevender sind, leben sie dann noch?“
Und diese Frage war schwieriger zu beantworten, als alle anderen zuvor. Es war lange still, bevor er seine Stimme wiederfand, um irgendeine löchrige Wahrheit hervor zu bringen.
„Meine Mutter starb, als ich 16 war. Bei meinem Vater weiß ich es nicht.“
„Habt ihr euch nicht gut verstanden?“
Wenn es nur das gewesen wäre. „Als ich klein war schon. Später dann nicht mehr.“
Cat wirkte besorgt und bohrte nicht weiter nach. Sie schien zu begreifen, dass sie an seiner persönlichen Grenze angelangt waren.
„Meine Eltern haben mich verstoßen, nachdem ich Martin getötet hatte“, sagte sie schließlich leise. Ihre Stimme verriet nicht, wie sehr sie das getroffen haben musste.
Dareon fuhr damit fort, durch ihr Haar zu fahren, vorsichtig über die Kopfhaut zu streichen und diesmal nicht wegen sich selbst. Er kannte das Gefühl des Heimatverlustes. Nach dem Tod seiner Mutter war es ihm genauso ergangen.
„Naja, es war besser so. Sie sind Snobs. Wäre ich bei ihnen geblieben, wäre ich wahrscheinlich genauso geworden.“
„Meinst du?“ War es wirklich unausweichlich, so zu werden wie die Leute, die einen gezeugt und erzogen hatten? Dareon hatte sein ganzes Leben darum gebetet, dass es nichts so war. Und bis er Mylie begegnet war, hatte er es auch geglaubt. Jetzt sah die Geschichte anders aus und er musste Cat unweigerlich zustimmen. Denn genau das war ja sein Dilemma, nicht wahr?
„Wahrscheinlich hast du recht.“
„Wann bist du von zu Hause weg?“
„Mit sechzehn“, sagte er knapp und bemühte sich, nicht an jenen Tag zu denken. Was genauso gut funktionierte, wie wenn man jemanden bat, nicht an einen rosa Elefanten zu denken und damit genau dieses Bild heraufbeschwor. Mit kaltem Herzen versuchte er, die blutigen Erinnerungen zu begraben. Die Eindrücke aus jener Nacht, in der seine Mutter gestorben und er seinen Vater halbtot geschlagen hatte. Damals hatte Dareon angenommen, es ein für alle Mal erledigt zu haben. Eine kapitale Fehleinschätzung, wie sich vor zwölf Jahren herausgestellt hatte.„Ich habe mich dem dänischen Heer angeschlossen, um mit ihrer Flotte von Island wegzukommen.“
Cat zog an dem feinen Laken, bis es Dareon von den Hüften abwärts bedeckte und legte ihm eine Hand an den Kiefer. Eine fürsorgliche Geste, so klein sie auch war. Aber er verstand und lehnte sich in die Berührung. Nur zu gern ersetzte er die Verwüstung in seinem Kopf durch ihre Wärme.
„Hast du je bereut, deine Heimat verlassen zu haben?“
Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Nie. Nur, dass ich die Dinge nicht zu Ende gebracht habe, bevor ich gegangen bin.“
Es entstand eine kurze Pause. Cat war zu schlau, um hier nachzuhaken. Sie wäre ohnehin auf Granit gestoßen. Schließlich ignorierte sie seine kryptische Bemerkung.
„Waren die Elevender auf Island auch bei der Legion?“
„Nein. Im dänischen Heer habe ich Christian getroffen. Er war ein Doppelagent eines norwegischen Stützpunktes der Legion. Norwegen war damals ebenfalls in dänischer Hand.“
„So lange kennt ihr euch schon?“
„Er ist mein Bruder.“ Und das auf so vielen Ebenen mehr, als sein leiblicher es jemals hätte sein können.
„Ich habe mir auch Geschwister gewünscht. Als das mit Martin passiert ist, war ich dann froh, keine zu haben. Was wäre, wenn sie so geworden wären wie ich?“
„Nicht gerade das Schlechteste, wenn du mich fragst.“
Cat lächelte verhalten, aber der traurige Zug um ihre Augen blieb. „Die Menschen zu töten, die man sehr gerne hat, das ist schlecht. Da gibt es keine Diskussion.“
Dieses Gefühl kannte er nur zu gut und als er Cat fest an sich zog, um ihre Trauer und die Schuldgefühle zu lindern, war es, als ob er das Selbe für sich tat. Der Kontakt besänftigte den grimmigen Krieger in ihm und auch den Teil, der Selbsthass empfand, wegen der Taten, die er begangen und denen, die er versäumt hatte.
Ihre Nähe schenkte ihm den Frieden, den er sich selbst verwehrt hatte. Da diese Verschnaufpause von seiner ganz persönlichen Folter von ihr kam, konnte er sie nicht zurückweisen, genauso wenig, wie er es bei Cat selbst konnte. Und wenn er sie wirklich bei sich behalten wollte, würde auf kurz oder lang alles herauskommen, wurde ihm da bewusst. Er konnte es nur aufhalten, indem er sich von ihr fernhielt. Die Frage war nur, würde er es jetzt noch schaffen, sich zu distanzieren? Er zweifelte daran. Bisher hatte es ja auch nicht geklappt.
Doch der umgekehrte Fall schien ihm nicht viel reizvoller. Wenn er sie für sich beanspruchte und sie in alles einweihte, was würde sie dann tun? Würde sie darüber hinweg sehen und bleiben? Leider bezweifelte er auch das. Keine Frau wollte einen schwachen Dreckskerl und genetisch verdorbenen Gewalttätigen an ihrer Seite.
In diesem Zwiespalt gefangen, grub er die Nase in das wunderbar duftende Haar und fühlte ihren stetigen Herzschlag an seiner Brust.
„Jeder Mensch hat ein Schicksal, Cat. Aber das ist es nicht, was bestimmt, wer du bist. Wie du damit umgehst, dagegen schon.“
Und seit langer Zeit hoffte er zum ersten Mal wieder, dass das auch auf ihn zutraf.
Die Sterne leuchteten hell auf dem Stück samtenen Nachthimmels, das Blaise von ihrem Platz aus betrachtete. Sie lag auf einer bequemen Liege auf der Terrasse des Anwesens und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, so viele Sternbilder zu zählen, wie sie entdecken konnte. Da waren der Drache und Kassiopeia, links und rechts von ihr der große und auch der kleine Wagen. Etwas weiter östlich befand sich das Sommergestirn des Herkules.
Manche Punkte strahlten heller als andere und es schien ihr unvorstellbar, dass das Licht dieser geheimnisvollen Himmelskörper Millionen von Kilometern zurücklegte, um auf die Erde zu treffen. Die Strahlen durchquerten die finstre, luftleere Unendlichkeit des Weltalls und trotzdem waren sie hier zu sehen.
Wenn sie doch auch so sein könnte. Dann wäre sie der Morgenstern und Slater die Erde. Er war so weit entfernt, dass scheinbar eine ganze Galaxie zwischen ihnen beiden lag und doch würde Blaise die Kluft überbrücken, gegen alle Widrigkeiten und gegen jegliche Vernunft. Was für ein schöner Traum. Der wahrscheinlich niemals wahr werden würde.
Denn durch Slaters Finsternis konnte kein Licht dringen, das war ihr gestern klar geworden. Es erreichte zwar die oberflächlichen Schichten, vermochte vielleicht sogar, ihm etwas zu entlocken, das er sonst nicht tat, aber dann prallte es einfach ab. Von einer dicken Mauer aus Eis, die er um sein Wesen und sein Herz gelegt hatte.
Und der Grund dafür war Angst. Dies schien die einzige Sprache, die Slater verstand und benutzte, wie er ihr sehr anschaulich vorgeführt hatte. Doch das war ihr erst hinterher aufgegangen. Der Übergriff war nicht sexueller Natur gewesen, zumindest nicht auf seiner Seite. Es war seine Art, seine Angelegenheiten zu regeln, die Kontrolle zu behalten. Und das machte das Erlebnis zu etwas Schmutzigem, von dem sie sicherlich niemals jemandem erzählen würde.
Es war leichtsinnig und dumm gewesen, ihm nachzugehen, ihn auf diese Weise zu bedrängen und zu reizen. Sie bereute es und dennoch saß sie hier und verzehrte sich nach ihm. Und das war die Krönung ihrer Dummheit. Mann, wie oft musste er noch zeigen aus welchem Holz er geschnitzt war, bis ihr dämliches Herz endlich begriff, dass es in seinen Händen über kurz oder lang zerbrechen würde?
Ihr Verstand hatte den Umstand erfasst, aber das widerwillige kleine Ding in ihrer Brust sträubte sich fortwährend gegen die Erkenntnis. Es hielt an dem warmen Gefühl fest, das Slater in ihr weckte, so verrückt es auch war.
Blaise knöpfte die leichte Sommerjacke zu, als könnte das Geist und Herz in Linie bringen. Heute war die erste Nacht, in der das Wetter merklich abgekühlt hatte. Sobald die Sonne untergegangen war, hatte der Wind aufgefrischt. Er rauschte leise durch Gräser und Blumen, die ihre Blütenkelche bereits für die Nacht geschlossen hatten. Die kühle Briese und die Blumensorten, die jetzt noch blühten, waren die ersten Vorboten des Herbstes. Bald schon würden sich die Blätter an den Bäumen verfärben, das dunkler werdende Gras mit buntem Laub bedecken. Dazwischen würde man dann Kastanien und Bucheckern finden können.
Der Herbst war eine schöne Jahreszeit, fand Blaise. Der Reichtum der Natur nach dem Sommer, die Ernten von Korn und Beeren, die herrlichen, schweren Düfte der spätblühenden Kräuter, sie hatte das alles seit ihrer Kindheit geliebt. Doch gleichzeitig war sie jedes Jahr wieder ein wenig traurig. Denn es war eine Zeit des Abschieds, des Niedergangs. Und jetzt musste sie sich wehmütig fragen, ob diesmal mit dem Sommer etwas enden würde, das noch gar nicht richtig begonnen hatte.
Während Blaise ihren Gedanken nachhing, bemerkte sie erst, dass sich jemand neben sie gesetzt hatte, als die Person sich räusperte.
„Wo warst du heute den ganzen Tag? Ich hab‘ dich überall gesucht.“ Xandra hatte immer diesen tadelnden Tonfall drauf, wenn ihr etwas gegen den Strich ging. Wie zum Beispiel, ihre engste Freundin nicht finden zu können. Seit sie beide sich kannten, hatte die große Blondine auf sie Acht gegeben.
„Habe in alten Rezepten gestöbert. Meine Großmutter machte ein wundervolles Ceviche. Das wollte ich mal wieder kochen.“ Nur ein Teil der Wahrheit, immerhin hatte sie während dem Suchen kaum genug Konzentration aufgebracht, um die Überschriften lesen zu können. Der gestrige Vorfall herrschte mit eiserner Hand über ihren Verstand, sodass sie praktisch an nichts anderes denken konnte.
„Und, hast du’s gefunden?“
„Hm? Ach so, nein. Leider nicht.“
Xandra seufzte. „Du wirkst irgendwie daneben. Was ist los?“
Blaise konnte förmlich spüren, dass sie genau unter die Lupe genommen wurde.
„Alles bestens.“ Sie wusste bereits, wie die Jägerin zu dem Thema stand und im Moment hatte sie weder die Kraft noch die Hirnleistung für eine Grundsatzdiskussion.
„Du lügst.“
„Ja.“
„Aber du willst nicht drüber reden.“
„Ja.“
Xandra stieß einen missmutigen Laut aus und ließ sich gegen die Rückenlehne fallen. „Es geht um Slater.“
Blaise sah ihre Freundin nur an und damit war alles klar.
„Süße,….“
„Tu‘ mir einen Gefallen und lass es. Wenigstens heute. Ok?“
Jetzt war Xandra offensichtlich erst recht besorgt. Sie sagte lange nichts, doch das Schweigen war erfüllt mit den Worten, die sie nicht aussprach, von denen Blaise aber dennoch wusste, dass sie sie dachte.
„Scheiße. Du hast dich in ihn verliebt.“
„Nein!“ Ach, zum Teufel, wer sollte ihr das schon abnehmen? Sie hätte sich selbst nicht geglaubt. „Ein Bisschen vielleicht.“
Die große Elevenderin schaute in den Himmel und überschlug die Beine. Während Blaise auf eine Antwort wartete, verstrichen die Minuten und ihr wurde immer unbehaglicher zumute. Xandra hielt mit ihrer Meinung nie hinterm Berg. Normalerweise war sie brachial ehrlich, manchmal auch, wenn es nach Blaises Empfinden nicht angebracht gewesen wäre. Jetzt jedoch enthielt sie sich ihrer Stimme, was irgendwie verstörend wirkte. Die Stille war eine Form von Missbilligung, mit der Blaise nicht umgehen konnte.
„Er ist nicht der Richtige für mich“, sagte sie deshalb schließlich.
„Hm. Wer weiß das schon.“
Blaise horchte überrascht auf. „Wie bitte?“
„Ich habe Christian geküsst.“
„Was? Wann?“
„Vor ein paar Tagen.“
„Und das sagst du mir nicht?“
Xandra fixierte sie wieder mit strafendem Blick. „Du hast mir ja auch nicht erzählt, dass der gute alte Slay bei dir eingezogen ist.“ Sie zuckte abfällig mit den Schultern. „Außerdem war es nicht so wichtig. Es wird keine Konsequenzen haben.“
Blaise dagegen gefiel die Vorstellung. Chris und Xandra passten wie die Faust aufs Auge, Arsch auf Eimer, Pat und Patachon. Und wie sagte man doch so schön: Was sich liebt, das neckt sich.
„Schade.“
„Oh, bitte.“ Ihre Freundin fuhr sich resigniert mit einer Hand durchs Haar. „Bei seinem Frauenverschleiß und seinem Alter? Hast du mal nachgerechnet, was sich da angehäuft hat? Es müssen Tausende gewesen sein. Allein der Gedanke ist so widerlich.“ Sie würgte demonstrativ. „Und Chris hat so was von Glück, dass er sich keine Geschlechtskrankheiten einfangen kann.“
„Ok, er ist vielbefahrenes Gebiet, aber er ist in Ordnung…. Außerdem weiß ich ganz genau, dass du was für ihn übrig hast.“
Xandra schüttelte den Kopf, als wollte sie das alles nicht hören. „Lassen wir das. Du willst nicht über Slater reden und ich nicht über Christian.“
Blaise kicherte, als sie bemerkte, dass sie eben einen Weg entdeckt hatte, von Xandra zu bekommen was sie wollte. Sie musste lediglich ein bestimmtes Thema aufwerfen und schon war jede Diskussion gestorben.
Eine Weile sahen sie nur in den Himmel, den Sternen entgegen. Das Zirpen der Grillen und das leise Rauschen des Windes waren die einzigen Geräusche in der Nacht. Hin und wieder ging über ihnen ein Licht im Haus an oder wurde abgeschaltet, doch niemand verirrte sich zu ihnen hinaus. Es war eine schöne, zweisame Einsamkeit.
Blaise öffnete sich und empfing den Geruchskocktail ihrer Umgebung. So lange hatte sie ihre Gabe nur für einen einzigen Zweck eingesetzt. Außerhalb dessen hatte sie sie gedämpft, weil die Welt sie sonst mit Gerüchen und Eindrücken überschwemmte, bis ihre Sinne dröhnten, die Geruchsnerven so sehr brannten, dass es weh tat. Die Furcht davor hatte sie lange davon abgehalten, beim Benutzen ihrer Gabe aus dem Vollen zu schöpfen. Aber als sie nach Slater gesucht hatte, hatte sie bemerkt, wie sehr ihre Fähigkeiten gereift waren und dass sie sie sehr differenziert und gezielt einsetzen konnte. Nun begann sie, Gefallen daran zu finden. Immer öfter sog sie die Nuancen ihrer Umwelt und damit die Vielfalt des Lebens in sich auf, so wie jetzt. Und konnte es genießen.
Irgendwann begann Blaise an den Beinen zu frieren. „Ich glaube, ich gehe ins Bett.“
„Ja, ok. Ich begleite dich noch ein Stück.“
Sie erhoben sich und schlenderten zur Terrassentür. Blaise wollte schon fragen, ob ihre Freundin noch etwas vorhatte, da fiel ihr der Nachmittagstermin ein. Den hatte sie in ihrer Grübelei total vergessen. Ärgerlich schickte sie Slater einen kleinen Fluch. Nichts Schlimmes. Aber er pfuschte in all ihren Beziehungen rum, indem er sie komplett vereinnahmte, ohne irgendetwas dafür zu tun und deswegen verdiente er es.
„Wie lief eigentlich das Treffen mit dem Orden?“
Xandra öffnete ihr die Tür. „Seltsam. Diese Leute sind keine kleinen Fische. Außerdem haben sie brisante Informationen. Ich sah mich gezwungen ein Ratsmitglied um Hilfe bitten und dafür musste ich wiederum meinen Vater anrufen.“
„Mist….“ Denn Xandra vermied es, ihren alten Herrn um etwas zu ersuchen. Als würde sie das schwach erscheinen lassen. Außerdem hatte Chronos seine Hände in den meisten Angelegenheiten der Legion und seine Tochter wollte offensichtlich so viel Abstand wie nur eben möglich.
„Ja, Mist.“ Die Blondine schnaubte ärgerlich und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Er und Markus werden uns morgen einen Besuch abstatten.“
„Doppel-Mist!“
„Wem sagst du das…“
Cat erwachte in völliger Dunkelheit. Draußen stürmte es. Die Sterne und der Mond waren von dichten Wolken verdeckt, Regen trommelte an das große Panoramafenster von Dareons Zimmer. Die Lichter im Raum waren aus und von draußen drang auch keines herein, dennoch war Cat sich so sicher, dass sie allein war, als hätte sie es sehen können. Eigentlich brauchte sie noch nicht mal nach dem großen Männerkörper zu tasten. Sie tat es trotzdem, um sich ihres Gefühls zu versichern und bekam prompt die Bestätigung.
Dareons Hälfte des Bettes war leer, die leichte Decke zurück geschlagen und die Matratze längst erkaltet. Sie lauschte, doch es war kein zweiter Atem zu hören und auch aus dem Bad drang keine Klospülung, kein Geklapper, kein Wasserrauschen.
Wie lange er wohl schon weg war?
Vielleicht hatte er nicht schlafen können, überlegte sie und setzte sich auf. Nachdem sie nach ihren Klammotten gefischt und sie auch gefunden hatte, zog sie sich in Windeseile an. Eigentlich war es nicht angebracht, sich Sorgen zu machen. Weder war Dareon ihr eine Rechenschaft darüber schuldig, wann er wohin ging, noch befand er sich in Gefahr. Immerhin bestand er aus über 90 Kilogramm reiner Muskelmasse und sie waren hier auf Blackridge. Mittlerweile der sicherste Ort, den sie kannte.
Dieses Wissens zum Trotz verließ sie ihre vorrübergehende Bleibe und machte sich auf die Suche. Sie verfluchte den Umstand, dass sie keine Handynummer von Dareon besaß. Die abgedunkelten Flure lagen unberührt da. Um diese Uhrzeit war keine Menschenseele mehr unterwegs. Zunächst schlich sie über die Wiese zur Turnhalle, erkannte aber schon von weitem, dass dort kein Licht brannte. Wie erwartet fand sie niemanden in dem riesigen Raum vor.
Das zweite Ziel war die Küche, doch hier war es genau das Selbe. Stille und Dunkelheit. Also hielt sie sich an die letzte Möglichkeit, die ihr noch einfiel und machte sich zur Garage auf. Dort brannte zwar ein kleines Notlicht, aber die Tore waren allesamt geschlossen, niemand bastelte an dem hübschen Oldtimer. Da ihr somit die Ideen ausgingen, setzte sie sich auf die Werkbank an der rückwärtigen Wand und zog ein Päckchen Zigaretten hervor.
Mit einer Kippe zwischen den Lippen fühlte sie sich gleich viel besser und als sie diese angezündet hatte, inhalierte sie tief. Unwillkürlich fragte sie sich, was Dareon wohl darüber dachte, dass sie rauchte. Doch dann fiel ihr ein, dass das irrelevant war. Schließlich war er ja nicht anwesend.
Mitten in der Nacht. Bei Sturm und Regen.
Verdamm!
Sie würde sich hier nicht verrückt machen!
Ein weiterer Zug an der Zigarette, blasser Rauch in der abgekühlten Luft.
Und nein, sie würde auch nicht darüber nachdenken, wo er jetzt war. Oder bei wem...
Wenn das nur so einfach gewesen wäre. Wütend saugte sie an dem Glimmstängel, als helfe ihr das Nikotin beim Atmen. Was natürlich ein Trugschluss war. Schließlich wurde ihr ganz schlecht, ob vom Tabak oder von dem Umstand, dass sie den Mann, den sie liebte, um drei Uhr Morgens nicht auftreiben konnte, konnte sie nicht mit Gewissheit sagen.
Als die Glut nach Rekordzeit beinahe bis zum Filter reichte, zerdrückte Cat den Stummel an ihrer Schuhsohle. Zurück in Dareons Zimmer entsorgte sie das stinkende Ding im Klo, dann setzte sie sich aufs Bett und wartete.
Die Laken rochen noch nach ihm. Wie eine Süchtige brachte sie die Nase über den Stoff und sog den Duft ein. Es gehörte verboten, dass ein Mann so gut riechen durfte. Jetzt fehlte ihr eben dieser Kerl noch mehr, dabei konnte er Maximum drei oder vier Stunden weg sein.
Ihre Gedanken wanderten zu dem Gespräch, das sie vorhin an eben der Stelle geführt hatten, auf der sie jetzt lag. Es hatte sie nicht überrascht, dass er aus einem sehr nördlich gelegenen Winkel der Erde stammte. Es passte einfach zu seinem Aussehen und seiner ganzen Art. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte er wie ein Wickinger auf sie gewirkt, rau und gefährlich, wie aus einer anderen Zeit.
Sie hätte gerne Bilder von der Landschaft gesehen, in der er seine Jugend verbracht hatte. Nach seinen Beschreibungen zu urteilen, musste sie wunderschön, abwechslungsreich und einzigartig sein. Sogar ein Besuch hätte Cat gereizt, war sie schließlich bisher noch nicht mal aus ihrem Bundesstaat heraus gekommen. Doch sie hatte nicht fragen wollen, denn da waren so viele Schatten in Dareons Augen gewesen. Vor allem als er vom Tod seiner Mutter gesprochen hatte.
Auch dass er nicht wusste, wo sich sein Vater heute befand, oder ob er überhaupt noch lebte. Als Dareon davon berichtet hatte, war seine Stimme mit Kälte erfüllt gewesen. Als wäre ihm die Vergangenheit direkt in die Lungen gefahren und hätte ihr aus seinem Mund entgegen geweht.
Da musste ein Zusammenhang bestehen. Eine tote Mutter mit 16, von Island weg mit 16, kein Kontakt zum Vater. Und sie hatte schnell erfasst, dass die Geschichte, die dahinter steckte, nichts für Zartbesaitete war. Und wahrscheinlich auch nichts, das man jemandem schon nach ein paar Wochen Bekanntschaft erzählte. Deswegen hatte sie nicht nach gebohrt, was aber nicht hieß, dass sie es vergessen würde. Irgendwann würde Dareon schon so weit sein, das hoffte sie zumindest.
Ihre bisherige gemeinsame Vergangenheit bewies, dass die Lage noch so beschissen aussehen konnte, mit einem Mal besserte sie sich dann doch wie durch ein Wunder. Und man bekam mehr, als man sich gewünscht hatte. Sie brauchte nur Geduld.
Doch wenn sie ehrlich war, hatte sie auch ein bisschen Angst. Nicht vor Dareons Vergangenheit. Aber davor, was sie aus ihm gemacht hatte. Sie wusste, wie sehr einen gewisse Erlebnisse prägen und verändern konnten. Dass sich manche Bilder so tief in die Seele eingruben, dass sie untrennbar mit ihr verwoben waren, für immer.
Cat würde nie vergessen, wie MartinDevenport sie angestarrt hatte, als das Licht der Lebendigkeit in seinen Augen erloschen war. Dieses leise, verträumte Lächeln auf seinen Lippen. Sogar an die Innschrift auf seinem Grabstein konnte sie sich erinnern. Sie hatte dem Friedhof einen Besuch abgestattet, nachdem sie aus der Sicherheitsverwahrung entlassen worden war. Wahrscheinlich, um sich zu überzeugen, dass das alles tatsächlich passiert war, nachdem man ihr sieben Jahre lang eingetrichtert hatte, dass sie halluziniert hatte. Auf dem dunklen, blankpolierten Granit hatten die eingravierten Lettern wie tiefe Narben gewirkt und die Worte hatten ein Abbild davon in Cats Herz geschnitten.
Auch der Anblick, wie ihre Eltern das Zimmer im Sanatorium und damit auch Cat verlassen hatten, würde sie für immer bei sich tragen. Dies hatte ihr eine Wunde zugefügt, die sie so viele Jahre davon abgehalten hatte, wahrhaftiges Vertrauen zu den Menschen in ihrer Umgebung aufbauen zu können. Die Ablehnung hatte zu tief gesessen.
Und am Ende stand folglich die Frage, was sich tief in Dareon gefressen hatte. Was ihn zu dem Mann gemacht hatte, der er war und den sie erst langsam kennen lernte. Für den sie aber dennoch bereits so viel empfand.
Er hatte keins ihrer Vergehen zum Thema gemacht. Hatte sie sogar getröstet und versucht, ihre Schuldgefühle zu lindern. Ganz schlicht, ohne viel Tam Tam. So still und leise, dass sie die Bedeutung beinahe übersehen hätte. Als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass man zwei Menschen getötet, indem man ihnen die Zunge in den Hals gesteckt hatte.
Einerseits warf das natürlich die Frage auf, was das über Dareon selbst aussagte. Andererseits, und das wog in Cats Ansehen wesentlich schwerer, wusste sie auch, was für ein riesiges Geschenk er ihr damit gemacht hatte. Deswegen hoffte sie von ganzem Herzen, mit seinem Päckchen umgehen zu können. Egal, was es war.
Irgendwann musste Cat während dem Grübeln weggenickt sein, denn das Nächste, an das sie sich erinnerte, waren Sonnenstrahlen, die sie durch die geschlossenen Lider blendeten. Sogleich floss die Erinnerung in ihren Schädel und sie schreckte hoch. Ein schneller Blick neben sieberuhigte den Puls, der unwillkürlich in die Höhe geschnellt war.
Dareon lag da, wo er hingehörte. In seinem Bett. An ihrer Seite.
Voller Erleichterung verwarf sie den sarkastischen Gedanken an implantierbare GPS-Sender und beugte sich über seine Schulter. Er hatte ihr den Rücken zugewandt. Sanft küsste sie sich den Bizeps entlang, dann folgte sie seinem Schlüsselbein bis zum Halsansatz. Ihre Lippen zogen eine heiße Spur auf straffer, goldener Haut. Hinauf bis zum Ohrläppchen, an dem sie zärtlich knabberte. Unter ihren Liebkosungen begann Dareon sich zu rühren. Im Halbschlaf machte er wohlige Laute, drängte sich ihren Lippen entgegen.
Und plötzlich lag Cat unter ihm. Es war so schnell gegangen, dass sie vor Schreck nach Luft schnappen musste. Dazu kam es nicht, denn Dareon blockierte ihren Mund mit einem atemberaubenden Kuss, der sie vergessen ließ, welche Aufgabe Sauerstoff überhaupt hatte. Zur Hölle damit, das Zeug wurde eindeutig überbewertet.
Ungeduldig spreizte der Elevender ihre Schenkel mit den Knien und seine kundigen Finger fanden sogleich ihr Ziel. „Wenn du so weiter machst, werde ich dich nie wieder aus diesem Bett lassen“, flüsterte er atemlos zwischen zwei Küssen, dann wanderten seine Lippen zu den kleinen Hügeln unter ihrem Shirt. Sanft biss er in die mit Stoff verhüllte Brustwarze und entrang Cat damit einen tiefen Seufzer, der wahrscheinlich noch ein paar Zimmer weiter zu vernehmen war.
Bevor er sie ganz um den Finger gewickelt hatte, schob sie entschlossen seine Hände weg. Denn seine Worte hatten sie an seine Abwesenheit an dem Ort erinnert, an den er sie fesseln wollte. Und was sollte sie hier schon allein?
„Warte, D.“ Er hörte nicht. „D, warte!“
Verwirrt hob er den Kopf, ein wenig ärgerlich war sein Gesichtsausdruck auch. „Was ist denn?“
„Ähm,… wo… wo warst du gestern Nacht?“ Und schwupp, schon war er von ihr runter. Wahrscheinlich hätte sie ihn mit einer eiskalten Dusche aus dem Gartenschlauch nicht schneller vertreiben können.
Dareon ließ sich zurück auf sein Kissen fallen und rieb sich verdrossen die Schläfe. „Muss das jetzt sein?“
Cat zuckte bei dem abweisenden Klang seiner Stimme zusammen, doch sie würde sich nicht zurückziehen. Er hatte sie her gebracht, also verdiente sie zumindest den Ansatz einer Erklärung. „Ja, irgendwie schon.“
„Verdammt!“ Jetzt schwang er die langen, kräftigen Beine aus dem Bett und blieb mit dem Rücken zu ihr auf der Kante sitzen. „Ich war draußen, musste den Kopf frei kriegen.“
Sie schluckte trocken. Vor der nächsten Frage hatte sie am meisten Angst. „Allein?“
„Sag‘ mal, soll das hier ein Verhör sein?“ Dabei schoss sein Kopf herum, die hübschen Gesichtszüge von Wut verzerrt, die Augen zu misstrauischen Schlitzen verengt.
„Nein. Ich will nur…“
„Fragen stellen, schon kapiert. Müsst ihr Weiber immer so neugierig sein?“
Empört riss Cat die Augen auf. Das hier entwickelte sich gerade zum Alptraum und gegen ihren Willen stiegen Tränen auf. Doch um nichts in der Welt hätte sie zugelassen, jetzt vor ihm loszuheulen. Verbissen schluckte sie den salzigen Mist hinunter.
„Ich dachte, wir wären….“ Naja, vielleicht so etwas wie ein Paar?
„Ich hab‘ dich in mein Bett geholt, dir mit deiner Gabe geholfen und deine Scheiß-Fragen beantwortet, was willst du denn noch? Muss ich ab jetzt über jeden meiner Schritte Rechenschaft ablegen?“
Der heftige Zorn, der ihr entgegen gebracht wurde, verschlug Cat nun endgültig die Sprache. Ihr Kinn wollte zittern, doch sie rief es mit aller Strenge zur Ordnung.
„Weißt du was?! Ich muss hier raus.“ Dareon sprang auf, schnappte sich im Gehen ein Bündel Kleidung, das er vorher nicht mal anschaute und verließ das Zimmer noch in Boxershorts. Die Tür wurde zugeknallt und Cat konnte nichts weiter tun, als steif zwischen den Federn zu verharren und sich über den erschreckenden Verlauf des Gespräches zu wundern. Nie und nimmer hätte sie damit gerechnet, eine solche Reaktion auszulösen.
„Shit!“, fluchte sie.
Da war sie wohl mal wieder meilenweit übers Ziel hinaus geschossen. Erst die verkappte Liebeserklärung und jetzt das. Sie kapierte offensichtlich nicht, wann Schluss mit lustig war.
Verwirrt und unglücklich sank sie zurück aufs Bett. Was um Himmels Willen war hier gerade geschehen?
Ok, sie war zudringlich gewesen und…, sie war ja bereit es zuzugeben, auch neugierig. Vielleicht auch ein wenig eifersüchtig. Aber sein Aufbrausen war ihrem Vergehen in keinem Fall angemessen. Oder?
So langsam war sie wirklich völlig durcheinander. Was wenn Dareon sich so aufgeregt hatte, weil er tatsächlich etwas getan hatte, das sie verletzten würde, sollte sie davon erfahren. Was wenn nicht, und er reagierte einfach generell so auf Leute, die in seine Komfort-Zone eindrangen. Beides gefiel ihr nicht im Mindesten und bereitete ihr heftige Kopfschmerzen.
Cat hatte keine Ahnung wie sie das wieder gerade biegen konnte und im Augenblick war sie sich noch nicht mal sicher, ob sie das überhaupt wollte. Immerhin fühlte sie sich ebenfalls ein bisschen im Recht. Und ob Recht oder nicht, er hätte sie ja nicht gleich so anzufahren brauchen. Irgendwie hatte er regelrecht um sich geschlagen, wie ein verletztes Tier….
Mist, wahrscheinlich hatte sie eine wunde Stelle getroffen. Na super, besser hätte es ja gar nicht laufen können, huldigte sie der Ironie der ganzen Sache und stieg dann auch aus dem Bett. In miserabler Stimmung stapfte sie ins Bad, vollzog eine Katzenwäsche, bei der das Wasser durch ihre zornigen Bewegungen nur so spritzte. Das Handtuch klatschte sie am Ende zu Boden und ließ es einfach liegen. Wenn sie es sich recht überlegte, hatte sie nicht übel Lust ebenfalls ein paar Türen zu knallen.
Gesagt, getan und es befriedigte sie irgendwie Krach zu produzieren. Doch auf dem Weg ins Erdgeschoss war diese Empfindung schon wieder verflogen. Als sie missmutig im Speisesaal aufschlug, hoffte sie kurz, Dareon vorzufinden. Das war nicht der Fall und eigentlich war sie froh darüber. Sie hätte nicht gewusst, was sie ihm sagen sollte.
Die schweren Gerüche von Speck und Pancakes lenkten Cats Aufmerksamkeit auf das reichhaltige Frühstücksbuffet. Im Gegensatz zu der mampfenden Meute, die sich um die vielen Tische drängte, hatte sie keinen Appetit. Ihr wurde bei der bloßen Vorstellung etwas zu essen, sogar eher übel. Deswegen begnügte sie sich mit einer Tasse heißem Kaffee und sah sich nach einem Sitzplatz um.
In der hinteren Ecke des riesigen Raumes entdeckte sie Chris und Xandra, die sich an einem Tisch gegenüber saßen. Sie waren in eine Diskussion vertieft, die eher nach einem Wortgefecht aussah. Sie hatten sich einander entgegen geneigt und die Hände des blonden Elevenders gestikulierten dramatisch. Ihre Freundin schien nicht minder erregt, sie sprach eindringlich, eine tiefe Falte hatte sich auf ihrer Stirn gebildet. Jetzt klappte sie den Mund zu und drehte den Kopf weg, als wäre das Thema damit für sie beendet, da traf ihr störrischer Blick auf Cat.
Augenblicklich erhellte sich ihre Miene und sie schien fast schon erleichtert, als sie Cat heran winkte. Auch Chris sah auf und grüßte schon von weitem, allerdings vermittelte sein Gesichtsausdruck, dass er das Gespräch gerne unter vier Augen fortgeführt hätte.
Cat hatte keine Lust allein zu sitzen und sich in dem Netz von wirren Gedankengängen zu verstricken, also ignorierte sie die ablehnende Haltung des Schönlings und folgte der Aufforderung ihrer Freundin. Am Tisch angelangt setzte sie sich neben Xandra.
„Und, gibt’s schon was neues über das Friedensangebot?“
Während der hübsche Kerl die Arme vor der Brust verschränkte, kehrte Xandra zu ihrer Souveränität zurück. „Jordan hat den Inhalt der Dokumente bestätigt. Es ist alles wahr. BioVista hat in den Wochen vor der Schließung an der Entwicklung von neuen Elektronenmikroskopen gearbeitet. Das Projekt befand sich in der Testphase, als man alles dichtmachte. Das war leider alles. Der Rest der Daten schien unwiderruflich gelöscht worden zu sein. Deswegen kommen mein Vater und das andere Ratsmitglied heute her.“ Der letzte Teil des Satzes klang, als könnte es kein schlimmeres Übel für sie geben.
„Und das ist… schlecht?“, fragte Cat ein wenig verwirrt.
„Ach, nein.“ Die Blondine legte eine Hand an die Stirn und massierte die Stelle zwischen den Augenbrauen. „Mein Vater. Wenn er herkommt, wird er alles an sich reißen. Er ist ziemlich… dominant und meint, er hätte immer Recht.“ Sie stieß ein sarkastisches Lachen aus. „Ich bin ganz seine Tochter, was?“
„Wenn er auch so fürsorglich und verantwortungsbewusst ist wie du, kann er nicht so schlimm sein.“ Cat erntete ein vorsichtiges Lächeln. Sie griff nach der Hand ihrer Freundin und drückte sanft zu. Christian hatte sie währenddessen beobachtet, sein Augenmerk auf die große Elevenderin fixiert. „Gibt es dann ein zweites Treffen mit dem Orden?“
„Das hoffe ich mal. Aber mein Vater hat sicher noch was Anderes vor, sonst käme er nicht her. Wetten, ich darf mich dann um die Drecksarbeit kümmern?“ Sie rollte theatralisch die Augen und machte eine wegwerfende Geste. „Was soll’s. Das war’s jetzt mit meinem Gejammer. Wie geht’s dir und wo hast du D gelassen?“
Der plötzliche Themenwechsel und der Inhalt der Frage trafen Cat völlig unvorbereitet und sie konnte nicht verhindern, dass ihr blitzartig das Wasser in die Augen stieg. Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle, den selbst ein großer Schluck heißen Kaffees nicht lösen konnte. Sie räusperte sich mehrmals, doch ihre Stimme war immer noch belegt, als sie sprach. „Keine Ahnung. Er ist weg. Ich glaube, ich hab’s vermasselt.“
Christian schnaubte verächtlich. „Süße, so wie ich Dareon kenne, hat er’s vermasselt. Nicht du.“ Er beugte sich vor. „Was ist passiert?“
„Du musst nicht drüber sprechen, wenn du nicht willst“, warf die Elevender-Ärztin ein.
„Ist schon ok. Ich weiß nicht mehr weiter.“ Sie nippte erneut an ihrer Tasse, denn das warme Gebräu wärmte wenigstens von Innen, auch wenn es das eisige Gefühl nicht aus ihren Gliedern verscheuchen konnte. „Als ich mitten in der Nacht aufgewacht bin, war er nicht da. Ich hab‘ das Anwesen nach ihm abgesucht, konnte ihn aber nicht finden. Und als ich ihn heute Morgen gefragt habe, wo er war…. Sagen wir mal, er war nicht besonders erfreut darüber. Dann ist er einfach gegangen.“
Ihre beiden Zuhörer tauschten einen Blick. Xandra hob eine Augenbraue, Chris nickte leicht, dann wandte er sich wieder an Cat.
„Das klingt ganz nach unserem D. Mach‘ dir keine Sorgen, Cat. Nachts abhauen, das hat er früher auch schon gemacht. Es ist nichts Ungewöhnliches bei ihm. Er trifft keine anderen Frauen, glaub‘ mir.“
Sie schämte sich fast ein wenig, dass man ihr offensichtlich mühelos ansehen konnte, was in ihrem Kopf vorging. Und Zweifel an Christians Aussage hatte sie auch. Immerhin kannte sie Dareon erst kurz und sie waren kein Paar. Definitiv nicht, so wie er sich verhalten hatte. Genau genommen hatte sie noch nicht mal das Recht, sich Sorgen zu machen, wo und mit wem er die Nacht verbracht hatte. Dennoch, die Unsicherheit und die Möglichkeit, dass er sich eine Andere genommen hatte, brachten sie fast um. Sie musste Gewissheit haben und wenn Dareon nicht bereit war ihr Auskunft zu geben, dann musste sie die eben woanders einholen.
„Wo geht er dann hin?“
Chris sah sie lange an ohne zu antworten. Schließlich hob er beide Hände kapitulierend in die Luft. „Oh Mann, D wird mir den Arsch aufreißen, wenn er erfährt, dass ich dir das gesteckt habe.“
„Was denn?“, drängte Cat ungeduldig und lehnte sich jetzt ebenfalls über die Tischdecke.
„Also, sicher bin ich mir nicht, aber ich vermute mal stark, dass er zu Mylies Grab geht.“
„Wie bitte? Er besucht seine tote Freundin?“ Nachdem er mit Cat geschlafen hatte. Zwei Mal. Wie reizend.
Chris nickte ernst und Xandra widersprach nicht. „Ich dachte, jetzt, da er dich hat, wäre das vorbei.“
Tja, Pustekuchen. „Ok. Aber das erklärt noch nicht wieso er gleich ausgeflippt ist, als ich ihn danach gefragt habe.“
„So ist er eben. Das hast du doch gemerkt, als du ihn kennen gelernt hast“, erinnerte Xandra.
Schon, aber in den letzten 24 Stunden war er wie verwandelt gewesen. Hatte sie mit Zärtlichkeit und Vorsicht behandelt und sie mit einem Blick angesehen, als ob er etwas für sie empfände. Und dann waren da noch diese Gefühle, die sie durch ihre tiefe Verbindung zu ihm ertastet hatte.
„Lass‘ ihm Zeit. Irgendwann wird er sich öffnen.“ Sie wusste, Xandra versuchte nur sie zu beruhigen, aber das wollte so gar nicht funktionieren. Nicht, wenn der Streit sich anfühlte, als bräche ihr das Herz.
„Ich weiß ja. Aber, es ist…. Wenn wir zusammen sind, fühlt es sich an, als… könnte ich in ihn hineinsehen, als wären wir eins. Ich weiß, das klingt total verrückt, aber…. Dieser Abstand, den Geheimnisse schaffen. Das… kann ich nicht mehr ertragen. Es kommt mir einfach… falsch vor.“
Beide Elevender am Tisch wirkten mit einem Mal wie vom Donner gerührt. Regungslos verharrten sie in ihrer Position, als hätte jemand ihre Hintern und Rücken an den Stühlen fest getackert. Nur ihre Augen, die sprangen zwischen einander und Cat hin und her, waren weit aufgerissen. Offenbar herrschte Sprachlosigkeit.
„Was ist?“ Besorgnis keimte auf.
Xandra löste sich als erstes aus ihrer Erstarrung, dann legte sie Cat eine Hand auf den Arm, als wollte sie ihr gleich eine folgenschwere Mitteilung machen. „Süße, das hört sich für mich an, als wäre Dareon dein Gegenstück.“
Nach einer Stunde verlor Dareon allmählich den Überblick, wie viele Crunches, Situps, Klimmzüge und Liegestütze er gemacht hatte. Nach der Brustpresse und dem Rudergerät hatte er aufgehört zu zählen, da in seinem Kopf ohnehin nur Eines Platz hatte: Cat und ihre vermaledeiten Fragen.
Und dass er sich erwischen lassen hatte.
Er hätte damit rechnen müssen, dass sein kleiner Ausflug nicht unbemerkt bleiben würde. Doch sein Bedürfnis, sich zu verabschieden, war zu groß gewesen. Denn er hatte einen Entschluss gefasst. Um mit Cat zusammen sein zu können, und das wollte er, musste er Mylie los lassen. Sie endlich gehen lassen. Bis gestern Nacht hatte er nicht geglaubt, dass er jemals dazu imstande wäre.
Cat hatte ihm aber gezeigt, dass es einen Weg gab. Dass sein Leben nicht aus dieser immerwährenden Reue bestehen musste. Er konnte Mylie nicht mehr retten, konnte ihr nicht mehr das Leben schenken, das sie verdient hätte. Aber er konnte verhindern, dass er mit in den Abgrund gezogen wurde. Und bis er Cat kennen gelernt hatte, war ihm nie bewusste gewesen, dass er das wollte. Der Wunsch war tief in ihm vergraben gewesen, so gut versteckt, dass er ihn gar nicht mehr wahrgenommen hatte. Aber wie sie alle seine Schranken unterwandert, ihn infiltriert hatte, hatte Cat auch diesen Teil von ihm vom Staub und Dreck der Vergangenheit befreit. Sie war wie eine Erlösung.
Und er hatte es gründlich versiebt.
Als sie ihn explizit gefragt hatte, bei wem er die Nacht verbracht hatte, war ihm der Angstschweiß ausgebrochen. Er hatte die Vergangenheit zurück lassen wollen, um Cat niemals davon erzählen zu müssen. Wenn ein wenig Zeit vergangen wäre, hätten sie eigene Geschichten und Themen gehabt, über die sie sich unterhalten konnten. Vertrauen wäre gewachsen, ihre Beziehung hätte trotzdem so schön sein können, ohne dass er sich offenbaren hätte müssen.
Vielleicht war dieses Vorhaben von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen.
Kaum hatte er den Versuch gestartet, war er prompt schief gegangen und er hatte sein Gegenstück angefaucht wie eine tollwütige Raubkatze. Es war eine instinktive Reaktion gewesen, die er sich über Jahre angewöhnt hatte und die sich jetzt nicht so mir nichts, dir nichts abschalten ließ. Außerdem hatte Cat ihn definitiv auf dem falschen Fuß erwischt. Der Abschied von Mylie hatte ihn viel gekostet, war sogar noch schwerer gewesen, als er vorher angenommen hatte. Der Schatten dieser Entscheidung wollte ihn immer noch nicht ganz loslassen.
Ach verflucht. Er versuchte hier Ausreden zu finden. Dafür, dass er sich wie ein riesen Hornochse benommen hatte. Wütend beschleunigte er das auf und ab der Hantel. Stemmte sie hoch, kontrollierte ihren Weg nach unten, dann wieder von vorn. Die Bewegung selbst war nicht ausgeklügelt genug, um sein Gehirn vom Denken abzuhalten, aber die Stunden, in denen er seinen Körper malträtiert hatte, zeigten ihre Wirkung. Seine Muskeln brannten, wollten vor dem Gewicht kapitulieren, sodass er sie mit bloßer Willenskraft zum Durchhalten überreden musste.
Irgendwann setzte er die Hantel widerwillig zurück in ihre Halterung über seinem Kopf. Bizeps, Trizeps und Pektorales schienen in Flammen zu stehen und seine Lunge stach, als wäre er einen Marathon gelaufen. Seine Arme fielen schlaff herunter und erfühlte sich wackelig und kraftlos. Die geistige Tortur kehrte zugleich zurück, hundertfach verstärkt, was nur auf traurige Weise verdeutlichte, welche Macht Cat über ihn besaß.
Und er hatte sich darüber Sorgen gemacht, dass sieihmzu vielEinfluss auf sich zugestand. Da hatte er sich wohl in die eigene Tasche gelogen. Wie so oft schon in seinem Leben, nicht wahr?
Zum Beispiel, indem er angenommen hatte, man könne das Schicksal verändern, ihm ausweichen oder entkommen. Und Cat gehörte zu diesem Schicksal. Ihre Beteiligung wurde sozusagen vom Universum diktiert und es tat ihm auch Leid, dass er ihr nicht mehr zu bieten hatte, aber ändern konnte er es nicht. Genauso wenig wie seine Vergangenheit. Also musste es einen Weg geben, beides unter einen Hut zu bekommen. Wenn er nur gewusst hätte, wie der aussah, wäre die Suche wesentlich leichter gewesen.
In diesem Augenblick wurde die Tür zur Trainingshalle mit Schwung aufgerissen und Dareon wäre vor Schreck beinahe von der Hantelbank gerutscht.
Cat stand in der weit geöffneten Tür. Draußen stürmte es immer noch und ihr nasses Haar wehte wild im Wind. Ein greller Blitz zuckte über den Himmel, erleuchtete die Silhouette der zierlichen Elevenderin von hinten, wie ein biblischer Vorbote der mörderischen Wut, die ihr ins Gesicht geschrieben stand. Dareon setzte sich auf und kaum zu glauben, aber wahr, er zog den Kopf ein. Denn mit dieser Ausstrahlung wirkte sein Gegenstück alles andere als klein und zart.
Mit entschlossenen Schritten stapfte sie hinein, die Tür fiel zu und schloss das Gewitter nach draußen. Cats dunkle Klammotten, ein Totenkopf-T-Shirt und ein schwarzer fransiger Rock, klebten an ihrem Körper. Nasse Strähnen hingen ihr wirr ins Gesicht. Die Spitzen tropften und hinterließen eine Regenspur auf den blauen Matten.Ihre grünen Augen verhießen nichts Gutes.
Schließlich blieb sie vor ihm stehen, sah ihn mit einem abgrundtief enttäuschten Blick an. Und der schmerzte noch mehr als die Wut, die sie daneben ausstrahlte. Ihre Stimme war schneidend wie eine Klinge.
„Wir sind Gegenstücke?!“
Dareon klappte die Kinnlade runter. Bei allen Gründen, die hinter ihrem Verhalten hätten stecken können, hätte er unter keinen Umständen mit diesem gerechnet. Mist, es gab einfach zu viel, das er verbockt hatte.
„Cat, ich…“, setzte er an, doch sie unterbrach ihn mit einem Laut, der klang als wollte sie sagen: „Erspar mir die Ausreden.“
Er verstummte.
„Du hast es gewusst, oder?“
Da er nicht antwortete, wurde sie lauter und lehnte sich angriffslustig nach vorn.
„Du hast es gewusst! Oder etwa nicht!?“
Dareon senkte den Blick, dann nickte er zögerlich.
„Von Anfang an?“
Er schloss die Augen, ach Scheiße, ihm war ganz schlecht vor Reue. Doch er zwang sich zur Wahrheit und nickte erneut.
„Du…, du…“ Cats Stimme überschlug sich. „Wie konntest du nur?! Was sollte dieses ganze Theater? Wieso hast du mich weggestoßen? Sag’s mir! Ich krieg‘s einfach nicht auf die Kette!“
Dareon hätte ihren Forderungen gerne entsprochen, aber sein Mund war wie zugenäht, er fand einfach nicht die richtigen Worte. Als er nichts sagte, entfuhren ihr eine ganze Reihe von obszönen Flüchen, von denen er ihr nicht einen zugetraut hätte.
„Du weißt so vieles über mich und ich kaum etwas über dich. Du willst Geheimnisse? Ok. Du willst nicht, dass ich dich kennen lerne? Bitte schön! Aber das?! Musstest du mir ausgerechnet auch noch das verschweigen?“ Sie rammte sich die Hände in die Hüften und warf den Kopf in den Nacken. Einen Moment lang blickte sie zur Decke, als betete sie um Contenance. „Den anderen Scheiß, meinet wegen, behalte ihn für dich, solange bis er dich auffrisst. Aber dass wir Gegenstücke sind, das betrifft auch mich.“ Ihre Augen trafen ihn, durchbohrten ihn. „Du hattest kein Recht, mir das vorzuenthalten.“
Darauf konnte er nichts erwidern. Cat sprach die Wahrheit und er fühlte sich wie ein hinterhältiger Dieb und Lügner. Und da sie Gegenstücke waren, wog sein Vergehen umso schwerer. So etwas tat man seinem Seelenpartner nicht an. Nicht nur, weil es schlicht falsch war, sondern weil man damit auch sich selbst verletzte. Und dieses Echo bekam Dareon jetzt tausend Mal verstärkt zu spüren.
Alles tat ihm weh, seine Lungen brannten und irgendwie auch seine Augen. Das Atmen fiel ihm plötzlich so schwer, als befände er sich auf 6000 Metern Höhe.
„Cat…“
„Bah“, machte sie und hob die Hand. „Ich bin noch nicht fertig. Ich meine, was hattest du vor?! Dachtest du, du könntest eine Affäre mit mir haben und mich dann fallen lassen wie eine heiße Kartoffel? War das der Grund, es mir nicht zu sagen, Dareon?“
Er war sich nicht sicher, ob er jetzt sprechen durfte, immerhin redete Cat sich immer mehr in Rage und ihre Fragen schienen mehr rhetorisch als direkt.
„Sag‘ schon!“, forderte sie energisch.
Dareon holte tief Luft, hatte keine Ahnung wo er beginnen sollte, wie er das alles erklären sollte. Denn das war tatsächlich seine Absicht, wie er in diesem Augenblick überrascht feststellte. Er wollte, dass sie die Wahrheit über ihn kannte, mit all den Schatten und Abgründen seiner Seele. Und letztlich gab es nur einen Ort, an dem er das konnte, an dem seine Geschichte vielleicht einen Sinn ergeben würde.
Als er aufstand, fühlte er sich ausgelaugt. Und das war er auch. Nicht von der physischen Anstrengung seines Trainings, sondern von den Jahren, nein Jahrhunderten, in denen er die Wahrheit in sich eingesperrt hatte. In denen er niemanden, nicht mal Christian, wirklich eingelassen hatte. Diese Isolation hätte ihn und seine Geheimnisse schützen sollen, stattdessen hatte sie ihn einsam gemacht und er hatte sich allein mit dem ganzen Scheiß herumschlagen müssen. Jetzt war er müde. Und er hatte es satt.
„Du hast Recht. Ich hätte es dir sagen müssen. Und ich werde dir alles erzählen, was du wissen willst. Aber nicht hier.“ Entschlossen streckte er die Hand aus. „Komm‘, ich möchte dir jemanden vorstellen.“
Ferrocs Büro war riesig, doch als sie jetzt mit Christian auf der Ledercouch saß, jeder an einem Ende, kam es ihr viel zu klein vor. Der Streit vorhin hatte einen fiesen Nachgeschmack hinterlassen und obwohl Cat und Dareon mit ihrer Gegenstück-Geschichte, die nebenbei gesagt schon eine Nummer für sich war, für Ablenkung gesorgt hatten, ließ der Ärger Xandra nicht los.
Christian offenbar genau so wenig. Denn er starrte stur in eine andere Richtung und ignorierte sie. Zumindest tat er so. Und, oh Wunder, wieder ein Knopf, den er mühelos fand und sie damit noch wütender machte. Er hätte ihrer Meinung nach eher zerknirscht sein sollen und wenn hier jemand beleidigt sein durfte, dann ja wohl sie.
Immerhin hatte Xandra nicht versucht, ihm vorzuschreiben, was er über eine andere Frau denken sollte. Er dagegen setzte alles daran, Syn in ihrem Ansehen schlecht zu machen. Sie wusste noch nicht genau, was sie von dem Menschen halten sollte, aber sie würde sich dieses Gelaber garantiert nicht anhören, das hauptsächlich Eines bewies: Christians Eifersucht.
Und vor allem würde sie nicht zulassen, dass er die aufkeimende Geschäftsbeziehung mit seiner persönlichen Abneigung verseuchte. Sie war zu verantwortungsbewusst, als dass sie sich auf solche Spielchen eingelassen hätte, also hatte sie das Thema vorhin am Frühstückstisch unwirsch beendet. Jedoch schien es sich nicht so einfach beenden zu lassen, so sehr sie es sich auch wünschte. Sie stieß resigniert die Luft aus.
„Komm‘ mal wieder klar, Christian. Sonst ziehe ich das Treffen ohne dich durch.“
„Ach, was willst du machen? Mich rausschmeißen?“ Seine bemerkenswert blauen Augen sahen sie herausfordernd an. „Dann versuch’s doch.“
„Bist du wirklich so kleinkariert und egoistisch, dass du deine subjektive Meinung nicht hinten anstellen kannst?“
„Das hat nichts mit meiner Meinung zu tun.“
„Sondern?“
„Mit deiner. Du fährst auf diesen Kauz ab und das vernebelt dir das Hirn. Du willst ihm unbedingt trauen.“
Xandra biss die Zähne zusammen und knurrte ungehalten. Mit dieser Bemerkung war es ihm tatsächlich gelungen, sie ernsthaft zu treffen. „Jetzt zweifelst du nicht nur am Orden, sondern auch noch an meiner Professionalität?“
„Ganz genau.“
„Das wird ja immer schöner!“ Christian machte es mit jedem Wort nur noch schlimmer und da er sich weiterhin auf Kollisionskurs befand und Xandra kurz davor stand, Rot zu sehen, zwang sie sich mal wieder, die Vernünftige zu sein. „Jetzt hör‘ mir mal gut zu, denn ich sage es nur ein einziges Mal. Was auch immer ich über Syn oder den Orden denke, geht dich nichts an und wird die Zusammenarbeit nicht beeinflussen.“
Chris sah ihr lange prüfend in die Augen, bis ein merkwürdiger Ausdruck auf sein Gesicht trat, den Xandra trotz all der Jahre, die sie sich kannten, nicht deuten konnte. Dann stütze der die Ellenbogen auf die Knie und legte den Kopf in die Hände. Ein paar Mal rieb er sich ärgerlich übers Gesicht.
„Ok. Ich schätze, ich bin wegen dieser Sache etwas nervös. Die wissen Dinge, die ich nicht mal meiner Großmutter erzählen würde.“
Er schien es ehrlich zu meinen, sein Tonfall war ruhiger geworden und Xandra nickte ein Mal. Damit war die Sache beigelegt. So schnell, wie sie aufbrausen konnte, so schnell konnte sie auch wieder abschalten. Und Christian war kein nachtragender Typ.
„Glaubst du, die werden sich zu einem Treffen mit einem Lügendetektor überreden lassen?“
Xandra lächelte müde und zuckte mit den Schultern. „Wir müssen ihnen ja nicht gleich auf die Nase binden, dass Markus Unwahrheiten auf 20 Kilometer gegen den Wind riecht.“
Christian fläzte sich jetzt regelrecht in die Ecke und legte ein Bein halb auf die Couch. Ein weiteres Zeichen, dass er sich entspannt hatte und eine Schönwetterfront im Anmarsch war. „Durch dein loses Mundwerk vergesse ich immer wieder, was für ein hohes Tier du eigentlich bist.“ Er grinste frech.
Xandras Mundwinkel hoben sich ebenfalls noch ein Stück weiter und sie tat, als schubste sie sein Bein vom Leder. „Mein Vater ist das hohe Tier in der Familie. Ich bin nur eine Ärztin auf der Jagd.“
„Streich‘ gefälligst das nur.“ Er hatte den Kopf in die Kissen gelegt und sah sie unter halb geschlossenen Lidern an. „Du erledigst doch die ganze Arbeit für deinen Vater. Sein Verdienst ist auch deiner.“
Bevor sie etwas in Richtung Schleimscheißer erwidern konnte, betrat Ferroc sein Büro und grüßte sie beide. Wie so oft trug er eine dunkle Stoffhose mit Bügelfalten und ein knitterfreies, akkurat sitzendes Hemd. Schwarze Lederschuhe und einen Gürtel der gleichen Farbe mit einer schlichten Silberschnalle. Er war einer dieser Leute, die immer wie frisch aus dem Ei gepellt aussahen.
Der große Maori ging hinter den Schreibtisch und setzte sich auf den riesigen Ledersessel. Und obwohl der schon monumentale Ausmaße besaß, wirkte er unter seinem Körper winzig. Fast wie ein Puppenmöbel.
„Ich wäre dann soweit“, ließ er verlauten, nachdem er ein paar Mal tief durchgeatmet hatte.
Xandra nickte und zog ihr Smartphone aus der Tasche. Auf Kurzwahl Nummer eins war ihr Vater eingespeichert. Bezeichnend, dachte sie bitter. Nach all den Jahrhunderten war er immer noch der wichtigste Mann in ihrem Leben. Und das nicht, weil sie es so gewollt hätte.
„Ja?“, meldete sich die dunkle, sachliche Stimme von Chronos.
„Ich bin’s. Der Kanal ist offen.“
Tut. Tut. Tut.
Kein Danke, kein Bis gleich.
Du mich auch, schickte Xandra stumm in den Äther, als sie mit dem Daumen auf das Zeichen mit dem roten Hörer tippte. Ihr Vater und seine Begleiter würden nicht lange brauchen, um herzukommen. Chronos hatte viele Freunde und Kontakte und natürlich kannte er auch Elevender, die nichts lieber taten, als das älteste Ratsmitglied der Legion mit ihren Teleport-Kräften quasi durch die Gegend zu chauffieren.
Damit einer dieser Leute ihn aber auf Blackridge bringen konnte, musste Ferroc sein Kraftfeld, das er wie ein Abwehrschild um das Anwesen gelegt hatte, für dieses Zimmer öffnen. An seiner konzentrierten Miene erkannte sie, dass der Durchtritt ohne Probleme funktionieren würde. Der Leiter dieses Stützpunktes besaß die größte mentale Stärke, die Xandra je angetroffen hatte und genauso routiniert handhabte er seine Gabe.
Keine Zehntelsekunde später flackerte es in der Raummitte, wie auf einem alten Fernsehbildschirm, bei dem der Sender nicht richtig eingestellt war. Dann erschienen drei Männer absolut geräuschlos aus dem Nichts.
Rechts stand ihr Vater, wie immer in dunkler Jäger-Montur und langem Ledermantel, das blonde Haar wallte ihm in weichen Wellen über die Schultern. Links befand sie Markus. Sie war ihm schon ein paar Mal begegnet und erinnerte sich gut an das lange, glatte Haar in Schokoladenbraun, dessen vordersten Strähnen am Hinterhaupt zu einem Zopf geflochten waren. Seine Bernsteinaugen strahlten Scharfsinn und Kompetenz aus.
Zwischen den beiden stand der Teleporter. Erwar unschwer an seiner schwarzen Lederausrüstung als Jäger zu erkennen. Wahrscheinlich von dem Stützpunkt bei Kaliningrad, in dem ihr Vater lebte. Der fremde Mann hatte die beiden Ratsmitglieder an den Schultern berühren müssen, um sie mitnehmen zu können, doch es schien ihn keine Anstrengungen gekostet zu haben. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig, er sah sich wachsam im Raum um. Also war er wohl gleichzeitig der Bodyguard.
Innerlich schüttelte Xandra den Kopf. Währenddessen erhob sie sich und ging auf Chronos zu. Ihr Vater lächelte nicht, als sie ihm eine Kuss auf die Wange gab. Aber das tat er ja sowieso nie. Humor war ein Fremdwort für ihn. Als hätten ihm die 2000 Jahre, die er jetzt auf der Erde weilte, die Freude gründlich ausgetrieben. Er hatte zu viel gesehen, zu viel erlebt. Und all die zwischenmenschlichen Nuancen und Gefühle, die Xandra für wichtig hielt, waren für ihn nur ein Wimpernschlag voller Nichtigkeiten. Eine Unbedeutsamkeit, die irgendwann von der Zeit getilgt werden würde. Er ließ sich nicht von Emotionen leiten, agierte logisch, neutral. Nie aggressiv, nie leidenschaftlich, nie hoffnungsvoll.
Es hatte einen Grund, warum Xandra Blaise keine Beziehung mit Slater wünschte. Denn sie hatte eine ungefähre Ahnung davon, wie ein Leben mit einem Mann aus Stein aussah. Ein weiterer Grund, warum sie so wenig Zeit wie möglich mit ihrem Vater verbrachte. Als Ärztin brauchte sie ihr Mitgefühl und darüber hinaus schätzte sie es auch als moralischen Wert. Sie wollte einfach nicht so teilnahmslos werden wie ihr Erzeuger, denn manchmal fragte sie sich, ob die Zeit nicht vielleicht ebenso seine Moral zerfressen hatte. Gab es die überhaupt ohne Emotion?
Jedenfalls sah sie es als ihre Pflicht, ihren Vater regelmäßig daran zu erinnern. Ihm ins Gewissen zu reden, sofern er noch eines besaß.
Xandra wandte sich den anderen beiden Männern zu und begrüßte sie, dann stellte sie die anwesenden Blackridge-Bewohner vor. Höfliche Floskeln wurden ausgetauscht, man verteilte sich auf der ledernen Couchgarnitur und Ferroc bewirtete die Gäste. Nur Kaffee, während Xandra sich eigentlich gerne Einen hinter die Binde gekippt hätte. In Gegenwart ihres Vaters tendierte sie anscheinend zur Alkoholikerin.
Nachdem Ferroc sich gesetzt hatte, erhob Xandra die Stimme. Es gab nicht mehr viel zu sagen, die Eckdaten hatte sie bereits am Telefon übermittelt.Ihr Vater war auf dem neusten Stand, was ihre Fortschritte mit dem Venus-Orden anging.
„Was sagt ihr? Traut ihr ihnen genug, um sie zu treffen?“ Sie richtete die Frage an die beiden Ratsmitglieder und natürlich antwortete ihr Vater mit seiner Roboterstimme. Die wirkte nicht kalt, einfach nur sachlich. Zum Kotzen sachlich.
„Wie sieht der Hintergrundcheck aus?“
„Die Drei, die wir getroffen haben, haben eine reine Weste.“ Zu rein, um genau zu sein, und deshalb nichtssagend. Wahrscheinlich hatte der Orden die Server des staatlichen Verwaltungsapparates geknackt und alle Daten beseitigt, die etwas verraten hätten können.
Chronos hielt einen Moment inne, seine stahlblauen Augen blieben regungslos auf Xandra gerichtet. „Sag, dem Anführer, er soll her kommen. Allein. Wenn er sich darauf einlässt, haben wir die Antwort auf die Frage, ob man ihm trauen kann.“ Dann wandte er den Kopf langsam zu Ferroc. Mann, sogar seine Bewegungen wirkten mittlerweile unmenschlich, wunderte sich Xandra. „Ist die Sicherheit gewährleistet?“
Ferroc stützte das Kinn geschäftsmäßig auf seine Fingerknöchel. „Absolut. Wir lassen ihn abholen. Mein Schild hält jeden heimlichen Verfolger ab, den ich nicht hier haben will.“
„Gut. So sei es.“ Chronos‘ Entscheidung war gefällt und damit jegliche weitere Diskussion beendet. Xandra fügte sich und fischte diesmal nach dem Kommunikationsgerät.
Sie stand auf und entfernte sich ein wenig von der Gruppe, dann wählte sie die einzige Nummer an, die eingespeichert war. Es leutete genau ein Mal bis jemand abhob.
„Ich wusste, du vermisst mich“, tönte Syns tiefe Stimme aus dem Hörer. „Hat dir mein Geschenk gefallen?“
Xandra drehte den Anderen den Rücken zu und war froh, dass keiner mithörte. „Ja, ganz nett.“
„Ganz nett? Mädchen, das war ein verdammter Rosenstrauß.“
Sie ignorierte die Anspielung. „Wir haben leider ein Problem damit.“
„Und das wäre?“ Syns Stimme klang äußerst genervt, als hätte sie ihn zum zehnten Mal gebeten, ein und das Selbe zu wiederholen.
„Woher wusstet ihr, dass uns diese Infos interessieren?“
„Ein Schuss ins Blaue. Ich bin gut im Raten.“
„Ich fürchte, das musst du genauer erklären. Wir wollen, dass du herkommst. Alleine.“
„Wieso das?“
„Hier sind zwei Leute, die dich kennen lernen wollen.“
Sie hörte, wie er hektisch die Luft einzog. „Ratsmitglieder?“ Woher zu Teufel wusste er denn das jetzt wieder?
„Vielleicht.“
„Wo und wann wäre das?“
„Jetzt gleich. Du sagst mir, wo wir dich abholen können.“
Am anderen Ende der Leitung war es so lange still, dass Xandra schon glaubte, dass er aufgelegt hatte. Dann hörte sie ein resigniertes Schnauben.
„Gibt’s bei euch einen Dresscode?“
Nachdem Syn den Bedingungen des Treffens zugestimmt und einen Ort genannt hatte, an dem man ihn abholen konnte, schnappte sich Xandra ohne Umschweife Christian und machte sich auf den Weg. Ferroc tat ihr fast ein wenig Leid, dass er jetzt mit diesem überaus angenehmen Gespann alleine war. Naja, wenigstens blieb ihm der fremde Jäger, der sichmit einer freundlichen Stimme als Hector vorgestellt hatte, als Unterstützung.
Die Autofahrt verlief schweigend. Es war helllichter Tag und trotz des stürmischen Regenwetters waren die Straßen gut bevölkert. Deshalb brauchten sie fast eine dreiviertel Stunde, bis sie den Eingang des Stadtparkes erreicht hatten, an dem der Anführer der Menschen warten wollte.
Xandra glaubte nicht, dass sie ein Hinterhalt erwartete. Es war ein sehr öffentlicher Treffpunkt und wenn Syn das gewollt hätte, hätte er es schon beim letzten Mal durchziehen können. Und falls sich jemand an ihre Stoßstange hängen wollte, mussteder es erst mal schaffen, Xandras Fahrkünsten zu folgen und Ferrocs Schild zu überwinden. Beides ziemlich unwahrscheinlich.
Schon von weitem kam das große, schmiedeeiserne Tor der einzigen Grünanlage von Ceiling City in Sicht. Äste von Laubbäumen schoben sich durch die Metallstreben, wie Finger von Inhaftierten durch Gitterstäbe. Der Wind rüttelte an ihnen und sie bogen sich bis an die Grenzen der Belastbarkeit. Regen prasselte wie kleine Geschosse auf die Windschutzscheibe.
Der Mann, der mit einem Schirm und Trenchcoat direkt vor dem Tor am Straßenrand stand, hatte den Kragen hochgeschlagen und die Baseballcap tief ins Gesicht gezogen. Trotzdem erkannte Xandra Syn sofort. Die Haltung, der Körperbau und die Ausstrahlung waren einzigartig. Nicht zu verkennen.
Sie ging vom Gas und kam direkt neben ihm zum Stehen. Christian stieg aus, öffnete dem Menschen die Tür hinter Xandra und folgte dann ebenfalls auf die Rückbank. Beim Einsteigen klappte Syn den Regenschirm zu und seine Bewegungen waren bei aller Effizienz elegant. Als hätte er eine vornehme Herkunft und distinguierte Erziehung genossen. Heute entsprach sein Outfit dieser Vorstellung ebenso. Unter dem Trenchcoat trug er eine dunkelblaue Stoffhose und Lederslipper, die jetzt völlig ruiniert waren. Offensichtlich hatte ihn das Treffen wirklich überrascht und ihn aus einer anderen Tätigkeit herausgerissen.
Kaum saß der Mensch, begann Chris ihn zu durchsuchen. Im Rückspiegel beobachtete Xandra, wie ihr Kollege Arme und Beine abtaste, aber als er Syns Schritt zu nahe kam, wurde er rüde weggestoßen.
„Wenn du da ran willst, muss ich leider erst deine Titten sehen“, raunte Syn an den blonden Elevender gerichtet.
Christian lachte kurz auf und machte sofort wieder ein ernstes Gesicht. „Zum Schießen. Mach‘ die Beine breit oder du fliegst raus.“
Grummelnd gab der Andere nach. Als er weiter auf versteckte Waffen, Peilsender und Abhörvorrichtungen untersucht wurde, fand sein Blick Xandras im Rückspiegel. Und es war nicht schwer, sich vorzustellen, an wen er bei diesen Berührungen dachte, so wie seine Augen aufleuchteten. Xandra räusperte sich und sah weg.
„Kommt jetzt auch noch die Rektaluntersuchung?“ hörte sie Syn hinten fragen, doch Chris schenkte diesem Witz keine Beachtung, sondern schnappte sich den Regenschirm samt Mütze und warf beides zum Fenster raus. Dann reichte er Syn eine rote Samthaube.
„Im Ernst?!“
Der blonde Elevender hielt ihm das Ding kommentarlos unter die Nase.
„Ist ja gut!“ Der Mensch langte nach dem dicken Stoff und zog ihn über den Kopf. „Ich hoffe, das lohnt sich.“
„Sauber und verpackt. Wir können“, meldete Chris und schnallte sie beide an.
Daraufhin startete Xandra den Motor und brachte den SUV wieder auf die Straße.Über die Seiten- und Rückspiegel kontrollierte sie immer wieder, ob jemand die Verfolgung aufgenommen hatte. Zwar konnte sie niemanden entdecken, trotzdem fuhr sie im dichten Verkehr unter mehrmaligem Scharf-Abbiegen eine große Runde durch die Stadt, bevor sie Ceiling in Richtung Blackridge verließen.
Als sie das Anwesen erreichten, lagen Xandras Nerven blank. Aus unerfindlichen Gründen war sie sehr nervös und das nicht, weil sie so scharf auf Informationen war. Ihre Finger zitterten bei der Eingabe des Zugangscodes zur Garage und sie presste sie schnell wieder ans Lenkrad, um es zu verbergen.
Als sich das Tor hinter ihnen geschlossen hatte, zog Christian ihrem Gast die Haube vom Kopf. „Auf geht’s, Rotkäppchen.“
„Bist du der große böse Wolf?“, wollte Syn beim Aussteigen wissen und sah sich dabei aufmerksam um. Sein unauffälliger 3D-Scan der Garage wies auf eine militärische Ausbildung hin, das gelassene Lächeln in seinem hübschen Gesicht ebenso. Vielleicht die Marines oder die Special Forces. Sein Körperbau sprach eher für die Seals. Sie würde das von Jordan überprüfen lassen.
„Mitkommen.“ Xandra führte die kleine Prozession an. Sie vorne, Christian hinten, bildeten sie mit Syn ein Sandwich. Der folgte brav und in der Eingangshalle angekommen, staunte er nicht schlecht. Diesmal ließ er den Blick unverhohlen über die hohen Decken, die zierlichen Stuckarbeiten und hübschen Lampen gleiten. Ein Pfiff wurde durch die Vorderzähne ausgestoßen. „Nicht schlecht. Und ihr seid wirklich keine Hegedunen?“
„Wirklich“, versicherte Xandra, als sie die Aufzüge erreichten.
Die Fahrt in der engen Kabine war merkwürdig. Die drei großen Körper verwandelten den Metallkasten in eine verfluchte Sardinenbüchse, vor allem Syn weckte in Xandra eine Art Klaustrophobie. Zum Glück dauerte die Reise nur ein paar Sekunden, dann wanderten sie den langen Flur zu Ferrocs Büro hinunter, dessen große Flügeltüren einladend offen standen.
Xandra klopfte am Türrahmen. „Wir haben ihn.“
Ihr Vater blickte auf. Die anderen Anwesenden beendeten ein Gespräch, an dem er sich nicht beteiligt hatte. Jetzt erhob er sich bedächtig und richtete sich zu voller Größe auf. Ferroc und Markus taten es ihm gleich, genauso der Teleporter Hector.
„Willkommen. Sind Sie Syn?“
Der Angesprochene nickte entschlossen, er schien sofort zu begreifen, dass Chronos der Mächtigste im Raum war und den Ton angeben würde. Der Mensch konzentrierte sich verstärkt auf ihren Vater, ohne die anderen jedoch aus den Augen zu lassen. Er war offensichtlich sehr geübt in solchen Angelegenheiten.
Das älteste Ratsmitglied wandte sich an die restlichen Elevender. „Markus und ich möchten allein mit ihm sprechen.“
Xandra ballte die Fäuste und verbiss sich die Widerworte, die ihr auf der Zunge lagen. Sie hatte es ja geahnt. Sobald er hier aufgetaucht war, riss er sich alles unter den Nagel, was sie erarbeitet hatte. Voller Bitterkeit drehte sie sich um und wollte den Raum verlassen, da trat Christian vor.
„Bei allem Respekt,… Sir. Deine Tochter hat sehr hart für dieses Treffen geschuftet, das haben wir alle. Und wir brauchen Informationen von diesem Kerl. Ich denke, Xandra sollte dabei bleiben.“
Chronos‘ stahlharter Blick traf den hübschen Elevender und Xandra konnte fast spüren, wie er ihn durchdrang und zerlegte. Sie musste Chris hoch anrechnen, dass er unter dem Druck dieser Augen nicht einmal mit der Wimper zuckte. Er stand unbeugsam an Ort und Stelle, die Beine hüftbreit neben einander gestellt, die austrainierten Schultern gestrafft, die Arme vor der Brust verschränkt. Xandra bewunderte den Schneid, den er damit zeigte und nie war er ihr perfekter… oder anziehender erschienen als jetzt, da er ihrem Vater die Stirn bot.
Der nickte schließlich knapp und die Anderen setzten sich in Bewegung.
Als Chris an ihr vorbei ging, raunte sie ihm ein leises „Danke“ zu.
„Mach‘ was draus“, gab er nur leise zurück, dann schloss er die Türen und sie war mit den beiden Ratsmitgliedern und dem Menschen allein.
Syn schlenderte mit einer Seelenruhe, ob vorgeschützt oder echt war nicht zu erkennen, zum Ledersessel an der Spitze der Couchgarnitur. Den Trenchcoat zog er aus und drappierte ihn über das Rückenpolster, ein weißes Hemd und ein blaues Jacket passend zur Hose kamen zum Vorschein. Daraufhin setzte er sich, legte einen Arm lässig auf die Lehne und überschlug die langen Beine. Die andere Hand stützte das Kinn, als wäre er ein wenig gelangweilt. Er wirkte wie ein jugendlicher Monarch, der gerade den Thron bestiegen hatte und das, obwohl er hier quasi zum Verhör geladen worden war.
Chronos nickte Xandra zu. Sie durfte wohl beginnen.
„Wie habt ihr gewusst, dass die Dokumente über die McCarteys und BioVista für uns interessant sein könnten?“
Syn lächelte völlig von sich überzeugt. „Unsere Mitglieder sind Menschen und die haben Jobs. Ein Freund von mir war bei der Party der McCarteys fürs Catering zuständig und er hat die kleine Dunkelhaarige anhand von Michams Beschreibung wiedererkannt. Der Rest war wie gesagt ein Schuss ins Blaue.“ Er wirkte äußerst selbstzufrieden. „Ich sagte doch, ich bin gut.“
Ein kurzer Blick zum Kollegen ihres Vaters bestätigte den Eindruck, dass die Aussagen der Wahrheit entsprachen. Das Ratsmitglied behielt den Menschen fest im Auge und nickte beinahe unmerklich.
„Das ist noch nicht raus“, warnte sie Syn, dann setzte sie sich auf die Armstütze eines Sofas, Chronos und Markus nahmen gegenüber Platz.
„Kriegt ein Gast hier etwa nichts zu trinken?“, erkundigte sich das Ordens-Mitglied und wies mit dem Daumen auf die Bar hinter sich. „Wodka macht mich gesprächiger.“
Xandra kam dem Wunsch nach, schenkte sich selbst und den anderen jedoch nur Wasser ein, weil sie wusste, dass ihr Vater das Trinken während der Arbeit missbilligte.
Zurück auf ihrer erhobenen Position fixierte sie Syn aufmerksam, der die klare Flüssigkeit erst im Glas kreisen ließ und dann vorsichtig nippte. Geschmack und Qualität schienen ihn zufrieden zu stellen, denn er schloss kurz genießerisch die Augen und leckte sich über die vollen Lippen. Xandras Herz setzte einen Schlag aus und sie tarnte ihre Verwirrung darüber mit einem Schluck Wasser.
„Warum hast du dich gerade für die Daten im Zusammenhang mit den Cohens und BioVista entschieden?“
Syn musterte alle drei Elevender, er schwenkte derweil das Glas. Schlieren am Innenrand zeugten von der Hochwertigkeit des Alkohols. Er ließ sich Zeit damit, das Getränk halb zu leeren, dann deutete er auf die beiden Männer auf dem Sofa.
„Ratsmitglieder, hab‘ ich Recht?“ Als er nur auf eine Mauer aus Ablehnung stieß, schüttelte er den Kopf. „Ihr braucht Antworten, ich brauche Antworten. Ein fairer Tausch, meint ihr nicht?“
Jetzt schritt Chronos ein. Mit seiner sachlichen Stimme ergriff er das Wort. „Woher wissen Sie von uns?“ Womit er Syns These quasi bestätigte.
„Hm, ihr seid ein Mythos.“ Weiteres Glasschwenken. „Die Legion ist Teil unserer Legenden. Doch ich hätte nicht gedacht, dass ihr existiert, bis ich einen Anruf von dir erhalten habe.“ Den letzten Teil richtete der Mensch an Xandra. „Ein Ordens-Mitglied in Europa hat Verbindungen zu ein paar Elevendern, die uns Hilfe von einer wohlwollend ausgerichteten Gruppierung versprochen haben. Sie versprachen, einen Kontakt herstellen. Und dann Bumm, kommst du und bittest um ein Treffen. Das konnte kein Zufall sein und da wusste ich, wenn das Netzwerk dieser ‚wohlwollenden Organisation‘…“ Er malte mit zwei Fingern Gänsefüßchen in die Luft. „… so weitreichend ist, muss die Legion existieren.“
Der Lügendetektor schien kein Problem mit dem Gesagten zu haben und Xandra begann, echten Respekt für Syn zu empfinden. Der Kerl war verdammt schlau… und mutig noch dazu. Immerhin wagte er sich unbewaffnet und ohne Rückversicherung in die Höhle des Löwen, nur um dort auf entspannteste Weise Wodka zu schlürfen. Er wirkte, als wäre es ein Treffen unter alten Freunden.
„Warum habt ihr nie Kontakt zu den Menschen gesucht?“
Xandras Augenbrauen hüpften nach oben, während sie überrascht das eigenartig hübsche Gesicht betrachtete. „Haben wir. Zu Einzelnen, manchmal zu Gruppen. Es hat nie angehalten. Menschen sterben zu leicht.“
Syn stieß ein kurzes, freudloses Lachen aus. „Wohl wahr.“
„Also, warum die Daten über die Cohens und BioVista?“
„Wir sind vielleicht sterblich, aber nicht auf den Kopf gefallen“, erwiderte er, dann strich er mit einer Hand den Bart glatt. Eine bedächtige Geste, von den Wangen bis zum Kinn. „Wir sammeln Informationen genauso wie ihr. Wir wussten, dass es bald einen Gesetzesentwurf zur Lebensmittelgentechnik geben würde. Dann wird eine große Hochzeit zwischen der führenden Familie in diesem Geschäft und einer kleinen Medizintechnikfirma durchgezogen und kurz darauf schließen die McCarteys, deren Unternehmen vorher florierte, plötzlich eine Niederlassung. Und zu guter Letzt, kommt euer Auftritt auf der Party ins Spiel, bei der es laut meinem Kumpel vier überwältigte Wachmänner und Hegedunen gab. Es war nicht schwer zu erraten, was ihr brauchen könntet.“
„Wie seid ihr an diese Daten gekommen?“, hakte sie nach, doch Syn lächelte nur geheimnisvoll und ließ den erhobenen Zeigefinger hin und her pendeln.
„Ah, ah, ahaaa. Ich bin dran.“ Er beugte sich interessiert vor. „Wie versorgt ihr euch? Energie, Nahrungsmittel? Ich nehme mal stark an, ihr lebt autark.“
Die Frage überraschte Xandra. Hatte der Orden etwa Probleme in dieser Richtung? Bei genauerem Überlegen schien es sogar logisch. Die modernen Mittel und Wege zur Energiegewinnung und landwirtschaftlichen Produktion wurden den Menschen vorenthalten, damit sie brav immer weiter im Hamsterrad rannten und glaubten, sie müssten sich eins abstrampeln, um den ach so schwer zu erzeugenden Strom oder das angeblich ach so rare Öl zu bezahlen. Was in Wahrheit natürlich eine Lüge war, die ihnen das Leben schwer machen sollte. Wenn Syn also weiter nichts wollte, das konnte er haben.
„Das siehst du richtig. Wir bauen selbst an. Unterirdisch. Die Energie gewinnen wir aus Generatoren der KeShe-Foundation. Die arbeiten mit schwarzer Materie, die überall um uns herum ist. Die Dingersind nicht größer als eine Bierkiste und müssen nur an einen Verteiler angeschlossen werden. Sehr leicht einzurichten. Wenn du brav unsere Fragen beantwortest, kannst du einen haben.“
Synwirkte zum ersten Mal ehrlich überrascht, nach einer kurzen Pause neigte er den Kopf. Ein Zeichen seiner Zustimmung.
„Also, die Daten?“
„Ah, ja.“ Er sank wieder tiefer ins Leder, machte es sich geradezu gemütlich. „Ein Ordensmitglied arbeitet bei McCartey Technologies in der Entwicklung.“
Syn hätte ihr auch einen Molotov-Cocktail vor die Füße werfen können, die Auswirkungen wären nicht verheerender gewesen. Sie verbarg ihre Aufregung und checkte erneut Markus, der vermittelte, dassder Wahrheitsgehalt bei hundert Prozent lag. Xandra wurde fast ein wenig neidisch darauf, dass die Ordensmitglieder sich als Menschen überall unbemerkt einschleichen konnten. Wo sie ihre Mitarbeiter wohl sonst noch eingeschleust hatten? Diese Info barg ganz neue Möglichkeiten und das nicht nur für ihren eigenen Fall.
Sie witterte ihre Chance.
„Könnte der weitere Daten besorgen?“ Jetzt konnte sie die Erregung nicht mehr aus ihrer Stimme verbannen und ihr Vater schenkte ihr einen tadelnden Blick. Schon klar.
„Mit einem gewissen Risiko, ja. Wieso?“
„Wir glauben, die Cohens wollten mit der Schließung von BioVista etwas vertuschen. Und wir brauchen ein medienwirksames Druckmittel gegen die Dreckskerle.“
„Um die Gentechnik zu stoppen?“
„Exakt.“
„Dann ist es also wahr, dass diese künstlichen Erzeugnisse schädlich sind?“
Xandra nickte ernst, sah ihm direkt in die großen, grün-braunen Augen und ihr Herz setzte erneut einen Schlag aus. Was war nur mit dem Ding los? „Absolut.“
Syn legte den Kopf nach hinten auf die Rückenlehne des Sessels. Er überlegte lange, bevor er sich aufrichtete und sie alle ansprach. Währenddessen beobachtete er die versammelte Runde ganz genau. „Ok, hier ist mein Vorschlag: Wir besorgen euch, was auch immer ihr von den McCarteys braucht und ihr sichert mir im Gegenzug einen Schulterschluss zu. Wir wollen doch alle das Selbe und könnten von einander profitieren.“
Xandra hätte ohne Bedenken sofort zugestimmt, irgendwie hatte er etwas an sich, das ihr die Zweifel nahm. Es war schon sehr merkwürdig, doch sein Vorschlag machte Sinn und war letztendlich genau das, was sie von Anfang an gewollt hatten. Er spielte ihnen ja regelrecht in die Hände. Dennoch lag diese Entscheidung nicht bei ihr. Das war Sache des Rats und in diesem Fall waren es ihr Vater und Markus, die sie treffen würden.
Sie schaute hinüber zu den beiden, die in einer sehr ähnlichen Position da saßen. Die Ellenbogen aufgestützt, die Fingerspitzen an einander gelegt, die Gesichter ausdrucklos. Chronos gab dem anderen Ratsmitglied mit einem Nicken die Erlaubnis zu sprechen.
„Mr. Syn. Ich muss schon sagen, Sie präsentieren sich hier ausgezeichnet. Jedoch, und das sage ich mit Verlaub, werden Sie doch nicht ernsthaft glauben, dass wir Ihnen so viel Vertrauen entgegen bringen können.“ Er stand auf, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und begann, vor Ferrocs Schreibtisch-Koloss auf und ab zu laufen. Langsame, gleichmäßige Schritte ließen das lange Leinengewand, das er trug, hinter ihm her wehen wie eine Kutte. „Wer sagt uns, dass Sie uns nicht belügen?“
Xandra dachte kurz, sie musste sich verhört haben. Was lief hier?
„Bullshit“, erwiderte Syn genauso ruhig, jedoch lächelte er nicht mehr.
„Ich fürchte, um unsere Organisation zu schützen müssen wir uns Ihrer guten Absichten versichern. Und dazu benötigen wir mehr, als ein paar Informationen und hohle Versprechungen. Verstehen Sie worauf ich hinaus will?“
Syn schmunzelte trocken. „Leider, leider nein. Ich fürchte, das müsst ihr mir genauer erklären.“ Womit er deutlich signalisierte, dass er wollte, dass Markus das Kind beim Namen nannte. Der Mensch schien genauso wie Xandra zu ahnen, dass das hier eine Strategie war, zu welchem Zweck auch immer. Und Xandra hatte ja schon vorher den Verdacht gehabt, dass ihr Vater etwas im Schilde führte.
„Wir benötigen einen Gegenstand. Und wir können ihn nicht entwenden, ohne dass die Hegedunen bemerken würden, wer ihn gestohlen hat. In diesem Fall ist es aber unbedingt notwendig, dass die Spur nicht zu uns zurückverfolgt werden kann.“
„Ihr möchtet, dass wir euch die Drecksarbeit abnehmen“, schlussfolgerte Syn. Xandra konnte beinahe die Zahnrädchen in seinem Kopf rotieren sehen und in ihrem eigenen Oberstübchen ratterte es ebenso heftig. Da lief etwas im Hintergrund, von dem sie keine Ahnung hatte. Etwas, das Chronos ihr verheimlicht hatte. Und sie konnte sich noch nicht einmal vorstellen, worum es sich handelte.
„Mitnichten. Es ist genau so, wie ich Ihnen geschildert habe.“ Markus erwiderte den Blick des Mannes im Sessel fest.
Dieser zögerte. „Was sollen wir stehlen?“
„Eine Drohne.“
Syn riss die Augen auf. Nach einem kurzen Schockmoment schluger sich auf den Oberschenkel. „Ha. Na, klar, eine Drohne. Wenn’s nur das ist.“ Dann schien er wieder ernst zu werden. „Habt ihr euren verdammten Verstand verloren?“
„Aber nein.“ Jetzt lächelte Markus und er schien erfreut, den Menschen aus der Ruhe gebracht zu haben. Xandra bemerkte es und fragte sich verdutzt, seit wann der Rat solche Methoden anwandte. Psychospielchen, Täuschungen und Lügen gehörten eigentlich nicht zu ihren Aufgaben. Im Anschluss an dieses Treffen würde sie sich ihren Vater vorknöpfen, um jedes Quäntchen über den Verwendungszweck dieses Flugobjekts aus ihm heraus zu quetschen. „Hier geht es, wie bereits erwähnt, um unser Vertrauen. In Sie. Und ich denke, der Preis dafür ist vertretbar.“
Interessante Wortwahl, dachte Xandra unwillkürlich, konnte aber nicht ganz erfassen, warum sie Markus mit einem Mal irgendwie unheimlich fand.
„Nehmen wir mal an, wir wären tatsächlich in der Lage, ein militärisches Gerät mit den neusten Sicherheitsstandards in die Finger zu kriegen. Ich könnte es niemals verantworten, dass damit kriegerische Handlungen durchgeführt werden. Die Hegedunen sind so vernetzt und geschützt, dass ein direkter Angriff auf sie menschliche Kollateralschäden zur Folge hätte. Ich weiß ja nicht, was ihr glaubt, wen ihr vor euch habt, aber ich verkaufe meine moralischen Ansichten nicht.“ Wie ein professioneller Schachspieler hatte Syn gleich zwei Schritte weiter gedacht und Xandra war erneut beeindruckt. Er bewies Integrität und ein stahlhartes Rückgrat. Etwas, von dem sie geglaubt hatte, es unter den Menschen nicht mehr in der Form finden zu können.
Markus legte den Kopf mit einem Gesichtsausdruck schief, als fände er das Statement dieses Kerls äußerst amüsant. „Niemals käme es mir in den Sinn, Ihre moralischen Werte in Frage zu stellen.“ Seine Stimme war süß wie Honig und klebte nur so vor Schmeichelei. „Nichts Dergleichen wird geschehen. Wir haben höchstwahrscheinlich einen anderen Weg gefunden, die Hegedunen zu attackieren. Kein Mensch wird dabei durch unsere Hand zu Schaden kommen. Ich verbürge mich persönlich dafür.“
Syn fluchte nur abschätzig. „Du behauptest, mir nicht trauen zu können und dann soll mir dein Wort genügen?“
Markus wies auf Chronos, als wollte er es ihm überlassen, den Deal abzuschließen und ihr Vater nahm den Ball mit einem erhabenen Nicken entgegen.
„Ich bewundere Sie für Ihre Wertetreue, nichts anderes wollten wir von Ihnen hören. Deshalb lautet mein Angebot wie folgt: Sie besorgen die Drohne. Dann werden wir ein Treffen zwischen der Leitung des Ordens und der der Legion organisieren. Dort wird Ihnen Markus hier…“, er deutete auf das andere Ratsmitglied, „… unsere Taktik genau erläutern. Wenn Sie uns dann immer noch keinen Glauben schenken, behalten Sie die Drohne.“
Der Mensch durchlöcherte Chronos geradezu mit seinem scharfsinnigen Blick, dann strich er sich erneut über den Bart. „Klingt vernünftig. Aber das mit der Drohne wird dauern. Was passiert bis dahin?“
„Bis dahin muss die Geheimhaltung gewahrt werden“, entgegnete Chronos neutral. Er sprach weder eindringlich, noch mit Überzeugung. Es geschah aus logischemKalkül. „Auch vor den anderen Stützpunkten der Legion.“ Er ignorierte Xandra, obwohl er wissen musste, dass sie diese Forderung misstrauisch machen würde. Sie versuchte irgendeine Schwingung von ihm zu empfangen. Er war aalglatt, aber da sie ihn schon seit Jahrhunderten kannte, war sie eine der wenigen Personen, die die zarten Nuancen, die unter der Decke der Gleichmütigkeit hervor lugten, trotzdem deuten konnte. „Sie arbeiten weiter mit Xandra zusammen. Sie wird den Kontakt zu Ihnen aufrecht erhalten.Ein Bündnis bekommen Sie erst, wenn das Treffen zu unser beider Zufriedenheit verlaufen ist.“
Wieder einmal hatte Chronos einfach eine Rolle für sie festgelegt, der sie jetzt, nachdem sie verkündet worden war, nicht mehr entkommen konnte. Danke Daddy, ich dich auch, dachte sie höhnisch und verdrehte die Augen.
Syns Blick huschte zu ihr herüber, glitt ein Mal von unten nach oben und ihr wurde ganz heiß unter der Musterung. Er schien auch bemerkt zu haben, wie sie auf das Diktat von Chronos reagiert hatte. Ein fragender Ausdruck zeichnete sich kurz in seinem Gesicht ab. Schließlich fuhr er sich durch das Haar, das er heute offen trug. Es reichte ihm bis knapp unters Kinn.
„Na gut. Ich denke, wir haben einen Deal.“
Chronos erhob sich und streckte dem Menschen die Hand entgegen. Syn tat es ihm gleich und ergriff, was ihm angeboten wurde. Dann besiegelten Markus und Xandra das Besprochene auf dieselbe Weise.
Sie hatte zwar keinen blassen Dunst, was hier gerade passiert war, jedoch drängte sich ihr das Gefühl auf, dass dieser Handschlag der Beginn einer Wende, der Anfang eines Pfades war, dessen Ziel sich erst noch zeigen würde.
Was auch immer Markus und Chronos im Schilde führten und egal welche Mittel sie dazu eingesetzt hatten, heute hatten sie den Weg für eine Zukunft geebnet, in der Elevender und Menschen Seite an Seite stehen konnten.
Nervös rutschte Cat auf dem Beifahrersitz hin und her. Es war ihr ein Rätsel, was sie erwarten würde, beziehungsweise, wen Dareon ihr vorstellen wollte.
Nachdem sie zuerst nicht auf seinen Vorschlag eingehen hatte wollen, wurde ihr bewusst, dass er nachgegeben hatte. Wie immer auf seine Weise. Aber die Absicht etwas zu teilen, das ihm wahrscheinlich wichtig war, kam einem Zugeständnis gleich. Also hatte sie ihre Wut bezwungen, besser gesagt, sie vorerst auf Eis gelegt und jetzt waren sie unterwegs.
D hatte sich in Anzughose und Hemd geworfen, beide hatten sie Regenmäntel und Schirme dabei. Das und das grauenhafte Wetter setzten ihr schließlich die fixe Idee in den Kopf, dass sie gleich auf einem Friedhof vor einem Grab stehen würde.
Doch als sie nach einer gefühlten Ewigkeit vor einem großen, modern wirkenden Stein- und Glaspalast hielten, musste sie ihre Vorstellungen wohl korrigieren. Während Cat erstaunt aus dem Fenster blickte, verließ Dareon den Lexus und öffnete ihr dann die Tür. Sie stieg aus und betrachtete die Hausfassade. Ein Zimmer neben dem Anderen, Panoramafenster mit hochwertigen Holzpanelen, die jetzt, da das Gewitter den Himmel verdunkelt hatte, vollständig geöffnet waren.
„Wo sind wir hier?“
„Das ist eine Privatklinik“, erklärte ihr Gegenstück. Mann, sie beide waren Gegenstücke! Sie konnte es immer noch nicht ganz fassen. Und mit Sicherheit hatte sie noch nicht vollständig begriffen, was genau das bedeutete. Xandra hatte es wie eine Seelenverwandtschaft beschrieben. Genau genommen hatte sie es sogar so formuliert, dass Gegenstücke für einander geschaffen wurden und das klang nach Bestimmung, Schicksal, Perfektion. Einfach gewaltig und so unglaublich.
Streng rief sie ihr Gehirn zur Ordnung, um sich mit dem Gesagten befassen zu können. „Was wollen wir denn in einer Klinik?“
„Komm‘. Dann wirst du schon sehen.“ Erneut nahm er ihre Hand und zog sie hinter sich her.
Sie gingen nicht durch den Haupteingang, sondern umrundeten das Gebäude und schlüpften durch das große Tor über dem Notaufnahme stand. Immer weiter drangen sie auf den sterilen, weiß gestrichenen Fluren vor, vorbei an geöffneten Zimmern mit besetzten oder leeren Betten und herum wuselnden Krankenschwestern und Ärzten. Es roch nach Desinfektionsmittel und Bohnerwachs, das wohl auf den grauen Lenoleumfußboden aufgetragen worden war.
Dareon ging schnell, hielt den Kopf gesenkt. Er schlich nicht gerade, aber es wurde deutlich, dass er nicht bemerkt werden wollte. Deshalb drückte Cat sich in seinen Schatten und so erreichten sie das Treppenhaus, ohne angesprochen zu werden. Im fünften und letzten Stock angelangt, war Cat derart aus der Puste, dass sie sich schwor, sich das Tiramisu künftig zu verkneifen und die Zeit lieber in etwas Ausdauertraining zu investieren.
Vor einer geschlossenen Doppeltür mit geriffelten Glasscheiben blieben sie stehen und Dareon wandte sich an die Frau, die hinter dem Empfangstresen saß. Es war eine untersetzte Mittvierzigerin mit grau-braun meliertem Haar und Schwesternuniform. Ein großer Leberfleck prangte auf ihrem Kinn. Die Brille war auf biedere Weise bis auf ihre Nasenspitze gerutscht.
„Guten Tag, Trudi“, sagte Dareon und seine Stimme war scheiß-freundlich, der Ausdruck auf seinem Gesicht liebenswürdig und offen. Die beiden kannten sich augenscheinlich.
„Dareon, mein Lieber.“ Gertrude Petrovic, wie Cat dem kleinen Plastikschildchen an ihrer enormen Brust entnehmen konnte, wirkte hoch erfreut. Sie hievte sich aus dem Drehstuhl in die Höhe, was zeigte, dass die Größe der Frau im Sitzen und im Stehen etwa gleich war. Schließlich streckte sie die pummligen, kurzen Finger nach Dareon aus und der kam ihr tatsächlich entgegen und ließ sich die Wange tätscheln. Cat verfolgte die Szene mit großen Augen.
„Na so was, heute nicht allein?“
„Das ist meine Freundin, Catlynn. Cat, das ist Trudi.“
„Freut mich“, wandte sich die quadratische Frau mit einem herzlichen Lächeln an Cat und die erwiderte den Gruß. „Unsere Kleine wird sich freuen dich zu sehen. Und keine Sorge, wie immer werde ich ihrem Vater nicht verraten, dass du da warst.“ Schwester Trudi watschelte um den in hellem Holz gehaltenen Tisch herum und gab eine Ziffernfolge in ein kleines, elektronisches Schalttableau ein.
Dareon schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln. „Danke, Trudi. Du bist ein Engel.“
Ein Summer ertönte, das Türschloss klackte vernehmlich und gab den Weg auf die geschlossene Station frei. Die kleine Frau führte sie durch einen weiteren, typischen Krankenhausflur, mit dem Unterschied, dass auf diesem hier alle Türen geschlossen waren.
„Ich hoffe, der Rhabarberkuchen ist gut angekommen?“, erkundigte sich D, als sie vor dem letzten Zimmer beinahe am Ende des Gangs stehen blieben.
„Ja, danke. Die Schwestern haben sich sehr darüber gefreut. Ist schon nichts mehr übrig.“ Trudi drückte die Tür auf. „Also, lasst euch Zeit und meldet euch, wenn ihr etwas braucht.“
Damit zog Dareon Cat in das Zimmer, die Tür fiel ins Schloss und Gertrude Petrovic blieb dahinter zurück.
Cats Blick fiel auf das einzige Bett im Raum. Darin lag eine Frau, sie musste um die Vierzig sein. Das lange, ebenholzbraune Haar war in Wellen über das Kissen ausgebreitet. Sie hatte ein paar Falten in ihrem friedlichen Gesicht, trotzdem wirkten die Züge durch ihre Ausdruckslosigkeit jugendlich. Große, braune Augen schauten starr an die Decke, ihr Brustkorb hob und senkte sich kaum und sie lag absolut regungslos da. In ihren viel zu dünnen Armen steckten allerhand Infusionsschläuche und am Fußende des Bettes hing ein Katheterbeutel. Monitore links und rechts zeichneten die Pulsfrequenz, Sauerstoffsättigung und den Blutdruck auf.
Dareon holte tief Luft, trat ein paar Schritte vor und winkte sie heran.
„Cat, ich möchte dir Mylie vorstellen.“
Wer? Sie sah ihn zunächst verständnislos an, daraufhin die Frau in der Horizontalen.
Dann fiel der Groschen.
„Ist das… ich meine, ist sie deine Freundin, von der die anderen sagen, dass sie gestorben sei?“ Sie konnte nur noch flüstern, ihre Stimme war irgendwie weg. Jetzt, da die Bedrohung durch die Person, die er einmal geliebt hatte, wahrscheinlich noch liebte, vom Reich der Toten wiederauferstanden war.
„Nicht ganz.“ Er ging ums Bett herum und nahm sich einen Becher, in dem ein hölzernes Stäbchen steckte. Als er es herauszog, erwies es sich als überdimensionaler, einseitiger Q-Tip und Dareon beugte sich vor, um die Lippen der apathischen Patientin zu befeuchten. Er arbeitete vorsichtig und akkurat, dann strich er Mylies Haar mit einer tröstlichen Geste glatt.
Wie Cat dabei zusah, fühlte sich ihr Herz plötzlich an, als hätte es eben eine tödliche Wunde beigebracht bekommen. Doch zur gleichen Zeit stiegenin ihr Tränen des Mitleids auf, über den unsäglichen Zustand dieser armen Frau. Und um dem Gefühlschaos die Krone aufzusetzen, kam sie sich obendrein selbstsüchtig und egoistisch vor, da die Eifersucht drohte, sie zu überwältigen. Komm‘ schon, dachte sieenergisch, was sollte sie von einer Ex-Freundin im Wach-Koma zu befürchten haben? Dass sie wie durch ein Wunder aus dem Bett und Dareon an den Hals springen würde? Wohl kaum. Und doch fraß es Cat beinahe auf.
Der große Elevender war wieder neben sie getreten und legte einen Arm um ihre Taille. Eine Berührung, die sie zusätzlich verstörte.
„Ich habe Chris gesagt, dass sie gestorben ist, weil ich nicht wollte, dass die Anderen davon wissen.“ Er machte eine Pause. „Und außerdem war Mylie die Frau meines Bruders.“
Cats Kopf fuhr herum und sie blickte ihn fragend an. „Du hast einen Bruder?“
„Hatte“, korrigierte er und plötzlich schien es ihm schwerzufallen, weiter zu sprechen.
Nun verstand sie nur noch Bahnhof. Dareon hatte ihr höchstpersönlich gesagt, dass er wegen seiner toten Freundin nicht mit ihr zusammen sein könne und jetzt hatte er weder eine Freundin, noch war die Frau, um die es sich drehte, tot. Dafür aber sein Bruder. Und was sollte das alles damit zu tun haben, dass Dareon ihr verheimlicht hatte, dass sie Gegenstücke waren?
„Den Rest erkläre ich dir wo anders. Ich wollte nur, dass du sie kennen lernst.“
Zum Abschied drückte er Mylies Hand und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Natürlich reagierte sie nicht, aber seine Miene wirkte, als hätte er ihr ein kleines Geheimnis anvertraut. Dann schnappte er sich Cat und sie ließen die Schläuche und Monitore hinter sich.
Er führte sie beide den Weg zurück, den sie gekommen waren. Sie passierten Trudi, die herzlich winkte, die Treppen hinunter, zur Notaufnahme hinaus, bis sie das Auto erreicht hatten. Erst als die Stadtgrenzen Ceilings hinter ihnen lagen, fuhr Dareon auf einen Schotterplatz neben der Interstate und stellte den Motor ab. Bisher hatten sie nicht gesprochen und auch jetzt blieb Cat lange mit ihren wirren, bedrückenden Gedanken allein. Der Regen, der auf das Dach trommelte und der Wind, der am Auto rüttelte, versetzten sie in eine Parallelwelt. Sie kam sich vor wie in einem kleinen, geschützten Kokon, abgeschnitten von ihrer Umgebung.
Schließlich hielt sie die Stille nicht mehr aus.
„Du musst mir das erklären.“
Dareon seufzte. „Ich weiß.“ Er blickte stur in den Sturm hinaus, als könnte er es nicht ertragen, sie jetzt anzusehen. „Ich versuche ja, einen guten Anfang zu finden.“
„Ich dachte, Mylie wäre der Anfang.“
„Nein. Sie ist der Mittelteil.“ Er räusperte sich und fuhr sich mit beiden Händen durch die Locken, bis sie ihm wild vom Kopf abstanden. Dann lehnte er die Stirn ans Lenkrad und schloss die Augen. „Ach, Scheiße…. Diese ganze Gegenstücksache…. Die ist für mich irgendwie wie ein rotes Tuch.“
„Weil?“ Sie würde jetzt kein Erbarmen haben, nur weil er so geknickt wirkte. Überhaupt nicht wie der Dareon, den sie kannte.
„Weil meine Eltern welche waren und es bei ihnen nicht gut ausgegangen ist,… nie gut war, ok?!“
Cat wurde ganz kalt ums Herz und eine schreckliche Befürchtung kitzelte am Rande ihres Bewusstseins, schaffte es aber nicht, sich zu einem klaren Gedanken zu manifestieren. Dennoch rieselte ihr eine Gänsehaut den Rücken hinunter.
„Was soll das heißen?“
Dareon hatte einen Kloß von der Größe eines Footballs im Hals und seine Stimme klang gepresst, als er es schließlich schaffte zu antworten. „Die Beziehung,… letztlich hat es meine Mutter umgebracht. Als ich jünger war, habe ich es nicht gemerkt, ich meine, mein Vater, er…. Er wirkte ganz normal, ging mit mir Fischen, scherzte mit den Nachbarn und in meiner Gegenwart war er immer liebevoll zu seiner Frau.“
Dareons erste Erinnerung an den Mann, den er lange „Papa“ genannte hatte, war keine Schlechte. Ganz im Gegenteil. Er sah sein vielleicht dreijähriges Ich vor seinem geistigen Auge und auch seinen Vater, der ihm beibrachte, wie man Schnürsenkel band. Ein warmes, freundliches Lachen im Gesicht. Da war die Welt noch in Ordnung gewesen.
„Bis ich Zwölf war, war er mein Held.“ Was er später nicht nur ein Mal bereut hatte. Cat drehte sich leicht im Sitz, wandte sich ihm zu. Aber er wollte sie nicht ansehen. Dann hätte er kein Wort mehr herausgebracht und es war auch so schon schwer genug.
„Was ist passiert als du Zwölf warst?“, half sie ihm auf die Sprünge, nachdem die Pause schon wieder länger geworden war, als er eigentlich beabsichtigt hatte.
Dareon öffnete und schloss die Fäuste, wollte sich an der Realität festklammern, damit die Erinnerungen ihn nicht verschlangen. Aber seine Finger fassten ins Leere und er drohte, haltlos davon zu gleiten. Bilder stürzten auf ihn ein, Geräusche, Worte, Schreie und da war der Schmerz, der das Kind geprägt hatte. Plötzlich fühlte er etwas am Handrücken, dann einen festen Druck um die Fingerknöchel.
Es war Cat, die nach ihm griff. Ihm einen Anker bot, damit er nicht in der tiefen Finsternis seiner Vergangenheit versank.
Er hob den Blick und wusste es. Es war Zeit. Und wenn er es jetzt nicht tat, würde er Cat eines Tages verlieren, selbst wenn er durch ein Wunder nicht zu dem mutieren sollte, das er fürchtete. Manche Geheimnisse waren so groß, so schwerwiegend, dass ein Ozean voll Liebe sie nicht bedecken konnte.
Also begann er, sich den ganzen Scheiß mit brüchiger Stimme von der Seele zu reden. Angefangen bei jener Nacht, in der der zwölfjährige Dareon erkannt hatte, wer, oder besser was, sein Vater wirklich war.
~
Die Haustür fiel ins Schloss, nicht besonders laut, aber es genügte, um Dareon aus dem Schlaf schrecken zu lassen. Sein Lager befand sich im Hauptraum der Blockhütte, weswegen er meistens mitbekam, wenn ihr Heim betreten oder verlassen wurde.
Jemand schlurfte durch die tintenschwarze Nacht und verschwand dann im Zimmer seiner Eltern, dem einzigen anderen Raum. Im kleinen, offenen Spalt zwischen Tür und Rahmen erschien ein weicher Lichtschein, der durch die Dunkelheit im Flur schnitt. Seine Mutter musste eine Kerze entzündet haben. Dann vernahm Dareon einen erschrockenen Aufschrei und er fuhr von der Strohmatratze in die Höhe.
Die Stimme seines Vaters flüsterte etwas, seine Mutter antwortete in aufgebrachtem Tonfall.
Dareon befiel ein merkwürdiges Gefühl und er schob die Beine unter der kratzigen Wolldecke hervor. Seine Füße berührten kalten Holzboden, den er mit eigenen Händen immer wieder abgeschliffen hatte, wenn er spröde und rissig geworden war. Jetzt jedoch fühlte er sich glatt und weich an.
Auf nackten Sohlen schlich er zum Zimmer seiner Eltern. Kurz davor wurde er langsamer, um jedes verräterische Knacken zu vermeiden. Schließlich stand er an der Wand gegenüber, sodass er mit einem Auge durch den Spalt sehen konnte.
Sein Vater, ein gestandener Mann von Einemmeterneunzig, saß am Fußende des soliden Bettes und krümmte sich zu einem Häufchen Elend zusammen. Seine breiten, starken Schultern waren nackt und zitterten unkontrolliert. Der Mann bebte in augenscheinlicher Agonie und hatte die Hände tief in die gleichen Haare vergraben, die auch Dareon besaß.
Die hoch gewachsene Elevenderin mit dem aschblonden Haar stand schräg vor ihm, sodass Dareon beide im Blickfeld hatte. Sie hatte den zierlichen Arm weit ausgestreckt und am Ende baumelte ein weißes Stück Stoff. Das Hemd seines Vaters, das offensichtlich völlig ruiniert war. Große, blumenartige Flecken in Braun und Rot bedeckten das Kleidungsstück über und über. Die Ärmel wirkten, als hätte man sie bis zu den Achseln in diese Farben getunkt.
Erst als Dareon sich von dem verstörenden Anblick loseisen konnte und in das Gesicht seiner Mutter blickte, bemerkte er, dass sie nicht wütend war. Nein, sie weinte. Ihre zarten Schultern zuckten im selben Takt wie die seines Vaters.
Eine unbestimmte Sorge breitete sich in Dareon aus. Er verstand nicht, was hier vor sich ging, aber es war unheimlich… und etwas war falsch daran.
„Wieso, Arne? Wieso jetzt?“, fragte die Elevenderin da mit stockender Stimme.
Der Mann, der mit dem Rücken zu ihm saß, antwortete nicht, stattdessen begann er zu Schluchzen.
Dareon blinzelte verstört. Er hatte seinen stolzen Vater noch nie so erlebt, beinahe gebrochen. Und ihn so zu sehen, versetzte seine bis dahin heile Welt in eine Schieflage. Etwas stimmte ganz und gar nicht, so viel war klar, obwohl er nicht sagen konnte was.
„Du hast es mir versprochen!“ Seine Mutter schüttelte das besudelte Hemd. „Du hast versprochen, dass das aufhört!“
Der Elevender auf dem Bett jammerte, sodass man ihn kaum verstehen konnte. Aber er schien immer wieder das Selbe zu wiederholen. Gebetsmühlenartig. „Ich weiß ja. Ich weiß ja. Ich weiß ja.“
Das lange Kleid schwang weit aus, als die hübsche Frau begann im Raum auf und ab zu laufen. Damit bewegte sie sich immer wieder aus dem Abschnitt heraus, den Dareon beobachten konnte. Wie ein Uhrwerk pendelte sie durch sein Sichtfeld und ermöglichte ihm so jedesmal erneut den Anblick des rot verfärbten Stoffes, der Dareon aus irgendeinem Grund abstieß.
„Was hier zu Hause passiert ist eine Sache“, schluchzte seine Mutter in dem Versuch leise zu sein. Jetzt blieb sie vor dem gebeugten Mann stehen und sank auf die Knie. Sie langte nach dessen Händen und hielt sie fest. „Aber bitte, Arne! Bitte, lass‘ diese armen Mädchen in Ruhe.“
Dareon machte unwillkürlich einen Schritt nach hinten, spürte die unregelmäßig gemaserte Holzwand im Rücken. Sein Herzschlag beschleunigte sich, denn auch wenn er nicht genau verstand, wovon die Frau, die ihn geboren hatte, redete, so begriff er doch, dass es nichts Gutes war.
Sein Vater wandte den Kopf zur Seite. Der Gesichtsausdruck vermittelte, dass er durch die Hölle ging. Die Verzweiflung hatte tiefe Furchen in sein Antlitz gegraben und seine Züge wirkten zwanzig Jahre älter. Ingrid drehte das Gesicht ihres Mannes wieder sanft zu sich, zwang ihn, in ihre Augen zu schauen. Er stöhnte schmerzerfüllt.
„Gott ist mein Zeuge, ich versuch’s ja. Bitte, glaub‘ mir! Seit Dareons Geburt ist es viel besser geworden. Es tut mir so Leid, mein Herz. Mein Gott, es tut mir so Leid!“
Seine Mutter musterte ihn lange prüfend, bevor sie beide Hände an seine Wangen legte. Ihre Stimme wurde versöhnlicher, als wollte sie den schluchzenden Kerl trösten. „Ich liebe dich. Ich bin dein Gegenstück, du kannst mit mir machen, was du willst. Aber ich flehe dich an, tu‘ das niemals wieder.“ Jetzt begann sie erneut zu weinen. „Bitte, ich kann nicht damit leben.“
Sein Vater riss sie in seine Arme und sie umschloss ihn ebenso. Gemeinsam teilten sie ihre Trauer eine Weile, während Dareon immer unruhiger wurde, die Furcht ein finsteres Loch in seine Brust riss.Er musste den Blick abwenden, denn alles an dieser ganzen Szene gab ihm das Gefühl, als wäre nicht nur das Hemd, sondern auch ihr Heim, ihr perfektes Leben besudelt worden. Eine namenlose, giftige Seuche, die dort in diesem Zimmer waberte.
Dareon meinte schon, es wäre vorbei, als er den gedämpften Fluch seiner Mutter vernahm.
„Nicht, Arne!“ Ein leises Rascheln, dann ein Klaps. „Nicht jetzt, nicht so.“ Plötzlich war ihre Angst nicht mehr zu überhören und Dareon warf den Kopf herum.
Sein Vater war vor ihr auf die Knie gegangen, hielt sie an beiden Schultern und küsste ihren Hals. Sie wand sich unmerklich. Äußerlich war seine Mutter ruhig, sie versuchte lediglich, sich der Liebkosung sanft zu entziehen. Doch der Mann an ihrem Schlüsselbein hörte nicht auf. Da wollte sie ihn wegdrücken.
„Ich sagte, nicht so Arne! Nicht, nachdem du…“ Sie konnte den Satz nicht zu Ende bringen, denn Dareons Vater hatte blitzschnell ausgeholt und ihr mit dem Handrücken ins Gesicht geschlagen.
Draußen im Flur musste sich der zwölfjährige Junge beide Fäuste vor den Mund pressen, um nicht laut los zu schreien, während er beobachtete, wie seine Mutter zur Seite fiel und sich das blonde Haar auf den Holzfußboden ergoss. Sein Vater warf sich auf sie, packte ihr Gesicht so fest, dass sich seine Finger tief in das zarte Fleisch gruben.
„Wir sprechen nie wieder davon!“, zischte er ganz nah an ihren Lippen. „Nie wieder, hörst du?!“Der eigene Schmerz tropfte aus jeder seiner Silben.
Dann küsste sein Vater die unter ihm gefangene Frau barsch. Sie wehrte sich heftig, aber nachdem er ihr noch ein paar Ohrfeigen verpasst hatte, blieb sie reglos. Einzig ihr leises Schluchzen, die zittrigen Atemzüge und das Kratzen ihrer Nägel auf den ausgelatschten Holzdielen waren zu vernehmen.
Dareon fraß beinahe seine Fingerknöchel und konnte sich vor Schreck nicht rühren. Er begann am ganzen Leib unkontrolliert zu schlottern, wollte nur noch weg. Er durfte das hier nicht sehen, das alles nicht hören. Doch er war in seinem bewegungslosen, erstarrten Körper gefangen. Einem armseligen Körper, der viel zu schmächtig war, um seiner Mutter helfen zu können, erkannte er in diesem Augenblick.
Als er beobachte, wie sein Vater die Finger um den Hals der Frau legte, die er zu lieben gelobt hatte, bemerkte Dareon, wie die Schwärze Besitz von ihm ergriff. Sein Herzschlag, sein Atem, ja sogar die Zeit verlangsamten sich und er spürte, dass etwas in ihm starb. Ein Teil, den er noch nicht gekannt hatte und den er niemals kennen lernen würde. Er war für immer verloren. Und noch etwas zerbrach. Seine Vorstellung von der Welt. Sie zerfiel in tausend Scherben und hinterließ nichts als eine Ahnung davon, dass es sie einmal gegeben hatte.
Sein Vater zerrte an dem weiten Rock, bis er die weißen, langen Beine seiner Mutter entblößt hatte. Er spreizte ihre Schenkel weit, drängte sich dazwischen. Und obwohl Dareon dies noch nie gesehen hatte, wusste er, was gleich geschehen würde war Unrecht.
Während sein Vater sich rhythmisch bewegte, hielt er sein Gegenstück fest. Eine Hand immer noch um ihren Hals gelegt. Er schien zuzudrücken, denn das Gesicht seiner Mutter verfärbte sich erst rot, dann leicht bläulich, die Augen hatte sie weit aufgerissen.Irgendwann klappte ihr Mund auf, als versuchte sie verzweifelt nach Luft zu schnappen. Ohne Erfolg.
Dareon streckte die Hand nach ihr aus, doch seine Beine wollten ihm nicht gehorchen. Sie gaben einfach unter ihm nach, sodass er mit einem dumpfen Laut auf dem Boden aufprallte.
Da warf sein Vater den Kopf herum und fixierte Dareon durch den Türspalt. Das Gesicht, das dem seines Sohnes so ähnlich sah, war kaum mehr wieder zu erkennen. Auch seine Mutter hatte sich ihm zugewandt und sie versuchte anscheinend, Worte durch ihre gewaltsam verengte Kehle zu pressen. Sie brauchte drei Anläufe bis es ihr gelang.
„Lauf, Dareon! Lauf!“
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„Am Tag darauf stellte sich heraus, dass ein 15-jähriges Mädchen aus unserer Nachbarsiedlungermordet worden war“, schloss Dareon seinen Bericht. In seinem Kopf spulteer den Film wieder und wieder ab, bis zu dem Punkt, als er am nächsten Morgen beim Wasser Holen die Menschentraube in der Nähe des Waldwegs entdeckt hatte. Seine gebrochenen Rippen und das zerschundene Gesicht hatten bereits zu heilen begonnen, dennoch hatte sein Körper immer noch von den Schlägen seines Vaters geächzt.
Er war zu den aufgeregt durcheinander redenden Nachbarn gehumpelt. Doch er hatte sie noch nicht erreicht, war eine Frau an ihm vorbei gestürmt. Sie hatte eine Schneise in die menschliche Wand gerissen. Dann ein Schrei, ehe sie vor dem toten Körper am Boden zusammengebrochen war. So hatte Dareon zum ersten Mal in seinem Leben eine Leiche gesehen.
Beinahe ein Jahrhundert hatte es gebraucht, bis der Anblick ihn nicht mehr in seinen Träumen verfolgt hatte. Blondes Haar, verklebt von geronnenem Blut. Keine Körperstelle des Opfers war unversehrt geblieben, nicht aufgeschlitzt worden. Als hätte der Verursacher der Wunden nicht genug davon kriegen können. Der nach oben geschobene Rock hatte Dareon an die vorherige Nacht erinnert. Er spürte heute noch die zerfressende Erkenntnis und die schockierende Empörung.
„Als ich die Leiche sah, wusste ich sofort, dass es mein Vater gewesen war.“
Er hörte Cat neben ihm tief Luft holen. Während seiner Erzählung hatte sie seine Hand immer fester gepackt. Ihm signalisiert, dass der kleine Junge damals vielleicht allein in diesem Flur gestanden hatte, der erwachsene Mann hier und heute in diesem Auto es jedoch keineswegs war. Die Anwesenheit ihrer zierlichen Gestalt, so klein sie auch sein mochte, hatte ihm Schutz vor der Vergangenheit gewährt.
Er hatte sich seinem Gegenstück geöffnet und da sie ihn offenbar unbeirrt festhielt, trotz allem, passierte etwas in seinem Inneren. Zuerst kapierte er nicht, was es war, doch dann kam das Gefühl einem Erdrutsch gleich. Unaufhaltsam und alles unter sich begrabend. Er musste weiter erzählen, bis Cat alles wusste.
„Während der Jahre danach, habe ich versucht, mich einzumischen. Das hat mir jedesmal blaue Augen und Knochenbrüchebeschert, aber nicht verhindert, dass Arne meine Mutter missbrauchte. Doch er hat kein Mädchen mehr angerührt, bis…“
„Bis du 16 warst“, kombinierte Cat.
Dareon nickte langsam. Das Unwetter peitschte gegen die Fensterscheiben und er lehnte die Stirn an das kühle Glas. Eine Wohltat für seinen aufgewühlten Verstand, der sein System heiß laufen ließ.
„Die junge Frau war Mitglied eines Wanderzirkusses. Ich wusste sofort Bescheid, als sich die Neuigkeit verbreitete und meine Mutter ebenso. Und wie sie damals gesagt hatte, damit konnte sie nicht leben. Sie hat sich umgebracht.“ Elevender konnten nicht so einfach sterben, deshalb hatte sie sich für Feuer entschieden.
Jetzt musste er Cat doch anschauen. Eindringlich bohrten sich seine Augen in ihre, damit er sehen konnte, dass sie begriff. „Verstehst du, was ich sage, Cat? Dass meine Mutter meinen Vater geliebt hat, dass sie sein Gegenstück war. Das hat sie getötet.“ Nachdem es ihr Jahrhunderte lang das Leben und das Glück ausgesaugt hatte. „Sie hat ihn so sehr geliebt, dass sie nichts gegen ihn unternehmen konnte. Also hat sie für sich den einzigen Ausweg gewählt. Dieses Schicksal will ich nicht für dich.“
Cats Gesichtsausdruck spiegelte maßloses Erstaunen wieder. „Oh, mein Gott, du denkst doch nicht etwa…“ Sie langte mit beiden Händen nach seinem Unterarm und rüttelte daran. „Ich kenne dich noch nicht lange, aber ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass du nicht wie dein Vater bist. Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen.“
Dareon konnte nicht anders, er lachte sarkastisch auf. „Dann wirst du dabei zusehen müssen, wie sie gnadenlos verbrennt“, griff er das Gleichnis auf, gewährte ihr und sich selbst keine Zuflucht vor der Wahrheit. Sie würde es gleich begreifen, denn er war noch nicht fertig.
„Weißt du, ich bin mit dem Vorsatz von Island weg, niemals so zuwerden wie er. Mein ganzes Leben lang habe ich krampfhaft versucht, das Richtige zu tun. Die abgrundtiefe Dunkelheit in mir zu begraben oder sie mit guten Taten auszufüllen. Es hat nicht geklappt.“ Das Ding war wie ein schwarzes Loch gewesen. Jeder Versuch, es mit etwas zu stopfen, hatte es nur noch größer werden lassen.
Cat beugte sich zu ihm vor und legte eine Hand in seinen Nacken. Der Griff war nicht fest und doch fühlte es sich an, als ob sie ihn damit für sich beanspruchte. Ihn heran zog, anstatt ihn wegzustoßen. Was sie auch einen Augenblick später in der Realität tat. „Du hast getan, was du konntest. Und das ist das Wichtigste.“
„Darum geht es nicht.“ Er konnte nicht verhindern, dass er wütend wurde. Nicht auf sie, sondern auf sein eigenes Scheiß-Leben. Darauf, dass alles so gekommen war und er es nicht hatte stoppen können.
„Worum dann?“
„Ich kann nicht aus meiner Haut, Cat. Verstehst du? Dieses Gesicht, diese Haare, das ist alles mein Vater und das auch!“ Er schlug sich auf die Brust, dass es dröhnte.
„Du magst ihm vielleicht ähnlich sehen, aber….“
„Nein! Kapierst du es nicht? Er ist in mir! Genauso wie er in meinem Bruder war. In unseren Adern fließt dasselbe Blut, wir teilen dieselben Gene und zwei von uns sind zu Vergewaltigern und Frauen-Mördern geworden. Verstehst du es jetzt endlich?!“ Erschrocken bemerkte er, dass er brüllte.
Während in Dareon das Chaos wütete, schien Cat jedoch genau den Gegenpol zu bilden. Je emotionaler er wurde, umso ruhiger wurde sein Gegenstück, umso liebevoller sah sie ihm in die Augen. Sie wich nicht zurück und er spürte es tief drinnen, sie hatte auch keine Angst, obwohl er alles daran setzte, ihr die einzuflößen.
„Dein Bruder war nicht der Sohn deiner Mutter, oder?“, fragte sie bedächtig und legte den Kopf schief. Die Sanftheit in ihrem Gesicht überwältigte ihn beinahe. Er schluckte hart.
„Nein.“ Seine Stimme versagte abermals und er musste sich mehrfach räuspern, um sie wieder in Gang zu kriegen. „Als ich von Island wegging, dachte ich, ich wäre der einzige Überlebende aus meiner Familie. Nachdem meine Mutter gestorben war, war ich total fertig, wusste nicht wohin mit meiner Trauer und Wut. Sie hatte diesen Weg gewählt, doch meiner sah anders aus. Ich musste sie rächen, Cat. Ich musste diesen Bastard dafür zahlen lassen, was er ihr und wer weiß wie vielen Mädchen angetan hatte.“
Sein Gegenstück nickte verständnisvoll, als könne sie tatsächlich erfassen, was in ihm vorgegangen war. Doch soviel Güte verdiente er nicht, weswegen er sich frei machte.
„Dass ich es noch nicht mal geschafft hatte, ihn zu erledigen, wurde mir erst klar, als ich Mylie begegnet bin.“
Cat legte die Finger an die Lippen. „Oh, mein Gott….“, hauchte sie, als ahnte sie bereits, was er sagen wollte. Doch es war alles so viel schlimmer.
„Vor zwölf Jahren war ich nachts auf Patrouille. Ich bemerkte einen Überfall in einer kleinen Gasse. Ich habe eingegriffen und als der Kerl weg war, hat das Opfer, eine Frau, mich angesehen und war plötzlich geschockt. Mehr als nur von der Gewalt. Sie sagte, ich sähe aus wie ihr Mann.“ Sein Blut war ihm in den Adern gefroren, weil er zuerst angenommen hatte, sie spräche von seinem Vater. Fehlanzeige.
„Die Frau. Das war Mylie?“ Cats Daumen strichen tröstlich über seinen Arm, die Bewegung hatte etwas Hypnotisierendes an sich.
„Ja. Später bin ich ihr gefolgt und habe dann auch ihren Mann gesehen. Es war nicht mein alter Herr, aber der Kerl hätte ein Abziehbild von ihm sein können. Und von mir. Außerdem war er menschlich.“ Cat hob überrascht die Augenbrauen. „Das konnte alles kein Zufall sein. Mein Vater musste am Leben sein und noch einen Sohn gezeugt haben. Als ich die beiden besser kennen lernte, bestätigte ihre Familiengeschichte meine Annahmen.“
Er machte eine Pause vom Reden. Sein Mund war so trocken, dass ein klickendes Geräusch entstand, als er schluckte. Doch nichts würde ihn jetzt noch davon abhalten, die Geschichte zu Ende zu bringen.
„Mein Bruder hieß Erik. Er war nicht mit seinem Vater aufgewachsen, kannte ihn eigentlich nur von Fotos und Videoaufnahmen.“ Auf die Leinwand gebannter Horror, furchteinflößender als jeder Splatterstreifen.Der Schock, der Dareon erfasst hatte, als er die Beweise für die Lebendigkeit seines Erzeugers zum ersten Mal gesehen hatte, verursachte auch jetzt wieder eine Gänsehaut. „Ich dachte, wenn Erik nicht mit unserem Vater zusammen gelebt hatte und seiner Mutter nichts geschehen war, sei all die Scheiße an ihm vorbei geschwommen. Hätte ihn nicht verseucht, so wie mich. Doch nach einigen Monaten sind mir bei einem Besuch blaue Flecken an Mylies Hals aufgefallen.“
Solche Verletzungen waren immer häufiger vorgekommen, bis er es nicht mehr ausgehalten und sie darauf angesprochen hatte. Das alles war wie eine kosmische Tragödie gewesen, die wieder und wieder aufgeführt wurde. Über Jahrhunderte hinweg, von verschiedenen Akteuren.
„Sie bat mich, nichts zu Erik zu sagen, ihn in Ruhe zu lassen. Sie hat gesagt, dass sie ihn liebte.“ Scheiße, das Theaterstück hatte sogar denselben Text gehabt. „Ich konnte ihr nicht antun, ihn ihr wegzunehmen. Das hätte sie genauso zerstört wie er es tat. Also habe ich versucht, auf sie aufzupassen.“ Mylie war das Sinnbild seines Überlebens gewesen. Der Inbegriff dessen, was er versäumt hatte und nun nachholen konnte. Doch er hatte abermals versagt.
„Letztlich konnte ich sie nicht retten. Eines Nachts hat Erik sie solange gewürgt, bis sie irreparable Hirnschäden davon getragen hatte.“
Ein Blick zu Cat zeigte, dass stumme Tränen ihre Wangen runter liefen.
„Ich habe ihm den Kopf abgehackt. Mit einer Machete. Wenigstens dieses eine Mal wollte ich es richtig machen.“
Cat schlug sich die Hand vor den Mund. Ruckartig wandte sie sich ab, stürzte hinaus in das Gewitter und erbrach sich neben das Auto. Dareon blieb noch einen Moment wie betäubt sitzen und hörte sie würgen. Mittlerweile dämmerte es und der Sturm fing das restliche Tageslicht ab, sodass es dunkel geworden war. Bevor er ausstieg, machte er die Scheinwerfer an.
Nachdem er das Auto umrundet hatte, war er bereits bis auf die Knochen durchnässt. Regentropfen brachten seiner Haut kleine Nadelstiche bei, Böen zerrten an seiner Kleidung. Doch die Hölle um ihn herum war nichts im Vergleich zu der Hölle in seinem Inneren. Als er sich zu Cat hinunter beugte, war ihm klar, dass das das Ende war.
Er hatte all seine Sünden gebeichtet und endlich ekelte sie sich vor ihm.
Sie würgte und würgte, wobei nicht viel heraus kam. Galle brannte in ihrer Kehle und auf der Zunge. Tränen rannen aus ihren Augen, aber nicht wegen der Kotzerei.
Dareons Geschichte, seine Vergangenheit, war ein harter Brocken. Das musste sie zugeben. Bei all den Möglichkeiten, die ihr im Kopf herumgeschwirrt waren, hatte sie niemals erwartet, was tatsächlich hinter seinem Verhalten, seinen Geheimnissen steckte.
Nun verstand sie es. Die schreckliche Kindheit ihres Gegenstücks. Sein Gefühl der Machtlosigkeit und Schwäche angesichts der damals auswegslosen Situation. Der Schrecken, der ihn Jahrhunderte später erneut eingeholt hatte, sodass er glaubte, dass das alles auch für ihn unausweichlich sei. Daneben die Schuld, mein Gott, er empfand so viel Schuld.
Und klar, es zog ihr die Schuhe aus, stülpte ihr den Magen nach außen. Doch nicht wegen seiner augenscheinlichgrausamen Seite, die von dem Geschehenen geformt worden war, oder wegen dem schrecklichen Schicksal, das er erlitten hatte.
Sondern weil es ihr das Herz brach, dass Dareon nicht sehen konnte wer und was er wirklich war. Seine Umgebung betrachtete er mit eisiger Klarheit, doch sich selbst konnte er nicht wahrheitsgetreu reflektieren. Er war felsenfest davon überzeugt, diese psychopathischen Wesenszüge seines Vaters geerbt zu haben und dass sie sich bereits gezeigt hatten, weil er seinen Erzeuger und seinen Bruder zur Rechenschaft gezogen hatte. Oder es zumindest gewollt hatte.
Außerdem war ihr auch klar geworden, dass seine Aufgabe noch nicht erledigt war. Er würde erst Ruhe finden, wenn er den kranken Mann, der ihn aufgezogen hatte, unter die Erde gebracht hatte.
Als Cat sich aufrichtete, stand Dareon neben ihr und reichte ihr ein Papiertaschentuch. Der Regen, den sie bis jetzt gar nicht gespürt hatte, hatte das Gewebe aufgeweicht. Es zerfledderte bereits ein wenig, während sie es entgegennahm und sich über Mund und Kinn wischte. Dabei musste sie das Haar zur Seite halten, weil es ihr immer wieder ins Gesicht peitschte. Komisch, die Welt sah plötzlich so aus, wie sie sich fühlte.
Sie setzte zu der entscheidenden Frage an, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Nicht sie musste sie hören, sondern er. Um das Heulen des Windes zu übertönen, hob sie die Stimme an.
„Hast du jemals einer Frau etwas zu Leide getan?“
Er starrte sie lange an. „Nein, nie.“
Sie machte eine Pause, damit die Bedeutung auch bei ihm ankam.
„Sie haben es verdient“, sagte sie schließlich und es war unnötig, sie genauer zu definieren.
Er machte einen ungeduldigen Laut. „Cat, ich hab’s dir schon gesagt. Ich bin verseucht. Diese Bosheit steckt in mir. Sie wird in meiner Familie vererbt, von Generation zu Generation. Versuch‘ nicht, diese ganze Sache, insbesondere mich, zu rechtfertigen. Das wäre vergebene Mühe. Und gefährlich obendrein. Wenn du mit mir zusammen sein willst, musst du wissen, was auf dich zukommen könnte. Und du musst bereit sein, den Schlussstrich zu ziehen und dich zu retten, wenn ich nicht mehr zu retten bin.“
Ihre Empörung war so groß, dass sie widersprechen musste und sie konnte ihn nicht in der Annahme lassen, dass er ihr irgendwann einmal wehtun würde. Sie wusste es besser. „Das wird nicht geschehen und ich kann nicht mehr einfach so gehen.“
„Das ist ja das Problem. Cat, die Männer in meiner Familie verletzen die Frauen, die sie lieben. Und ich…“ Er rang mit den Händen, Blitze zuckten im Hintergrund über den Himmel. „Ich liebe nun mal dich.“
Cats Herz begann zu rasen. Sicher waren dies nicht die romantischsten Umstände für eine Liebeserklärung, doch die Worte bewirkten genau das Gleiche, wie sie es an jedem anderen Ort und zu jeder anderen Zeit getan hätten. Gegenstücke zu sein konnte man sich nicht aussuchen, die Anziehung und die aufkeimenden Gefühle schienen ihr auf einmal nur logisch. Aber seine Warnung und sein Geständnis deuteten darauf hin, dass er auch eine Entscheidung getroffen hatte. Und sie war zu ihren Gunsten ausgefallen, obwohl er sich sorgte, was dann mit ihr geschehen würde.
Das Glücksgefühl in ihrer Brust war so mächtig, dass es die Schatten seiner, aber auch ihrer Vergangenheit verdrängte. Nein, nicht für verdrängte. Wie ein gleißendes Licht erfüllte es Cat ganz und gar, die Dunkelheit hatte keine Chance, sie wurde restlos getilgt. Und alles, was bei Nacht noch so bedrohlich gewirkt hatte, schien ihr nun lediglich wie ein Stolperstein. Denn die Liebe überwand alles. Solange sie die hatten, konnte ihnen nichts geschehen.
Und sie wollte, dass auch Dareon diese Erkenntnis zu Teil wurde, damit sie ihn befreite. Endlich.
Ihre Kleidung klebte trotz des Mantels vor Nässe an ihrem Körper und behinderte sie ein wenig, als sie die Hand nach Dareon ausstreckte. Aufhalten konnte sie das jedoch nicht.
Er kam ihr nicht entgegen und sie zog das Angebot nicht zurück.
„Hör‘ mal, D.“ Er wollte sie unterbrechen, doch sie stoppte ihn mit einem Blick. „Jetzt bin ich dran!“ Nachdem er sie mit finsterem Gesichtsausdruck gewähren ließ, fuhr sie fort. „Wir konnten uns unsere Eltern nicht aussuchen. Du nicht und ich nicht. Sie haben uns Narben zugefügt, wir haben schlimme Dinge getan. Ich nicht weniger als du. Aber weißt du was? Sie konnten uns nicht fertig machen. Und hätten wir diese Vergangenheit nicht gehabt, stünden wir heute nicht hier an diesem Ort. Vielleicht wären wir uns nie begegnet, du hättest mich nie gerettet, womöglich wäre ich jetzt sogar tot. Aber so ist es nicht.“
Sie ging einen Schritt auf ihn zu, bis sie die flache Hand auf seine Brust pressen konnte, genau über sein schlagendes Herz.
„Das hier ist die Realität. Wir beide. So sieht sie nun mal aus. Du bist es, der verstehen muss, dass das hier unsere Chance ist, das alles hinter uns zu lassen. Ein neues, glücklicheres Leben zu beginnen. Und ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt, wie mit dir, Dareon. Ich liebe dich von unserer ersten Begegnung an und seither jeden Tag mehr. Und es gibt nichts, weder deine Vergangenheit, noch meine, das ich dagegen eintauschen würde.“
Einen endlosen Augenblick lang sah er sie nur an, dann plötzlich… verdammt, weinte er etwa?
Bevor sie sich in dem düsteren Licht versichern konnte, sank ihr Gegenstück vor ihr auf die Knie und schlang die Arme um sie. Barg sein Gesicht an ihrer Brust.
„Mein Gott. Wie kannst du mich nur lieben, nach allem…. Ich hab‘ dich nicht verdient“, murmelte er in die Falten ihrer Kleidung.
Sie hielt ihn ihrerseits so fest sie konnte, während das Wasser ihr Gesicht hinab rann, der Himmel über ihnen weinte und die Erde sich auftat, um ein neues Zeitalter beginnen zu lassen.
„Doch, das hast du.“
Eine Bewegung an ihrem Bauch signalisierte, dass er den Kopf schüttelte. „Ich bin ein Killer.“
Cat strich ihm sanft durch die klatschnassen Locken. Jetzt fühlten sie sich an wie frischgeschorene Wolle. „Ich auch.“
„Nicht so. Du hast es nicht gewollt“, widersprach er, doch sie bemerkte, wie seine Überzeugung bröckelte.
Sie legte die Finger unter sein Kinn und zwang ihn, sie anzusehen. Seine Augen waren groß, Tropfen perlten von den langen Wimpern und er blinzelte gegen den Regen an.
„Wenn wir Sex haben, spürst du dann diese Verbindung zwischen uns? Kannst du auch mein Innerstes sehen?“
Er nickte beklommen.
„Du bist ein guter Mensch, Dareon. Ich weiß das, weil ich dein Herz gesehen habe. So klar, wie ich dich jetzt sehe. Und es ist nicht verdorben. Es ist rein und voller Hingabe, voller Liebe. Ich würde dir mein Leben anvertrauen. Nicht, weil ich irgendetwas glaube, oder Wunschträumen hinterher jage. Sondern weil ich weiß, dass du niemals wie dein Vater sein wirst. Du hast die Liebe in dir. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen und das bedeutet, er hat bereits verloren, D. Er konnte dir nichts anhaben.“
Der Damm brach und irgendwie heulten sie jetzt beide, klammerten sich an einander fest, während der Wind an ihnen zerrte, Wasser auf sie nieder prasselte. Schniefend beugte Cat sich herab und als sie ihre Lippen auf seine presste, wusste sie, dass Dareon begann, ihr zu glauben. Dass ihre Worte etwas in ihm verändert hatten. Es würde noch ein weiter Weg werden, bis er mit seiner Vergangenheit komplett abgeschlossen hatte. Auch sein Vater stand immer noch auf der zu Erledigen-Liste und bevor das nicht getan war, würde er nie ganz vergessen.
Doch sie spürte es. Hier und heute, inmitten eines kleinen Weltuntergangs, hatte Dareon gelernt, dass er sich lieben lassen durfte und er hatte begonnen, sich selbst zu verzeihen.
„Eine Drohne?“, fragte Xandra scharf, nachdem sie die Tür hinter Christian geschlossen hatte. Der würde Syn zurück zum Park bringen, natürlich gemeinsam mit einem weiteren Jäger und einem gut verpackten KeShe-Generator. Sie selbst blieb, denn sie konnte es nicht erwarten, die beiden Ratsmitglieder zur Rede zu stellen.
Ihr Vater interessierte sich nur wenig für ihr Aufbrausen. Er saß immer noch auf der Couch und betrachtete unbeteiligt seine Hände.
„Wozu brauchen wir eine Drohne?“
Bezeichnender Weise war es Markus, der antwortete. „Wir haben wahrscheinlich die Möglichkeit, an eine Waffe zu gelangen, die nur Elevendern schadet. Es ist noch nicht in trockenen Tüchern, aber wenn alles so klappen sollte, wie wir uns das vorstellen, haben wir endlich einen entscheidenden Trumpf gegen die Hegedunen in der Hand. Dann brauchen wir ein Fluggerät, das die Waffe transportieren kann.“
Xandras Mund klappte auf, so überrascht war sie von der Neuigkeit. Zunächst wusste sie nicht, wie sie darüber denken sollte, dann fiel ihr ein, wie die beiden Elevender ihr Anliegen gegenüber Syn durchgesetzt hatten.
„Selbst wenn das eintreffen sollte, waren diese Methodenwirklich nötig?“ Sie bekam Bauchgrummeln, wenn sie daran dachte, die Beziehung zu Bald-Verbündeten auf diese Weise zu beginnen. Die beiden Männerauf der Couch waren verdammt schlau, sie hatten nicht umsonst einen Posten im Rat inne. Dieser wurde gewählt und im Allgemeinen konnte man sich in der Position nur halten, wenn man weise Entscheidungen traf und sich wie ein guter Anführer verhielt. Das, was gerade eben geschehen war, gehörte nicht in diese Kategorie.
„Manchmal rechtfertigt der Zweck die Mittel.“ Markus‘ Bernsteinaugen blieben unverwandt auf sie gerichtet, als wollte er ihr ermöglichen, seine guten Absichten darin zu lesen. Doch nach dem kleinen Schauspiel vorhin, konnte sie ihm nichtmehr ohne Weiteres glauben. Auch das schien er sofort zu erfassen, denn er setzte nach. „Denkst du nicht auch, es wäre tragisch, wenn wir diesen Vorteil durch eine Unachtsamkeit verschenken würden? Ich habe diesem Ordens-Mitglied nur etwas mehr Motivation verschafft. Der Rest war die Wahrheit.“
Klar. Und Xandra war eigentlich ein großer, berühmter Sänger mit Haartolle und Blue Suede Shoes.
Sie blickte zu ihrem Vater und versuchte zu erkennen, wie er zu der Sache stand. Ob er nicht erkannte, dass Markus ein brillanter Stratege war oder ob es ihm schlicht gleichgültig war. Er gab keinen Hinweis, um die Frage endgültig zu erklären, stattdessen konzentrierte er sich auf die Bekräftigung der Aussagen seines Kollegen.
„Wir müssen die mögliche Existenz einer solchen Waffe und unsere Planungen für einen Angriff unbedingt geheim halten. Das ist unsere größte Chance seit Jahrhunderten und sie muss die Hegedunen völlig überraschend treffen. Sobald die Fertigung der Waffe beendet ist, sollten wir in der Lage sein, unmittelbar loszuschlagen. Das heißt, bis dahin muss alles Notwendige vorbereitet sein. Wenn wir dazu einen Menschen etwas unter Druck setzen müssen, dann bin ich bereit, dieses Risiko einzugehen.“
Tja und da war es wieder. Das Problem mit der Moral. Ob Xandra wollte oder nicht, ihr Vater hatte Recht. Wenn das alles stimmte, was die beiden eben preisgegeben hatten, war es ihre erste echte Möglichkeit, die Hegedunen entscheidend zu treffen. Insofern machte das Verhalten der beiden Ratsmitglieder Sinn, auch wenn sie es nicht guthieß. Und solange diese Versammlung zwischen Orden und Legion für die Beseitigung aller Zweifel sorgen würde, entstand wahrscheinlich kein Schaden, wenn sie dem Willen ihres Vaters vorerst folgte. Das nahm sie zumindest an.
„Ihr bewegt euch auf einem schmalen Grat“, warnte sie und meinte damit vor allem Chronos.
„Ja.“ Völlig emotionslos kam die Antwort. „Ich weiß, du bist zu schlau, um irrational zu handeln.“ Und das war seine Mahnung an ihre Verschwiegenheit.
Sie enthielt sich eines Kommentares zu diesem Thema, denn es gab nur noch eins, das sie den beiden Männern mit auf den Weg geben wollte. Nicht zu letzt, weil sie sich für die Integrität und Zuverlässigkeit ihres Vaters verantwortlich fühlte. „Wenn ihr die Mitglieder der Legion nach diesem Treffen nicht informiert, werde ich das tun. Ich werde sagen, du hast mich darum gebeten.“
Als sie ihrem Vater in die Augen schaute, wusste sie, dass er verstanden hatte. Einfach alles. Was sie dachte und was sie von ihm erwartete, auch wenn er das als unbedeutend erachtete. Der Mann war ein Genie und machte nicht den Fehler, die Entschlossenheit seiner eigenen Tochter zu unterschätzen.
„Ich verstehe.“ Damit stand er auf und wies sie mit einer lapidaren Handbewegung an, die Türe zu öffnen. Xandra fügte sich, jedoch nicht ohne ein Augenrollen. Natürlich erst, nachdem sie ihm den Rücken zugekehrt hatte.
Draußen warteten ihr Kollege und der fremde Legionist. Sie lehnten stumm an der Wand gegenüber, doch wirkten sie, als hätten sie sich angefreundet. Typisch Ferroc eben. Allerdings sah er nicht mehr ganz so ausgeglichen aus, als er Xandras Gesichtsausdruck entdeckte. Derverriet mehr, als sie es im Augenblick in Worte hätte fassen können und auf dem Rückweg zu den Sofas spürte sie seine große, beruhigende Pranke im Rücken.
Nachdem man gemeinsam den Teil über die McCarteys und die Cohens erörtert hatte, verabschiedeten sich die Europäer. Diesmal bekam Xandra sogar ein Schulterdrücken von ihrem Vater, was ihm wohl ihre Mitarbeit sichern sollte. Nicht, dass er es aus Sentimentalität getan hätte.
Die drei Männer verschwanden so laut- und spurlos aus dem Büro, wie sie gekommen waren und Ferroc öffnete und schloss seinen Schild für sie. Kaum waren sie weg, ließ Xandra sich mit einem erleichterten Seufzen auf die Couch fallen. Da sie nur noch zu zweit waren, streifte sie die Stiefel ab und legte die Beine hoch.
Im nächsten Moment brachte ihr Ferroc auch schon ein Gläschen flüssige Beruhigung, als hätte er geahnt, dass sie es bitter nötig hatte. Die Anspannung saß einfach in jeder Zelle. Das war bei ihr meist so, aber wenn ihr Vater zugegen war, verstärkte es sich noch. Die verhärteten Muskeln im Nacken meldeten sich und sie spürte schon das erste Pochen im Kopf. Scheiße, bald würde wieder eine heftige Migräne aufziehen.
Ferroc saß gegenüber und betrachtete sie eine Weile. Er wartete wohl auf eine Erklärung. Die sie ihm nicht geben konnte.
„Was läuft da?“ Natürlich meinte er nicht die McCartey-Sache.
Kraftlos winkte sie ab. „Frag‘ nicht.“
Als er ihre Stimmung bemerkte, bohrte er tatsächlich nicht weiter nach. „Ich verstehe jetzt, warum ich deinen Vater noch nicht kennen gelernt habe, obwohl wir uns schon ein paar Jahrhunderte lang kennen.“ Sein Ton verriet nicht, dass er wissen musste, dass die Sache Xandra nicht unberührt ließ. Sie massierte sich die Schläfen.
„Er ist ein echter Sonnenschein, nicht?“
Das entlockte Ferroc schon ein kleines Lächeln und sie machte unwillkürlich mit.
„Dachte schon, er hätte eine Gesichtslähmung.“
„Könnte vielleicht sogar zutreffen“, stimmte sie zu und sie begannen gleichzeitig zu kichern. Sogleich löste sich ein Teil ihrer Anspannung. „Aber das muss schon vor meiner Zeit passiert sein.“
„Wenn du erst so alt bist, ist dir Mimik vielleicht auch egal.“
„Oh, nein, glaube ich nicht. Hast du schon einmal innige, wilde Freude empfunden, ohne zu lachen oder zu grinsen?“
Er überlegte eine Weile, bis er ihr eine ehrliche Antwort gab. „Ich weiß nicht. Aber ich verstehe, was du meinst.“
„Deswegen mache ich mir manchmal Sorgen um ihn. Wenn man verlernt menschlich zu sein, wird das Handeln irgendwann nur noch von Berechnung geleitet.“ Noch mochte ihr Vater vielleicht die richtigen Ziele verfolgen, aber wer wusste, wo er ohne die Grenzen der Moral hingelangen würde, sollte er sie je vollends verlieren.
Ferroc neigte nur den Kopf und sah zum Fenster raus, doch es wirkte mehr als blickte er in sich hinein, denn in die Ferne. Kurz konnte man die Schatten in seinen Augen erkennen.
„Manchen Dinge verändern uns“, sagte er schließlich etwas abwesend und Xandra fragte sich plötzlich, wie lange er das Anwesen nicht verlassen hatte. Das musste einige Jahrzehnte her gewesen sein, wahrscheinlich seit sie hier eingezogen waren. Das Wissen machte ihr das Herz schwer und sie schätzte die Freundlichkeit und Güte, die er sich bewahrt hatte, gleich noch mehr.
Er schüttelte reflexartig den Kopf und kehrte in die Gegenwart zurück. „Was machen wir jetzt wegen den Cohens?“
Bevor sie das Treffen aufgelöst hatten, hatte sie mit Syn verabredet, dass der Orden bei den McCarteys graben und sich dann melden würde.
„Auf Syns Anruf warten, schätze ich.“
Diesmal war es Dareon, dem der Beifahrersitz zugefallen war. Der Seelenstriptease saß ihm noch in den Knochen, doch er bereute nichts. Er betrachtete Cat von der Seite und konnte immer noch nicht ganz fassen, dass sie ihn nicht verabscheute. Entgegen seinen Erwartungen und trotz der schrecklichen Wahrheit schien sie ihn zu lieben, unverrückbar. Und jedes Mal, wenn er in ihre Augen sah, sprach dieses Gefühl zu ihm. Etwas in ihm hatte seinen Platz gefunden, als hätten sie beide eine endgültige Entscheidung getroffen. Für einander.
Und da sie beide alle Barrieren fallen gelassen, ja geradezu nieder gerissen hatten, war der Blick in die Seele des anderen plötzlich unverstellt. Bei jeder Berührung spürte er Cats Wesen, wusste, was in ihr vorging, konnte erahnen, was sie dachte. Es war merkwürdig und doch berauschend zugleich. Und obwohl ihm dasso fremd war und gegen all seine Gewohnheiten ging, genoss er, dass er sich nicht verstecken konnte und es auch nicht musste. Cats bedingungslose Akzeptanz schenkte ihm eine Freiheit, die er nicht für möglich gehalten hatte. Es war eine grenzenlose Erleichterung, als könnte er zum ersten Mal seit Jahrhunderten wieder frei atmen.
Unwillkürlich musste er seine Frau berühren. Es war ein Reflex, der ihn nie wieder verlassen würde. Er strich ihr das seidige Haar hinters Ohr und sonnte sich in ihrer hellen Zuneigung, die bei der Berührung in ihn einströmte und ihn mit jedem Mal mehr gesunden ließ. Cat lächelte und legte die Wange in seine Handfläche, jedoch löste sie den Blick nicht von der Straße.
„Es ist nicht mehr weit“, sagte sie leise, als er den Arm sinken ließ, um die Heizung aufzudrehen. Ihre Klammotten waren immer noch feucht und auf allen Glasflächen der Fahrerkabine hatte sich ein dunstiger Schleier gebildet. Er beugte sich vor und zeichnete mit dem Zeigefinger ein Herz in die Mitte der beschlagenen Windschutzscheibe.
Cat neben ihm schmunzelte. „Ich mag deine süße Seite. Alle anderen auch, aber die besonders.“
Das ließ er sich nicht zwei Mal sagen und platzierte ihrer beider Initialen unter der Zeichnung. Für sie hätte er das ganze Auto mit Herzchen zugepflastert. Alles, wenn sie nur glücklich war.
„Erklär‘ mir doch bitte mal, wieso wir klatschnass in die Stadt zurück fahren, anstatt zu Hause unter die Dusche zu hüpfen….“ Zu Hause. Die Worte bekamen eine gänzlich neue Bedeutung für ihn. „Wo ich mich ausführlich um dich kümmern kann.“
Cat errötete einwenig, ließ sich jedoch nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Sie setzte den Blinker und bog rechts ab, dann hob sie unbestimmt die Achseln. „Ich dachte, das zwischen uns ist ein Geben und Nehmen. Du hast mir deine Vergangenheit gezeigt. Jetzt bin ich dran.“
Eins ums andere nahm sich Cat Teile von ihm. Mit jeder Bemerkung eroberte sie sein Herz mehr und obwohl er den Gedanken an feuchte, glitschige Haut nicht ganz verdrängen konnte, war er doch neugierig. Er wollte sie ganz und dazu gehörte alles, was sie ihm mitteilen wollte. Es gefiel ihm, immer mehr über sie zu erfahren, als wäre sie das spannendste Buch, das er je gelesen hatte.
Also ließ er sich überraschen. Dareon lehnte sich im Sitz zurück und schwelgte in der Entspannung, die Cat ihm schenkte. Er konnte sich gar nicht mehr erinnern, wie es war, sich so losgelöst zu fühlen. Das allein hätte schon genügt, ihn für immer an die zierliche Frau zu seiner Linken zu binden. Obwohl es nicht so war, als hätte er weitere Gründe dafür benötigt.
Schließlich parkte sie den Lexus, er hatte den Wagen wegen der berühmten Sicherheit des Modells gewählt, auf einem großen Kiesparkplatz. Zu dieser späten Stunde waren sie die Einzigen weit und breit. Die riesigen, kastenartigen Gebäude rund um sie herum, erinnerten an Fertigungshallen. Wahrscheinlich befanden sie sich in einem der fünf Industriegebiete von Ceiling. Er hatte nicht auf den Weg geachtet, konnte es also nicht genau sagen.
Cat stieg aus. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen und war zu einem stetigen Nieseln geworden. Dareon holte den Schirm vom Rücksitz und folgte ihr. Nachdem er das dunkelblaue Gewebe entfaltet hatte, hakte sie sich unter und führte ihn quer über den verlassenen Parkplatz. Bald schon ließen sie das spärliche Licht der dortigen Laternen hinter sich und gingen zwischen zwei langen Hallen durch, bis sie vor einer Weiteren stehen blieben.
Er musterte den metallenen Bau. Mindestens fünf Meter hoch und so breit wie ein Häuserblock nahm er fast sein ganzes Sichtfeld ein. Am Nachthimmel darüber schob sich der strahlende Halbmond in eine Wolkenlücke. Das silbrige Licht ließ die winzigen Tropfen geheimnisvoll glitzern. Die Geräusche, die entstanden, wenn sie auf den Schirm trafen, waren die einzigen Laute in der Stille um sie herum.
Fragend sah er zu Cat hinunter. Sie bemerkte es nicht, denn ihr Blick war unverwandt auf den Koloss vor ihnen gerichtet. Sie wirkte, als befände sich zwar ihr Körper hier direkt neben ihm, doch ihr Geist war abwesend, tauchte in eine andere Zeit ab.
„Ich nehme mal nicht an, dass das hier eine Klinik ist“, witzelte er, um sie zurück zu holen. Es behagte ihm nicht, dass sein Gegenstück sich in irgendeiner Form von ihm entfernte.
Cat bewegte den Kopf langsam von einer Seite zur anderen, dann blinzelte sie heftig. Zurück im hier und jetzt begegnete sie seinen Augen. Ihre Stimme war ein leises Flüstern, nur knapp übertönte sie das Murmeln des Regens im Wind.
„Nein. Hier habe ich Peter getötet.“
Die einzige Reaktion, die Dareon einfiel, war, den Arm um seine Geliebte zu legen. Sanft zog er sie heran, bis sie sich an ihn lehnte.
„Als das alles noch eine Baustelle war, hat er hier gearbeitet“, erklärte sie und ihr Atem bildete kleine Wölkchen in der kühlen Luft. „Ich habe ihn etwa ein Jahr nach meiner Entlassung aus dem Sanatorium kennen gelernt. Zunächst war er wie Jayce ein Kunde von mir, als ich noch gedealt habe.“
Dareon hob erstaunt die Augenbrauen, aber ihr Tonfall machte bereits deutlich, dass das nicht zu den Dingen zählte, auf die sie stolz war. Es war sicher nicht seine Aufgabe auch noch Salz in die Wunde zu streuen. Außerdem konnte er sich vorstellen, was geschehen war. In Anbetracht dessen, was er in der Akte gefunden hatte, die Xandra über Cat angelegt hatte, konnte ja nur eines geschehen sein. Und er bedauerte, dass Cat mit dieser Last leben musste. Er wusste immerhin ganz genau, wie sich das anfühlte.
„Die Psychiater hatten mir mit Medikamenten und Elektroschocktherapie eingetrichtert, ich sei nicht gefährlich und ich war so dämlich, zu glauben und zu hoffen.“
Erst jetzt wurde ihm richtig bewusst, welche Hölle Cat in diesem Irrenhaus durchlebt hatte. Man hatte ihren zarten Körper und die verletzliche Seele so lange gequält, bis sie nicht mehr gewusst hatte, was real und was Halluzination war. Wieder fühlte er die tiefe Verbundenheit zu seinem Gegenstück. Schließlich waren ihre Gefühle den seinen so ähnlich. Auch er hatte so oft an seinem Verstand gezweifelt, sich gesorgt, irgendwann zum Psychopathen zu mutieren. Und der Verlust der geistigen Unversehrtheit wog schwer, war der Verstand doch das Einzige, auf das man sich rückhaltlos verlassen konnte. Das Einzige, von dem Dareon zumindest angenommen hatte, dass es ihm niemand nehmen konnte.
In seinen Augen gab es dazu nur eine Sache zu sagen, denn er bewunderte, wie Cat das alles durchgestanden hatte. Sie hatte sich nicht nur ihre Güte, Hilfsbereitschaft und das sanfte Wesen behalten. Nein, sie hatte um ihn gekämpft, als er sich wie ein Angsthase verkrochen hatte.
„Du bist die stärkste Frau, die ich jemals kennen gelernt habe.“
Die Andeutung eines Lächelns zeigte sich auf ihrem hübschen Gesicht. Ihre Nase kräuselte sich dabei, die Sommersprossen schienen sich im schummrigen Licht zu bewegen. Ihm war vorher nicht aufgefallen, wie süß das aussah.
„Glaub‘ mir, das wirkt nur so“, schwächte sie sein Kompliment ab. Dann folgten ihre Blicke den Umrissen des Gebäudes vor ihrer Nase. „Peter war ein guter Kerl. Nett und aufmerksam. Manchmal haben wir uns nach der Arbeit hier getroffen. Es war meist schon spät und seine Kollegen hatten bereits Feierabend gemacht. Wir setzten uns oben auf das Gerüst. Der Ausblick war wunderschön, alles schien so friedlich. Ich habe vorher nie selbst Drogen genommen, aber an diesem Abend… Als er versuchte, mich zu küssen, habe ich ihn nicht aufgehalten.“ Sie ließ es klingen, als wäre dies eine Todsünde gewesen.
Ein bitterer Beigeschmack breitete sich in Dareons Mund aus. Der vernünftige Teil seines Gehirns verstand, dass das die Vergangenheit und der Mann, von dem sie sprach, lange tot war. Jedoch empfand er nicht nur Mitgefühl für sein Gegenstück und den Kerl, dem sie unabsichtlich geschadet hatte. Diese Frau war sein und allein die Vorstellung, wie sie einen Anderen küsste, ließ ihn vor Schreck erzittern. Wie hatte er nur glauben können, dass er jemals imstande wäre, sie loszulassen?
Kurz überlegte er, ob Peter den Tod nicht verdient hatte, da er von den Lippen seines Gegenstücks gekostete hatte. Natürlich war dieser Gedanke völlig daneben, absolut unangebracht und er behielt ihn für sich.
„Du wusstest es nicht besser“, sagte er nach einer Weile. Mehr als alles andere wollte er Trost spenden.
„Aber ich habe es geahnt… und tief drinnen wusste ich es wahrscheinlich. Ich hätte dieses Risiko niemals eingehen dürfen. Ich war zu egoistisch, zu versessen auf ein normales Leben.“ Das sie niemals bekommen hatte und auch nie bekommen würde. Der Abschied von dieser Vorstellung musste wehgetan haben. „Ich wollte mich irren.“
„Das Gefühl kenne ich.“
„Ja. Aber weißt du, was das schlimmste daran ist? Ich habe ihn einfach liegen lassen und bin davon gelaufen. Ich wollte nicht wieder zurück in die Gummizelle und mein Gehirn war kaum fähig zu unterscheiden, ob alles Realität oder doch nur Einbildung war. Erst, als ich seine Todesanzeige in der Zeitung fand, konnte ich es mir eingestehen, obwohl ich keine Erklärung dafür fand, was ich falsch gemacht hatte.“
Die damalige Verwirrung stand ihr ins Gesicht geschrieben und er wäre gern durch die Zeit gereist, um sie von dieser Schuld zu befreien. Um zu verhindern, dass sie überhaupt auf diese Weise von ihrer Gabe hatte erfahren müssen.
„Von da an habe ich mein Leben radikal geändert. Ich habe mir die Piercings und Tattoos zugelegt und nur Schwarz getragen. Ich wollte einen klaren Schnitt. Und immerhin habe ich danach nie wieder versucht, jemanden zu küssen.“
„Bis du mich getroffen hast. Ich konnte mich ja kaum gegen deine Avancen wehren.“
Cat lächelte diesmal ein echtes Lächeln und piekte ihn in die Seite. „Ach, wirklich? Danach sah es aber nicht gerade aus.“
„Vielleicht bin ich ja doch ein besserer Schauspieler als du dachtest.“
„Selbst wenn, jetzt kannst du nichts mehr vor mir verbergen“, erwiderte sie und nahm demonstrativ seine Hand. Durch den Kontakt fühlte er ihre Freude über die innige Verbundenheit zwischen ihnen und ein breites Grinsen schlich sich in seine Mundwinkel. Was auch immer an diesem Ort geschehen war, dieser Abschnitt vonCats Geschichte war vorbei. Und er begriff, dass sie aus diesem Grund hier standen. Genauso, wie er einen Abschied von Mylie gesucht hatte, war das hier der Abschluss von Cats Vergangenheit.
Er selbst konnte noch nicht ganz loslassen, doch sie tat es gerade. Er spürte es über ihre weichen Handflächen, erfuhr ihre Erleichterung, als sie die Schuld und Wehmut ziehen ließ. Vergessen würde sie nie, aber von heute an konnten diese Gedanken sie nicht mehr quälen. Bewunderung erfüllte sein Herz. Diesen Schritt konnte er nur beneiden, erforderte er doch eine Stärke, die er noch nicht besaß.
„Du hast gerade etwas Unglaubliches getan.“ Dareon hauchte die ehrfürchtigen Worte und beugte sich zu einem Kuss hinunter. Das Kribbeln auf den Lippen und der schnelle Herzschlag verdeutlichten nur, wie viel ihm die Berührung bedeutete.
Als sie sich von ihm löste, um nach Luft zu schnappen, zeigten ihre Augeneine ganze Reihe von Emotionen. „Nein. Wir haben das getan. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft.“
Mehr Ehre, als ihm zustand. In seiner Brust wurde es eng, jedoch nicht auf unangenehme Weise. Es kam ihm eher so vor, als wäre sie zu voll, als würde sie platzen vor lauter Zuneigung. Kurz entschlossen zerrte er Catin seine Arme, hielt sie fest an sein Herz gedrückt und legte das Kinn auf ihren Scheitel. Unter dem Regenschirm waren sie einigermaßen geschützt vor dem nassen Wetter und er hätte noch ewig mit ihr vereint hier stehen können. Zwei Seelen die nun untrennbar verbunden waren.
Unvermittelt bemerkte er, wie Cat erschauerte und auch er vernahm durch die Berührungen das aufflammende Unwohlsein in seinem Gegenstück. Ruckartig blickte die kleine Elevenderin auf und sah sich um.
„Was hast du?“
„Ich…, ich bin mir nicht sicher“, sagte sie so leise, dass er es fast nicht hören konnte. „Ich hatte kurz das Gefühl, dass…“
Dareon verstand und folgte ihrem Blick, suchte die Gegend ab. Doch sie hatten keine Gesellschaft. In den Schatten rührte sich nichts, ihr Atem und der Regen produzierten weiterhin die einzigen Geräusche.
„Da ist niemand. Wir sind alleine.“
„Hm. Ja, ich… werde wohl doch allmählich ein bisschen verrückt. Seit ich Micham getroffen habe, hatte ich immer wieder das Gefühl, beobachtet zu werden.“ Erstaunt hob sie den Kopf, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. „ Und das hast du ja auch.“ Schmunzelnd rieb sie die Stirn an seinem Kinn. „Das erklärt auch, warum ich es jetzt wieder spüre. Vielleicht entstammt es unserer Verbindung.“
Er nickte leicht, konnte sich kaum mehr konzentrieren, wenn ihr Körper so nah bei seinem stand und er sie über all spüren konnte.
„Und ich werde dich noch viel genauer unter die Lupe nehmen“, raunte er verheißungsvoll an ihrem Ohr. Cat erbebte abermals, jetzt jedoch nicht aus Furcht.
„Lass‘ uns nach Hause gehen.“
Sie stimmte so schnell zu, dass er beinahe belustigt aufgelacht hätte.
„Ja. Ab nach Hause.“
Erst sie hatte den Ort zu einem wahren Heim gemacht.
Dring, Dring, Dring.
Xandra schreckte aus dem Schlaf und tastete automatisch im Dunkeln das Nachtkästchen ab. Nachdem ihre Finger das Smartphone zu fassen bekommen hatten, ging sie benommen ran.
„Hhmmmhh?“, war alles, was ihr Verstand formulieren konnte.
„Du klingst ziemlich heiß, wenn du verschlafen bist.“ Die dunkle Stimme mit dem verächtlichen Unterton verursachte einen Schauer und riss sie ganz aus dem Land der Träume. Xandra setzte sich ruckartig auf.
„Woher hast du diese Nummer?“
„Ich rufe auf dem Communicator an, den ich dir gegeben habe“, schmunzelte Syn am anderen Ende der Leitung. Xandra stutzte und hielt sich das kleine Gerät vor die Nase. Tatsächlich, sie hatte das Kommunikationsgerät des Ordens statt ihres Handys erwischt.
„Wieso rufst du um diese Uhrzeit an?“, fragte sie ungehalten. Eine weitere Mütze voll Schlaf hätte ihrem schmerzenden Schädel bestimmt gut getan. Gestern war sie damit zu Bett gegangen und nun wachte sie damit auf. Es war offiziell. Ihre Migräne hatte eine neue Intensitätsstufe erreicht. Und an allem war ihr verfluchter Vater schuld.
„Es ist halb Elf.“
„F…“ Sie konnte sich gerade noch stoppen, bevor sie das Schimpfwort in den Hörer zischte. Sie musste wohl doch mehr getrunken haben, als sie gewollt hatte. Sonst schlief sie nicht wie ein Stein und überhörte sogar ihren Wecker. Wahrscheinlich war ganz Blackridge schon auf den Beinen. Entschieden schlug sie die Decke zurück. „Was willst du Syn? Hast du was rausgefunden?“ Wenn ja, war er wirklich schneller als die Polizei erlaubte.
„Du hast es erraten.“ Er klang äußerst selbstgefällig. „Die McCarteys haben ein Firmenarchiv. Alles auf Papier, sie vertrauen dem Cyberspace nicht.“ Womit die Menschen gut beraten waren, wie Xandra fand. „Auf jeden Fall hat unser Mitarbeiter gleich nach meinem Anruf gestern Abend ein wenig herum gestöbert.“
Xandra hielt vor Spannung den Atem an.
„Er hat Spuren dafür gefunden, dass BioVista während der Testung ihres neu entwickelten Elektronenmikroskops auf etwas gestoßen ist. Sie haben Zellen aus verschiedenen Quellen im ganzen Land untersucht, um die Funktionstüchtigkeit des Gerätes unter Beweis zu stellen. Das hat allerdings so gut funktioniert, dass sie auf noch nicht entdeckte zelluläre Vorgänge gestoßen sind. Nach einiger Zeit stellte sich jedoch heraus, dass dies nur bei Zellen der Fall war, deren Quellen aus Utah stammten.“
Xandra atmete hörbar aus und kombinierte schnell. „Der erste Staat, in dem die Cohens nur noch genverändertes Saatgut verkauft haben.“ Der Beispielstaat, dem nach der Verabschiedung des Gesetzes alle anderen folgen sollten.
„Exakt.“
„Verdammt, Syn. Das ist es!“, rief sie unwillkürlich aus.
„Freu‘ dich nicht zu früh. Wir brauchen immer noch Beweise. Alles was wir bisher haben, ist ein handschriftlicher Bericht. Die Forschungsergebnisse und Unterlagen über die Studie liegen bei den McCarteys in einem gepanzerten Safe-Raum.Auf jeden Fall wird unser Ordensmitglied im Lauf des Tages den Zugangscode besorgen. Heute Nacht werden wir uns dann die Unterlagen über BioVista holen. Haltet euch für die Übergabe bereit.“
Xandras Herz pochte hektisch, als sie begriff, dass man ihr, bildlich gesprochen, soeben den Schlüssel zur gesellschaftlichen Vernichtung der Cohens vor die Nase hielt. Baff sprach sie schneller als sie denken konnte.
„Das hätte ich nicht erwartet.“
„Tja, Mylady hat geordert und der Orden liefert prompt. Wir wollen uns doch nicht fehlenden Service nachsagen lassen.“
Sie war ehrlich beeindruckt und beinahe hätte sie ihm das auch gesagt. Jedoch sollte er nicht denken, er hätte hier das Ruder in der Hand.
„Braucht ihr Hilfe?“
Ein abschätziges Schnauben erreichte ihre Ohren, was ihr wohl vermitteln sollte, dass sie ihn mit dieser Anfrage fast beleidigt hatte. Männer und ihr verfluchter Stolz. Obwohl auch sie selbst vor diesem Charakterzug nicht gefeit war.
„Wann habt ihr es erledigt?“
„Ich denke, wir sollten uns in den frühen Morgenstunden treffen. Ich will das Beweismaterial loswerden, bevor auffällt, dass es fehlt.“
„Verstehe. Ich halte mich bereit. Du meldest dich dann?“
Syn bejahte das und bevor er auflegte, raunte er mit rauer Stimme: „Pass‘ bis dahin auf dich auf, meine Schöne.“
Xandra wollte noch daran erinnern, dass sie nicht seine Schöne war, wurde jedoch vom Freizeichen unterbrochen. Sie blickte einen Moment lang entnervt an die Decke, dann legte sie den Communicator zur Seite. Die Neuigkeiten trieben sie kurz darauf aus dem Bett.
Nur eine viertel Stunde später hatte sie ihr ganzes Team in Ferrocs Büro zusammen getrommelt. Es war lustig, den Raum zur Abwechslung mal so voll zu sehen, doch sie fand, alle sollten an ihrem möglichen Erfolg Teil haben. Ihre Nachrichten wurden freudig aufgenommen und eine heitere Stimmung breitete sich unter den Anwesenden aus.
Die Ausgelassenheit wurde noch dadurch bekräftigt, dass die meisten mit Wohlwollen bemerkten, dass Cat und Dareon händchenhaltend neben einander auf der Couch saßen. Anscheinend war der Streit zwischen ihnen wie weggewischt und die Geheimniskrämerei war wohl auch Geschichte. Xandra hatte das Paar während ihres Berichtes immer wieder unauffällig gemustert und jetzt war für sie kaum mehr zu übersehen, dass die Zwei Gegenstücke waren.
Die beiden Elevender strahlten förmlich vor Glück. Es wirkte, als wäre der Raum um sie herum etwas heller als der Rest des Zimmers. Bei jedem Blick, jeder Berührung glühten ihre Augen vor Zuneigung und die tiefe Zufriedenheit, die darin mitschwang, schien auch alle anderen zu beruhigen.
Ferroc hatte Recht behalten. Paare auf dem Anwesen würden ihre Gemeinschaft stabilisieren und für diese Beiden freute Xandra sich ganz besonders. Dareon, der viele Jahrhunderte gewirkt hatte, als stände er nur einen Schritt von einem Abgrund oder dem nächsten Wutausbruch entfernt und Cat, die erleben hatte müssen, dass etwas so Schönes wie ein Kuss für sie ein Ding der Unmöglichkeit war. Außer bei dem blonden Wickinger. Xandra lächelte unwillkürlich über die Hand des Schicksals, die gerade diese beiden Gaben zusammen geführt hatte. Den giftigen Kuss und die Immunität dagegen.
Es existierten wohl doch höhere Mächte. Das gab Xandra Hoffnung für ihre eigene Zukunft und so ging es wahrscheinlich auch den anderen Anwesenden.
Nachdem sie die Planung zu der bevorstehenden Übergabe abgeschlossen hatten, ergriff Ferroc das Wort. Leider hatte der nicht ganz so positive Informationen für sie.
„Ich habe eben erfahren, dass ein weiterer unwissender Elevender verschleppt wurde. Einer meiner Späher hatte ihn in einem Krankenhaus entdeckt, aber bevor er ihn erreichen konnte, ist der Frischling einfach verschwunden. Die Videokameras haben einen Sucher aufgezeichnet. Der Kerl hat ihn einfach bewusstlos werden lassen und ihn dann mitgenommen. Auf dem Parkplatz verlor sich ihre Spur.“
Die betretene Stille, die darauf folgte, wurde schließlich von Cat gebrochen. Sie sprach empört ihrer aller Gedanken aus. „Das muss aufhören. Die hätten mich fast gekriegt und Dareon getötet. Wir müssen etwas dagegen unternehmen.“
„Ganz meine Meinung“, pflichtete Roman bei und auch Christian, Ferroc und Quentin grummelten zustimmend. Sogar Slater am anderen Ende des Raumes nickte ein Mal knapp.
„Ich glaube, darüber sind wir uns alle einig.“ Xandra überdachte die Fakten. „Wir wissen nicht, warum sie sich Leute schnappen, oder wie sie ihre Opfer aufstöbern. Außer einer Schlüsselkarte ohne Schloss haben wir keinen Ansatzpunkt.“
Ihre Zusammenfassung traf die Sache ziemlich genau und die Anderen schienen über weitere Möglichkeiten zu sinnieren. Wieder war es Cat, die einen neuen Anstoß zur Diskussion stellte. Dabei wirkte sie äußerst entschlossen.
„Doch, den haben wir. Sie wollen mich.“
Dareon neben ihr richtete sich auf und sah sie fassungslos an. „Das kommt überhaupt nicht in Frage! Du wirst dich deswegen nicht in eine solche Gefahr begeben!“
Auch Xandra begriff, dass Cat ein ganz bestimmtes Vorhaben im Auge hatte. „Du meinst, wir sollten ihnen eine Falle stellen?“
Cat nickte, während sie sich an Dareon wandte und ihm die Hand auf den Schenkel legte. Beruhigend strich sie auf und ab. „Ihr habt mich schon einmal beschützt, das schafft ihr wieder. Die haben meine Wohnung überwacht. Wenn wir Glück haben, tun sie das immer noch. Ich gehe abends hin und gebe vor, noch ein paar Sachen zu packen. Dareon kann mich fahren und vor der Wohnung warten. Dann wirkt es nicht ganz so auffällig.“
„Nein“, erklärte ihr Gegenstück klipp und klar. „Das kann ich nicht zulassen.“
Cat langte nach seinem Kinn und sah ihm tief in die Augen. „Überleg‘ doch mal. Falls wir richtig liegen, haben diese Leute auch Jayce auf dem Gewissen. Wenn ich verhindern kann, dass sie das auch mit anderen Elevendern machen, wie könnte ich es nicht tun?“
„Selbst wenn ein Sucher auftaucht, ist das noch keine Garantie dafür, dass wir es stoppen können. Die Hegedunen sind über die ganze Welt verteilt. Sie operieren in jedem Land, wer weiß schon, wie weitreichend der Plan ist, der hinter all dem steckt“, argumentierte Dareon trotzig weiter. Er schien nicht nachgeben zu wollen und in seinem Gesicht lag die tiefe Sorge um die kleine Frau neben ihm.
Roman schaltete sich von der gegenüber liegenden Couch aus ein. „Aber wenn wir einen Sucher gefangen nehmen könnten, könnten wir Informationen aus ihm heraus quetschen. Cat hat Recht. Das ist unser bester Ansatzpunkt.“
Dareon warf dem Puerto Ricaner einen Blick zu, der getötet hätte, hätte er nur die Macht dazu besessen. „Soll ich vielleicht dein Gegenstück mit in Cats Wohnung nehmen? Wärst du dann immer noch so begeistert von dem Plan?“
Roman zuckte erstaunt zurück, dann wanderten seine Augen zwischen dem Pärchen hin und her. Anscheinend wusste bis auf Christian und Xandra keiner, dass die Zwei nicht nur Liebende sondern auch Seelenverwandte waren.
Schließlich lachte der südländisch aussehende Elevender im Brustton und ging zu dem anderen Sofa hinüber. Er reichte dem Kontrahenten die Hand und zog ihn hoch, dann folgte eine männliche Umarmung, bei der sie sich beide auf den Rücken klopften, dass Xandra sich fragte, ob sie sich dabei nicht wehtaten. Gratulationen aus dem ganzen Raum folgten und Christian erteilte natürlich sofort Ratschläge, wie man das Sexleben auch nach Jahrhunderten spannend gestalten konnte, woraufhin Roman ihm erklärte, dass er doch keine Ahnung habe, immerhin schlief der Surferboy mit keiner zwei Mal.
„Wenn du wirklich Hilfe auf diesem Gebiet brauchst, solltest zu mir kommen.“ Der große, dunkelhaarige Elevender zwinkerte Dareon verschmitzt zu.
So ging das Geplänkel ein paar Mal hin und her, bis Dareon die Sache mit ernster Miene unterband. „Es ist ja wirklich nett, dass ihr euch für uns freut. Dennoch werde ich mein Gegenstück nicht den Köder für einen hegedunischen Sucher spielen lassen.“
„Zu deinem großen Pech…“, mischte sich nun auch Cat ein. „… hast du in dieser Sache nicht das letzte Wort. Ich werde das durchziehen und damit Ende der Diskussion.“ Sie gab ihm einen schnellen Kuss auf die Nase, als wäre das der sinnbildliche Hammerschlag, der das Urteil bei Gericht besiegelte.
„Aber…“
„Kein aber! Wenn du dir solche Sorgen machst, hilf‘ den Anderen bei den Vorbereitungen und begleite mich, damit du mich beschützen kannst.“
Zu Dareons Leidwesen fand Cats Vorschlag auch beim Rest des Teams Anklang und so war er überstimmt. In Bezug auf sein Gegenstück mochte ihn vielleicht sein Beschützerinstinkt leiten, doch was Angelegenheiten der Legion betraf, wusste er seine Prioritäten ebenso richtig zu wählen. Töricht war er nie gewesen.
Damit war es beschlossene Sache und sie begannen, das Vorhaben bis ins kleinste Detail zu planen. Den Zeitpunkt legten sie auf den heutigen Abend, da keiner der Beteiligten noch lange warten wollte. Sie würden sich auf bekanntem Terrain bewegen, daher musste gar nicht so viel besprochen werden.
Etwa eine halbe Stunde später stand der Ablauf und die einzelnen Rollen waren verteilt. Cat würde reingehen, um zu packen, während Dareon vor der Wohnung Wache stehen würde. Die anderen wollten verdeckte Positionen rund um die Wohnung beziehen, die Kreuzungen in alle vier Himmelsrichtungen sollten auch überwacht werden. Es war zwar eine große Aktion, jedoch nicht schwer zu koordinieren.
Ferroc entließ sie schließlich und alle strömten durch die doppelflügelige Tür aus dem Büro hinaus. Xandra beobachtete Dareon und Cat vor sich und versuchte, den nagenden Neid zu unterdrücken. Sie gönnte ihrer Freundin dieses Glück wirklich und deren Gegenstück natürlich auch. Trotzdem war es schwer, zuzusehen, wie andere die Erfüllung fanden, während Xandra mehr oder weniger dahin dümpelte.
Es gab Männer in ihrem Leben, für die sie sich interessierte, Männer, die sie fesselten und dann und wann wirklich etwas in ihr berührten. Dennoch hatte sie nie etwas Vergleichbares wie das Elevenderpärchen ein paar Meter weiter vorn erlebt. Dieses Gefühl, dass es der Eine war. Dass es nur der sein konnte und auch nirgends eine bessere Option wartete. Denn so dachte sie doch, oder?
An jedem Mann gab es etwas, das sie störte, weswegen sie sich nicht ganz auf ihn einlassen wollte. Bei Christian war es seine Rumhurerei, bei Evrill war es die Bitte ihres Vaters. Immerhin hatte sie nicht mehr mitbekommen, dass Chris sich andere Frauen gesucht hatte, seit er begonnen hatte, ihr ernsthaft Avancen zu machen. Und über das Verbot ihres Vaters, Evrill in die Orden-Geschichte einzuweihen, hätte sie sich auch hinweg setzen können. Sonst war sie doch auch nicht so hörig und befehlsgetreu. Evrill hätte es außerdem bestimmt geheim gehalten.
Sie fluchte verwirrt. Hieß das etwa das, was sie immer befürchtet hatte? War sie gar nicht fähig zu einer echten Beziehung? Konnte sie einen Mann überhaupt wirklich lieben, wenn sie schon eine einzige Sache dazu brachte, dem Interesse an ihm nicht nachzugehen? Sie hatte keine Ahnung, woher diese Gedanken kamen, doch mit einem Mal erschien ihr alles glasklar.
Ihr ganzes Leben lang hatte sie die Kerle aus diversen Gründen auf Abstand gehalten, um sich nie wirklich auf etwas einlassen zu müssen. Denn das hätte auch bedeutet, sich so weit zu öffnen, dass sie verletzbar geworden wäre. Und das konnte sie nicht, hatte sie doch ihr Vater gelehrt, dass sie die Zuneigung des wichtigsten Mannes in ihrem Leben niemals erlangen würde. Diese Erkenntnis hatte sie geprägt.
Vielleicht war es sogar so, dass sie tief drinnen glaubte, dass ihr Vater Recht hatte. Insofern, dass er ihr die Liebe aus triftigen Gründen vorenthielt, die sie nur noch nicht begriffen hatte.
Die ganze verkorkste Story brach wie ein Kartenhaus über Xandra zusammen und ihre Atmung beschleunigte sich unwillkürlich. Das Begreifen traf sie völlig unvorbereitet und irgendwie zog es ihr gerade den Boden unter den Füßen weg. Passend zu dieser Metapher schwankte die Welt um sie herum bedenklich. Die pochende Migräne machte die Sache auch nicht besser und…. Scheiße, sie war echt aus dem Gleichgeweicht und wenn sie nicht aufpasste, würde sie in wenigen Sekunden über ihre eigenen Füße sto….
Da griff jemand nach ihrem Oberarm und stabilisierte ihren leicht trudelnden Gang.
„Alles klar bei dir?“, fragte Chris und sie hörte echte Besorgnis aus seiner Stimme.
„Ja. Nur müde. Syn hat mich raus geklingelt.“
„Tatsächlich?!“ Das klang wesentlich schärfer als die sanften Worte zuvor.
„Naja, nicht wirklich. Es war schon halb Elf. Aber ich habe mich gestern noch ein wenig mit der Wodkaflasche vergnügt. Tja, eins führte zum anderen. Sagen wir, es ist spät geworden.“
Das brachte ihn zum Schmunzeln und er begleitete sie bis zu den Aufzügen, in denen gerade die Anderen verschwanden. Sie beide würden warten, bis die Kabine wieder frei war.
„Du solltest deinem Vater nicht so viel Macht über dich geben“, riet der blonde Kerl schließlich, nachdem sie nach oben zu den Quartieren gefahren waren. Irgendwie standen sie plötzlich vor Xandras Zimmer, ihre müden Beine waren automatisch in Richtung Bett gelaufen und Christian war ihr einfach gefolgt.
„Jawohl, Dr. Freud.“ Sie lehnte sich erschöpft gegen die Tür und hatte nicht die Kraft abzustreiten, was ihr so an die Nieren ging. „Wenn ich wieder auf dem Damm bin, werd‘ ich das in Angriff nehmen.“
„Brauchst du Rückendeckung, bis es soweit ist? Ich könnte es nicht ertragen, wenn du dich in Selbstmitleid suhlst.“ Er stützte die Hände links und rechts von ihr ab, nahm sie in die Zange. Dann senkte er den Kopf ein wenig und sein fatal attraktives Gesicht kam näher. Dazu brauchte er nicht lange, es trennten sie höchstens zwölf, dreizehn Zentimeter.
Sofort schalteten sich all ihre Abwehrmechanismen ein. Sie drückte mit den geschlossenen Fäusten gegen seine Brust, doch er ließ sich nicht bewegen.
„Nicht nötig. Ich komme ganz gut alleine klar.“
„Das kann ich sehen.“ Anzüglich schweifte sein Blick nach unten, direkt in das relativ züchtige Dekolletee des Pullis mit V-Ausschnitt. „Und was ist, wenn ich ein paar Streicheleinheiten gebrauchen könnte?“
„Dann solltest du…“ …selbst Hand anlegen, wollte sie sagen, doch da schoben sich die verqueren Gedanken von vorhin in ihren Kopf. Die Befürchtung, dass sie nicht fähig war, jemanden an sich heran zu lassen, obwohl sie das nicht beabsichtigte. Obwohl sie sich nach außen hin benahm, als wäre sie immer auf der Suche nach einem Partner.
Statt der gehässigen Antwort fasste sie Christian am Kragen seines hellblauen Hemdes und zog ihn heran, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten.
„Bist du dir sicher, dass du meine Streicheleinheiten aushältst?“
Maßloses Erstaunen zeigte sich in seinem sonst so sorglosen Gesicht. Er hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, dass sein Drängen eventuell Erfolg haben könnte. Doch er wäre nicht Christian gewesen, hätte diese Verwirrung lange vorgehalten. Nach wenigen Momenten fand dieses lässige, sexy Lächeln den Weg zurück auf seine Lippen. „Baby, von dir würde ich mir sogar den Rücken zerkratzen lassen.“
Sein Blick aus den verzaubernden Augen hatte eine verheerende Wirkung auf ihren Puls. Der beschleunigte sich und ihr Körper begann überall zu kribbeln. Erwartung machte sich breit. An der Anziehung zwischen ihnen beiden hatte es nie gehapert. Sie hatte dem nur nicht nachgeben wollen. Bis heute. Und anstatt sich zurück zu ziehen, in Sicherheit zu bringen, wie sie es sonst tat, presste sie kurz entschlossen ihren Mund auf diese lächerlich zarten, vollen Lippen.
Gott, Chris konnte wahnsinnig gut küssen, schoss es ihr durch den Kopf, bevor seine Zunge Dinge mit ihrer anstellte, die sie den Faden verlieren ließen. Mit einem Seufzen schlang sie die Arme um die starken Schultern und gab auf. Das Begehren, das in ihr aufflammte, hätte auch keine weiteren Überlegungen zugelassen. Himmel hilf, sie war so scharf auf diesen Kerl, schon so lange und als er jetzt einen Schenkel zwischen ihre Beine schob und ihn an ihre empfindlichste Stelle drückte, konnte sie nur noch lustvoll aufstöhnen. Willig küsste sie zurück, drängte sich ihm entgegen und nur eine einzige Sache hielt sie davon ab, sofort über ihn herzufallen.
Während ihre Lippen dieser äußerst betörenden Beschäftigung folgten, tastete sie nach dem Türknauf im Rücken. Xandra öffnete und sie kippten gemeinsam ins Zimmer.
Heute würde sie keinen Rückzieher machen.
Nach ihrem ersten Streit, den Cat komischer Weise für sich entschieden hatte, sie konnte es selbst noch gar nicht glauben, schien der Sex wie ein reinigendes Gewitter. Die Wut verrauchte, während der körperliche Kontakt ihre Verbindung wieder gerade rückte. Es war so merkwürdig und doch so wunderbar, dass sie auf die Art auch erkennen konnte, dass hinter Dareons Sturheit vor allem seine Sorge um sie steckte. Er hatte sie auch nach dem Gespräch in Ferrocs Büro umstimmen wollen, doch Cat würde sich nie wieder einsperren lassen. Egal von wem.
Dieses Argument hatte die Schlacht beendet, denn Dareon würde sie niemals auf diese Weise verletzen, obwohl er sich dessen selbst nicht so sicher war.Sie dagegen wusste es ganz einfach. So wie sie wusste, wie man atmete oder wie man sein Herz schlagen ließ. Der Mechanismus dafür steckte ihr im Blut, so tief, dass sie gar nicht mehr darüber nachzudenken brauchte.
Ihr Gegenstück hatte also nachgegeben, wenn auch etwas grummelig und ungehalten. Mit Küssen hatte sie versucht, seine miese Stimmung zu vertreiben und die Magie, die sie beide verband, hatte ihr dabei unter die Arme gegriffen. Erst waren Dareons Lippen noch ganz starr gewesen, aber nach wenigen Sekunden waren sie weich geworden, genauso wie sein Trotz. Schließlich waren sie im Bett gelandet, wo Cat nun immer noch mit einem leichten Schweißfilm bedeckt lag. Der Mann neben ihr hüllte sie beide in das feine Laken, das unter die Tagesdecke gehörte. Damit hielt er die Kälte fern, die die trocknende Feuchtigkeit auf ihrer Haut in Kombination mit der Raumluft produzierte. Zusätzlich schmiegte sie ihren Rücken an den harten Männerkörper, der ihr neu und zugleich vertraut war.
„Vielleicht sollten wir uns öfter zanken“, sagte Dareon nach einer Weile, die sie an einander gekuschelt nach draußen in den Regen geschaut hatten.
Cat kicherte. Und stutzte. Seit wann war sie denn zu so einem Mädchen geworden?
Wahrscheinlich, seit die Verbindung zu ihrem Seelenpartner ihr die Kraft gegeben hatte, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen. Seit sie sich mit vollem Bewusstsein über seinen Charakter und seine Fehler für Dareon entschieden hatte. Das Glück, das nun tief in ihrem Herzen glomm, schien sie in eine giggelnde, wie ein Honigkuchenpferd grinsende Tussi verwandelt zu haben. Seufzend zuckte sie mit den Schultern. Was soll’s, schließlich gab es wesentlich Schlimmeres.
„Wenn es dir um die Versöhnung geht, musst du dich vorher nicht unbedingt mit mir anlegen.“
„Stimmt, aber ich stehe auf die Striemen, die du mir verpasst, wenn du wütend bist, Kitty Cat.“ Er zeigte ihr seinen Unterarm, wo sie sich vorhin festgekrallt hatte, um einen besseren Halt zu bekommen. Die fünf kurzen Schrammen verheilten schon und Cat bewunderte erneut, wie rasant sich Elevender von kleinen Verletzungen erholten. Zudem verpasste ihr das schlechte Gewissen einen Stich, jedoch nur, bis Dareon ihr mit einem weiteren Kuss zeigte, dass er die Wunden ganz wunderbar fand. Nicht nur in dem Moment, als er sie beigebracht bekommen hatte, sondern auch hinterher, da die kleinen Kratzer wie eine Brandmarkung durch sein Gegenstück waren. Cat lächelte erleichtert über seine Gefühle, die sie über ihren Kontakt wie die eigenen spüren konnte.
„Ich möchte dir etwas schenken“, raunte ihr Dareon plötzlich ins Ohr. „Dafür, dass du so fleißig geübt hast, deine Gabe zu kontrollieren.“ Das hatte sie. Gestern Nacht… und heute Morgen… und nach dem Frühstück. Nie besonders lange, weil…, ähm, ja. Aber immerhin. Die Hand ihres Mannes hielt ihr ein kleines Kästchen aus grünem Karton und passender Schleife hin.
Erstaunt griff sie danach und der großzügige Gönner schaute über ihre Schulter zu, wie sie das Präsent auspackte. Nachdem der Deckel aufgeklappt war, kam ein schlichter Stecker zum Vorschein. Ein Brustwarzenpiercing mit einem einzigen dunkelgrünen Stein. Der Schmuck war wunderschön und die Facetten ließen das Material in den verschiedensten Schattierungen schillern.
Cat nahm das kunstvolle Metallstück heraus. „Wow. Der ist echt hübsch.“ Dann tauschte sie diesen neuen gegen den alten Stecker in ihrer linken Brustwarze. Es dauerte ein Weilchen, aber Dareon schien glücklich damit, ihr zuzusehen, wie sie an ihren Brüsten herum hantierte.
Danach gab sie ihm zum Dank einen Kuss. „Dass du ihn mir gegeben hast, macht ihn noch viel schöner.“
„Er soll dich immer darin erinnern, dass du deine Gabe in der Hand hast und nicht umgekehrt.“
„Danke. Das kann ich wirklich brauchen.“ Sie kuschelte sich zufrieden an diesen Kerl, der ihr dabei half, ihre Fähigkeiten zu trainieren und der sich ihr tatsächlich geöffnet hatte. Sie wusste jetzt Dinge über ihn, die keiner ahnte. Das Vertrauen zwischen ihnen beiden war das noch wertvollere Geschenk. Zufrieden drückte sie ihre Kehrseite wieder an ihn und genoss die Zweisamkeit, irgendwann fiel ihr jedoch eine beinahe verdrängte Befürchtung ein.
„Ich hoffe, dass ich es auch stoppen kann, falls ich meine Gabe im letzten Moment doch nicht brauchen sollte.“
„Wie meinst du das?“
Sie dachte genau über die Male nach, als jemand in den engeren Umkreis der tödlichen Werkzeugen in ihrer unteren Gesichtshälfte geraten war. „Immer, wenn jemand meinen Lippen zu nahe kommt, scheint er wie in einen Bann gezogen. Und wenn er erst einmal in diesem tranceartigenZustand ist, kann ich das Geschehen scheinbar nicht mehr unterbrechen.“ Sie lachte bitter auf. „Wie eine Venus-Falle. Hat sie ihr Opfer erst einmal angelockt, schnappt sie zu und lässt nicht mehr los.“
„Du bist wirklich exotisch“, bestätigte Dareon mit einem Lachen in der Stimme, wollte sie aufheitern. „Und du riechst so gut. Fast…“ Wie um eine Antwort zu finden steckte er seine Nase zwischen ihr Haar, doch dann schien er zu zögern. Minuten verstrichen. „Wie meine Mutter.“
Cat hätte ihn beinahe nicht verstanden, so leise waren die Worte. Sorgenvoll runzelte sie die Stirn. „Wirklich?“
„Ja. Aber das ist was Gutes.“
„Gott sei Dank.“ Ihre Bestürzung wich der Erleichterung. Viele Leute hatten ihr bereits gesagt, dass sie fantastisch roch. Komischer Weise hatte jeder eine andere Assoziation genannt und… Cat hielt inne, als ihre Gedanken um eine noch nicht ganz greifbare Erkenntnis kreisten.
„Was?“ Dareon lehnte sich zurück und sah sie abwartend an.
„Wonach genau rieche ich für dich?“
Der Wickinger-Elevender stutzte. „Nach Rosenwasser, ein Hauch Lavendel und Frühlingsregen.“
Cat plapperte los, bevor sie sich darüber klar wurde, was sie eigentlich andeuteten wollte. „Für Peter roch ich nach Ölfarben. Im Herzen war er ein Künstler…. Und Mary hat mal gesagt, mein Parfum erinnere sie an Vanille und weiße Schokolade, das sind ihre Lieblings Eissorten, dabei hatte ich gar keinen Duft aufgetragen…“
„Naja, klingt irgendwie logisch. Wenn man deine Venusfallen-Theorie in Betracht zieht…“ Jetzt lächelte er breit und gab ihr einen schnellen Kuss, als sie ihm einen bösen Blick zuwarf. „…, musst du deine Opfer ja irgendwie anlocken. Vielleicht ist dieser Geruch, den jeder mit etwas sehr Schönem verbindet, wie ein Lockstoff.“ Damit brachte er Cats ungeordnete Befürchtungen auf den Punkt und ein weiteres Puzzlestück fand seinen Platz.
„Du hast Recht. Klingt logisch.“
Irgendwann würde sie die Wirkung ihrer Gabe ganz verstehen und sie damit auch beherrschen. Der Wunsch blieb essenziell, obwohl es mittlerweile mit Dareon an ihrer Seite gar nicht mehr notwendig gewesen wäre. Immerhin hatte sie nicht vor, freiwillig jemals wieder einen Anderen zu küssen. Trotzdem würde sie weiter an ihrer Kontrolle über diese Fähigkeit arbeiten. Der Vorsatz war Teil ihrer Bewältigungsstrategie, mit der sie die Vergangenheit ihres Schreckens beraubte. Das ließ sie auch daran denken, dass ihr Seelenverwandter ebenso eine Geschichte hatte, die er aufarbeiten musste und anstatt sich in ihre eigenen Probleme hinein zu steigern, konzentrierte sie sich auf das Lösen der seinen.
„Weißt du, ich würde dich begleiten, wenn du Mylie das nächste Mal besuchst.“
Dareon zog sie noch fester in seine Arme. „Das ist ok. Aber wir gehen nur hin, wenn dir danach ist. Um ehrlich zu sein, war ich in der Nacht, in der du mich gesucht hast, nur bei ihr, um mich zu verabschieden.“
Cat blickte über die Schulter und suchte erstaunt seinen Blick. „Das musstest du nicht.“
„Doch“, beharrte er. „Ich kann nichts mehr für sie tun und ich will nicht mehr in der Vergangenheit leben. Die Zukunft ist viel zu verführerisch.“ Er beugte sich über sie und küsste sie erneut leidenschaftlich. Cat stoppte ihn.
„Trotzdem. Sie ist ein Teil von dir und damit auch von mir. Ich kümmere mich um die Meinen.“
„Ja, das tust du.“ Und das ehrfürchtige Streicheln seiner Lippen auf den ihren schrie lauter Ich liebe dich, als es Worte je gekonnt hätten. Dann hob er den Kopf und während der klare Winterhimmel vor Wärme leuchtete, entstand plötzlich eine Furche zwischen seinen Augenbrauen. „Aber du musst mir Eins versprechen.“
„Was?“ Sie strich beruhigend über den blonden Bartschatten auf seinen Wangen.
„Heute Abend scherst du dich nicht um Andere. Du kümmerst dich nur um dich. Und wenn die Situation es erfordern sollte, darfst du nicht zögern, deine Gabe einzusetzen.“
Cat erschrak ein wenig und einen Augenblick lang wurde sie ängstlich, weil ihr jetzt erst die Tragweite ihres Vorhabens bewusst wurde. Sie hatte tatsächlich nicht an die allzu reelle Möglichkeit gedacht, dass sie ernsthaft in Gefahr geraten könnte. Ihr Vertrauen in die Fähigkeiten der Elevender an ihrer Seite war so groß, dass es ihr gar nicht in den Sinn gekommen war, Furcht zu empfinden. Doch als Dareon sie jetzt bat, keine Gnade mit etwaigen Opfern zu haben, um ihr eigenes Leben zu schützen, wurden ihre Hände ganz kalt.
„Ok“, war das Einzige, das sie hervorbringen konnte. Dann gewann ihr Trotz wieder die Oberhand. Letztlich hatten Jahre des Trainings es geschafft, dass sie sich nie von Angst überwältigen lassen würde. „Ich glaube zwar nicht, dass du das zulassen würdest, aber ich werde die bösen Kerle in Grund und Boden knutschen, wenn es nötig ist.“
„Ich weiß nicht, ob ich wütend oder erleichtert darüber sein soll.“ Dareon biss ihr neckend in die Schulter. Nicht fest, nur mit genug Druck, dass sie die wohlige Empfindung bis in die Zehen spürte.
Da er fortfuhr, an ihrer Haut zu knabbern, stieß sie zwischen zwei Seufzern atemlos hervor: „Du hast mich doch selbst drum gebeten.“
„Trotzdem“, knurrte er und der Laut ließ ihre Knochen vibrieren, schickte kleine Schauer über ihren Rücken. „Ich werde jeden töten, den deine Lippen nicht erledigen.“
Das Versprechen hätte sie vielleicht abschrecken sollen, doch daraus sprach ein Besitz- und Beschützerinstinkt, den sie niemals ablehnen könnte. Im Gegenteil, die Vorstellung, so begehrt und vereinnahmt zu werden, erregte sie auf eine Weise, wie es kein Gedanke je zuvor vermocht hatte. Sie zog an seinem Arm, bis er dem Hinweis folgte und sich auf sie rollte. Ihre Beine öffneten sich automatisch, damit sie sie um Dareons Hüften schlingen und ihn näher heran ziehen konnte.
„Keine Sorge, du bist der Einzige, den ich küssen will. Für den Rest meines Lebens.“
„Das klingt wie Musik in meinen Ohren.“ Dann vereinte er ihre Lippen und Cat fühlte sich wahrhaft geliebt und geborgen, in den Armen ihres Gegenstücks.
Um kurz nach Zehn bezogen Cat und ihr Team die geplanten Posten rund um ihre ehemalige Wohnung. Es wurde bereits dunkel, als sie mit ihrem Gegenstück in dessen Lexus vor dem gut bekannten Haus vorfuhr. Sie saß neben dem blonden Elevender, der ihr die Welt bedeutete und betrachtete das kasernenartige Gebäude mit einer unguten Anspannung im Bauch. Die ganze Sache schien ihr noch bedrohlicher, als sie nun quasi direkt vor der Tür stand. Gleich würden sie aus dem Auto steigen und den Ort betreten, an dem sie schon einmal angegriffen worden war. Keine besonders reizvolle Vorstellung, aber sie hatte sich entschieden, den Federhandschuh aufzunehmen.
Sie gab sich einen Ruck und stieg ohne einen weiteren Kommentar aus. Dareon folgte ihr über die Straße, wobei er sich wachsam umsah. Er benahm sich wie ein grimminger Bodyguard, der mit Argusaugen über seine Schutzbefohlene wachte. Gut so, es sollte wirken, als wäre er doppelt so konzentriert, weil er ihr einziger Begleiter war.
Natürlich warteten ihre anderen Kollegen in der Dunkelheit und hielten sich bereit, um einzugreifen, falls sich ein Sucher zeigen sollte.
Mit zitternden Händen schloss Cat die Eingangstür auf. Die Treppen, die in den ersten Stock hinauf führten, schienen bis in den Himmel zu reichen, so lang kam ihr der Aufstieg vor. Als sie endlich auch das Schloss zu ihrem früheren Heim entriegelte, lagen ihre Nerven blank. Ein Blick zu Dareon sollte sie beruhigen.
„Bereit?“, flüsterte er. „Wir können das Ganze immer noch abbrechen, wenn dir nicht wohl dabei ist.“
Cat schluckte hart, bezwang damit all ihre Zweifel und schüttelte entschlossen den Kopf. „Jetzt oder nie.“
Sie stieß die Tür weit auf und schaute in ihre dunkle Wohnung. Sie wusste auch nicht, was sie erwartete hatte, vielleicht eine schreiende Meute, die auf sie zugerast kam oder eine kleine aber feine Explosion, die sie in Fetzen reißen würde. Nichts der gleichen geschah. Alles blieb ruhig, während sie erst einen, dann den zweiten Fuß über die Schwelle setzte und vorsichtig nach dem Lichtschalter tastete.
Im hellen Schein der Deckenlampe wirkte das Wohnzimmer genauso, wie sie es zurück gelassen hatte. Eine gemütliche Couch und ein paar Bücher in den Regalen entlang der Wände. Die Durchgänge zur Küche und ins Schlafzimmer waren gut einsehbar. Dennoch kam es Cat so vor, als bewegte sich jeder Schatten, obwohl sie nichts hören konnte.
„Warte hier“, sagte Dareon laut und schob sich an ihr vorbei. Über den übernatürlichen Funk, mit dem Roman sie vorhin verbunden hatte, meldete er an die Gruppe: ‚Wir gehen jetzt rein.‘
Der große Elevender bewegte sich zügig und effizient, während er die anderen Räume durchsuchte. Sie selbst blieb im Türrahmen, bis er mit konzentriertem Gesichtsausdruckzurück kam. Offensichtlich hatte er niemanden vorfinden können und dies berichtete er auch den restlichen Mitgliedern ihres Teams.
Cat holte tief Luft und machte sich auf, um wie geplant ihre Sachen zu packen. Die Tür zum Flur lehnte sie nur an, damit ihr Partner draußen sofort hören würde, wenn sie Besuch bekamen.
Mit pochendem Herzen schritt sie in Richtung Schlafzimmer und als sie es erreichte, erinnerte sie der Anblick an jene Nacht vor zwei Tagen. Der Schrank sah aus, als hätte man ihn durch den Fleischwolf gedreht, überall lagen Scherben von der kaputten Fensterscheibe. Der Teppich wurde von vereinzelten Blutspritzern geziert. Wahrscheinlich von Dareon und dem Angreifer. Einen Moment lang fühlte sie erneut, wie die scharfen Kanten des Glasstücks in ihre Handflächen geschnitten hatten, als sie es in die Halsbeuge des Fremden gerammt hatte. Hm, vielleicht war auch ein Bisschen von Cats Blut dabei.
Plötzlich fühlte sie sich unheimlich klar, obwohl sie eher so weit neben sich stand, dass es ihr nur so vorkam. Dennoch nutzte sie die Abwesenheit von Furcht und Zögerlichkeit und machte sich an die Arbeit. Die Plastikfolie, die die zerborstene Scheibe ersetzen sollte und wahrscheinlich von Roman und Quentin angebracht worden war, ignorierte sie geflissentlich.
Nachdem sie einen der alten Kartons von ihrem letzten Umzug hervor gekramt hatte, platzierte sie die wichtigsten Gegenstände ihres Haushaltes ordentlich in der viereckigen Pappe. All die Dinge, die sie die letzten vier Jahre begleitet hatten, wanderten durch ihre Finger. Ein Bild mit ihren Kolleginnen, das hochwertige Kissen, das sie sich nach langem Sparen geleistet hatte und auch eine schuhkartongroße Box mit verschiedenen Kleinigkeiten, die bedeutende Momente repräsentierten.
Cat klappte sie auf und wühlte in dem Zeug. Stieß auf die erste Kinoeintrittskarte und den Anhänger, der am Schlüsselbund ihrer ersten eigenen Wohnung befestigt gewesen war. Da war noch mehr Krimskrams, doch ihr Blick blieb an der gemalten Postkarte hängen, die ihr Peter einst geschenkt hatte. Ein roter Feuerball, der schon halb im Meer versank und das blaue Wasser in glitzernde Lichtreflexe tauchte.
All diese Dinge hatte sie nicht behalten, weil sie daran gehangen hätte, sondern weil sie sie daran erinnern sollten, wie fragil die eingekehrte Ruhe, wie vergänglich ihr hart erkämpfter Frieden war. Jetzt jedoch konnte dieser Nippes sie nicht mehr berühren. Mit einem endgültigen Nicken klappte sie den Deckel der Schachtel zu und stellte sie auf den Nachttisch. Dort würde sie bleiben.
Der Blick wanderte über den Rest ihrer Habseligkeiten. Es war erleichternd, dass diese ihrer Vergangenheit angehörten. Und statt Trauer zu empfinden, war es eine Erlösung, dass sie das Zeug nun lediglich brauchte, um einen hegedunischen Sucher in die Falle zu locken. Immerhin erinnerte der Kram jetzt nicht mehr im positiven Sinne an ihre Freiheit. Die Dinge strotzten plötzlich vor Tragik, denn Cat hatte sich geirrt. Nicht nur in ihrer Zeit in der Klapsmühle war sie eingesperrt gewesen. Auch danach hatte sie das Leben nur aus weiter Entfernung gelebt, sich die Liebe und das Glück verweigert. Sie hatte sich in eine weitere Illusion, eine weitere Form eines Gefängnisses geflüchtet.
In diesem Moment der neuerlichen Katharsis hätte sie gerne weiße Tasten unter den Fingern gehabt. Das Lied, das sie spielen würde, entstand gerade in ihrem Geist und nichts hätte sie jetzt lieber getan, als das Pianostück Dareon vorzuspielen. Sie schüttelte den Kopf über die kitschige Vorstellung, konnte sich aber doch nicht das Lächeln verkneifen. Mit dem Herzen bei dem Elevender draußen im Hausflur, wandte sie sich wieder der Arbeit zu und die ging ihr leichter von den Händen als sie gedacht hatte.
Cat bemerkte gar nicht wie die Zeit verstrich, während sie Gegenstand um Gegenstand in Kartons verpackte. Bald schon war das Schlafzimmer leer, also nahm sie sich das Bad vor. Als sich auch diese Beschäftigungsmöglichkeit dem Ende neigte, blickte sie hoch zur Uhr und war erstaunt, dass sie bereits zwei Stunden gekramt und geräumt hatte.
‚Alles klar da drinnen?‘, hörte sie Dareon in diesem Augenblick durch Romans übernatürliche Funkfrequenz fragen.
‚Ja, alles ruhig. Mir gehen nur langsam die Sachen zum Einpacken aus.‘
‚Die lassen sich verdammt viel Zeit.‘ Seine geistige Stimme klang unruhig und auch die Anderen aus ihrem Team pflichteten ihm bei.
Roman beschloss schließlich, dass sie noch eine Stunde, maximal zwei warten wollten, bevor sie die Aktion abbrechen würden. Dareon war damit einverstanden und Cat rückte ins Wohnzimmer vor. Nachdem auch hier nur wenig später nichts mehr zu holen war, kam die Küche an die Reihe. Sie beförderte Pfannen und Töpfe, Teller und Gläser in die Umzugskisten, wobei sie sich nach geraumer Zeit total lächerlich vorkam.
Wer sollte ihr nach einem erst kürzlich erfolgten Überfall glauben, dass sie an den Ort des Verbrechens zurückkehrte, um verfluchtes Geschirr einzupacken? In Anbetracht der jüngsten Ereignisse schien ihr nichts unwichtiger als ein Haufen Metall, Glas und Porzellan.
Um halb Zwei wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und schnaubte verdrießlich. Es war kein Sucher aufgetaucht, das Telefon hatte nicht geklingelt, ja sogar die Nachbar schienen allesamt im Urlaub zu sein, denn es war so leise, als wäre das Haus wie ausgestorben. Mann, noch nicht mal eine Fliege hatte sich blicken lassen.
Enttäuscht konzentrierte sie sich auf den telepathischen Kanal, um die Anderen zu erreichen. ‚Ich glaube, das wird nichts mehr. Die Wohnung ist leer und die Hegedunen scheinen kein Interesse zu haben.‘
‚Gut‘, kam es vielfach zurück. Von den meisten ebenso enttäuscht, nur Cats Gegenstück klang erleichtert.
Xandra saß mit einem Jägerkollegen namens Gus im Auto. Sie arbeitete nicht häufig mit ihm zusammen, wusste jedoch, dass er ein verlässlicher Kerl war. Nicht unhöflich, aber auch nicht sonderlich gesprächig. Sie nahm an, dass er das seiner schüchternen Persönlichkeit verdankte. Und aufgrund seines wie zugeschweißten Mundwerks scheiterten Xandras Konversationsversuche kläglich, während sie darauf warteten, dass Cat von einem Sucher überrascht wurde.
Schließlich gab sie es auf, sich gegen die Gedanken an den Nachmittag zu wehren. Das Intermezzo mit Christian erschien ihr fast ein bisschen unwirklich, so überirdisch war es gewesen. Kaum verwunderlich, schließlich war Mr. Blockbuster ein Fachmann auf dem Gebiet. Trotzdem wunderte sie sich, dass sie den Gedanken so weit verdrängen hatte können, dass sie die Stunden mit diesem atemberaubenden Kerl genießen konnte.
Doch jetzt fiel es ihr wieder ein und der nagende Ärger darüber auch. Tja, anscheinend bedeutete das, dass man zwar einen Umstand erkennen konnte, dies aber nicht hieß, dass man ihn auch ad hoczu ändern vermochte. Sie hatte sich ihr ganzes Leben lang so verhalten und das maß immerhin schon beinahe ein halbes Jahrtausend. So viel zu diesem beschissenen Spruch: Erkenntnis ist der erste Schritt auf dem Weg zur Besserung. Offensichtlich reichte es nicht, die Entscheidung einmal zu treffen. Sie musste immer wieder gefällt werden. Jedes Mal, wenn sie negative Gedanken über Chris hatte, oder jedes Mal, wenn ihre Befürchtungen sie daran erinnern wollten, dass kein Mann so perfekt wie Daddy war. Gott, sie hasste es, sich diese verkorksten Verknüpfungen in ihrem Verstand einzugestehen. Es war einfach zu beschämend, nachdem sie sich immer für eine kontrollierte, hochintelligente Frau mit Standvermögen gehalten hatte. Da hatte sie sich wohl weit überschätzt.
Jetzt betrachtete sie die Zeit unter ChristiansGewicht gefangen mit einer merkwürdigen Distanz. Als wäre es eine andere Xandra gewesen, die seine Lippen geküsst und ihre Schenkel für ihn geöffnet hatte. In dem Moment war es ihr richtig erschienen, jetzt im Nachhinein konnte sie jedoch nicht sagen, was sie darüber denken sollte. Der Sonnyboy hatte sie regelrecht verführt und sie wusste die wundervollen Berührungen zu schätzen. Sie hatte sich von ihm angezogen gefühlt, tat es wahrscheinlich immer noch. Doch war auch ihr Herz mit an Bord gewesen?
Sie konnte die Frage nicht so ohne Weiteres beantworten und allein diese Tatsache sprach schon für sich. Allerdings musste sie sich auch eingestehen, dass eine nachmittägliche Begegnung zweier verschwitzter Körper nicht gerade das beste Testverfahren für einen Partner war. Die Schlussfolgerung daraus schien, dass sie sich noch weiter auf Christian einlassen musste, wenn sie herausfinden wollte, ob er in ihr starke Gefühle wecken konnte. Ganz gleich, was er mit anderen Frauen gehabt hatte, oder hatte.
Gott nein! Ein Schauer des Ekels. Wenn sie mit Chris einen Versuch starten wollte, musste er die Finger von den vielen Tussis lassen. Sie war ja bereit, ein Wagnis einzugehen, aber kein Kamikaze-Kommando. Sie als Dritt-, Viert- oder wer wusste schon Wievielte-Frau, nein, das würde nicht funktionieren. Xandra sträubte sich gegen die Erkenntnis, dass das jedoch nicht in ihrer Hand lag. Die negative Kehrseite der Medaille, wenn sie sich mit einem Weiberheld zusammen tun wollte. Verflucht, wie war sie auf diese absolut hirnrissige Idee gekommen?
Gut, sie wusste es schon irgendwie. Christian sah verdammt gut aus, war charmant, stark und witzig. Und dazu nicht gerade ein Dummkopf, auch wenn sie das hin und wieder in einer hitzigen Debatte behauptete. Sie hätte es wahrscheinlich schlechter treffen können, als sich zu diesem Casanova hingezogen zu fühlen. Nur die Zeit würde zeigen, ob sie aufs falsche Pferd gesetzt hatte, aber eins war klar. Sie mussten mit einander reden und das behagte ihr aktuell nicht wirklich. Vögeln war eine Sache, sich über Gefühle und Erwartungen auszutauschen eine ganz Andere.
‚Ich glaube, das wird nichts mehr. Die Wohnung ist leer und die Hegedunen scheinen kein Interesse mehr zu haben.‘, unterbrach Cat ihre verhängnisvollen Gedankengänge und Xandra landete unsanft auf dem Fahrersitz ihres SUVs, zurück in der Realität.
‚Gut‘, stimmte sie in den Chor der Anderen mit ein und fügte hinzu: ‚Wir blasen die Aktion ab. Alle zurück nach Blackridge.‘
Sie hatte die Worte gerade gesendet, da ertönte ein lauter Klingelton in ihrer Fahrerkabine. Diesmal erkannte sie gleich, dass es nicht ihr Handy war, das da leutete. Fluchend zog sie den Communicator aus der Tasche und hob ab.
„Sag‘ mir nicht, ihr seid schon so weit“, witzelte sie, da sie nicht angenommen hatte, dass der Venus-Orden den geplanten Einbruch so schnell über die Bühne bringen würde.
„Leider muss ich dich enttäuschen, meine Schöne“, drang es aus dem Hörer. Syn klang irgendwie atemlos, obwohl die Worte zu seiner coolen Art passten. „Ich hatte gehofft, ihr könntet uns helfen. Wo seid ihr gerade?“
Xandra horchte auf, der ernste Unterton ließ sie sogleich versteinern. Im Hintergrund hörte sie Motorengeräusche, was dafür sprach, dass der Mensch auf der Straße unterwegs war. Kurz darauf bestätigte lautes Reifenquietschen ihre These.
„In Ceiling. Was ist los?“
„Sagen wir, wir haben hier ein kleines Problem.“ Wieder die Geräusche von schlitterndem Gummi auf Asphalt. „Wir konnten die Unterlagen beschaffen, doch auf dem Weg nach draußen haben uns ein paar Mitarbeiter der McCarteys bemerkt. Jetzt hängen sie uns am Arsch. Den Rest meiner Leute habe ich zu einem anderen Auftrag eingeteilt, sie können da nicht weg.“
Xandra kapierte sofort. Hektik geriet in ihre Bewegungen und sie startete umgehend den Wagen. Der Mann neben ihr blickte sie erstaunt an, als sie Bleifuß-mäßig aufs Gas trat. Die Sorge hatte sie innerhalb von Sekundenbruchteilen übermannt.
„Wo seid ihr und wie viele habt ihr an der Stoßstange hängen?“
„Zuerst war es nur ein Wagen, aber diese schwarzen Jeeps tauchen hier auf wie die Schneeglöckchen im Januar. Wahrscheinlich haben die Security-Typen die Hegedunen gerufen. Wir fahren in Richtung Harper’sQuarter und biegen gerade auf die Washington Avenue ab.“
„Wir kommen. Bleib‘ dran.“
Xandra fuhr bei Rot über die nächste Kreuzung und passierte Christians Team, das gerade zu deren Auto zurückkehrte.
‚Der Venus-Orden steckt in Schwierigkeiten. Sie haben unsere Beweise beschafft, aber die Hegedunen haben sie entdeckt und verfolgen sie jetzt‘, telepathierte sie über Romans Gabe.
‚Scheiße!‘ Christians Kommentar war knapp aber treffend und sie sah im Rückspiegel, wie er mit einem weiteren Jägerkollegen in den silbernen BMW sprang und sich Xandra anschloss.Schon erkannte sie dahinter auch den Audi, den Roman fuhr. Vier Elevender, denen sie bedingungslos vertraute, hatten auf ihre unausgesprochene Bitte reagiert und gaben ihr ungefragt Rückendeckung. Erleichtert über den reibungslosen Aufbruch, wies sie die restlichen Elevender, die im übernatürlichen Kanal in heller Aufregung durcheinander redeten, an, Cat sicher nach Hause zu bringen. Dann schaltete sie runter, um die nächste Ampel noch bei Grün zu erwischen. Die beiden Wagen hinter ihr blieben dran und sie schossen durch die Straßen, wie eine dunkle Kolonne, vorbei an den wenigen anderen Autos. Es regnete immer noch leicht, jedoch nicht so, dass es sie behindert hätte. Die einzigen Lichter stammten von den Straßenlaternen, die den grauen Stein unter ihren Reifen in regelmäßigen Abständen beleuchteten.
Die Sekunden schienen sich zu kleinen Ewigkeiten zu verlängern, obwohl sie das Gaspedal quasi durch den Unterboden trat und ihre Karre nicht gerade wenige PS unter der Haube hatte.
„Was erwartet uns?“, fragte Gus neben ihr und zog mit grimmiger Miene eine Sturmhaube und die Glock heraus. Nachdem er sich die schwarze Wolle über den dunklen Schopf gezogen hatte, entsicherte er die Waffe.
„Bin mir nicht sicher.“ Sie gab die Frage ungefiltert an Syn weiter, den sie immer noch in der Leitung hatte. Als sie den Hörer diesmal ans Ohr presste, ertönten bereits Schüsse und das Splittern von Glas.
„Scheiße! Ziel‘ auf die Reifen!“, brüllte Syn über den Krach hinweg einem seiner Kollegen zu. „Vier gepanzerte Offrode-Jeeps. Alle in Schwarz und mit mindestens zwei Mann Besatzung. Großkalibrige Waffen und es sind sicher Hegedunen dabei. Unser Auto wurde gerade von einem Blitz getroffen.“
„Gibt es bereits Schäden?“
„Nichts Gravierendes. Wir passieren jetzt den Holland Drive und halten immer noch auf Harper‘sQuarter zu.“
„Wir sind gleich hinter euch“, versprach Xandra, die gerade auf die Straße einbog, von der er gesprochen hatte. Während sie durch die Dunkelheit raste und schon die große, vierspurige Washington Avenue am nächsten Ende des Häuserblocks auftauchen sah, berichtete sie ihrem Team über den Funk. Die anderen beiden Wagen fuhren direkt hinter ihr und hielten die rasante Geschwindigkeit, die Xandra vorlegte.
Kurz vor der Kreuzung, an der sie links mussten, um im Rücken der Hegedunen aufzutauchen, schaltete Xandra mittels eines Knopfes am Cockpit das ABS aus. Dann zog sie mit einem Ruck die Handbremse und riss das Steuer herum. Mit kreischenden Reifen schlingerte der SUV um die Neunziggradkurve, Xandra und Gus wurden in die Sitze geschleudert. Schlitternd rutschte das Auto noch ein wenig weiter, wobei das Heck leicht übersteuerte, was Xandra mit einem weiteren Schlenker des Lenkrades abfing.
Nur eine Sekunde später griff das Gummi wieder auf dem rissigen Asphalt und sie wurden noch ein wenig hin und her geschüttelt, ehe sie ihren Weg mit verschwindend geringem Geschwindigkeitsverlust fortsetzen konnten. Natürlich hatten Chris und Rome sich nicht abhängen lassen.
Erneut holte Xandra alles aus dem Sechszylinder mit ordentlich Hubraum heraus, da entdeckte sie eine Wagenkolonne etwa 300 Meter weiter vorn. Vier dunkle Jeeps, die sich in schnellem Tempo durch den dünnen Verkehr auf der vierspurigen Fahrbahn schlängelten.
„Wir haben euch“, sagte sie zu Syn, dasselbe noch einmal zu ihrem Team, dann legte sie auf. Jetzt zog auch Xandra einhändig ihre Sturmhaube über und befreite die automatische Schusswaffe aus dem Schultergurt.
‚Showtime!‘
Dareon stand neben Cat in der Küche und lauschte der Verfolgungsjagd über den Elevender-Äther. Ihr besorgter Blick traf ihn und er zog sie automatisch in eine Umarmung, die sie beide beruhigen sollte. Zwar juckte es ihn in den Fingern, seinen Kollegen zur Hilfe zu eilen, doch dachte er nicht im Traum daran, Cat schutzlos zurück zu lassen.
Plötzlich wurden sie aus der regen geistigen Diskussion ausgeklinkt. Cat schreckte zusammen.
„Was ist passiert? Glaubst du…?“ Sie hob die Finger an die Lippen.
„Nein. Ich denke, Roman will uns nicht mit dem Geschehen ablenken. Und er hat Recht. Wir müssen uns auf unsere eigene Gegenwart konzentrieren.“ Er holte sein Telefon hervor und wollte die verbleibenden Mitglieder bei der Aktion checken. Sie würden gleich nach Hause fahren und er wollte das Signal zum Aufbruch geben, da sie nach Xandras Meldung alle abwartend auf ihren Positionen verblieben waren, obwohl sie das Gegenteil angeordnet hatte. So waren sie eben. Andere Jäger ließ man nicht im Stich.
Plötzlich klopfte es leise an der geschlossenen Wohnungstür.
Innerhalb eines Wimpernschlages richtete Dareon seine Waffe auf das dunkle Holz und Cat zog erschrocken die Luft ein.
„Ich bin’s“, hörte er Quentin raunen und senkte erleichtert sein Mordwerkzeug.
Dann ging er, um dem Elevender die Tür zu öffnen. Dabei musste er die Küche verlassen und das Wohnzimmer durchqueren, aber es dauerte nicht lange. Schließlich ließ er den Kollegen hinein.
„Ich denke, wir sollten aufbrechen. Wir helfen den anderen nicht, indem wir uns hier in eine angreifbare Position bringen“, sagte der schlau und besonnen, wie man ihn kannte. Dareon musste ihm unumwunden zustimmen und wollte nach Cat rufen, da ertönte lautes Scheppern aus dem Raum in seinem Rücken.
Dareon wurde kalt, als wäre alles Blut aus seinen Gliedern, aus seinem Gesicht, ja, sogar aus seinem Gehirn gewichen. Für die Spanne einer viel zu langen Schocksekunde erstarrte er doch tatsächlich zu Eis, bevor er den Bann der Furcht brechen und losstürmen konnte. Quentin war schon an ihm vorbei gestürzt, erreichte den Durchgang zur Küche aber nur Zehntelsekunden vor Dareon, dem die schiere Panik Flügel verliehen hatte. Kurz hintereinander quetschten sie ihre sperrigen Kriegerkörper durch den Türrahmen. Der Anblick, der sich ihnen bot, verursachte eine Implosion in Dareons Brust. Sein Gesicht schien irgendwie taub zu werden. Jedenfalls fühlte es sich an als würde die Haut von den Knochen fließen und ihm gleich vor die Füße tropfen.
Cat war eben auf den Küchentisch gehüpft. Ein ganz in schwarz gekleideter, gut vermummter Elevender mit genug Muskulatur, um ein Loch in die Wand zu trümmern, war ihr dicht auf den Fersen. Er stürzte nach vorn, streckte die Hand nach dem Knöchel der zierlichen Frau aus, doch die trat ihm mit dem anderen Fuß gegen den Unterarm.
Das war sein Mädchen, dachte er noch, als er bereits wildentschlossen zum Sprung ansetzte. Quentin neben ihm rannte auf Cat zu, um sie vor einem weiteren Übergriff zu bewahren.
Dareon hechte los, wollte schon nach dem Kerl greifen, der gerade sein Todesurteil unterzeichnet hatte. Aus den Augenwinkeln bemerkte er in dem Moment ein kurzes Flackern, dann tauchte der zweite hegedunische Elevender auf, der auch den ersten hier abgesetzt haben musste. Er materialisierte sich absolut lautlos aus dem Nichts direkt hinter seinem Jäger-Kollegen.
„Quen!“, brüllte Dareon, unfähig seinen eigenen Angriff abzubrechen. Sein Schwung trieb ihn unaufhaltsam auf den ersten Sucher zu, dann musste er sich auch schon auf seinen eigenen Kampf konzentrieren. Sein Schrei hatte den Gegner vorgewarnt und er wurde mit einer Schlagkombination empfangen. Geschickt wich er aus und packte den Anderen während einer Drehung am Arm. So konnte er ihn gegen die Küchenzeile schleudern. Dareon wich nicht von der Seite seines Opfers und rammte ihm das Knie in die Weichteile, kaum war der Hegedune in die kleinen Schränkchen gekracht.
Ein schneller Blick über die Schulter zeigte, dass Cat unter dem Tisch Deckung gesucht hatte. Wenigstens hatte sie ein einziges Mal auf Dareon gehört, nahm er zufrieden zur Kenntnis. Doch an Quentins Front sah es nicht ganz so rosig aus. Sein Kollege konnte mit einer Berührung höllische Schmerzen auslösen. Seine Gabe stimulierte die dafür zuständige Region im Hirn und das Opfer litt Höllenqualen, obwohl ihm äußerlich nichts zu Leide getan wurde. Doch der Elevender mit dem buntem Haar kam nicht so recht an seinen Gegner heran, kaum war er in Reichweite verschwand der Hegedune, um auf der anderen Seite wieder aufzutauchen. Natürlich war Quentin darauf vorbereitet, doch so ging es weder vor noch zurück.
Dareon wurde wieder an seinem eigenen Platz gebraucht, denn der Sucher wand sich gerade aus seinem Schraubstock-Griff. Er versuchte, fester zuzupacken, doch dann wurde er mit einem heftigen Tritt zurück gestoßen. Dareon fiel seinerseits gegen den Tisch, unter dem Cat kauerte und verrückte ihn dabei ein paar Meter. Sie kroch aus der Gefahrenzone, während er die nächsten Schläge und Tritte parierte. Dass der Kampf sein Gegenstück in Gefahr brachte, reizte ihn bis zur Weißglut und er sah sich gezwungen, seinen Gegner umgehend auszuschalten.
Er täuschte einen Angriff von rechts vor, sprang aber stattdessen nach links ab. So hoch er konnte, schwang er sich in die Luft und legte beim herab sausen all seine Kraft die verschränkten Fäuste. Diese trafen den Sucher im Nacken, womit er Dareons Knie geradezu entgegen fiel. Die Bewegung war so leicht wie atmen, und als der nächste Treffer an der Schläfe des Gegners landete, ging dieser bewusstlos zu Boden.
Übergangslos drehte Dareon sich um und zog seine Halbautomatische. Er zielte nur Sekundenbruchteile, dann schoss er dem anderen Hegedunen in den Kopf, der gerade erneut hinter Quentin aufgetaucht war und sich auf diesen stürzen wollte. Die Kugel bohrte sich mitten in die gegnerische Stirn und hinterließ ein rotschimmerndes Loch, das einen harmlosen Eindruck machte und doch so verheerend war.
Quen richtete sich erstaunt auf. Mit einem Blick teilten sie einander mit, dass sie beide ok waren, daraufhin sahen sie sich nach Cat um.Sie lugte hinter dem umgekippten Tisch hervor, hinter den sie sich gerettet hatte.
Dareon flog förmlich zu seinem Gegenstück, konnte es kaum erwarten, sie sicher in seine Arme zu schließen und sich persönlich davon zu überzeugen, dass es ihr gut ging.
Kaum hatte er sie erreicht, sprang sie aus ihrem Versteck und warf sich an seine Brust. Als er sachte ihr Haar zurück strich und ihr Kinn hob, um sie genau mustern zu können, zitterten nur seine Hände. Cat schien unnatürlich ruhig.
„Alles ok bei dir?“
Sie nickte mit weit aufgerissenen Augen, doch ihre Stimme klang gefasst. „Ja, mir geht es gut. Ich hatte nur Angst um dich. Bist du verletzt?“
„Ein paar Schrammen. Nichts, was nicht verheilen wird.“ Ihre Sorge rührte ihn tief und er musste ihren zierlichen Körper gleich noch fester an sich pressen. Mit der Nase zwischen den seidigen Strähnen sog er den verlockenden Duft ein. Spürte Cats steten Puls unter der Haut und war einfach nur froh, dass sie unversehrt war.
Schließlich gelang es ihm schwerfällig, sich von diesem kleinen Stückchen Himmel zu lösen und nach Quentin zu sehen. Der hatte sich neben den bewusstlosen hegedunischen Sucher gekniet und durchsuchte dessen Taschen. Als er bei der Innenseite der Lederjacke angekommen war, erwachte der Gegner plötzlich zum Leben. In atemberaubender Geschwindigkeit packte er den Kopf mit dem bunten Haar und stieß den eigenen dagegen, sodass es laut knackte.
Quentin taumelte benommen zurück und die Sekunde reichte dem Hegedunen, ein Messer aus seinem Stiefel zu ziehen und es dem Jäger in den Oberschenkel zu rammen.
Cats Aufschrei gellte Dareon in den Ohren, als er automatisch zum Gegenangriff überging. Doch er war nicht schnell genug. Der überlebende Sucher rappelte sich auf und sprintete aus der zerstörten Küche.
„Geht’s?“, rief Dareon im Vorbeirennen. Quentin nickte mit verbissenem Gesichtsausdruck, wobei er sich das Bein hielt. Er wollte schon aufstehen, aber Dareon hielt ihn zurück. „Kümmere dich um Cat.“
Dann nahm er die Verfolgung auf.
Nichts war mit dem Gefühl vergleichbar, mit der Karre unterm Hintern eins zu werden. Wenn das Schnurren des Motors wie ein zweiter Herzschlag erschien und sich die Reifen in eine Verlängerung des eigenen Körpers verwandelten. Wenn bei hoher Geschwindigkeit jede kleinste Lenkbewegung mit Leichtigkeit zu der gewünschten Kursänderung führte, dann war es ein bisschen, als ob sie flöge. Xandra liebte es.
Gleich würde ihre Dreierkolonne die gegnerischen Reihen erreicht haben. Diese fuhren jeweils zu Zweit neben einander her, schleusten sich so durch den dünnen Verkehr, um dem Auto des Venus-Ordens weiter vorn folgen zu können. Dort wurde ein erbitterter Kampf ausgetragen, sodass die anderen Teilnehmer am Straßenverkehr bremsten und auswichen. Die Hegedunen hatten mit dem Angriff nach vorn alle Hände voll zu tun, sodass sie bis jetzt noch nicht bemerkt hatten, dass sie gleich Probleme bekommen würden.
Xandra ließ die Fensterscheibe hinunter. Kühler Wind gespickt mit eisigen Regentropfen wehte ihr entgegen und sie streckte die Waffe hinaus. Adrenalin rauschte durch ihre Adern, doch sie atmete ruhig, gerade zu flach, um besser zielen zu können. Gus neben ihr tat das Selbe und einen Moment später eröffneten sie gemeinsam das Feuer. Ihre Kollegen in den Wagen nebenan folgten dem Beispiel.
Da die beiden hegedunischen Jeeps vor ihnen mit kugelsicherer Verkleidung ausgestattet waren, wie Syn ihnen berichtet hatte, konzentrierten sie ihre Bemühungen auf die Reifen. Schon war dem Gegner klar, dass er in die Zange genommen wurde und aus den Rückfenstern lehnten sich dunkle Gestalten, die Schüsse nach hinten abgaben. Xandra und ihre Kollegen wichen aus, umfuhren ein paar vereinzelte andere Autos, die auf die Bremse gestiegen waren, um der Schießerei auf offener Straße zu entgehen, und näherten sich von der Seite.
Sobald die Sicht frei war zielte Xandra auf einen gegnerischen Schützen. Sie traf ihn am Hals und er ließ sich ins Wageninnere fallen. Kaum war er zurück geglitten, wurde er jedoch einfach durch einen seiner Verbündeten ersetzt, der jetzt seine Rache in Form einer Salve aus einem Maschinengewähr auf Xandras X5 entlud.
„Shit! Runter!“ Zwar waren auch die Vehikel der Legion gegen herkömmliche Projektile geschützt, doch ein offenenes Fenster war in einem solchen Fall eine eklatante Sicherheitslücke. Außerdem musste man wahrscheinlich nur oft genug dieselbe Stelle treffen, um sogar dieses spezielle Metall durchbohren zu können. Wieso verdammt hatte sie selbst nicht daran gedacht, Schnellschusswaffen einzupacken?
Jetzt waren kaum noch andere Verkehrsteilnehmer unterwegs und die Gegner sowie sie selbst fuhren im Zickzackkurs, damit sie nicht von den Kugeln der Anderen getroffen wurden. So waren die Hegedunen und ihre Scheiß-Reifen schier unmöglich zu treffen. Xandra fluchte gereizt, als sie das zweite Magazin durch den Lauf gepumpt hatte, ohne etwas zu erreichen. Mit einem Klick entließ sie das leere Gehäuse der Munition und lud blitzschnell nach, während ihr Knie für einen kurzen Moment das Lenkrad fixieren musste. Keine schwere Übung für eine Elevenderin mit beinahe 200 Jahren Fahrerfahrung.
Roman und Chris waren genauso gut und Zweiterem gelang es, sich den Weg auf seiner Seite freizuschießen, bis er nah genug dran war, um das dicke, schwarze Gummi unter einem der Offrode-Jeeps zu zerfetzen. Das Ding platze mit einem Knall und das Auto kam ins Schleudern, dann überschlug es sich krachend.
Christian musste dem trudelnden Gegner ausweichen. Es gelang ihm um Haaresbreite und ein waghalsiges Manöver brachte ihn direkt hinter das andere Hegedunenfahrzeug der rückwärtigen Reihe, das jetzt völlig zwischen den Vertretern der Legion eingekeilt war. Sie beschossen es von allen drei Seiten, da wurde auch die vordere Reihe der Gegener aufmerksam. Die Insassen der anderen Jeeps kamen dem in die Falle geratenen Opfer zur Hilfe.
Von vorne regnete es jetzt ebenso Kugeln, wodurch Xandras eigene Reifen bedroht waren, noch so eine verfluchte Schwachstelle. Gezwungenermaßen ließ sie sich zurück fallen, vorbei an Roman, der in Chris‘ Windschatten glitt und sich somit ebenso in Sicherheit brachte. Xandra nahm den Platz ganz hinten in der Kolonne ein.
‚Wir kommen nicht richtig an sie heran‘, fluchte der blonde Elevender vorne und bewegte das Auto hin und her, während Geschosse links und rechst an ihnen vorbei surrten. Xandra und Roman folgten dem Kurs, blieben auf diese Weise in Deckung. Letzterer analysierte die Lage.
‚Im Moment ist ihre Formation ihr großer Vorteil. Und wir haben keine schweren Waffen in Petto.“
Xandra konnte ihm da nur beipflichten. Außerdem war Christian ihre einzige Angriffswaffe, was ihr Repertoire an Elevenderkräften betraf. Sie selbst, Roman und die anderen drei Jäger konnten in diesem Fall nur mit ihren Schieß- und Fahrkünsten punkten. Sie waren von der Besetzung her eher auf den Nahkampf eingestellt gewesen. Der Gedanke brachte sie auf eine Idee.
‚Auf der Straße können wir sie nicht drankriegen. Wenn wir hier unterlegen sind, müssen wir uns eben an einen Ort begeben, an dem wir unsere Stärken ausspielen können.‘
‚Was genau schwebt dir vor?‘ Chris klang, als hätte er schon eine Ahnung.
‚Die Baustelle unten am Fluss. An der Auffahrt zum Highway. Zwei Autos von uns und der Orden locken die Gegner dort hin, das Dritte wartet vor Ort.‘
Roman lachte bitter. ‚Noch eine Falle? Wollen wir hoffen, dass es diesmal klappt. Also los, fangen wir uns ein paar Hegedunen.‘
Mit knappen Worten verteilten sie die Aufgaben und Xandra unterrichtete auch Syn über ihren Plan. Der stimmte ohne zögern zu, da er sich immer noch unter Beschuss befand und es keine Aussicht auf Flucht gab. Roman und sein Beifahrer Gabriel verließen die Kolonne kurz darauf, damit sie eine Abkürzung zu ihrem Ziel nehmen konnten. Sie würden alle Vorbereitungen treffen, um ihrer Beute einen würdigen Empfang zu bereiten. Derweil blieben Xandra, Christian und die beiden anderen Jäger in ihren zwei SUV’s dran und versuchten, den Hegedunen den Angriff auf den Orden zu erschweren, indem sie ohne Unterlass Blei regnen ließen. Der blonde Elevender sorgte mit Hilfe seiner Gabe für ein wenig Aquaplaning, leider reichte das nicht aus, die Gegner zu stoppen.
In dieser Anordnung brausten die sechs Autos durch die nun ausgestorbenen Straßen von Brighton Hill, einem Stadtteil am Rande von Ceiling. Harper’sQuarter hatten sie längst hinter sich gelassen und obwohl der Regen aufgehört hatte, wurden die Wolken am Himmel immer dichter, Blitze zuckten am dunklen Firmament. Sie kamen schnell näher und bald schon schlugen sie nicht weit von den Wagen der Legion ein, trafen sie irgendwann sogar. Xandra und Christian waren gezwungen, die Arme ins Innere ziehen, damit sie nicht bei lebendigem Leib gegrillt wurden. Der Faradaysche Käfig schützte sie zwar vor dem Schlimmsten, trotzdem mussten sie den so entstehenden Asphaltschäden ausweichen.
Schlingernd erreichten sie endlich die Baustelle. Ganz vorn brach der Venus-Orden durch den Zaun, die Hegedunen folgten, als letztes kamen die zwei Autos der Legion. Nunbefuhren sie eine Schotterpiste, die Scheinwerfer waren die einzigen Lichter in der Nacht. Links und rechts standengroße Maschinen wie Bagger und Baukräne, als nächstes würden sie in einen Parcours aus meterhohen Kies- und Sandhaufen geraten.
Kaum befanden sie sich auf der Höhe des Ersten, wurde der Jeep vor ihnen plötzlich von einem Stahlträger getroffen. Der hing an den dicken Stahlseilen eines Krans, den wahrscheinlich einer von Xandras Kollegen bediente. Metall traf auf Metall, der hinterste Offroad-Jeeps flog davon wie ein Spielzeugauto, war von einer Sekunde zur anderen verschwunden.
‚Ja! So hatte ich mir das vorgestellt!‘, jubelte Xandra. ‚Und jetzt machen wir den Sack zu!‘
Ganz an der Spitze dieser außergewöhnlichen Karawane fuhr der Venusorden durch die nächste Schickane aus aufgehäuften Baumaterialien, als nur knapp hinter ihnen ein Stapel riesiger Metallrohre in die Engstelle krachte. Mit perfektem Timing hatte ein zweiter Kran sie von oben fallen lassen, damit sie ein Hindernis für die hegedunischen Fahrzeuge bildeten, die jetzt schlitternd zum Stehen kamen. Xandra und Chris bremsten ihre Wagen am anderen Ende des Durchgangs zwischen den Sandhaufen ab, sodass sie schräg standen und jeden Fluchtweg blockierten. Die Falle war zugeschnappt.
In der nächsten Sekunde war das Team der Legion raus zur Tür. Der anhaltende Blitzregen zwagXandra dazu, Haken zu schlagen wie ein Kaninchen. Gleichzeitig telepathierte sie: ‚Zuerst diesen Möchtergern-Zeus ausschalten. Bevor wir alle zu Grillkohle verarbeitet werden.‘
Auf der anderen Seite der Gasse hüpften vier maskierte Gestalten aus einem der gegnerischen Fahrzeuge, die Türen des Anderen blieben geschlossen.
‚Damit wäre zumindest geklärt, in welchem Wagen er sitzt!‘, schlussfolgerte Roman. Direkt im Anschluss kam er wie aus dem Nichts den einen Sandhügel hinab gerutscht und landete auf dem Dach des verriegelten Jeeps. Bevor die Gegner sich alle auf ihn konzentrieren konnten, zogen die drei Elevender an ihrer Seite und Xandra selbst ihre Waffen. Wenn man beim Vorwärtsrücken leicht in die Knie ging und beide Hände benutze, um den Rückstoß abzufangen, konnte man zielgerichtet schießen und trotzdem schnell vorran kommen. So mussten sich die vier hegedunischen Kämpfer, die im Freien waren, auf ihren Angriff konzentrieren. Roman hatte freie Bahn.
Sogleich öffnete sich das Dachfenster zu seinen Füßen und wenn das nicht mal ein feiner Zug war. Der Hegedune, der prompt seinen Kopf ins Freie steckte und nur eine Zehntelsekunde später eine Waffe folgen ließ, entdeckte Roman natürlich sofort, dennoch war er nicht schnell genug. Der PuertoRicaner trat dem Gegner mit der Hacke vor die Nase und entriss ihm das Maschinengewehr. Dessen Mündung hielt er nur einen Augenblick später in den Wagen hinein und drückte ab. Während der Kollege das lange Metallmaschinchen einmal im Kreis schwenkte, wurde es in Xandras Inneren grausam kalt. Rome versuchte, so viele zu erwischen, wie die Kugeln nur treffen konnten. Vorzugsweise alle. Und obwohl das in diesem Moment absolut notwendig erschien, gefiel es Xandra dennoch überhaupt nicht, es war einfach gegen ihre Natur.
Das Gute an der Sache war, dass die Blitze abrupt aufhörten. Anscheinend hatte das harte Durchgreifen des Puerto Ricaners ihnen zumindest dieses Problem vom Hals geschafft.
Schließlich sprang die hintere Türe des Jeeps auf, dessen Innenraum eben von Roman durchsiebt worden war, und der letzte Überlebende stolperte hinaus.
‚So viele Gefangene wie möglich nehmen!‘, orderte Xandra, wobei sie den Schüssen der Gegner auswich. ‚Wir töten nur, wenn unbedingt nötig!‘
Die Gruppe der Legion hatte die Hegedunen fast erreicht und Roman war vom Wagen hinunter gesprungen, als ihn ein Querschläger traf. Der Kollege ging sofort zu Boden, blutete stark aus der Flanke. Trotzdem schaffte er es, dabei den Hegedunen mit sich zu reißen. Unten angekommen, lieferten sie sich einen erbitterten Kampf.
‚Mann am Boden!‘, schrie Christian über den Funk und rannte los. Xandra war zu sehr mit ihren eigenen Problemen in Form von großkalibrigen Geschossen beschäftigt, um ihm Denkung zu geben, da tauchte Romans Beifahrer Gabrielaus dem Kran auf und schützte Chris mit gezielt platzierten Treffern.
Der nutzte die Gelegenheit und hatte den Zweikampf fast erreich, als er plötzlich zurückprallte. Bevor Xandra reagieren konnte, wurde er ohne Vorwarnung nach hinten geschleudert. Romans Gegner musste einTelekinet sein, denn nur einen Augenblick später wirbelte auch der Puerto Ricaner an unsichtbaren Fäden durch die Luft und fiel gegen den anderen Offrode-Jeep.
Chris rappelte sich sogleich hoch. ‚Der gehört mir!‘ Jedoch rührte er sich nicht. Lediglich eine steile Falte entstand auf seiner Strin, die Augen kniff er zu Schlitzen zusammen. Um ihm Zeit zu verschaffen, gaben Xandra und ihre Kollegen Schüsse ab, mit denen siedie anderenGegner hinter ihre Jeeps drängten. Während sie sich den Verschanzten näherten, riskierte Xandra noch einen Blick und sah, dass Romans Angreifer begann, nach Luft zu schnappen.
Der Nieselregen hatte sich rund um den Elevender verdichtet. Besonders im Bereich seines Kopfes wirkte er wie dicker, schwerer Nebel, waberte in einen vor Schreck weit aufgerissenen Mund.
Christian benutzte seine Gabe, um die zarten Regentropfen in die Lunge des Hegedunen zu lenken. Nicht mehr lange, und der Telekinet würde an dem feuchten Dunst ersticken. In seinen Augen stand bereits das Wissen, dass er gleich seinem Schöpfer gegenüber treten würde. Roman lag röchelnd daneben, jedoch nicht wegen Christians undurchdringlichen Tröpfchenwolken. Er hielt sich die stark blutende Seite, in seinem Mundwinkel erschien rotglitzernde Flüssigkeit. Xandra stoppte alarmiert.
Entschlossen rannte sie mit eingezogenem Kopf zu dem Verletzten hinüber und warf sich schützend auf ihn. Während die Kugeln um sie herum einschlugen, inspizierte sie die Wunde an der rechten Seite zwischen der elften und zwölften Rippe. Das Projektil war groß genug gewesen, um die Schutzweste der Uniform durchdringen zu können. Besorgt suchte sie Romans Blick.
‚Ich muss dich hier weg bringen.‘
‚Wie schlimm ist es?‘
Xandra antwortete nicht. Sie sah nach links, gerade rechtzeitig, um das letzte Aufbäumen des Telekineten mitzuverfolgen, bevor er sein Leben aushauchte. Sie rang mit einem Anflug von Schuldgefühlen, doch das Wissen, dass er sie ohne zu zögern getötet hätte, minderte das Bedauern. Ein Zischen neben ihrem Ohr erinnerte sie daran, dass die Gefahr noch nicht vorüber war.
‚Lass‘ mich‘, telepathierte Christian, als er sie zur Seite schob. Mühelos hob er den großen Elevender auf die Arme. ‚Gib mir Deckung.‘
Xandra kam auf die Beine und fügte sich seiner Anweisung. Zum ersten Mal, wie ihr bewusst wurde. Mit der Bedeutung ihres Handelns würde sie sich später auseinandersetzen. Jetzt musste sie sich darauf konzentrieren, die beiden Kollegen in ihrem Rücken zu schützen. Sie feuerte Dreier-Salven, brav wie aus dem Lehrbuch, und das zeigte Wirkung. Sie schafften es zu Chris‘ Auto, ohne ein weiteres Mal getroffen zu werden. Die restlichen Mitglieder der Legion kämpften erbittert um ihre Stellung, doch gerade als Xandra hinter ihren beiden Freunden in den Wagen schlüpfte, erhob sich plötzlich ein lautes, flackerndes Geräusch über ihnen.
Sie blickte hinauf in den Nachthimmel und entdeckte wenig später einen mit drei Außenlichtern versehenen Helikopter, der offensichtlich auf den Schauplatz des Kampfes zu hielt. Und es war wohl klar, dass die Legion ihn nicht gerufen hatte.
‚Wir bekommen Besuch. Zurück zu den Autos Jungs!‘ Sie beobachtete die drei Jäger in der Mitte des Schotterweges, die sich langsam rückwärts schoben. Schüsse von der anderen Seite der Gasse erschwerten ihnen das Vorhaben. Xandra bezog hinter der offenen Beifahrertür Stellung und legte ein Sperrfeuer, das die Gegner in Deckung zwang.
Damit hatte sie den drei Kollegen eine winzige Verschnaufpause verschafft, die sie sogleich ausnutzten, um zum Wagen zurück zu sprinten. Dann erhellte ein greller Lichtblitz den Himmel, gefolgt von einem Ohren betäubenden Grollen. Im nächsten Augenblick schlug etwas direkt vor Xandra ein, keine zwanzig Meter entfernt, und ließ die Erde erbeben. Bevor sie begriff, was es war, gab es einen zweiten lauten Knall und die Druckwelle einer weiteren Detonation knallte ihr die Autotür gegen den Leib, presste die Luft aus ihren Lungen. Hitze prickelte auf ihrem Gesicht, Sandkörner haglten auf sie ein. Trotzdem riss sie vor Schreck die Augen weit auf, ungeachtet der stechenden Schmerzen, die die kleinen Quarzsplitter verursachten.
Als sich Staub und Rauch etwas lichteten, erblickte Xandra nur noch einen Krater, wo vorher ihre drei Kollegen gewesen waren.
„Oh, mein…“ Ein trockener Schluchzerentfleuchte ihren Lippen. Taubheit machte sich breit. Ihr Kopf wollte das Gesehene nicht akzeptieren. Das konnte einfach nicht…. Nein!
Jemand packte sie ohne Vorwarnung am Kragen und zerrte sie in den Wagen, der sich wie von Zauberhand in Bewegung zu setzen schien. Keine Sekunde zu früh, denn schon schlug hinter ihnen eine weitere Granate ein. Das Heck des BMW hob sich ein wenig und die Wucht schien sie geradezu anzuschieben. Chris hatte alle Hände voll damit zu tun, das Auto auf Kurs zu halten.
Zwar gelang es ihm für den Moment, doch schon im nächsten erwies sich ihre Falle als das, was sie eben war. Sie konnten nur geradeaus, in die Richtung aus der sie gekommen waren. Die aufgetürmten Baumaterialien boten keine Ausweichmöglichkeit, keinen Ort zum Verstecken. Sie saßen direkt auf dem Präsentierteller.
Diese Feststellung weckte Xandra aus ihrer Trance. Ihr gesunder Menschenverstand kehrte zurück und ihr Hirn fühlte sich an wie ein eingeschlafenes Körperteil, das endlich wieder durchblutet wurde.Während ihr Kopf prickelte, atmete sie tief durch, wurde wieder zur Jägerin, dann lehnte sie sich aus dem Fenster und visierte den Gegner an.
Der Hubschrauber flog nicht besonders hoch und war somit ein riesiges Ziel, jedoch interessierte sie nur die Kurbelwelle auf dem Dach, der anfälligste Teil des Fluggeräts. Nur gedämpft erreichte sie der Rückstoß der Waffe, auch den Fahrtwind nahm sie kaum wahr, es zählte nur, diese fette, alte Lady vom Himmel zu holen. Jede Bewegung des Fingers ein weiterer Versuch. Leider kam der Helikopter immer näher und der Schusswinkel verschlechterte sich zusehends. Sie hatte noch maximal drei Sekunden, dann würde er nah genug dran sein, um die nächste Granate abzuwerfen.
Drei.
Xandra kniff die Augen zusammen und atmete flach. Der Klang der Luft, die in ihre Bronchien strömte, hörte sich laut im Vergleich zu ihrer Umwelt an.
Zwei
Ein letztes Mal fixierte sie ihr Ziel und richtete die Waffe aus, hielt sie ganz ruhig, wohlwissend, dass sie gerade dem Tod in die Augen blickte.
Eins.
Beim Ausatmen schoss sie.
Schon als sie den Abzug betätigte, wusste sie, dass sie nicht treffen würde.
Doch wie durch ein Wunder kam zur selben Zeit ein großer Flugkörper von der Seite angesaust.
Der Hubschrauber explodierte mit donnerndem Grollen als gigantischer Feuerball am Nachthimmel.
Es regnte heiße Metallsplitter und größere Wrackteile, sodass Xandra den Kopf einziehen musste. Dennoch konnte sie in der Helligkeit der Detonation einen Blick auf den Kamm der Sandhaufen hinter ihnen erhaschen. Dort hoben sich Siegesfäuste in die Luft.
Der Orden war mit Verstärkung zurückgekommen, stellte Xandra erleichtert fest. Syns große Statur ragte an der Spitze des Hügels empor, sein Gesicht hatte er dem Flammenmehr über ihnen zugewandt.
Er hob den Arm und gab ein Zeichen. Zu seiner Linken kam ein Kerl mit einer Basuka zum Vorschein und schoss eine weitere Granate ab. Diese traf die verbliebenen Hegedunen, die sich immer noch bei ihren Jeeps verschanzt hatten. Alles ging so schnell, von ihnen würde nichts übrig bleiben außer Staub und einerfinstren Erinnerung.
Und als Xandra dabei zusah, wie ihre Feinde im Feuer vergingen, Teile von ihnen vom Himmel herabfielen, bedauerte sie nun kein bisschen mehr. Auge um Auge, Zahn um Zahn schien gar nicht mehr so abwegig, wenn man gerade drei Verbündete, drei Brüder verloren hatte. Dieser Tiefschlag war schockierend, obwohl sie wahrscheinlich noch gar nicht wirklich begriffen hatte. Das Trauern würde erst noch kommen. Für den Augenblick schlug ihr Herz wie wild, war sie vom anhaltenden Adrenalinpegel aufgepeitscht. In einem merkwürdig fern wirkenden Siegestaumel reckte auch Xandra die Faust aus dem Fenster. Sie hatte überlebt und zum ersten Mal seit langer Zeit war sie sich ihrer Sterblichkeit nur allzu bewusst. Für einen Elevender vielleicht gar keine schlechte Sache.
So genoss sie den Anblick des Infernos, schwelgte in der Zerstörung. Dann kletterte sie auf den Rücksitz und kümmerte sich darum, Romans Wunden zu heilen.
Das war ihre Form der Buße.
Als Dareon aus Cats Wohnung heraus und die Treppe hinunter schoss, hörte er nur noch unten die Tür ins Schloss fallen. Er raunzte sehrunchristliche Flüche, wobei er schon das Smartphone aus der Tasche zog. Quentins Partner sowie Slater und ein weiterer Jägerkollege mussten noch in den Autos rund um das alte Kasernengebäude warten.
Nachdem der eisige Elevender mit einem tonlosen Brummen abgenommen hatte, überschlug sich Dareons Stimme beinahe bei dem Versuch, dem Kollegen von den Geschehnissen zu berichten und ihn auf den Flüchtigen aufmerksam zu machen.
„Einer ist tot, der andere ist gerade zur Tür raus. Siehst du ihn?“
„Läuft in die andere Richtung. Ich häng‘ mich ran.“
Dareon brach durch den Eingang ins Freie und sah aus der Ferne, wie die Scheinwerfer an dem Auto seines Kollegen angingen. Es beschleunigte und Dareon stellte sich an die Straßenseite in den Kegel der Lichter. Nur Sekunden später hielt Slater neben ihm und er sprang ins Wageninnere.
„Der Kerl ist mit einem Teleporter gekommen. Er dürfte keinen fahrbaren Untersatz in der Nähe haben, also muss er zu Fuß abhauen.“
Der stille Elevender hatte derweil schon wieder Gas gegeben. Auf dem Beifahrersitz saß ein Jäger, den Dareon nur aus dem Unterricht kannte. Sein Name war Pavel und sein recht junges Alter täuschte über seine bereits hervorragenden Fähigkeiten hinweg.
Er spähte nach vorn durch die Windschutzscheibe und schon nach wenigen Metern kam die dunkle Gestalt in Sicht, die auf der verlassenen Straße dahin rannte. Sie war verdammt schnell, aber gegen einen Maschinerie aus vier Kolben mit Einspritzdüsen würde sie in jedem Fall verlieren. So dauerte es nicht lange, bis sie mit dem Hegedunen auf einer Höhe waren.
In Dareon wütete die Aggression. Seine Brust hob und senkte sich in immer kürzer werdenden Abständen, sein Körper bebte, die Hände zitterten im selben Rhythmus. Die Furcht um Cats Leben hatte einen Rachedurst ohne Gleichen geweckt. Er würde diesen Kerl kriegen und ihn ausquetschen. Falls er nicht reden wollte, würde Dareon jede einzelne Handlung genießen, die dem Angreifer das Mundwerk lockern sollte. Und er hatte nicht vor, ihn mit Kitzeln davon kommen zu lassen. Zu guter Letzt würde er den Hegedunen töten. Dieser hatte sein Recht auf Leben verwirkt, als er Hand an Cat gelegt hatte.
Dareon biss die Zähne zusammen, bis es knirschte, dann öffnete er mit einem Ruck die Tür und traf damit Speedy Gonzales im Kreuz. Der Kerl heulte auf und ging zu Boden. Jedoch gelang es ihm ebenso, sich abzurollen ohne sich zu verletzen. Denn schon stand er wieder, schlug sich in die Büsche am Wegesrand und war verschwunden.
Slater hatte den Wagen inzwischen zum Stehen gebracht, sodass Dareon problemlos raus hüpfen und hinterher sprinten konnte.
„Ich verfolge ihn. Versucht, ihm den Weg abzuschneiden!“, rief er noch, dann warf er sich ebenfalls in das dichte Blattwerk der Hecke, die ein Grundstück säumte. Während er sich durch ein Mienenfeld aus kleinen, spitzen Zweigen zwängte, hörte er am aufheulenden Motor, dass Slater davon fuhr. Auf der anderen Seite angekommen, fand er sich auf einem schmalen Rasenstück vor einem Haus wieder und gegenüber sprang der Feind gerade über eine weitere Hecke.
Dareon nahm die Beine unter die Arme und jagte den Angreifer quer durch das Wohnviertel. Sie überwanden Zäune, rannten über Terrassen und Grünflächen, schlängelten sich durch schmale Häusergassen. Der Elevender weiter vorn kam immer näher, Stück für Stück holte Dareon auf. Sein Körper genoss die Anstrengung, sie war genau das richtige Ventil für seinen Zorn.
Behände schwang er sich über einen weiteren Zaun, der Hegedune vor ihm erreichte in dem Augenblick die angrenzende Straße, da tauchte Slaters Wagen wie aus dem Nichts auf und nahm den Flüchtigen auf die Hörner. Dessen Körper krachte gegen die Frontscheibe, wurde hoch und über den Wagen geschleudert, nur um ein paar Meter weiter hart auf dem Asphalt aufzuschlagen.
Dareon wurde langsamer und umrundete das nun stehende Auto. Dabei warf er seinem Kollegen einen bösen Blick zu, denn tot nutzte ihnen der Fremde rein gar nichts. Auch wenn er persönlich kein Problem damit gehabt hätte.
Doch er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen.
Wie ein verfluchtes Stehaufmännchen kam der Kerl wieder auf die Beine und humpelte weiter. Er konnte in diesem Zustand nicht viel Tempo aufbauen, was der Jagd dann doch wenig später ein Ende setzte. Dareon konnte es sich nicht verkneifen, den Angreifer mit voller Wucht von hinten zu tacklen. Ein wenig Schmerz, vielleicht eine weitere gebrochene Rippe, hatte noch keinem geschadet. Zufrieden vernahm er, wie die Luft aus der Lunge des Kerls unter ihm gepresst wurde und drückte ihn mit seinem ganzen Gewicht nieder.
„Ohne deinen Kumpel kommst du nicht weit, hm? Aber der wird dir nicht mehr helfen“, raunte er dem Anderen ins Ohr und hörte wie aus weiter Ferne, dass er der Prophezeiung doch tatsächlich ein Kichern anfügte. Noch dazu klang es ehrlich erheitert. Erschrocken setzte er sich auf und fixierte den großen Typen mit den Knien. Er durfte diese Seite in sich niemals gewinnen lassen. Vor Cat hatte er dasselbe Ziel gehabt, doch jetzt hatte er einen Grund dafür. Ein entscheidender Unterschied, wie sich ihm in diesem Augenblick offenbarte.
Plötzlich war es ganz leicht, die Wut zu zügeln. Ihre Herrschaft zurück zu drängen und sie zu einem Werkzeug zu machen, anstatt sich von ihr benutzen zu lassen. Denn jetzt war er in diesem Kampf nicht mehr alleine. Er spürte Cat tief in sich, auch wenn sie vom physischen Standpunkt aus gesehen nicht anwesend war. Kontrolle war eine wunderbare Sache, nicht allein zu sein schien jedoch noch besser.
Der Sucher unter ihm wehrte sich heftig, als die Schritte eines zweiten Jägers hinter ihnen ertönten. Dann tauchte Slater zu seiner Linken auf.
„Es lebt.“ Und aus seinem Mund klang es, als hätte er gerne ein Schade angefügt.
„Zu deinem Glück“, antwortete Dareon. „Wir brauchen ihn lebend.“
„Aber nur ein kleines Bisschen.“ In dieser toten Stimme gesprochen klangen die Wörter abgrundtief böse und Slater zog seine Waffe. Der Hegedune zuckte wieder unkontrolliert, offensichtlich ein Ausdruck seiner Todesangst.Er versuchte verzweifelt, seine Handgelenke frei zu bekommen, weswegen Dareon ihn nur noch fester packte.
„Die Hände sind es also?“ Der feindliche Elevender wurde augenblicklich reglos. „Slater, du hast nicht zufällig Klebeband dabei?“ Das gehörte zur Standardausrüstung der Jäger.
„Abhacken wäre besser.“ Dareon bekam eine Rolle Panzertape gereicht. Damit fesselte er die Hände des Suchers auf dessen Rücken aneinander und umwickelte sie mit mehreren Lagen des silbernen Bandes.Bei ihm selbst hätte die Gabe des Hegedunen sowieso nicht gewirkt, aber er musste auch an seine zwei Kollegen denken.
Dareon drehte den Fremden auf den Rücken und riss ihm die Maske vom Kopf. Ein dunkelhaariger Kerl mit langer Nase kam zum Vorschein. Die prominenten Augenbrauen hatte er erzürnt zusammen gezogen, doch in seinen Augen, da lauerte die Angst.
Mit Slater an seiner Seite würde es lustig werden, guter Cop, böser Cop zu spielen. Und zum ersten Mal war nicht er derjenige, der Letzteres übernehmen würde. Er warf seinem Kollegen einen Blick zu, um sicher zu gehen, dass sie sich verstanden. Der nickte nur schlicht. Mehr hätte Dareon auch nicht erwartet.
Slater ging neben dem Hegedunen in die Hocke und presste ihm die Mündung des Schalldämpfers seiner Waffe an die Schläfe. Ohne Kommentar entsicherte er die Neunmillimeter und das Häufchen Elend zwischen Dareons Knien begann zu wimmern.
„Die Besten sterben jung“, raunte Slater kalt, dann drückte er den Abzug. Dareon konnte ihm gerade noch die Hand wegschlagen, bevor sich der Schuss löste. Er war selbst ein bisschen von der Kaltblütigkeit seines Kollegen überrascht, andererseits war jetzt glasklar, wer hier der böse Cop war.
„Ich sagte, wir benötigen ihn lebend.“ Dareon zischte die Worte mit vorgeschütztem Nachdruck. „Wir haben Befehl, ihn laufen zu lassen, wenn er uns verraten hat, was wir wissen wollen.“
„Zum Reden braucht er seine Hände nicht.“ Bei Slaters Tonfall bekam sogar er Gänsehaut. Mann, der Kerl wirkte echt wie ein lebendiger Toter. Und am Schlimmsten war der leere Blick aus diesem einen schwarzen Auge, der jetzt die verschnürten Pranken des Gegners fixierte. Indessen zog der Jäger ein Klappmesser aus der Hosentasche. „Ohren und Augen auch nicht.“ Er ließ die Klinge aufschnappen, sie blitzte sogar im faden Licht der etwas weiter entfernt stehenden Straßenlaterne, als sie sich direkt vor die Nase des Gefangenen schob.
Der Hegedune bockte wild bei dem Versuch, der scharfen Schneide zu entgehen. „Nein! Ich… ich kann nicht!“
„Das solltest du dir lieber noch mal überlegen. Sonst lasse ich dich mit meinem Kumpel hier allein und wie du vielleicht schon bemerkt hast, ist ihm egal, ob du die heutige Nacht überlebst.“ Dareon stand auf und trat einen Schritt zurück, um zu verdeutlichen, dass er seine Drohung wahr machen würde. Der Kerl am Boden setzte sich ein wenig auf und machte eine flehende Miene.
„Ihr versteht das nicht. Wenn ich etwas verrate, werde ich sterben.“
„Wenn du nicht redest, stirbst du gleich hier und jetzt“, erwiderte Slater gleichmütig und beugte sich hinunter. Seine Klinge drückte sich in die Haut oberhalb der Halsschlagader des gegnerischen Elevenders.
„Bitte nicht! Er wird mich töten, und euch auch!“
„Wer ist er?“, hakte Dareon überrascht nach. Was zum Teufel lief hier?
Der Dunkelhaarige mit den verschnürten Händen schüttelte verzweifelt den Kopf hin und her, dabei wurde er von Slaters Klinge verletzt. Ein paar Tropfen Blut rannen in den Hemdkragen, wo der dunkle Stoff sie aufsog. Aber der Kerl schien es überhaupt nicht zu bemerken. „Nein! Ich kann‘s nicht! Ich kann einfach nicht!“
Slater schob sich ins Blickfeld des Hegedunen, sodass der sein Gesicht genau sehen konnte. Dann strich er sich die Strähne aus der Stirn, die sonst sein linkes Auge verdeckte. Dareon konnte von seinem Standpunkt aus nicht richtig erkennen, was geschah, aber es überraschte ihn kaum, dass der gefesselte Kerl nur einen Augenblick später wie am Spieß zu schreien begann. Seine Züge verzerrten sich zu einer Fratze des Grauens.
Slater rang ihn nieder, dabei rutschte das Haar wieder in die gewohnte Position, und hielt ihm den Mund zu. Aber es gelang ihm kaum, denn der Hegedune wirkte nun, als sei der Teufel höchst persönlich hinter ihm her… oder säße gerade auf seiner Brust. Dareon hatte keinen blassen Dunst, was soeben passiert war, doch die schreckensgeweiteten Augen des Gegners erzählten von blankem Horror. Einer Bedrohung, weit schlimmer, als sie es je erblickt hatten.
Keiner wusste genau, wie Vincent Slaters Gabe funktionierte, aber die Auswirkungen davon kannten sie zur Genüge. Er machte etwas mit den Lebewesen in seiner Umgebung, das man nicht genau benennen konnte, aber als ungemein bedrohlich empfand. Als ob er einem das tiefste Innere nehmen könnte, so hatte es Xandra einmal beschrieben. Dareon selbst hatte es natürlich noch nie gespürt, aber schon oft genug davon gehört. Jetzt bekam er eine Kostprobe aus erster Hand. Was auch immer es war, das Slater seinen Opfern antat, es zeigte offenbar Wirkung. Der Hegedune sah bittend zu Dareon hinüber und wand sich in Todesangst.
„Hast du doch was zu sagen?“
Wildes Nicken war die Antwort, wobei er von Slaters Hand auf seinem Mund behindert wurde. Dareons Kollege ließ den Gefangenen los und klugerweise machte der keinen neuen Versuch los zu kreischen.
„Was wolltest du von meiner Freundin?“
Der Angesprochene rutschte herum, wahrscheinlich wollte er Abstand zwischen sich und die drohende Gefahr bringen. „Ich…, ich sollte sie nur holen und ausliefern.“
Als wäre Cat ein verdammtes Päckchen. Die Wut wollte erneut auflodern, doch Dareon rang sie nieder, erstickte sie gleich im Keim. „Hast du das schon öfter gemacht?“
Der feindliche Elevender zögerte, doch als Slater ihm den Stiefel in die Leber rammte, nickte er keuchend.
„Bist du sowas wie ein Söldner?“
„Ja.“
„Was weißt du über deinen Auftraggeber?“
„Nichts“, stieß der Kerl zittrig hervor.
„Lügner! Wer ist ER?“
Der Hegedune schien irgendwie kurzatmig zu werden, als Stünde er kurz vor einem Anfall, oder einem Zusammenbruch. „Er bezahlt, ich liefere“, japste er schließlich.
„Wo bringst du die Elevender hin?“
„Das kann ich nicht…“ Der Mann brach abrupt ab, dann drehte er das Gesicht weg. Irgendetwas schien vor sich zu gehen und als er den Kopf wieder hob und Dareon anschaute, war sein Ausdruck plötzlich ruhig. Das waren zwar immer noch dieselben Züge, aber sie hatten sich so rasch und entscheidend verändert, dass man schon zweimal hinsehen musste, um den Kerl wiederzuerkennen.
„Na gut. Sobald ihr mir die Fesseln abnehmt, werde ich reden.“
Überrascht über die schnelle Kehrtwende, durchdachte Dareon die Situation. Es kam ihm merkwürdig vor, auf so plötzliche Bereitwilligkeit zu stoßen und die Veränderung in der Stimme des Gegners ließ ihn ebenfalls stutzen. Er hatte nicht vor, seine einzige Spur einfach so vom Haken zu lassen.
„Klar, und dann fahren wir alle zu Starbucks und du erzählst uns bei einem doppelten Frappuccino mit Karamellsirup was wir wissen wollen. Nicht wahr?“ Die Ironie schien ihm passend, verscheißern konnte er sich schließlich auch alleine. „Bei dir sind wohl ein paar Sicherungen durchgeschmort. Du wirst uns hinbringen, danach sehen wir weiter, was deine Fesseln angeht.“
Damit griff er nach dem Hegedunen, hievte ihn auf die Beine und schleifte ihn dann zurück zum Wagen. Slater folgte in einigem Abstand. Nichts wies darauf hin, dass er eben noch bereit gewesen war, kaltblütig einen wehrlosen Mann zu töten. Es war schon gespenstisch, aber noch verwunderlicher schien, dass Dareon ihn noch nie so viel reden gehört hatte wie heute Nacht. Auch wenn es alles Drohungen gewesen waren. Slater hatte getan, was getan werden musste und das machte einen guten Jäger aus.
Zurück beim SUV, stopfte er den gegnerischen Elevender auf die Rückbank und Slater folgte unaufgefordert, was der Kerl nun mit Gleichmut hinnahm. Ein krasser Kontrast zu dem Warmduscher, der er gerade eben noch gewesen war. Pavel, der das Auto bewacht hatte, hatte sich hinters Lenkrad geklemmt, also nahm Dareon den Beifahrersitz.
Dieser merkwürdige Wandel im Gegner zeigte sich ein weiteres mal. Es brauchte noch nicht mal mehr einen bösen Blick von Slater, damit der Gefangene sie zu seiner Lieferadresse dirigierte.
Auf dem Weg rief Dareon bei Cat an, die zwar etwas schnell redete, aber ansonsten ganz gefasst klang. Sie berichtete, dass es Quentin den Umständen entsprechend gut gehe und dessen Partner gerade das Auto hole, um sie alle zurück nach Blackridge zu bringen. Erleichtert bat Dareon sie vorsichtig zu sein, dann legte er auf. Cat ging es gut und sie würde bald zu Hause sein, wo ihr nichts geschehen konnte. Sehr beruhigende Aussichten. Nun konnte er seine volle Konzentration auf das vor ihm Liegende richten.
Pavel hielt schließlich vor einem großen Gebäude in einer Gegend mit vielen Bürokomplexen, die jetzt des Nächtens alle menschenleer waren. Ein Rundgang zeigte, dass das Haus zwar ebenfalls viele Arbeitsplätze enthielt, jedoch eine ausgeklügelte Lüftungsanlage besaß, die eher zu einem industriellen Labor gepasst hätte. Alle Eingänge waren mit einem hochmodernen Sicherheitssystem versehen und somit verriegelt und verrammelt. Die oberen Stockwerke hatten außerdem keine Fenster, was ihm zusätzlich merkwürdig vorkam.
Dareon brauchte nicht lange, eine Entscheidung zu treffen.
„Wir sollten uns das mal genauer ansehen“, sagte er deshalb, während er zurück ins Wageninnere schlüpfte. Er drehte sich um und blickte zum Rücksitz. „Wie kommst du rein, wenn du die Beute übergibst?“
Misstrauisch bemerkte er, dass der feindliche Elevender nun äußerst gelassen wirkte. „Ich rufe jemanden an.“
Dareon hatte nicht vor, ihren Besuch öffentlich zu machen und dem Gegner somit eine Vorwarnung zukommen zu lassen. „Gibt es noch eine andere Möglichkeit?“
„Eine Art Schlüssel nehme ich an“, sagte der Andere in völlig belanglosem Ton. Es wirkte, als hätte er beinahe mit den Schultern gezuckt.
Dareon wollte schon den Berserker auspacken, um dieser Dreistigkeit Einhalt zu gebieten, als ihm einfiel, dass der Kerl nur ein Söldner war. Der Sucher, den Dareon vor einigen Tagen in Cats Wohnung getötet hatte, war es aber eventuell nicht gewesen. Schnell kramte er in seinen Taschen nach der berüchtigten Schlüsselkarte, die Roman damals bei der Leiche gefunden hatte.
„Könnte es damit klappen?“ Er hielt das durchsichtige Plastik hoch.
„Woher soll ich das wissen? Sehe ich aus wie ein Hellseher?“
„Nein. Aber du wirst voran gehen, vielleicht hast du dann doch noch eine Vision.“ Dareon stieg aus und öffnete die hintere Tür. „Los, raus mit dir.“
Als der Kerl sich nur widerwillig in Bewegung setzte, half Slater ein wenig nach. Schließlich schlichen sie erneut um das Gebäude herum. Zu dritt, Pavel war wieder beim SUV geblieben. Die Gegend war zur Arbeitszeit wahrscheinlich gut bevölkert, zu dieser späten Stunde schien sie jedoch wie ausgestorben.
Am Hintereingang angekommen, der war die sicherere Wahl für einen Einbruch, schubste Dareon den Hegedunen vor die dicke Stahltüre. Daneben befand sich eine elektronische Schaltkonsole, die in die Hauswand eingelassen worden war. Ein digitales Display leuchtete schwach in der Dunkelheit, aber es gab keine Tastatur oder Ähnliches.
„Dann wollen wir mal“, hauchte Dareon und hielt die durchsichtige Karte mit dem merkwürdigen Muster über den Bildschirm. Gespannt sah er dabei zu, wie das Gerät zunächst aufleuchtete und dann ein Abbild der schwarzen Quadrate und Linien, die auf dem Plastik zu sehen waren, zeigte. Kurz blinkte es grün, dann ertönte ein leises Klickgeräusch.
Die dicke Stahltür hatte sich geöffnet.
Voller Spannung lehnte Dareon sich vor, um durch den entstandenen Spalt zu schielen, doch drinnen war alles dunkel. Beinahe hätte er es nicht mehr ausgehalten und wäre völlig kopflos hinein gestürmt. Er gierte danach, diese Scheißkerle, die Jagd auf Cat und viele Andere gemacht hatten, endlich zur Strecke zu bringen. Er machte schon einen Schritt vor, da fiel sein Blick auf den Gefangenen, der neben ihm stand.
Auf dessen Gesicht konnte er gerade noch die Andeutung eines verschlagenen Lächelns erhaschen, bevor der Hegedune es schaffte, den Gefühlsausdruck zu verstecken. Dareon blieb wie versteinert stehen und musterte den Anderen eindringlich.
„Du wolltest doch zuerst gehen. Also nach dir!“, sagte er und schob den Gegner mit einem Ruck durch den Hintereingang.
Der stolperte gegen die halboffene Tür und dann ins Dunkle hinein, jedoch blieb er nicht lange verschwunden. Ein Bewegungsmelder schien die Beleuchtung zu aktivieren, denn einen Augenblick später gingen die Lampen im Gebäude an und erhellten einen schlichten Eingangsbereich. Ein Empfangstresen rechts, ein Wartebereich links, am anderen Ende des Raumes führte ein breiter Flur zu Aufzügen und in den hinteren Teil des Hauses.
Der Hegedune blieb in der Mitte stehen und als nichts geschah, wagten auch Slater und Dareon sich ein paar Schritte hinein. Sie kamen jedoch nicht weit, als das sanfte, gelbe Licht plötzlich zu einem aggressiven Rot wurde und stroposkopmäßig in schnellem Wechsel an und aus ging.
„Was…?“, stieß Dareon hervor, während er sich verwirrt umsah. Ein Blick zu ihrem Gefangenen beantwortete die unausgesprochene Frage auf subtile Weise.
Jetzt lächelte der Kerl. Der gemeinhin freundliche Ausdruck wirkte bei ihm jedoch bösartig und voller Gier. Sein darauffolgendes Schulterzucken war beinahe mitleidig.
„Ich sagte doch, ich werde sterben. Und ihr auch….“
Seine Worte wurden von einem ohrenbetäubenden Laut abgelöst. Etwas grollte unter und über ihnen, auch von den Seiten her. Die Wände erzitterten und eine Lampe kam von der Decke herunter. Dann folgte die Detonation.
Mehrere Sprengladungen explodierten gleichzeitig, pulverisierten tragende Wände, kappten die Stahlträger im Beton, spieen sengendes Feuer und kochende Hitze. Dareon riss die Arme vors Gesicht, doch vor dem, was gleich kommen würde, konnte ihn das nicht schützen.
Die Stockwerke über ihnen stürzten ein und drohten, alles unter sich zu begraben. In der Mitte war der Effekt am schnellsten, der Hegedune wurde schon von den herabstürzenden Trümmern beerdigt; immer noch lächelnd.
Noch während Dareon dies ungläubig zur Kenntnis nahm, kam ihm eine Druckwelle aus Staub, Feuer und Hitze entgegen gefegt. Bevor er ein letztes Ich liebe dich an Cat schicken konnte, wurde er mitgerissen und die Gewalt der Explosion knipste ihm die Lichter aus.
Piiiiiieeeeeep.
Dieser nervtötende Pfeifton wollte ihm wohl die Trommelfelle zerfetzen, dachte Dareon ärgerlichund schlug die Augen auf. Er sah nur verschwommen und irgendwie zeichneten sich seine Wimpern hell vor seinem Sichtfeld ab, der Staub hatte sie weißlich verfärbt. Auch zwischen seinen Lippen und auf der Zunge spürte er eine Schicht dessen, was die Sprengsätze von diesem mysteriösen Gebäude übrig gelassen hatten.
Er richtete sich auf, wobei kleine Steinchen von seinem Rücken rollten und Sand aus seiner Kleidung rieselte. Ein schneller Blick zeigte ein Bild der Verwüstung, doch glücklicherweise lag Slater keine zwei Meter von ihm entfernt und regte sich ebenfalls. Offenbar waren sie beide wie durch ein Wunder durch die offene Türe hinaus ins Freie geschleudert worden. Nur so hatten sie das Inferno überleben können.
Sein erster Gedanke galt Cat und die Erleichterung reichte umso tiefer, nun da er so viel zu verlieren hatte. Anscheinend gab es einen Unterschied zwischen existieren und leben. Und bis Cat in sein Leben getreten war, war er sich dessen gar nicht bewusst gewesen. Sie hatte ihn gelehrt, dass er eine schlichte Existenz gefristet hatte, aber mir ihr zusammen lebte er. Jeder Kratzer und jede Schramme erinnerte ihn daran, wie wertvoll das war.
Erst danach kam die Verwirrung. Dieser Hegedune hatte sie offensichtlich wissend in den gemeinsamen Tod geführt. Dass das nicht geklappt hatte, war allein einem glücklichen Wink des Schicksals zu verdanken. Wer hätte schon ahnen können, dass der Kerl ein Selbstmordattentäter gewesen war?
Eins schien jedoch gewiss: Dieser Ort hier war von Bedeutung, sonst hätten ihre Feinde keinen Selbstzerstörungsmechanismus eingebaut.
Fluchend robbte er zu Slater hinüber, wobei keine Stellte an seinem Körper nicht zu schmerzen schien. Er wusste, dass es nur kleine Wehwehchen waren, er war nicht schlimm verletzt. Dennoch fühlte es sich an, als hätte er seinen Camaro mit zweihundert Sachen gegen eine Mauer gesetzt. Ächzend erreichte er den Kollegen, der sich gerade ebenfalls aufsetzte.
„Alles klar?“
Slater rieb sich den Dreck aus den Augen, dann nickte er schlicht.
Dareon erwiderte die Geste, dann blickten sie beide über die mit Rauchschwaden bedeckte Trümmerlandschaft. Von dem Gebäude konnte man nur noch die groben Umrisse erkennen, der Rest war zu riesigen Haufen aus Schutt und Möbelteilen geworden. Jede Hoffnung, das Geheimnis um die verschlepptet Elevender zu lüften, war damit ebenfalls zerbröselt.
Da ertönten laute Schritte, die vermittelten, dass die Person, die sie verursachte, rannte wie der Teufel. Sofort zückten sie beide ihre Waffen, aber als der Unbekannte zu rufen begann, ließen sie erleichtert sinken.
„Slay???? Dareon????“
Pavel kam um die ehemalige Hausecke geschlittert und als er sie entdeckte, stieß er einen derben Fluch aus. „Gott sei Dank! Ihr lebt!“ Er musterte sie beide eindringlich, während er ihnen auf die Beine half. „Braucht ihr Erstehilfe?“
„Nicht nötig“, wehrte Dareon ab und Slay folgte seinem Beispiel.
„Was ist hier passiert?“
„Der Hegedune wollte uns alle da drin begraben.“ Er wies auf das zerstörte Gebäude und während er Pavel Bericht erstattete, ging Slater durch die Schutthaufen, kickte mal hier mal dort gegen Trümmerteile. Kleine Staubwolken wurden vom Boden aufgewirbelt, der ganze Platz strahlte immer noch Hitze aus.
„Offensichtlich hatte er was dagegen, dass wir uns das genauer ansehen“, schlussfolgerte sein Kollege und ging ebenfalls durch die Ruinen. Dareon nahm an der Suche Teil, aber die Trümmer hatten gefühlte 300 Grad und sie konnten nicht mehr zutage fördern, als das verkohlte Gehäuse eines Computers. Und es war mehr als fraglich, ob sich darin noch Informationen finden ließen.
Mit ihrer bescheidenen Beute kehrten sie zum Wagen zurück und machten sich beklommen auf den Rückweg. Dareon tat es nicht Leid um den Söldner, aber ihre einzige Spur hatte sich soeben in Schutt und Asche verwandelt und er fragte sich, wie er das wohl Cat erklären sollte. Immerhin hatte sie ein großes Risiko auf sich genommen, um ihnen diese Chance zu verschaffen. Jetzt kam er mit quasi leeren Händen zurück und sie hatte sich für nichts und wieder nichts in Gefahr gebracht. Seine Finger schlossen sich fest um den beschädigten Computer und er schwor, dass der Aufwand für den heutigen Abend nicht umsonst gewesen sein würde.
Der Gedanke an sein Gegenstück weckte eine innige Ungeduld, weswegen er das Handy zückte und erneut bei Cat anrief. Es klingelte und klingelte, doch nach etwa einer Minute war er sicher, dass sie nicht abheben würde. Ein Versuch auf Quentins Telefon brachte dasselbe Ergebnis, was Dareon langsam unruhig werden ließ.
Beim Anwählen der dritten Nummer aus dem Speicher begannen seine Finger zu zittern und sein Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich, als auch Xandra nicht ranging. Erst bei Ferroc hatte er Erfolg, aber das sollte ihm keine Erleichterung bringen. Der berichtete, dass sich die Elevender-Ärztin und der Rest ihres Teams noch nicht zurück gemeldet hatten, außerdem habe er auch von Quentin und Cat nichts gehört. Alarmiert legte Dareon auf, sein Verstand lief auf Hochtouren und er versuchte es leicht panisch noch mal auf Cats Anschluss.
„Geh‘ ran, geh‘ ran, geh‘ ran!“, befehligte er dem Äther, ohne die gewünschte Reaktion zu bekommen. Schließlich gab er auf und an diesem Punkt war ihm klar, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.
„Dreh‘ um, Pavel! Cat geht nicht an ihr Telefon und Quentin auch nicht. Niemand weiß, wo sie abgeblieben sind. Wir müssen zurück!“
Der Kollege hinterm Steuer wirkte erstaunt, nickte dann aber entschlossen. Er wendete das Auto auf der verlassenen Interstate und brach mehrere Verkehrsregeln auf dem Weg zu Cats Wohnung. Dort angekommen, war Dareon schon aus dem Auto, bevor die Reifen still standen. Stumm betend rannte er die Treppe hinauf. Er war voll auf mit der Sorge um seine Frau beschäftigt, doch etwas ließ seine Alarmglocken läuten. Vor der Wohnung wurde ihm schließlich bewusst, was genau ihn störte. Die Lichter im Flur gingen nicht an, obwohl er den Bewegungsmelder ausgelöst hatte.
Und die Tür war aufgebrochen worden.
Mittlerweile hatte Dareon Mühe, genug Sauerstoff in seinen Brustkorb zu pumpen, seine Atmung war irgendwie aus dem Rhythmus und ihm wurde leicht schwindelig. Schnell schüttelte er den Kopf, um sich zu fassen. Für Panik hatte er jetzt keine Zeit, also schlüpfte er flink und leise durch den Türspalt. Auch drinnen war alles dunkel, aber seine Augen brauchten nicht lange, bis sie sich an die Finsternis gewöhnt hatten. Er schob sich vorsichtig vorwärts, lauschte auf jedes verräterische Geräusch, jedes verdächtige Knacken. Nichts rührte sich, während er Bad und Schlafzimmer checkte, jedoch niemanden vorfand. Bis er die Küche erreicht hatte, war er nahe dran den Verstand zu verlieren.
Zwei Körper auf dem Boden verpassten ihm den Rest. Sein Herz blieb endgültig stehen und er sackte auf die Knie, streckte die Hände wie in Trance aus. Kurz vor dem Kontakt hielt er inne, was wenn….
Der eine war Quentins Partner bei der heutigen Mission. Ein Jäger namens Kevin. Er atmete nicht und ein paar prüfende Handgriffe zeigten, dass kein Herzschlag mehr zu finden war. Bald darauf fand Dareon mehrere Einschüsse am Hinterkopf, was bedeutete, dass jede Hoffnung verloren war. Als er von dem Toten abließ, fiel ihm auf, dass er in einer Pfütze aus dunklem, klebrigem Zeug kniete.Blut. Da war so viel Blut. Viel zu viel, um nur von einer Person stammen zu können.
Hektisch wuchtete er auch den zweiten Körper auf den Rücken. Quentins fahles Antlitz kam zum Vorschein, es erschien hell gegen das dünne Mondlicht, das durch die Fenster fiel. Dareon tastete mit angehaltenem Atem nach dem Puls und stellte fest, dass der Kollege zum Glück nur bewusstlos war.Das Blutstammte nicht nur aus der Stichverletzung am Oberschenkel, eine neuere Wunde klaffte auch am Kopf. Mit dem Verletzten in den Armen sah Dareon sich panisch um, doch der Rest der Küche war menschenleer. Keine Cat. Und man brauchte wohl nicht viel Spitzfindigkeit, um zu kombinieren, was passiert war.
In heller Aufregung begann Dareon, den ohnmächtigen Jäger zu schütteln.
„Quen! Quen! Wach‘ auf, Kumpel!“
Der große Elevender zuckte nur leicht und es brauchte einiges Rütteln und Schütteln, bis er flatternd die Lider hob.
„Was ist passiert? Wo ist sie?“, drängte Dareon, sobald er glaubte, dass der Andere ihn verstehen konnte. Dessen Lippen bewegten sich langsam, wobei nicht wirklich etwas heraus kam. Quentin riss die Augen auf. Erschrocken fasste er sich an die Kehle und öffnete den Mund erneut weit. An seinem Hals traten Sehnen unter der Haut hervor, die Adern zu beiden Seiten seiner Stirn schienen vor Anstrengung zu pochen. Dennoch brachte der Jäger mit dem bunten Haar keinen Ton hervor.
In Dareon machte sich eine schreckliche Ahnung breit. Er kannte Quentins Symptome nur zu gut, hatte sie in seiner Kindheit hunderte Male am eigenen Leib gespürt. Und als ihm klar wurde, was das bedeuten musste, sank er atemlos auf den Hintern. Er weigerte sich, diese Schlussfolgerung zu akzeptieren, konnte es einfach nicht fassen.
In all den Jahren, in denen er gesucht hatte, hatte er nie erwartet, dass das Objekt seiner Nachforschungen eines Tages ihn finden würde. Wie zum Teufel war das bloß möglich?
Während er noch wie vom Donner gerührt neben dem verstört gestikulierenden aber stummen Quentin saß, kam Slater in die Küche. Mir einem Blick erfasste er die Lage.
„Wo ist Cat?“
„Weg“, flüsterte Dareon beklommen. Der Schock hatte sowohl seinen Körper als auch seinen Verstand erstarren lassen, doch er konnte es sich nicht leisten, jetzt derart außer Gefecht gesetzt zu sein. Mit aller Macht versuchte er die bebenden Hände unter Kontrolle zu bringen, sich zu sammeln, damit er eine Lösung für dieses gottverfluchte Scheiß-Desaster finden konnte.
„Noch mehr Hegedunen?“
„Nein.“ Er erntete einen fragenden Blick von seinem Kollegen und endlich gelang es ihm, die zitternden Finger zu Fäusten zu ballen. Denn wenn er mit seiner Annahme recht hatte, war Cat zumindest am Leben. Noch. Und außerdem, hätte er es nicht gespürt, wenn ihr etwas zugestoßen wäre? Die Furcht und der Zorn kehrten zurück und er hieß sie willkommen, brauchte jetzt ihre Stärke. „Das ist was Privates.“
Slater nickte nur schlicht, aber dann sah er zu Quentin hinüber.
„Keine Sorge, wenn wir Cat gefunden und ihren Entführer ausgeschaltet haben, bekommt Quen seine Stimme wieder.“ Dareon stand auf und aufkommende Panik erfüllte seinen Kopf mit wirren Einfällen. Keine schien ihm geeignet, um Cat aufzuspüren und ihren Entführer suchte er seit mehr als einem Jahrzehnt, da würde er ihn wohl kaum gerade jetzt finden können. Dareons Gehirn rauchte und er begann in der kleinen Küche auf und ab zu laufen. Durchquerte dabei das Chaos, das bei den diversen Kämpfen entstanden war. Zwar gab es in Cats Viertel auf jeder Straße Kameraüberwachung, aber sich in die heutigen Aufnahmen einzuhacken würde selbst Jordan ein paar Stunden kosten. Zeit, die Dareon nicht hatte. Gedankenverloren murmelte er vor sich hin.
„Irgendwie muss sie doch zu finden sein, irgendwie….“
„Blaise“, kam es da unvermittelt von Slater. Dareons Kopf schoss herum.
„Was?“
„Blaise kann sie vielleicht finden.“
Mehl, Hefe, Wasser. So einfach, aber in der Kombination doch so gewaltig. Beim Mischen war lediglich ein Klumpen von der Größe eines Kohlkopfes entstanden. Jetzt, nachdem der Teig fast drei Stunden mit einem Handtuch zugedeckt geruht hatte, besaß er die Ausmaße eines Basketballs. Erfreut rammte Blaise die Fäuste in die zähe Masse und war erleichtert, dass sie so ihren Frust abbauen konnte.
Die Anderen waren immer noch nicht von der Mission zurück gekehrtund obwohl Blaise sich wünschte es wäre nicht so, all ihre Gedanken kehrten letztlich immer wieder zu Slater zurück. Sie wusste, eigentlich hätte sie sich um Xandra, Cat und ihre Freunde sorgen sollen, dennoch fürchtete sie die Tatsache noch mehr, dass Slater etwas zustoßen könnte, bevor es eine Chance für sie beide gegeben hatte.
Voller Inbrunst knetete und walkte sie den Hefeteig und fragte sich dabei, ob sie sich wohl jemals so mit dem Objekt ihrer Begierde vereinen konnte, wie es diese drei Ingredienzien miteinander taten. Man musste nur genug Kraft und Willen aufbringen, irgendwann war alles ein weicher, geschmeidiger Kloß und man konnte nicht mehr erkennen, welche Zutaten sich darin verbargen. Blaise schloss wehmütig die Augen. Wahrscheinlich ersehnte sie etwas, das ihr noch nicht einmal guttun würde und trotzdem konnte sie nicht damit aufhören.
Seufzend grub sie die Finger tiefer in die klebrige Masse und sah zur Uhr hinauf, die genau wie vor zwanzig Sekunden halb vier am Morgen anzeigte, als sich die Schwingtür zur Küche öffnete.
Blaise bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu. „Was… was ist los?“
Slater stand zögernd im Türrahmen. Er schien so kalt und distanziert wie immer, dennoch war etwas anders. Aber nicht auf die gute Art.
„Du wirst gebraucht.“ Er klang völlig emotionslosund jetzt kam er doch tatsächlich auf die völlig verdatterte Blaise zu. Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er sie am Ärmel gepackt und schleifte sie hinter sich her.
Na, wenn das nicht mal ein wahrgewordener Traum war, schoss es ihr durch den Kopf, aber dann kamen die Bilder aus jener Nacht wieder hoch. Wie sie dem Willen dieses Kerls gefolgt war, nur um verlassen und gedemütigt auf dem Waldboden zu enden. Sollte sie sich wirklich noch einmal so erniedrigen lassen und das alles aus einer verrückten, unerwiderten Besessenheit heraus?
Hin und her gerissen ließ sie sich noch ein wenig hinter Slater her ziehen, bis ihr einfiel, was Einstein zu diesem Thema gesagt hatte. Immerhin war laut ihm die Definition von Wahnsinn, dass man immer wieder dasselbe tat und doch so vermessen war, ein anderes Ergebnis zu erwarten. Und Blaise mochte diesem verflucht abweisenden Elevender vielleicht verfallen sein, eine Idiotin war sie deswegen noch lange nicht.
Die Entscheidung war gefallen und sie stemmte entschlossen die Beine gegen den unerbittlichen Zug an ihrem Ärmel. Als Slater ihren Widerstand bemerkte, drehte er sich um und sah sie mit diesem einen schwarzen Auge ausdruckslos an.
„Nach unserem letzten Zusammentreffen denkst du ernsthaft, du könntest hier ohne Vorwarnung auftauchen und mich einfach zur Tür raus schleifen?“
„Ich wollte nicht herkommen“, sagte er nur und senkte den Blick.
Erneut klappte Blaises Kiefer hinunter und sie hätte am liebsten mit den Händen gerungen. Ärgerlich machte sie sich los. Wenn er nicht hier sein wollte, wieso zum Teufel stand er dann dort? Nur um ihr erneut ein Messer ins Herz zu stoßen? Bevor ihre Finger diesen Kerl vor Frustration würgen konnten, verschränkte sie die Arme und klemmte die zappligen Dinger unter den Ellenbogen fest.
„Ich will niemanden in meiner Nähe, der da gar nicht sein will. Also tu‘ mir einen Gefallen und verschwinde!“
Slater stand einfach nur da und rührte sich nicht.
„Sag‘ mal, bist du taub? Ich sagte, du sollst dich ver…“
„Es geht um Cat.“
Blaise blieb das letzte Wort im Hals stecken. Ihre Linke wanderte unbewusst zu ihrer Kehle. „Was soll das heißen?“
„Sie wurde entführt.“
„Oh mein…“ Blaise schnappte entsetzt nach Luft. „Wann? Wie ist das passiert? Und wo… wo sind die Anderen?“
Slater wirkte nun äußerst genervt, aber sein ärgerlicher Gesichtsausdruck schreckte Blaise nicht mehr ab. Sie zuckte nicht zurück und konzentrierte sich darauf, was sie eben erfahren hatte. Schließlich schien er nachzugeben.
„Bitte, wenn du hier Zeit mit Erklärungen verschwenden willst. Es gab Komplikationen mit dem Orden und wir mussten uns in zwei Gruppen aufteilen. Die Eine ist nicht erreichbar, die andere ist zum Teil tot, verletzt oder auf der Suche nach Cat.“
Gütiger Himmel, das durfte einfach nicht… „A…aber wie soll ich da helfen?“ Eine Torte würde hier schließlich nicht weiterbringen.
„Du konntest mir folgen. Ich weiß, du hast mich gerochen. Du sollst das auch mit Cat machen.“
Die Überraschungen wollten in dieser Nacht wohl kein Ende nehmen. Sie sollte den Spürhund spielen? Mal ganz abgesehen davon, dass ihr auf peinliche Weise vor Augen geführt wurde, dass Slater sie damals durchschaut hatte, wusste sie noch nicht einmal, ob sie zu dem fähig war, was er verlangte. Letztlich war sie noch nie draußen im Einsatz gewesen und das schien ihr plötzlich sehr bedrohlich, obwohl sie nie zuvor darüber nachgedacht hatte.
„Ähm…. Ich würde alles tun, damit ihr nichts geschieht, aber… ich weiß nicht, ob das…. Ich meine, seit wann ist sie verschwunden? Also, ähm… deine Spur war damals… ganz frisch, weißt du.“ Sie hüstelte verlegen.
Eine lange Pause entstand, schließlich legte Slater den Kopf schief. Er schien sie zu mustern, bis er schließlich zu einem Ergebnis kam. Blaise erkannte an seinem Brustkorb, dass er tief Luftholte, wie um Mut zu sammeln, dann streckte er stockend die Hand aus. Es war wirklich merkwürdig eine gefühlte Minute lang dabei zu zu sehen, wie sie auf Blaise zu kam. Schließlich landete sie auf ihrer Schulter. Es war nicht so wie der herkömmliche Kontakt zwischen zwei Menschen. Da war keine liebevolle Unterstützung oder tröstliche Wärme zu spüren. Die Berührung wirkte steif und hölzern, dennoch zuckte sie durch ihren Körper wie ein Blitz, ließ sie erschauern.
Ungläubig blinzelnd sah Blaise auf die große Hand hinunter, fühlte den vorsichten Druck und genoss irgendwie, dass ihr Haar über seineraue Haut strich. Bevor sie sich an diese merkwürdige Situation gewöhnen konnte, zerstörte Slater all ihre Vorsätze mit nur vierkleinen Worten.
„Du wirst das schaffen.“
Bei jedem anderen hätte es wie eine Floskel geklungen. Aber die kalte, unbeteiligte Stimme von Slater verdeutlichte, dass er ganz und gar nicht der Typ Mann war, der mit solchen Phrasen um sich warf. Dieser Kerl hielt sich nicht mit hohlem Smalltalk auf und ganz sicher hatte er kein Interesse daran, ihre Seele zu streicheln. Er meinte ganz einfach was er sagte, das Schlechte wie das Gute. Und das machte die Bemerkung in Blaises Augen zu etwas Besonderem.
Nicht nur, dass er damit ihre Selbstzweifel und Sorgen zerstreute, wäre sie nicht schon verschossen gewesen, hätte sie sich gleich noch ein Mal in ihn verliebt. Sie schluckte schwer und raffte all ihre Entschlossenheit zusammen, um die fürchterlichen Sorgen um ihre Freunde beiseite zu schieben.
„Ok. Ich hole etwas, das nach Cat riecht, dann können wir los.“
Sie schrie bis sie heißer war. Vergebens, denn kein einziger Ton wollte ihre schmerzende Kehle verlassen. Seit sie dort in ihrer ehemaligen Küche machtlos dabei zusehen hatte müssen, wie ein großer Fremder, vermummt mit einem Kapuzensweater, ihre beiden Begleiter niedergestreckt hatte, tat sie nichts anderes mehr. Dieses Mal hatte sie nicht entwischen können. Natürlich hatte der Kerl wenig Zeit und Kraft benötigt, um sie zu überwältigen, obwohl sie sich erbittert gewehrt hatte. Letztlich hatte er sie mit Kabelbindern gefesselt, sie zu seinem Wagen getragen und in den Kofferraum verfrachtet.
Nun waren sie schon eine Weile unterwegs, wobei Cat die ganze Zeit über geschrien hatte. Und es war merkwürdig. Wenn man etwas mit solcher Verzweiflung wollte, konnte einen nicht abschrecken, dass es einem eine Ewigkeit lang nicht gelingen wollte. Der Verstand weigerte sich zu akzeptieren, dass sie stumm wie ein Fisch war. Jetzt war sie erschöpft und das machte ihr bewusst, dass sie ihre Kräfte noch brauchen würde.
Schließlich konnte sie ihre fanatischen Stimmbänder zum Aufhören bewegen und auch die ergebnislosen Tritte gegen den Kofferraumdeckel stoppte sie. Das würde ihr nichts bringen, außer einem ramponierten Knöchel. Der vermeldete schon ein dumpfes Pochen. Scheiße, dachte sie. Verletzt zu sein war in dieser Situation sicher gar nicht gut.
Diese Erkenntnis ebnete den Weg für die Panik, die schon die ganze Zeit auf ihren Einsatz gelauert hatte. Diese raubte Cat den Atem, die ausweglose Dunkelheit um sie herum weckte ihre klaustrophobische Seite. Das Wissen, dass ihre körperliche Stärke nicht ausgereicht hatte und wahrscheinlich auch später nichts ausrichten würde, ließ ihre Arme und Beine schlottern.
Oh Gott, hatte sie zwei Mal aus der Klapsmühle entkommen müssen, nur um zu guter Letzt doch wieder in einem Gefängnis, oder gar noch schlimmer, tot zu enden? Und dann die Frage, was in aller Welt dieser Hegedune bloß mit ihr vor hatte. Sie machte sich da nichts vor. Wenn das tatsächlich dieselben Leute waren, die auch hinter Jayce her gewesen waren, dann stand ihr eine harte Zeit bevor. Nur zu gut konnte sie sich an die vielen Narben auf dem Körper ihres Freundes erinnern, an seine gebrechliche Statur und die panische Angst.
Egal was genau mit ihr geschehen mochte, es würde weh tun.
Sehr.
Tränen traten aus ihren Augenwinkeln und sie war einem Heulkrampf nahe. Vielleicht auch einem Nervenzusammenbruch. Sie wusste, sie wäre nicht stark genug, solch entsetzliche Schmerzen zu ertragen und das bedeutete, was auch immer die Hegedunen von ihr wollten, sie würden es bekommen.
Oh, oh, jetzt kam die Schnappatmung. Noch dazu trat kalter Schweiß auf ihre Stirn. Das ging eine Weile so, bis ihre rastlosen Gedanken einen Hoffnungsschimmer am schwarzen Horizont ihres Verstandes entdeckten.
Dareon. Er würde nach Cat suchen. Das wusste sie einfach, genauso wie sie wusste, dass er bei ihr war, tief in ihrem wild schlagenden Herzen. Er würde nicht aufgeben, bis er sie gefunden hatte und wahrscheinlich würden Xandra und ihre Kollegen dabei helfen. Ja, ganz sicher. Cats Vertrauen in ihre neuen Freunde und das eben erst gefundene Gegenstück war irgendwie tröstlich und sie klammerte sich daran fest, wie eine Ertrinkende an einem Rettungsring.
Ok, Cat. Tief durchatmen, sagte sie sich und sog die stickige Kofferraumlauft ein paar Mal bis in die letzten Lungenabschnitte ein. Du musst nur durchhalten, bis sie kommen. Du hast schon die Elektroschocktherapie und sieben Jahre Irrenhaus überstanden, du schaffst das. Du wirst das so lange ertragen, bis deine Leute dich holen kommen. Du wirst das überleben!
Dieses Mantra wiederholte sie x-tausend Mal, während sie sich mit aller Entschlossenheit beruhigte. Endlich wurden Atmung und Herzschlag langsamer und es gelang ihr sogar, über ihre Möglichkeiten nachzudenken. Sie war an Armen und Beinen gefesselt und ihre Stimme hatte sie auch nicht mehr. Jetzt, wo sie etwas besonnener darüber nachdachte, begriff sie, dass die Gabe des Hegedunen dafür verantwortlich sein musste. Das war zwar ärgerlich, aber sie nahm an, dass es wesentlich schlimmere Elevenderfähigkeiten gab. Vorerst musste sie sich also nicht um einen unerwarteten, übernatürlichen Angriff sorgen.
Mit neuem Mut tastete sie im Kofferraum umher, konnte jedoch nichts entdecken, das als Waffe getaugt hätte. Genau genommen gab es hier gar nichts außer ihr. Was Cat nur verdeutlichte, dass sie es keineswegs mit einem Amateur zu tun hatte. Offensichtlich hatte er Übung im Verschleppen von Elevendern und wahrscheinlich rechnete er damit, dass seine Opfer eine Fähigkeit besaßen. Doch wusste er auch, wie Cats kleines Talent genau aussah?
Das war vielleicht die einzige Chance, ihren Entführer abzuwehren und sie hatte Dareon versprochen, dass sie nicht zögern würde. Sie hatte es ernst gemeint, aber ein Schwur wäre gar nicht nötig gewesen. Jetzt, da es ums blanke Überleben ging, brauchte sie keine weiteren Gründe, den Tod eines Anderen billigend in Kauf zu nehmen. So verschoben sich also die Prioritäten, wenn einem nur eine Wahl blieb: Leben oder Sterben.
Damit stand Plan A. Sie würde sich kooperativ verhalten und den Hegedunen in Sicherheit wägen, bis sie eine Gelegenheit bekam, seine Lippen zu erreichen. Plan B und C waren noch in der Entstehungsphase, als das Auto plötzlich langsamer wurde und dann stehen blieb. Das Brummen unter Cats Hintern erstarb und sie vernahm, wie die Fahrertür geöffnet wurde. Schritte kamen näher.
Cat ermahnte sich erneut, nicht die Fassung zu verlieren, da wurde sie mit einem Mal von einem verstörenden Schauer ereilt. Es kribbelte im Nacken und auf den Unterarmen bildete sich eine Gänsehaut und…
Oh. Mein. Gott. Sie kannte dieses Gefühl!
Damals, kurz vor dem ersten Zusammentreffen mit Micham hatte sie es gespürt und seit her immer wieder. Sie hatte sich beobachtete gefühlt, aber sie hatte es darauf geschoben, dass Dareon ihr gefolgt war. Jetzt musste sie sich fragen, ob er damit der Einzige gewesen war.
Während ihr bei dieser Erkenntnis ganz schlecht wurde, fragte sie sich, warum sie nicht schon vorher in der Küche so reagiert hatte. Aber da war sie wahrscheinlich noch zu geschockt und beschäftigt mit Schreien gewesen. Ihr Entführer hatte sie also gestalkt, bevor er sie heute Nacht mitgenommen hatte. Das erklärte auch, warum ihre beiden Begleiter getötet worden waren. Der Hegedune hatte anscheinend einzig an Cat Interesse…
Der Kofferraumdeckel wurde geöffnet und sie blinzelte voller Spannung gegen die aufgehende Morgensonne. Ein Schatten mit Kapuze über dem Kopf trat in das blendende Licht, dann bückte er sich und schob die Arme unter Cats Schultern und Kniekehlen. Sie wurde vorsichtig hochgehoben. Mit aller Macht riss sie sich am Riemen, zwang sich zur Ruhe und versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren. Was angesichts der schieren Größe des Fremden und der harten Muskeln, die sie unter sich spürte, nicht gerade leicht war. Außerdem war da immer noch dieses schreckliche Kribbeln, das sich mittlerweile anfühlte, als kröchen Käfer unter ihrer Kleidung über die nackte Haut. Dennoch schaffte sie es, die Umgebung zu checken. Falls es ihr gelingen sollte, sich zu befreien, musste sie schließlich wissen, wie der Fluchtweg aussah.
Der Hegedune trug sie eine kurze Auffahrt hinauf. Die führte zu einem freistehenden Landhaus, das seine besten Tage schon hinter sich hatte. An der rechten Seite fehlte die Überdachung der Veranda. Die tragenden Streben ragten wie nackte Gerippe in die Luft. Das Holz von Türen und Fensterläden war verwittert, hier und da war der schmuddelig wirkende Lack abgeplatzt.
Ein Blick über die Schulter zeigte, dass sich das Grundstück in Mitten von kahlen Feldern befand, die vom Tau bestäubt waren und im Licht glitzerten. Die schöne Aussicht bot einen krotesken Kontrast zu der grauenvollen Lage, in der Cat steckte. Nirgends war ein weiterer Nachbar, geschweige denn eine Ortschaft zu sehen, obwohl die gesamte Landschaft so eben wie ein Brett war. Sie befanden sich definitiv nicht mehr in Ceiling. Wahrscheinlich eher südwestlich davon, denn Norden und Osten waren eher hügelig und bewaldet. Dort hätte es Orte gegeben, wo sie sich auf ihrer Flucht verstecken hätte können, doch hier…. Hier würde man sie auf einen Kilometer Entfernung entdecken.
Die schlechten Nachrichten hatte sie kaum verwunden, ging es eine kleine Vortreppe hinauf und durch die klapprige Eingangstür, die keine nennenswerten Schließmechanismen besaß. Wozu auch, dachte sie zynisch. Die Umgebung war wie ein Präsentierteller, Gefangene kämen ohnehin nicht weit. Drinnen roch es nach Moder und Schimmel, eine unangenehme Mischung, die zu den vergilbten Tapeten mit grässlichen Tiermustern passte. Zwar war es düstern, dennoch bemerkte Cat die fingerdicke Staubschicht, die sich über dem Boden und den abgedeckten Möbeln gebildet hatte.
Sie durchquerten einen großen Eingangssalon, oder zumindest war er das einmal gewesen, wanderten einen langen Flur hinunter, dessen Decke diverse Wasserschäden aufwies, und dann über eine knarzende Holztreppe in den ersten Stock. Als ihr Entführer die Tür zu einem von vielen Zimmern aufstieß, war sie dann überrascht.
Hier oben hatte er sich offensichtlich eingenistet. In einem derangierten Kamin brannte ein prasselndes Feuer, das Spiel der Flammen spiegelte sich auf dem blankpolierten Parkett. Sofa, Stühle, Tische und Bett waren von den weißen Schutzhüllen befreit und gesäubert worden. Sie versprühten einen in die Jahre gekommenen, aber dennoch gepfelgten Charme. Der Hegedune hatte aus dem Raum herausgeholt, was herauszuholen war.
Cat wurde vorsichtig zwischen weichen Laken abgelegt, dann richtete sich ihr Entführer auf und schob die Kapuze vom Kopf.
Nein!
Dieses Gesicht! Und das Haar! Das konnte einfach nicht…
„Dareon?“, flüsterte sie unwillkürlich in ihrer Verwirrung, wobei natürlich kein Laut über ihre Lippen kam. Endlich begriff sie und es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Erschrocken schnappte sie nach Luft.
Dieser Mann, der sie entführt hatte, war kein Hegedune. Zumindest nicht so weit sie wusste. Das Gesicht mit dieser rauen Schönheit, die krausen, blonden Locken, die Iriden von der Farbe des Winterhimmels. Alles war Dareon zum Verwechseln ähnlich. Aber Cat kannte ihr Gegenstück mittlerweile gut genug, um auch die Unterschiede zu bemerken.
Zum einen fehlte ihr Gefühl, zum anderen waren Haltung, Gestik und Mimik ganz anders. Dieser Kerl hier bewegte sich wie eine Raubkatze und seine Ausstrahlung war mit einem Wort schaurig. Während seine Lippen versonnen lächelten, lauerte in seinen Augen etwas Dunkles. Etwas Böses. Kein Wunder, dass ihr Körper mit unkontrollierbaren Kribbelanfällen reagiert hatte.
Dareons Vater, Arne, war ein Vergewaltiger und Mörder, ihre Instinkte hatten sie nicht getäuscht. Die Panik wollte erneut Besitz von ihr ergreifen, aber Cat krallte sich in ihrer Hoffnung fest. Und immerhin bedeutete das auch, dass sie nicht sofort sterben würde. Obwohl das vielleicht gar nicht so tröstlich war.
Vorsichtig rutschte sie auf dem Bett weiter weg. Arne nahm den freigewordenen Platz ein, indem er sich hinsetzte. Zaghaft streckte er die Hand nach ihr aus und dabei wurde sein Blick merkwürdig weich. Cat kroch schneller, doch im nächsten Moment saß ihr Schwiegervater in spe auf ihrem Bauch und drückte sie so in die Matratze.
Bewegungsunfähig und mit pochendem Herzen musste sie seine Berührungen über sich ergehen lassen. Er strich ihr den Pony aus dem Gesicht, zeichnete die Kanten ihres Kiefers nach und rieb mit dem Daumen über ihre Lippen. Schließlich kam er ein wenig näher, wahrscheinlich, um sie noch eingehender studieren zu können.
„Seltsam“, raunte er nach einer Weile und sogar seine Stimme ähnelte Dareons. Sie war nur eine Spur schnarrender und hatte einen zweideutigen Unterton. „Du siehst gar nicht aus wie sie.“
Bevor Cat die Bemerkung einordnen konnte, zog er unvermittelt den Reißverschluss ihrer Jacke bis zur Brust auf und schob den Kragen aus dem Weg. Ihr Kopf wurde rabiat zur Seite gedreht, dann vergrub er blitzschnell die Nase an ihrem Hals, sog ihren Duft tief ein und stöhnte leise.
„Aber dieser Geruch. Keine andere Frau hat je so gerochen. Du musst es sein.“ Sein heißer Atem strich dabei über ihre Haut, was eine Welle scharfen Ekels auslöste. Der brachte ihre Speiseröhre zum Brennen und ein bitterer Geschmack breitete sich auf der Zunge aus. Dumpfes Begreifen erfüllte ihren erschütterten Geist. Für Dareon roch sie wie seine Mutter, was wenn es seinem Vater genauso erging?
„Endlich bist du wieder bei mir, meine Liebste“, murmelte Arne in ihr Haar, während er beide Arme um Cat schlang und sie fest an sich drückte. „Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren... Mein Herz, meine Ingrid.“
Lieber Himmel, es war noch viel gruseliger, als sie angenommen hatte! Dareons Vater hielt sie anscheinend irgendwie für seine verstorbene Frau. Vehement wand sich Cat in dem Schraubstockgriff, warf instinktiv den Kopf hin und her, vergessen war Plan A. Alles in ihr sträubte sich. Das Ganze war so krank, es konnte nicht wirklich passieren, sie musste einfach träumen!
Arne richtete sich erstaunt auf. „Was hast du denn, Liebste? Bist du nicht froh, mich wiederzusehen?“
Zögernd schüttelte Cat erneut den Kopf. Dabei sah sie voller Angst hoch in das entsetzlich vertraute Gesicht, das den ganzen Wahnsinn nur noch schlimmer machte. Ihr Herz liebte dieses Antlitz, doch ihr Verstand verabscheute es. Liebe und Hass, so nah bei einander, es war viel zu verwirrend. Vor allem, da er sie nun auch noch entschuldigend anlächelte.
„Oh ja, verzeih‘ mir. Hier, deine Stimme.“ Er machte eine Bewegung mit der Hand und Cat bekam das Bedürfnis sich zu räuspern. Als sie dem nachgab, registrierte sie, dass ihre Kehle wieder Laute produzieren konnte. Die Erleichterung darüber wollte nicht lange vorhalten.
„Weißt du, es ist schwer für mich, deinen neuen Körper und diese fremde Stimme zu akzeptieren. Eigentlich will ich sie gar nicht hören. Aber ich werde mich mit der Zeit schon daran gewöhnen.“
Seine Hand legte sich sachte an ihr Schlüsselbein, fuhr den Saum ihres Ausschnittes nach. Zunächst konnte Cat sich noch mit Mühe und Not beherrschen, immerhin war ihr noch in irgendeinem Winkel ihres Verstandes bewusst, dass sie das hier nur überleben würde, wenn sie mitspielte. So wie ihr Plan es vorgesehen hatte. Aber es dauerte nicht lange, da wurde er zudringlicher. Er drückte ihr die Arme über den Kopf und zerrte T-Shirt und Jacke nach oben, bis ihre Brüste nur noch verhüllt von einem BH im Freien lagen. Cat wurde mit einem Schlag eiskalt und obwohl sie geahnt hatte, was sie erwarten würde, war die Realität so viel schockierender. Und mit dieser überwältigenden Übelkeit hatte sie auch nicht gerechnet. Sie begann am ganzen Leib zu zittern.
Arne legte die Rechte erst auf eine, dann auf die andere Brust, wie um sich mit ihnen vertraut zu machen. „Ja, ich denke wirklich, ich werde mich damit anfreunden. Meine süße Ingrid.“ Er sah von oben auf die kleinen Hügel hinunter, ließ die Finger dann tiefer wandern. Mit jedem Zentimeter, den sie hinter sich brachten, wurde Cat noch schlechter und ihr Magen begann zu rebellieren. Die Panik drohte sie zu überwältigen und als er sich am Knopf ihrer Hose zu schaffen machte, brach die Furcht mit einem mächtigen Schrei aus ihr heraus.
„Neeeeeiiiiiin! Ich bin Cat, ich bin Caaat!“ Sie brüllte wie am Spieß und wehrte sich aus Leibeskräften, konnte die instinktive Abscheu einfach nicht überwinden, obwohl sie es hätte besser wissen müssen. In ihrer hirnlosen Raserei versuchte sie, ihn mit ihrem Mund zu erreichen, erwischte jedoch nur sein Ohr.
Ein harter Hieb in die Magengrube brachte sie schließlich zum Schweigen. Cat hustete und schnappte nach Luft. Tränen traten erneut in ihre Augen, während ihr Kopf benommen zur Seite rollte. Arne packte sie, seine Finger gruben sich grob in das Fleisch ihrer Wangen.
„Du willst nicht meine Ingrid sein?“, spuckte er ihr direkt ins Gesicht und griff noch fester zu, dann grinste er boshaft. „Das werden wir noch sehen.“
Unvermittelt ließ er los und stand auf, ging zu einer ledernen Tasche hinüber, die auf dem Beistelltischen am Kamin stand. Die kleine Verschnaufpause nutzend, sortierte sich Cat so gut sie konnte und ließ ihren Entführer nicht aus den Augen. Der klappte das altertümliche Ding, das wie ein Arztkoffer wirkte, auf und holte etwas heraus. Erst als er sich umdrehte, um zum Bett zurückzukommen, erkannte Cat, was es war.
Zwei dicke Seile und ein Skalpell, dessen scharfe Klinge das Licht der Flammen brach und glitzernde Sprenkel an die Wände warf. Genauso, wie es gleich mit ihrem Blut verfahren würde.
Unwillkürlich wollte Cat sich mit einem Satz in Sicherheit bringen. Natürlich war das unmöglich und das Kopfteil des Bettes setzte ihrer Flucht ein jähes Ende. Sie stieß mit dem Rücken dagegen und kauerte sich dann dort zusammen. Vielleicht, wenn sie sich nur klein genug machte….
Fehlanzeige.
Arne griff nach ihren Knöcheln und zog sie zu sich herüber. Sie klammerte sich an den Holzrahmen, doch das schien ihm nur in die Karten zu spielen. Blitzschnell fädelte er ein Seil durch ihre Fesseln und band es an einem Bettpfosten fest.
„Was soll das?“, fragte sie atemlos, als er dasselbe auch mit ihren strampelnden Beinen machte, sodass sie letztlich einmal übers Bett gespannt da lag, wie ein Läufer. So konnte sie sich endgültig nicht mehr rühren und fühlte sich schutzlos ausgeliefert. Verzweifelt kämpfte sie gegen ihre Fesseln an. Dass diese somit nur noch tiefer in ihr Fleisch schnitten, konnte sie nicht abhalten.
Arne antwortete nicht auf die Frage. Stattdessen betrachtete er ihren bezwungenen Leib wie ein Festmahl, leckte sich die Lippen. Dann näherte er sich mit dem Skalpell. Cat zappelte noch wilder, er musste sie festhalten, damit er den Stoff ihrer Jeans unten am Saum aufschlitzen konnte. Ein Ruck zerriss die Hose bis zum Knie, von da an übernahm wieder die Schneide. Während er weitermachte, zwang Cat sich, still zu halten. Im Moment war das Messer nicht dazu da, sie zu verletzen. Das tat sie nur selbst, wenn sie sich wehrte. Mit aller Kraft kämpfte sie gegen die schwindelerregende Angst und das Gefühl der Demütigung. Immerhin gab es so viel Schlimmeres, das er ihr antun konnte.
Zu guter Letzt kappte Dareons Vater den BH zwischen ihren Brüsten und die Leisten ihrer Unterhose. Zufrieden betrachtete er sein Werk und wenngleich Cat keine Jungfrau mehr war, sein begehrlicher Blick genügte, damit sie sich unwiderruflich entweiht fühlte. Dabei würde das wahrscheinlich erst noch kommen. Er ließ ihr keine Zeit, sich weitere Sorgen um später zu machen. Das hier und jetzt wurde immer bedrohlicher.
„Weißt du, wenn du nicht Ingrid sein willst, bist du nur irgendein Mädchen für mich. Und die lasse ich gerne bluten.“ Er lächelte und rieb sich gedankenverloren das Kinn, als ob eine Reihe schöner Erinnerungen in seinem Geist erschienen wären.
Todesangst schnürte Cats Kehle zu, ihr Herz schien aus ihrer Brust springen zu wollen. „Was wirst du tun?“, hauchte sie entsetzt.
„Na, was wohl? Du wirst dir noch wünschen, meine Ingrid zu sein.“ Damit setzte er das Skalpell an der Innenseite ihres Ellenbogens an. „Wusstest du eigentlich, dass manche Stellen schmerzempfindlicher sind als andere?“
Wie aus einer anderen Dimension sah Cat dabei zu, wie sich die rasiermesserscharfe Klinge in ihre Haut bohrte und dann in Richtung Achsel schnitt. Leider linderte die mentale Entfernung nicht den Schmerz. Der kam nur eine Sekunde später. Grelle Lichter explodierten hinter ihren Augen, ihre Lippen öffneten sich zu einem spitzen Schrei. Bei Gott, niemals hätte sie mit einer solchen Intensität gerechnet. Keuchend und mit verschwommener Sicht verfolgte sie ein Rinnsal ihres eigenen Blutes. Es floss ihren Arm hinunter, bis es das blütenreine Kissen mit grellem Rot benetzte. Immer dichter, irgendwann war es ein großer Fleck, der zunehmend dunkler wurde.
Die Situation schien so abnorm und surreal. War sie tatsächlich in die Fänge dieses Wahnsinnigen geraten? War sie wirklich splitterfasernackt und am ganzen Leib schlotternd an ein Bett gefesselt, mitten im Nirgendwo, wo niemand sie schreien hören oder gar retten würde?
Der zweite Schnitt war noch viel schlimmer als der erste und raubte ihr auf teuflische Weise die Illusion, das alles nur zu träumen. Der rot schimmernde Striemen reichte von der linken Hüfte bis zur Brust. Arne hatte recht behalten, manche Stellen waren empfindlicher als andere. Und während er das bei ihr austestete, sich den verschiedensten Körperpartien mit sadistischer Hingebung widmete, begann Cat tatsächlich die Hoffnung zu verlieren. Ja, sie begann zu glauben, dass sie hier und heute mutterseelenallein und unter schrecklichem Leid sterben würde.
Der Schmerz war erbarmungslos. Er wollte einfach kein Ende nehmen und riss sie immer wieder aus ihrer Bewusstlosigkeit, obwohl sie sich nur zu gern dort hin geflüchtet hätte. Nach einer gewissen Zeit schien sie eine Art Toleranzschwelle überschritten zu haben und wurde gar nicht mehr ohnmächtig. Die meisten Teile ihres Körpers waren mit Verletzungen übersät, alles war rot und glänzte feucht, aber sie spürte die Nässe nicht. Es schien, als könne sie nichts empfinden, als die wiederholten Torturen. Die Welt schrumpfte auf den Inhalt dieses Zimmers zusammen und hier gab es nur diese endlos wirkende Hölle. In diesem kleinen, privaten, qualvollen Universum verlor die Zeit jede Bedeutung.
Gefangen im Nebel des Grauens, fiel ihr erst nach Stunden, vielleicht waren es auch nur Minuten, auf, dass Arne weinte. Zunächst hatte er das nicht getan, schien seine Taten zu genießen. Aber irgendwann hatte er begonnen, bei jedem Schnitt leise zu schluchzen. Immer herzzerreißender bebten seine Schultern. Schließlich ließ er die Hand mit dem Schneidewerkzeug kraftlos fallen und suchte flehend Cats Blick.
„Ich kann dich nicht wie irgendein Mädchen behandeln. Dieser Geruch ist einfach überall! Komm‘ zurück Ingrid! Bitte zwing‘ mich nicht, das zu tun. Komm einfach nur zu mir zurück, ok?“
Dumpfes Verstehen hallte in ihrem kleinen Universum wieder, weckte den letzten, menschlichen, fühlenden Teil, der sich tief in ihr Innerstes zurück gezogen hatte. Den Teil, der sich daran erinnerte, wie Plan A ausgesehen hatte und dass sie sich vorgenommen hatte, durchzuhalten. Aus purem Instinkt hatte sie sich geweigert, bei dem perfiden Spiel ihres Entführers mitzuspielen. Jetzt jedoch war ihr Wille gebrochen. Sie wollte nur noch, dass es aufhörte. Auf die eine oder die andere Weise.
Das Nicken kostete Cat einige Mühe und brachte nicht nur eine Körperstelle zum Ächzen.
Sofort kniete sich Dareons Vater neben sie. „Wirklich?“ Voller Hoffnung starrte er sie an, als wäre das Ganze tatsächlich echt.
„Ja“, krächzte Cat und schmeckte Blut, das von den Schnitten in ihrem Gesicht stammen musste. „Alles was du willst…, Liebster.“
Dieser riesige Mann klappte plötzlich an ihrer Seite zusammen und faltete sich so, dass er den Kopf in ihre Schulterbeuge legen konnte. Anschließend klammerte er sich an ihr fest, während er sich gebetsmühlenartig bedankte.
Zögernd legte Cat die Wange auf seinen Scheitel. „SchSch“, machte sie immer wieder, bis er endlich verstummte und sich aufrichtete. Mit tränennassen Augen streichelte er ihre blutverkrustete Wange. „Ich habe dich vermisst. Du kannst dir gar nicht vorstellen wie sehr. Du darfst mich nie wieder verlassen.“
Cat schluckte verkrampft, sagte sich, dass es nicht wichtig war. Nichts war mehr wichtig. Nur das Durchhalten. „In Ordnung.“
„Gut.“ Sein verträumter Blick glitt über sein Kunstwerk. Es schien ihn zu erregen, denn ein Zeigefinger begann, um ihren Nippel zu kreisen. Den mit dem Piercing, das Dareon ihr erst vor Kurzen geschenkt hatte. Das kratzte Cat nicht mehr, Hauptsache, es tat nicht weh. Bevor Arne das ändern konnte, musste sie ihn ablenken.
„Wie hast du mich denn gefunden?“
Er lächelte verschmitzt wie ein kleiner Junge. „Ich passe schon seit einer Weile auf unseren Dareon auf, weißt du? Er hat seinen Bruder getroffen und das hat ihn ziemlich aus der Bahn geworfen, glaube ich.“
Gut, sie wusste bereits, dass bei ihm eine Schraube locker war. „Das stimmt.“
„Es gefällt mir gar nicht, wie der Junge dich ansieht.“ Arne zog die Augenbrauen zusammen und machte eine ärgerliche Miene. „Du bist doch seine Mutter.“
„Das ist ja jetzt vorbei“, beeilte sie sich, den Wahnsinnigen zu beschwichtigen. „Er wird mir nicht mehr zu nahe kommen.“
„Denn du bist mein, nicht wahr?“
Cat kämpfte den Ekel und den Brechreiz nieder. So abstoßend das Ganze war, es war ihre einzige Chance und sie würde sagen und tun, was auch immer nötig war. „Richtig, ich bin dein.“ Es fühlte sich dennoch wie Wortkotze an.
„Mein“, murmelte Dareons Vater und küsste den Nippel, den er eben noch mit den Fingern bearbeitet hatte. Seine Hände glitten zu ihrer Taille, von da aus über die Hüften zu den Innenseiten der Oberschenkel. Die gefesselten Knöchel bewirkten zum Glück, dass er nur begrenzten Zugang zu ihrer intimsten Stelle hatte. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, es ehrgeizig zu versuchen.
Cat brauchte viel zu lange, die körperliche Abwehr zu unterdrücken. Ihre Kehle fühlte sich an, als ob sie stranguliert würde.
„Liebster“, presste sie hervor. „Noch nicht, Liebster. Erst wünsche ich mir einen Kuss von dir.“
Arne hob erstaunt den Kopf. „Du bist doch jetzt giftig, weiß du nicht mehr?“
Cats Herz begann zu rasen. Wie zu Teufel…?
Nein! Das durfte einfach nicht wahr sein! Ihre einzige Chance, das hier zu überleben, zerfiel vor ihren Augen zu Staub und hinterließ nichts als endlose, taube Finsternis. Jede Hoffnung schien verloren, als…
„Aber ich werde dir einen Kuss auf die Wange geben. Und aufs Kinn. Wie findest du das?“
Halleluja! „Das fände ich… schön“, hauchte sie mit einem echten Lächeln im Gesicht.
„Ich auch.“ Arne wirkte verzückt, während er sich auf sie legte. Sein Gewicht wog schwer, presste ihr die Luft aus der Lunge. Sie musste sich gut zureden, um nicht augenblicklich in Hysterie zu verfallen. Bald, Cat! Bald hast du’s geschafft.
Ihr Peiniger näherte sich vorsichtig, hielt sie dabei fest. So ganz vertraute er ihr wohl doch nicht. Egal, das war auch nicht nötig.
Beim Warten hörte sie den eigenen Herzschlag so laut wie eine Kriegstrommel. Als wollte er alle Sinne auf den Angriff vorbereiten, ihre letzten Kräfte mobilisieren. Sie betete, dass diese verfluchte Elevender-Fähigkeit ihr ausnahmsweise keinen Strich durch die Rechnung machen würde, jetzt, da sie plötzlich froh war tödlich zu sein.
Arne setzte einen Kuss auf ihre Wange und Cat gelang es, sich ihm nur ein winziges Stückchen entgegen zu drehen.
Das genügte.
Sein Blick glitt zu ihren Lippen und schien sogleich daran festzukleben. Zum ersten Mal rief Cat ihre Gabe bewusst zur Hilfe, merkte genau, ab wann es kein Zurück mehr gab. Sie vermutete, dass sie es jetzt auch abstellen konnte, doch heute wollte sie das gar nicht.
Arne wurde unaufhaltsam von ihrem Mund angezogen und er folgte dem übernatürlichen Ruf wie ein willenloser Zombie. Nun befand er sich in ihrer Gewalt und sie nahm sich die Muse, das zu genießen.
Sie würde ihn bezahlen lassen, für das, was er ihr angetan hatte. Rache konnte ja so befriedigend sein…
„Wir müssen von der Straße runter“, murmelte Christian, während er mit dem ramponierten BMW eine scharfe Rechtskurve nahm. „Wer weiß, wie viele Helikopter noch kommen und die Wichser wissen, wie unsere Karre aussieht.“
Xandra hatte auf dem Rücksitz gerade ein Blutbad angerichtet, indem sie die Kugeln aus Roman heraus geholt hatte. Dabei musste sie die Erinnerungen an den Tod ihrer drei Kollegen beiseite schieben, sie waren noch nicht außer Gefahr und sie hatte keine Zeit sich der Trauer hinzugeben. Jetzt war sie dabei, den Verletzten zu heilen. Der würde ohne Zweifel überleben, aber im Moment war er außer Gefecht gesetzt, was bedeutete, dass sie dringend einen sicheren Hafen finden mussten.
„Ich weiß. Einer meiner Informanten handelt in der Riverstreet mit Gebrauchtwagen. Da könnten wir uns einen anderen fahrbaren Untersatz besorgen, wenn die Hegedunen uns bis dahin nicht gefunden haben.“
Der blonde Elevender nickte zustimmend und änderte den Kurs. Die Fahrt würde nicht lange dauern und sie nutzte die Zeit, um Romans Wunden zu versorgen. Nachdem er geheilt war, ließ sie ihn auf dem Rücksitz schlafen und kletterte nach vorne. Dort holte sie den Communicator hervor und klingelte bei Syn an, der sich prompt meldete.
„Ihr seid echt besser als die Kavallerie“, begann sie, doch der Mensch schien kein Interesse an ihrem Lob zu haben.
„Tut mir Leid wegen euren Mitarbeitern.“
Sie biss sich auf die Lippen bis der Schmerz ihr bewies, dass diese Hetzjagd Realität gewesen war und ihr Kollege Gus, den sie vorhin noch ohne Erfolg zugequatscht hatte, jetzt nicht mehr atmete. Genauso wie die beiden anderen Kollegen. Sie verdrängte die aufkeimende Wehmut und das Gefühl der Machtlosigkeit. Dennoch fragte sie sich immer wieder, ob sie etwas tun, ob sie es irgendwie hätte verhindern können. Xandra räusperte sich.
„Danke. Bei euch alles in Ordnung?“
„Ja. Keine schwerwiegenden Verletzungen und wir sind fast zu Hause.“
„Gut.“ Ihr Herz hätte sich wohl leichter fühlen sollen, doch nichts konnte den Verlust aufwiegen. „Es ist noch nicht vorbei. Wir brauchen immer noch die Unterlagen.“
„Sofort?“ Syn klang überrascht und ein wenig ungläubig.
„Du warst es doch, der das Beweismaterial so schnell wie möglich loswerden wollte. Und soll alles, was eben geschehen ist, etwa umsonst gewesen sein? “
„Nein, aber….“ Er fluchte leise. „Gab es für eine Nacht nicht schon genug Tote?“
Beinahe hätte Xandra geknurrt. „Wag‘ es ja nie wieder, so mit mir zu reden! Von dir lasse ich mir nicht vorwerfen, dass ich das Leben meiner Leute leichtsinnig aufs Spiel setze!“ Christian sah sie erstaunt vom Fahrersitz aus an, aber das ignorierte sie geflissentlich.
Am andren Ende der Leitung stockte Syn hörbar. „Soeben hast du dich zum ersten Mal wie ein echtes Frauenzimmer verhalten.“
„Wie bitte???“
„Ich meine, dass ich so etwas mit keinem Wort erwähnt habe. Du projizierst gerade deine Schuldgefühle auf mich.“
„Was? Du verdammter…“ Ehe sie den Satz zu Ende bringen konnte, ging ihr auf, dass Syn recht hatte. Schnell schluckte sie die Schimpfwörter hinunter und versuchte, die aufziehende Röte in ihren Wangen zu unterdrücken. „Lassen wir das. Hier geht es ums Geschäft und du hast uns die Lieferung zugesagt.“
„Jetzt kommst du also auf die Tour?“ Darauf antwortete sie nicht und der Mensch seufzte nur vernehmlich in den Hörer. „Schön. Wo und wie?“
„Du und ich, wir treffen uns in einer halben Stunde in dem Starbucks an der Central Station. Ich melde mich, falls was dazwischen kommt.“
Syn brummte nur ungehalten, was sie als Zustimmung wertete, dann legte er auf. Ihr Fahrer durchlöcherte sie indessen mit seinen vorwurfsvollen Blicken.
„Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein. Wir müssen den BMW loswerden und schleunigst aus Ceiling raus, außerdem solltest du auf keinen Fall alleine gehen.“
Xandra verkniff sich einen biestigen Kommentar. Bloß weil sie ein paar Stunden Intimitäten ausgetauscht hatten, befand er sich noch lange nicht in der Position, über sie zu bestimmen.
„Du traust Syn immer noch nicht? Schließlich hätten sie nicht zurück kommen müssen, um uns zu helfen.“
Chris schnaubte nur verächtlich. „Der Orden will Kontakt zur Legion, wir haben einen Deal. Uns draufgehen zu lassen wäre nicht gerade förderlich gewesen.“
„Da stimme ich dir voll und ganz zu. Und mich jetzt zu töten wäre das ebenfalls nicht. In der Riverstreet werde ich meine Klammotten wechseln und vorhin haben wir Sturmhauben getragen, die Hegedunen kennen unsere Gesichter nicht. Also ist es völlig ungefährlich, wenn ich das solo erledige.“
„Hab‘ ich dir eigentlich schon gesagt, wie nervtötend du sein kannst?“
„Nein, ich sage das sonst zu dir.“
„Hm, das sollte dir doch zu denken geben“, entgegnete er trocken.
Xandra stellte sich auf dem Ohr taub und wechselte das Thema. „Du weißt genauso gut wie ich, dass die Zeit drängt. Die Hegedunen werden bald herausfinden, was wir ihnen gestohlen haben. Wir müssen das über die Bühne bringen, bevor sie sich eine Strategie überlegen können, um die ganze Geschichte unter den Teppich zu kehren.“
Dagegen gab es keine Argumente, das war selbst Christian klar, weswegen sie dazu übergingen, das weitere Vorgehen zu planen. Es dauerte nicht lange, bis sie ihr Ziel erreichten und dem Himmel sei Dank, sie blieben von Verfolgern verschont. Chris lenkte den SUV auf einen kleinen Hof, der mit verschiedensten Autos vollgestopft war. Das gesamte Grundstück gehörte zu Bob Hammonds Gebrauchtwagenhandel, der zur frühen Morgenstunde jedoch noch nicht geöffnet hatte.
Xandra ging ums Haus herum und klingelte an der Hintertür, dem Zugang zu Bobs Privatwohnung, sturm. Er war ein alter Bekannter, dem sie einmal das Leben gerettet hatte und der seit dem für sie Augen und Ohren in der Stadt offen hielt. Er hatte ihr schon öfter aus brenzligen Situationen geholfen und als er die Tür öffnete, sah sie in seinem Gesicht, dass sie auch heute auf ihn zählen konnte.
Bob half, den SUV in einer seiner Garagen zu verstecken und borgte ihnen zwei andere Fahrzeuge. Xandra bekam ein paar Kleidungsstücke von ihm, zwar war alles für Männer, aber sie war eine große Frau, es würde schon gehen. In seinem Badezimmer konnte sie die Spuren des Kampfes notdürftig abwaschen. Nur wenig später verabschiedete sie sich von Roman und Christian, die in Richtung Blackridge starteten, dann brach auch Xandra zu dem Treffen mit Syn auf.
Inzwischen war die Sonne aufgegangen. Sie lugte immer wieder durch den dunstigen Wolkenschleier hindurch, sodass sie sich wünschte, sie hätte eine Sonnenbrille dabei. Sie parkte etwas weiter entfernt, denn der Pendlerverkehr hatte bereits begonnen und rund um den Hauptbahnhof gab es keine freien Parkplätze. Sie verspätete sich ein wenig und entdeckte ihren Komplizen schon kurz nach dem Eintreten an einem Tisch in der hinteren Ecke, von wo aus man den ganzen Laden gut im Blick hatte.
Während sie auf Syn zuging, vibrierte das Handy in ihrer Hosentasche und sie zog es hervor.
Es war Evrill.
Unglücklich verdrehte sie die Augen und fluchte. Na klar. Er musste gerade jetzt anrufen. Ganz schlechter Zeitpunkt. Mit einer ordentlichen Portion schlechtem Gewissen drückte sie den Anruf weg und entdeckte dann, dass ihre Kollegen mehrmals versucht hatten, sie zu erreichen, ohne dass sie davon Notiz genommen hatte. Sonst hätte sie sofort zurück gerufen, aber jetzt musste das warten.
Am Tisch angelangt, ließ Xandra sich auf die gegenüberliegende Seite der Eckbank fallen und streckte die erschöpften Beine aus. „Danke, dass du hier bist.“
Der Mensch nickte nur mit verschlossener Miene. Mehrere oberflächliche Kratzer zierten sein attraktives Gesicht und eine Platzwunde klaffte an der Stirn, alles in allem hatte ihn der Kampf deutlich gezeichnet. Er schien das zu ignorieren und verschränkte die Hände vor einem dampfenden Becher. Die Auseinandersetzung von vorhin war wohl ad acta gelegt, denn er hatte auch einen für Xandra bestellt. Ein kurzer Geruchstest zeigte, dass es sich um heiße Schokolade handelte.
„Ist gut für die Seele“, sagte er knapp und hob sein Getränk an die Lippen. Beim Nippen ließ er Xandra nicht aus den Augen. Sie tat es ihm wagemutig gleich und war dankbar für die unverschämt süße Leckerei, die ihren Magen mit tröstlicher Wärme füllte. Bis dahin hatte sie noch gar nicht bemerkt, wie leer sie sich gefühlt hatte.
„Tut mir Leid, dass die Aktion so schief gelaufen ist.“
Sie winkte ab. Schuldzuweisungen waren hier ohnehin fehl am Platz. „Ihr habt das für uns getan. Es ist, wie es ist.“
Syn legte ein schweres Paket auf den Tisch, das sich als ein Haufen dicker Akten entpuppte. „Wie geht es jetzt weiter, nachdem wir das hier haben?“
„Wir werden es so schnell wie möglich veröffentlichen.“ Ehrfürchtig nahm Xandra entgegen, was er ihr zuschob und strich über den obersten Umschlag.
Das war es also. Das Ergebnis von monatelanger Arbeit und vielen toten Kollegen. Dieser einfache Stapel Papier hatte sie so viel gekostet und sie konnte nur hoffen, dass er halten würde, was er versprach.
„Haben wir damit gewonnen?“ Als hätte er ihre Gedanken erraten.
„Was bedeutet schon gewinnen, wenn man so einen hohen Preis dafür zahlt?“
„Du meinst also nicht, dass es das wert war?“
„Ich wäre im falschen Geschäft, wenn ich das so sehen würde. Was wir tun, ist jedes Opfer wert.“ Und diese Betrachtungsweise war der einzige Weg, wie sie damit leben konnte. „Trotzdem wünschte ich mir, ich hätte es anders gemacht.“
Syn hob zynisch die Augenbrauen. Dabei schien ihm die Platzwunde zu schaffen zu machen, denn er wollte danach tasten, stoppte sich aber im letzten Moment. „Wer weiß schon, wie viele Leute dann gestorben wären. Vielleicht haben wir sogar Glück gehabt.“
Das ließ sie so stehen, da es in gewisser Weise stimmte. Immerhin hatte der Großteil ihres Teams diese Nacht überlebt, dem Orden war nichts zugestoßen und sie hatte endlich die Unterlagen, um die Cohens zu stürzen.
Sie rutschte auf dem roten Leder der Sitzgarnitur auf Syns Seite hinüber, was er mit einem erstaunten Gesichtsausdruck quittierte. „Ich wollte dich nur aufheitern, du musst nicht gleich…“
„Ganz ruhig, Schneeflocke. Ich will mir nur diesen riesigen Cut ansehen.“ Routiniert wollte sie schon die Wunde inspizieren, da zuckte er erschrocken zurück.
„Ach was. Das geht schon.“
Xandra rückte nach. „Jetzt spiel hier nicht den Helden. Du hast doch gehört, was ich mit Micham gemacht habe. Das geht ruck zuck und du wirst gar nichts spüren.“
Syns grünbraune Augen blitzten auf und er schien überhaupt nicht begeistert, aber Xandra machte kurzen Prozess. Sie packte ihn am Kragen und gegen die physische Stärke eines Elevenders sah er kein Licht, trotz seiner athletischen Figur. Bevor er entwischen konnte, hielt sie die Handfläche über die Verletzung und begann, ihre Heilkräfte darauf zu übertragen. Er wehrte sich nur noch stärker und nach einigen Sekunden fiel ihr auf, dass da etwas nicht stimmte. Als sie ihre Hand wegnahm, um das Ergebnis zu begutachten, schnappte sie erschrocken nach Luft.
Die Wunde wirkte absolut unverändert. Die Ränder des Schnittes klafften noch genauso weit auseinander wie vorher, immer noch war blankes Fleisch in der Tiefe zu erkennen.
„Was…?“ Vor Überraschung ließ sie das zappelnde Ordensmitglied los, der die plötzliche Freiheit nicht kommen sehen hatte und wenig anmutig von der Bank fiel. Sofort war er wieder auf den Füßen und rieb sich verlegen den Nacken. Verdattert blinzelnd sah Xandra zu ihm auf.
„Wieso kann ich dich nicht heilen?“
„Also dann. Ich muss los. Du hast ja jetzt, was du brauchst und ich habe noch wichtige Termine. Heute Abend bietet sich uns wahrscheinlich die Gelegenheit, in Bukarest das mit der Drohne zu klären.“
Diese brisante Neuigkeit zog sogleich ihre Aufmerksamkeit auf sich, denn sie konnte es kaum glauben. „Ihr habt tatsächlich eine Möglichkeit gefunden, an eine Drohne zu kommen? Wahnsinn! Chronos trifft sich gerade mit den anderen Ratsmitgliedern, um alles zu besprechen und euer Treffen vorzu….“ Sie stockte. „Warte mal! Lenk‘ nicht ab! Wieso wirkt meine Gabe bei dir nicht?“
Der Mensch schüttelte lediglich den Kopf und zwinkerte ihr zu. „Wenn ich dir das verrate, müsste ich dich umbringen.“ Damit drehte er sich um und ging davon.
Xandra warf ärgerlich die Arme in die Luft und rief ihm hinter her. „Oh, bitte. Ich dachte, wir hätten diesen Mist hinter uns gelassen?!“
Leider bekam sie keine Antwort mehr. Syn verschwand wie der Blitz, während sie noch die Unterlagen zusammenraffte und da keine Spur mehr von ihm zu entdecken war, machte sie sich endlich auf den Nachhauseweg. Um diese unerwartete Entdeckung würde sie sich ein andermal kümmern müssen. Jetzt fieberte sie nur auf den Augenblick hin, wenn die Beweise für die Auswirkungen der Gentechnik veröffentlicht und ihre Kollegen somit nicht umsonst gestorben waren. Nicht mehr lange und all die Mühen, all die Opfer würden sich bezahlt machen.
Als sie das Café verließ, wog der Aktenberg schwer in ihren Armen und das nicht wegen seines enormen Gewichts.
Er versuchte wirklich, dieses verdammte Leuchtfeuer auf dem Beifahrersitz zu ignorieren. Doch wie jedesmal, wenn Blaise in seine Nähe kam, schmolz das Eis um ihn herum. Was Slater immer noch eine Scheiß-Angst einflößte. Auch wenn ihre Gefühle rein und unverdorben waren, dass jemand seine Abwehrmechanismen einfach so auflösen konnte, fand er sehr bedrohlich. Natürlich fürchtete er sich nicht direkt vor ihr. Nur vor dem, was sie mit ihm anstellte. Das wiederum machte ihn wütend, denn ohne seinen kühlen Schutzwall fühlte er sich bloßgestellt. Und am Schluss kam dann so etwas dabei heraus, wie es vor einigen Tagen im Wald geschehen war.
In jener Nacht in die Küche zu gehen, war eine verfluchte Schnappsidee gewesen. Jetzt konnte er nicht mehr wirklich sagen, wie er darauf gekommen war. Er erinnerte sich nur, dass es in seinem Innern mal wieder sehr dunkel ausgesehen und er sich nach etwas Gutem gesehnt hatte. Blaise war seine erste Assoziation gewesen, also hatten ihn seine Beine automatisch zu ihr getragen. Und solange alles zu seinen Bedingungen verlaufen war, hatte er die Zeit durchaus genossen. Doch dann hatte sie etwas Unerwartetes getan, ihn überrascht, und das durfteman sich bei einem bissigen Straßenköter nun mal nicht leisten. Er konnte noch nicht mal sagen, ob ihmLeid tat, was damals geschehen war, auch wenn ihn das zu einem Dreckssack machte.
Die ganze Fahrt über sprachen sie kein Wort, was Slater nur recht war. Ihm kam es ohnehin vor, als quatsche seine Sitznachbarin nonstop. Ihre Gefühlswelt war sehr mitteilsam und er konnte es wie gesagt nicht abblocken. Zudem war er sich uneins darüber, ob er ihre Gegenwart nun tatsächlich mochte oder nicht. Es verwirrte ihn zusehends, dass Blaise mehr und mehr Zuneigung für ihn zu entwickeln schien. Anfangs hatte sich diese Emotion noch versteckt gehalten, jetzt hätte die kleine Elevenderin auch gleich mit einem Leuchtreklameschild herum wedeln können. Dass er das wusste, durfte sie niemals erfahren, es wäre ihr sicher sehr unangenehm gewesen.
Vor Cats Wohnung angekommen, hoffte Slater inständig, dass Blaise spätestens im Treppenhaus eine Spur finden würde. Die Leiche des toten Jägerkollegen und den verletzten Quentin hatte er auf Blackridge abgeliefert, als er die übernatürliche Spürnase abgeholt hatte. Doch das viele Blut und das vom Kampf zertrümmerte Inventar war auch schon eindrücklich genug. Die zarte, weiche Blaise musste so etwas nicht unbedingt sehen. Für Slater war dieser Anblick Alltag, er konnte sich sein Leben gar nicht mehr ohne vorstellen. Was nur verdeutlichte, dass sie beide so verschieden waren wie Tag und Nacht. Sie voller Licht, er voller Dunkelheit.
Slater stieg aus und ging zum Hauseingang vor. Seine Begleiterin folgte zögerlich. In der einen Hand hielt sie Cats Pulli, an dem sie während der Autofahrt einige Male geschnuppert hatte. Die andere hob sie schützend über die Augen, um diese vor der Morgensonne zu schützen, die ab und zu durch die Wolkendecke brach.
Automatisch versperrte Slater den Eingang und Blaise blieb neben ihm stehen. Vorsichtig sah sie sich um, dann schloss sie die Augen, hob die Nase in den Wind. Es dauerte nicht lange, bis sie plötzlich das Gesicht verzog als hätte sie in eine Zitrone gebissen.
„Was?“ Unwillkürlich wollte er nach ihrem Ellenbogen greifen, um sie zu stützen. Aber sie wankte gar nicht. Bevor es zu spät war, stoppte er sich.
„Es riecht nach Blut“, flüsterte Blaise und rieb sich energisch die Nase, die einen grünlichen Teint angenommen hatte. Erschrocken riss sie die Augen auf. „Ist hier ein Jäger gestorben?“
Slater nickte und war beeindruckt, dass sie das durch drei geschlossene Türen hindurch wahrnehmen konnte. Während ihn ihre Fertigkeiten beschäftigen, befasste sich Blaise mit etwas ganz anderem. Ihre Trauer rollte heran wie eine Dreimeterwelle und drohte, Slater unter sich zu begraben. Am liebsten hätte er ungehalten geflucht, doch dann beobachtete er erstaunt, wie sie scheu eine Träne von der Wange wischte. Es war merkwürdig, dass die ganze Geschichte Blaise so bewegte, wo es ihn völlig kalt ließ.
Blaise räusperte sich und strich mit zitternden Fingern eine Haarsträhne hinters Ohr. „Ähm, das Blut…“ Sie schluckte verkrampft. „Das Blut ist zu stark. Es überdeckt andere Gerüche. Ich muss weiter weg von der Quelle. Weißt du, wo ihr Entführer ungefähr lang gegangen ist?“
„Hat wohl irgendwo in der Gegend geparkt.“ Wahrscheinlich recht nahe bei der Wohnung, schließlich war es nicht gerade unauffällig, jemanden gegen seinen Willen mitzunehmen, ob nun im wachen oder schlafenden Zustand.
Blaise kehrte zum Bürgersteig zurück und wandte sich nach links, dann wechselte sie die Straßenseite. Kreisförmig ging es voran. Manchmal stoppte sie und schnupperte genauer, bevor der Weg fortgesetzt wurde. Slater folgte wortlos, ließ sie ihre Arbeit machen, wobei ihm durchaus auffiel, dass sie sich gar nicht mal so dumm anstellte.
Ein paar Meter die Straße runter blieb sieunvermittelt stehen.
„Hier. Ihr Duft ist ganz deutlich.“
Er spürte große Erleichterung, allerdings nicht seine eigene. Die Suche lag Blaise offenbar wirklich am Herzen und es war kaum zu übersehen, dass sie sich ein Scheitern niemals verzeihen würde. Diese Denkweise war Slater vollkommen fremd. Er selbst kannte zwar Loyalität, aber Blaises Verhalten setzte eine persönliche Bindung voraus und dem ging er grundsätzlich aus dem Weg.
„Sicher?“
„Ganz sicher.“
„Kannst du der Spur vom Auto aus folgen?“
Sie hob die Achseln. „Das werde ich wohl erst wissen, wenn ich es ausprobiert habe.“
Das taten sie dann auch und wie Slater vermutet hatte, funktionierte es tatsächlich. Blaise streckte den Kopf zum Fenster raus, verfolgte Cats Duft und erteilte ihm Anweisungen. Als er überzeugt war, dass sie die Entführte auf diese Weise finden würden, verständigte er Dareon und Pavel, die irgendwo in den Straßen Ceilings auf der Suche waren.
Wenig später tauchten die beiden im Rückspiegel auf und hängten sich an Slaters Stoßstange.
Sein Körper bebte vor Ungeduld und er musste sich dringend bremsen, damit er dem Wagen vor ihnen nicht auffuhr. Er war dankbar, dass Slater diesen Einfall gehabt hatte und es Blaise wirklich gelungen war, Cats Fährte aufzunehmen. Doch die Zeit zerrann ihm quasi zwischen den Fingern. Er kannte seinen Vater und der würde Cat Schreckliches antun, bevor er ihr den Gnadentod vergönnen würde.
Dareon wollte nicht daran denken, was sein Gegenstück im Moment erlitt, sonst hätte er die Windschutzscheibe mit seinem Abendessen angestrichen. Er musste sich einfach daran festhalten, dass er sie finden und retten würde. Dass sie das Ganze unbeschadet überstehen würde.
Doch je mehr er sich dies einredete, desto schlimmer wurde die Furcht. Sein Unterbewusstsein war nicht zu täuschen. Er spürte deutlich, dass diese Sache böse ausgehen würde. Sie hatte ihn kalt erwischt. Niemals hätte er damit gerechnet, dass sein Vater auf der Bildfläche erscheinen und Cat entführen würde. Warum ausgerechnet sie und wie hatte er sie bloß gefunden? Und wie zum Teufel hatte Dareon bloß entgehen können, dass dieser Scheißkerl in der Gegend gewesen war?
Dieses Monster, das Dareon für tot gehalten hatte. Durch seine eigene Hand ausgelöscht. Er hatte sich deswegen sogar schuldig gefühlt, obwohl sein Vater den Tod verdient hatte. Welch Hohn. Der Kerl war verdammt lebendig gewesen und hatte sein Werk fortgeführt. Mein Gott, wie viele Opfer hatte er wohl angehäuft, bis er sich die Frau seines Sohnes geschnappt hatte?
Hatte es ihm nicht gereicht, Dareons erste Familie zu zerstören, musste er ihm nun auch noch die zweite nehmen?
Alles, was sein Vater tat, ruinierte letztlich Dareons Leben und wenn er nicht schon vor Jahrhunderten bereit gewesen wäre, dem ein Ende zu setzen, hätten ihn die Geschehnisse der letzten Stunden endgültig überzeugt. Dieser Bastard hatte so viele Seelen auf dem Gewissen, er würde nicht auch noch Cat bekommen. Was das mit Dareons Seele anstellen würde, war ihm herzlich egal. Darin hatte so lange Finsternis geherrscht, ein Zustand, von dem er wusste, dass er sich damit arrangieren konnte. Und sollte er Cat verlieren, war sowieso nichts mehr von Belang.
Dareon krallte die Finger ums Lenkrad und hoffte, dass die Verankerung seinem Zorn standhalten würde. Und der war noch nicht mal das Schlimmste. Denn so sehr es auch zu unterdrücken versuchte, er wurde von traumatischen Visionen heimgesucht. Fürchterliche Alpträume, die er mit offenen Augen durchlebte und in denen sich sein Gehirn ausmalte, wie er Cat wohl vorfinden würde. Die verfluchten Bilder vergifteten seine Verstand, tauchten alles in finstre Schwärze, in der nur noch die Panik existierte.
Was, wenn er zu spät kommen würde? Wie sollte er bloß ohne Cat weiter leben? Und wie grausam war das Schicksal, sie ihm auf diese Weise zu rauben? Ausgerechnet durch seinen Vater. Das musste einfach ein verdammt schlechter Scherz sein und dennoch war es bittere Realität.
Die Zweierkolonne ließ Ceiling bald hinter sich. Blaise führte sie nach Süden, wo es wenige Vororte und später nur noch Felder gab. Wo man hinblickte, weit und breit nur Einöde. Nun schien sich die Fahrt zu ziehen, da der Horizont so weit war, dass er einfach nicht näher kommen wollte. Dareon hatte das entsetzliche Gefühl, auf der Stelle zu treten.
Nach etwa einer halben Stundepassierten sie ein heruntergekommenes Landhaus vor dem ein Wagen parkte. Dareon war schon in die Eisen gestiegen, bevor er Slaters Bremslichter aufleuchten sah. Das Haus hatte sein Misstrauen geweckt, denn es wirkte so verwittert, als wäre es seit Jahren nicht mehr bewohnt. Was wollte also der schwarze Kombi in der Einfahrt?
Sie stellten die Autos an der Straße ab, wo auch Blaise warten würde. Es war klar, dass man das Team schon von weitem sehen konnte, weswegen sie sich beeilen mussten.
Slater, Pavel und Dareon stürmten lautlos und mit gezückten Waffendurch den Eingang.
Drinnen war es gespenstisch still. Der erste Raum schien leer, aber bald bemerkte er die unheimlichen, riesigen Fußabdrücke im Staub auf dem Holzboden. Wie eine Fährte, die ihn mit ihrer Offensichtlichkeit verhöhnte.
Nun konnte er sich endgültig nicht mehr bändigen und rannte los. Die Spuren führten die Treppe hinauf, bis vor einen Raum am Ende des Flurs.
Kurz bevor er die Tür aus den Angeln riss, schoss ihm durch den Kopf, ob er daran Schuld war, dass sein Vater Cat ausgewählt hatte. Ob er diese böse, schwarze Seuche in ihr Leben getragen hatte.
Doch schon im nächsten Augenblick war das belanglos.
Der Wucht seines Körpers hatte die hölzerne Barriere wenig entgegenzusetzen und dannstand er in einem warmen Raum, der von einem lebendigen Kaminfeuer erhellt wurde. Nur der Anblick des Bettes verwandelte die romantische Stimmung in grässlichen, vor Blut triefenden Horror.
Mit ziemlicher Sicherheit hatte er gerade zu atmen aufgehört, aber alles was ihn kümmerte, war auf der anderen Seite des Raumes. Ein großer Körper lag reglos über einem kleineren, dessen blanke, elfenbeinfarben Haut hervor blitzte. Die Laken darunter hätten aus einem Operationssaal stammen können, überall war kreischendes Rot. Sogar die hässlichen Tapeten waren damit besudelt. Das Ganze war ein wahrgewordener Alptraum zu den Klängen gemütlich prasselnder Flammen. Seine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bestätigen.
Das gesamte Blut wich aus Dareons Gesicht, Hände und Füße wurden taub. Er merkte nicht, dass seine Kollegen ins Zimmer kamen, stolperte blind für alles andere zum Schauplatz des Verbrechens hinüber.
Als er näher kam sah er, dass Arme und Beine der unten liegenden Person an die Bettpfosten gefesselt waren und ein dumpfes Brummen setzte zwischen seinen Ohren ein.
Dann erblickte er Cats bleiches Antlitz, das unter der Schulter des großen Mannes hervor lugte.
Ihre Augen waren geschlossen. Längst geweinte Tränen hatten Spuren durch das geronnene Blut gezogen. Ihr ganzes Gesicht war damit beschmiert, genauso wie auch der Rest ihres Körpers. Die Bilder kreierten eine neue Dimension des Grauens und wo er noch geglaubt hatte, dass es nicht mehr schlimmer werden könne, entdeckte er das Gesicht seines Vaters, das friedlich lächelnd und mit starr geradeaus blickenden Augenin Cats Halsbeuge geschmiegt da lag.
Dareon verlor den Boden unter den Füßen, so schien es. Aber nein.Er war nur nach vorn gekippt, gegen das Bett. Dort stellte er erstaunt fest, dass der Körper von Cats Entführer stocksteif war. Totenstarre. Mit tauben Fingern taste er nach dem Puls seines Gegenstücks.
Er wartete.
Betete.
Bumm, Bumm.
Da! Er hatte es ganz deutlich gespürt.
Bei einem weiteren Bumm Bumm, wäre er vor Erleichterung beinahe in Tränen ausgebrochen. Er tat den ersten Atemzug seit Minuten, Kraft strömte in seine Arme. Ohne Umschweife rollte er seinen steifen Vater vom Bett runter. Merkwürdig unberührt vernahm er das Klonk, mit dem der Kerl unten ankam. Diese Sache würde er später verarbeiten müssen, jetzt zählte nur Cat und dass sie am Leben war.
Der Anblick ihres Körpers schmerzte, als hätte auch er die hunderte Schnitte beigebracht bekommen. Zum Glück waren viele schon am verheilen. Ein weiterer Beweis für ihre Lebendigkeit und der Garant, dass keine Narbe sie je an diese Nacht erinnern würde. Er legte die Hände an Cats Hals und hob ihren Kopf an. Dann flatterten die lavendelfarbenen Lider und die schönsten Augen auf Erden blickten ihm stumpf entgegen.
Blaue Lippen versuchten Worte zu formen.
Mit grenzenloser Dankbarkeit küsste er sie, bemerkte wie kalt sie war. Schnell zog er seine Jacke aus und deckte sie damit zu.
„Sch, Liebling. Du bist jetzt in Sicherheit. Alles wird wieder gut, ich verspreche es.“
„…Dareon…?“, krächzte eine Stimme, die ganz heiser klang und er wusste, was der Grund dafür war. Obwohl er jetzt keinen Kopf für Wut hatte, sie wollte sich nicht vollständig verdrängen lassen. Lauerte auf ihren Einsatz. Der Instinkt, sein Gegenstück zu beschützen, loderte auf.
Er wollte sie umarmen, als sie erneut etwas wisperte.
„Weg…“
„Was?“
„…Weg… Geh‘…. weg…“
Dicke Krokodilstränen rollten in ihren Haaransatz, ihr Kinn bibberte kraftlos. Als er verstand, zerbrach sein eben erst wiedererwecktes Herz in tausend Stücke. Und während er noch nicht wahrhaben wollte, schoss ihm sehr bildhaft durch den Kopf, was Cat in den letzten Stunden durchgemacht hatte. Sie war entblößt, entwürdigt und auf die schlimmste Weise verletzt worden, an anderes konnte er noch gar nicht denken, und das alles von einem Mann, der Dareon verflucht ähnlich sah. Nur logisch, dass sie seinen Anblick nicht ertragen konnte. Aber großer Gott, an dieses Gefühl würde er sich bis in alle Ewigkeit erinnern.
„Cat, es tut mir so unendlich Leid! Ich…“
„Bitte, geh‘ weg“, schluchzte sie leise. „Ich will nicht, dass du sehen musst, was er getan hat…. Du sollst nicht sehen, dass ich… ihn getötet hab‘. Du darfst das alles nicht sehen. Du musst…“
Mit aufkeimender Hoffnung unterbrach er das kraftlos hervorgestoßene Gebrabbel sanft, indem er ihr einen zärtlichen Kuss gab und sie in die Arme nahm.Es war unübersehbar, dass sie Trost brauchte und nichts auf der ganzen weiten Welt hätte ihn davon abhalten können.
„Mach‘ dir bloß keine Gedanken um mich, verstanden?! Du hast es geschafft. Er ist tot, du hast überlebt. Und ich bringe dich jetzt nach Hause.“
„Aber…“
„Bitte, lass‘ zu, dass ich mich um dich kümmere. Ich bin dein Gegenstück, ich muss das tun.“ Und er fand es grauenvoll, dass er der Grund für die vielen Wunden auf ihrem zierlichen Körper war. Wäre er Cat nie begegnet, wäre sein Vater wahrscheinlich nie in ihr Leben getreten. Der Gedanke brachte ihn fast um und er musste irgendetwas tun. Einfach etwas tun, vielleicht könnte er dann… Ja, was? Es wieder gut machen? Als ob das hier jemals wieder gut gemacht werden könnte.
„Bist du mir gar nicht böse?“
Er glaubte, er habe sich verhört, immerhin hatte Cat nur geflüstert. „Niemals! Wieso sollte ich denn böse auf dich sein?“
„Weil ich ihn getötet habe. Ich weiß, du wolltest es selbst tun…“
Himmel, er liebte sie so sehr. Einfach für… alles. Er wollte nicht, dass sie sich jetzt Gedanken über solche Dinge machte, außerdem…. Sie hatte zwar recht, aber er sah das anders als sie.
„Du hast getan, was ich nicht konnte. Er hat endlich bekommen, was er verdient. Und eigentlich solltest du böse auf mich sein: Wegen mir ist dir das zugestoßen. Ich könnte mich selbst dafür…“
„Es ist nicht deine Schuld. Sag‘ das bloß nicht.“ Es regte sich wieder etwas Leben in ihrem Gesicht. „Deswegen wollte ich, dass du gehst.“
„Mach dir keine Sorgen, Süße. Alles, was wichtig ist, bist du und dass du dich erholst.“
Sogar in dieser Lage versuchte Cat, ihn zu beschützen. Aber damit war nun Schluss. Er war an der Reihe, sich um sie zu kümmern. Er würde ihr für den Rest seines Lebens vergelten, was sein Vater mit ihr gemacht hatte. Und was Cat für Dareon getan hatte.
Er befreite seine Frau von den Fesseln und hob sie in seine Arme. Cat stöhnte leise, also war er ganz vorsichtig. Während er an seinem Vater vorbei ging, hoffte er, dass der Bastard gelitten hatte. Diese Ausgeburt des Bösen hätte tausend Schnitte verdient und dann wäre es wahrscheinlich immer noch nicht genug gewesen. Dass dieser Mörder lächelnd in den Tod gegangen war, war wahrscheinlich viel zu gut für ihn gewesen. Dennoch, Dareon glaubte fest daran, dass der Mistkerl in der Hölle schmoren würde, da wo die dunkelsten und schwärzesten Wesen ihrer Gerechtigkeit zugeführt wurden.
Er, Dareon, würde indessen dafür sorgen, dass Cat bekam, was sie verdiente. Ein Leben voller Glück und Liebe, voller Freude und Lachen. Er würde persönlich sicherstellen, dass sie alles bekam, was sie sich wünschte, denn genau das hatte sie ihm gegeben.
Damit trug er die große Liebe seines Lebens hinaus aus diesem Grauen und ließ seinen Vater für immer hinter sich.
„Liegen bleiben ist nicht so dein Ding, hm?“
„Während die anderen da unten feiern?“ Voller Tatendrang stellte sie sich auf die nackten Füße und ignorierte das leichte Schwindelgefühl. „Ich wurde vielleicht entführt und gefoltert, aber tot bin ich noch nicht.“
„Keine zwölf Stunden und schon machst du Witze darüber.“
Dareons verlässlicher Griff am Arm war schon so vertraut, als hätte er Jahrzehnte damit verbracht, Cat zu stützen. Statt der besagten zwölf, in denen sie von ihm gepflegt und gehätschelt worden war. Natürlich erst nachdem Xandra die Wunden geheilt hatte, die sich nicht schon von selbst verschlossen hatten.
Und nun, da die letzten äußerlichen Spuren des Gemetzels verschwunden und nichts als frische, neue, rosige Haut geblieben war, regten sich ihre Lebensgeister. Sicher, ein Teil von ihr war verängstigt und verletzt und es würde eine ganze Weile brauchen, das Erlebte zu verarbeiten. Doch wenn Dareons Vater sie eins gelehrt hatte, dann dass das Leben zu wertvoll war, um der Vergangenheit nachzuhängen. Dass man sich von ihr nicht vom Leben abhalten lassen durfte.
Zudem spürte sie keine Furcht. Schließlich hatte jede Tragödie auch eine gute Seite und in diesem Fall hatte Cat dafür gesorgt, dass ein Schwerverbrecher endgültig aus dem Verkehr gezogen worden war. Sie hatte ihre Rache genommen und würde sich nie wieder vor ihm fürchten müssen. Und es war tröstlich, dass Cat diesen Preis für sein Ableben gezahlt hatte. Nicht ein weiteres, unschuldiges Mädchen, das keine tödliche Gabe gehabt hätte, um sich damit wehren zu können. Aus ihrer Sicht blieben keine offenen Fragen. Sie wusste, wie Arne sie gefunden und warum er sich gerade für sie entschieden hatte. Der Rest interessierte sie herzlich wenig. Vermutlich ein Schutzmechanismus ihres Unterbewusstseins. Doch was war mit Dareon?
„Du hat mich noch gar nicht gefragt.“
Dareon hatte ihr zum Schrank hinüber geholfen und blieb jetzt unvermittelt stehen. Cat somit ebenfalls.
„Was gefragt?“
„Was mit deinem Vater war.“ Die Worte schienen sein Gesicht kalkweiß zu färben.
„Ich… dachte nicht, dass du darüber reden willst.“ Er schüttelte resigniert den Kopf. „Und ganz ehrlich? Keine Ahnung, ob ich damit klar komme.“ Es klang wie das Eingeständnis einer Niederlage. Automatisch wollte Cat das besorgt dreinblickende Gesicht berühren, aber durch seine Größe kam sie nur bis zur Schulter.
„Es ist nicht deine Schuld.“
„Ach wirklich? Dann sag‘ mir, warum gerade du?“
„Erinnerst du dich an die Venusfallen-Theorie?“
Dareon nickte düster, dann stutzte er. „Was…???“
„Für dich rieche ich wie deine Mutter. Anscheinend ist das erblich. Arne ging es genauso. Er wollte, dass ich deine Mutter bin.“
Cat hätte es nicht für möglich gehalten, doch ihr Gegenstück wurde noch bleicher. Vor den weißen Wänden hätte er jetzt Chamäleon spielen können. Nicht gerade, was sie mit der Erklärung beabsichtigt hatte.
„Damit wollte ich nur deutlich machen, dass du nicht Schuld bist. Es lag an mir und wie ich auf andere wirke.“
„Wie hat er dich gefunden?“
Zeit für die weniger positive Wahrheit. „Er ist dir gefolgt. Schon seit einigen Jahren.“
Plötzlich musste Cat Dareon stützen. Was natürlich null funktionierte, weswegen sie kurz darauf auf dem Boden landeten. Er auf dem Hintern, Beine aufgestellt und den Kopf auf die verschränkten Arme gestützt. Sie kniend daneben.
„Ich hab’s nicht gemerkt. Echt nicht gemerkt“, stammelte er immer wieder.
„Hör‘ auf. Er war verrückt. Wirklich verrückt. Er konnte die Realität gar nicht mehr wahrnehmen. Er wusste vom Tod deines Bruders und dass du seit dem nicht mehr derselbe warst, aber er konnte sich offensichtlich nicht eingestehen, was der Grund dafür war. Außerdem sehnte er sich verzweifelt nach Ingrid. Als ich mich weigerte, so zu tun, als sei ich sie, fügte er mir die Schnitte zu, damit ich gefügiger werde. Aber irgendwann konnte er nicht mehr. Er sagte, er könne seine Frau nicht so verletzen. Zum Teil wusste er, dass ich nicht deine Mutter bin, dann hat ihn mein Geruch wieder dazu gebracht, es doch irgendwie zu glauben. Er war wirklich geisteskrank und es gab nichts, was du dagegen tun konntest.“
Dareon hob den Kopf. „Doch. Ich hätte ihn schon vor langer Zeit erledigen sollen. Er hat meine Familie zerstört und beinahe wäre ihm das ein zweites Mal gelungen. Ach, was sage ich, ein drittes Mal!“
„Vielleicht…. Aber…“ Und es tat ihr wirklich Leid, dieses Pflaster abzureißen. „Deine Mutter hat er nicht getötet. Er hätte es nie gekonnt. So wie bei mir auch nicht, solange ich mitspielte. Er konnte es nicht, weil er sie geliebt hat.“ Eine Pause entstand, während sie mit sich rang, ob sie es wirklich sagen sollte. „Und er hat dich geliebt, sonst hätte er nicht nach dir gesehen.“
Trotz der makabren Geschichte musste das mal gesagt werden. Denn sie wusste ganz genau, was es bedeutete, wenn einen die eigenen Eltern aufgaben.
Ungläubig riss Dareon die Augen auf. „Ich kann einfach nicht glauben, dass du ihn verteidigst, nachdem…“
„Ich will ihn gar nicht verteidigen.“ Bei Gott nicht! „Aber du hast panische Angst, du könntest so werden wie er und ich will dir zeigen, dass dein Vater krank war. Und darunter hat er selbst gelitten. Er war kein Untier ohne gute Eigenschaften. In jedem von uns schlummern alle Facetten des menschlichen Seins. Ich meine, sieh‘ mich an. Ich habe heute ohne Reue getötet.“ Nein, immer noch nicht die Spur eines schlechten Gewissens.
„Das ist ja wohl etwas anderes!“
„Mag sein, aber du hast mir einmal gesagt, jeder hat selbst in der Hand, wie er mit seinem Schicksal umgeht. Du hattest recht. Jeder von uns hat irgendwo ein Stück deines Vaters in sich und sei es noch so winzig. Aber kaum einer wird zum Mörder und Vergewaltiger. Und du wirst es auch nicht. Nicht, solange du dich dagegen entscheidest.“
„Wie meinst du das?“
„Ich habe mich heute aus freien Stücken zum Töten entschieden. Ich hätte eine Wahl gehabt und meine Gabe kontrollieren können. Es hätte funktioniert. Und selbst wenn nicht, man hat immer eine Wahl.“ Das war ihr klar geworden, während sie weiß Gott wie lange unter ihrem starren Feind gelegen hatte. Halb weggetreten hatte ihr Geist eine Reise in philosophische Untiefen unternommen. Man hatte die Wahl, die eigentliche Frage war allerdings, ob man auch bereit war, mit den Konsequenzen zu leben. Beziehungsweise, damit zu sterben.
„Der Preis dafür, so zu werden wie dein Vater, wird dir immer zu hoch sein. Du weißt, welche Last das bedeuten würde und deswegen wirst du diese Grenze niemals überschreiten.“
Lange starrte Dareon sie nur an. Schließlich legte er die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf. „Wie alt bist du noch mal? Eigentlich müsste ich der Weisere von uns sein.“
„Du hast andere Qualitäten. Dafür hast du jetzt mich.“
Er zog sie schwungvoll auf seinen Schoß und hielt sie dort fest in seinen Armen. „Du hast eine sehr gesunde Art, die Dinge zu betrachten.“
„Das muss ich.“ Wie hätte sie sonst weiter leben sollen, nachdem Martin gestorben war? „Hätte nie gedacht, dass meine Vergangenheit sogar mal zu etwas gut sein würde.“ Genauso wenig wie ihre Gabe. Aber die Zeiten änderten sich, nicht wahr?
Dareon verstand und küsste zärtlich ihre Handfläche. „Du hattest übrigens auch recht. Das ist unsere Chance auf einen Neuanfang. Dafür hast du gesorgt.“ Und er sah sie an, als sei sie nicht weniger als eine Heldin in strahlender Rüstung. Sie schluckte hart an den vielen Gefühlen, die in ihrer Kehle prickelten. Beide hatten sie einen Abschluss gefunden und Cat war froh, das für Dareon erledigt zu haben. Er fühlte sich wegen seines Bruders schuldig und wahrscheinlich hätte er den Mord an seinem Vater ebenso für immer mit sich herum getragen. Cat dagegen hatte genügend Argumente, um sich für die Tat zu rechtfertigen. Mal ganz abgesehen von der Ahnung, dass sie der Welt damit einen Gefallen getan hatte. Auch wenn diese Sichtweise kalt erscheinen mochte, sie fühlte sich richtig an.
Dieser Wechsel zwischen Ausnahmesituation und schlichtem Alltag war zwar irgendwie schockierend, doch gleichzeitig wohltuend. Heilsam. Jede normale Handlung überzeugte den verschreckten Teil von ihr, dass sie wieder zu Hause und in Sicherheit war. Weswegen nichts auf der Welt sie jetzt davon abhalten würde, auf diese Party zu gehen.
„Dann lass‘ uns runter gehen und mit unseren Freunden auf unser neues Leben anstoßen. Mir ist nach feiern.“
Dareon lächelte breit und zum ersten Mal schien er dabei wirklich entspannt. „Ok. Aber solltest du schlapp machen, bringe ich dich sofort wieder ins Bett.“
Nicht gerade die schlimmste Drohung. Im Kopf plante sie schon den nächsten Ohnmachtsanfall.
Große Ereignisse kamen selten allein, sollte Xandra am Ende dieses verrückten Tages glauben. Im Nachhinein kam ihr alles ein bisschen unwirklich vor, aber die riesen Fete um sie herum bewies, dass es nicht bloß ein Traum gewesen war. Beinahe ganz Blackridge hatte sich versammelt, um die Veröffentlichung der geheimen Dokumente von BioVista zu feiern, nachdem man am Nachmittag bereits eine Totenwache für die verschiedenen Jägerkollegen veranstaltet hatte. Es wäre schlecht für die Moral der Elevender gewesen, hätte man nur die Verluste feierlich gewürdigt und die Siege als gegeben hingenommen. Die Freude war genauso wichtig wie die Trauer.
Kaum zwanzig Minuten nachdem Xandra die Beweise bei Jordan abgeliefert und diese sie auf unabhängigen Nachrichtenseiten im Netz veröffentlicht hatte, hatten sich Blogger und Wissenschaftler aus der ganzen Welt gemeldet. Ein Forscherteam aus Norwegen schrieb, dass sie gerade eine Untersuchungsreihe abschlossen, die besagte Zellveränderungen mit der Entstehung von Demenz und Krebs in Verbindung brachte. Andere unabhängige Labors in China und Russland bestätigten die Aussagen. Nur eine Stunde später wurden Studien zu den extrem hohen Raten dieser Krankheiten in Utah gepostet und die Verbindung zwischen den Fakten war schnell hergestellt worden.
Obwohl die ursprüngliche Nachricht mit den Beweisen, die Jordan im Internet platziert hatte, schon längst durch hegedunische Hacker entfernt worden war, hatten etliche Menschen das Datenmaterial kopiert und verbreiteten es nun ihrerseits. Es hatte sich zum Selbstläufer entwickelt.
Bis zum Nachmittag war das Ganze zu einer Medienschlacht ausgeartet. Auf jedem Kanal wurde in Exklusivnachrichten über das Thema berichtet, Reporter verfolgten die Vorstandsvorsitzenden der Unternehmen der Cohens. Weltweit ging ein Aufschrei durch die Bevölkerung und Regierungen sahen sich gezwungen, die Cohens im Bezug auf Antworten zu diesen Vorwürfen unter Druck zu setzen. Womit wohl auch die Anhörung im Senat und der Gesetzesentwurf zur Gentechnik in der Landwirtschaft vom Tisch waren.
Und so glücklich Xandra über diese Entwicklungen war, so stellten sie eben nur eins der großen Ereignisse des vergangenen Tages dar. Denn nachdem sie zu Hause angekommen sofort die Veröffentlichung ihrer Beweise gesichert hatte, war ihr vom Schicksal des restlichen Teams berichtet worden.
Ein weiterer toter Jäger. Ein verletzter Quentin. Dareon und Slater, die um Haaresbreite dem Tod durch eine Explosion entkommen waren, und eine entführte Cat. Von Dareons Vater, wie Xandra während der Heilung der kleinen Elevenderin erklärt bekommen hatte. Nach all den Jahren war der Kollege und Freund endlich mit der Geschichte heraus gerückt und Xandra hatte sich mehrmals das Heulen verkneifen müssen, weil manche Dinge so himmelschreiend ungerecht waren. Immerhin hatte sich dieses Problem wohl geklärt und Cat wirkte deswegen nicht deprimiert. Überhaupt schien es ihr recht schnell besser zu gehen. Als erwache sie lediglich aus dem Winterschlaf.
Xandra schüttelte den Kopf, als sie zu dem glücklichen Pärchen hinüber sah. Selbst im fröhlichen Getümmel, das in der großen Bar des Anwesens herrschte, leuchteten die beiden beinahe vor Glück. Sie standen dicht bei einander und hatten nur Augen für den jeweils Anderen. Es war merkwürdig, zwei so intensiv verliebte Menschen zu betrachten. Es löste immer dieses unbestimmte Sehnen in Xandra aus.
Wie aufs Stichwort legte sich ein Arm um ihre Taille. Nur mit Mühe und Not unterdrückte sie das Zusammenzucken.
„Da bist du ja. Ich hab‘ nach dir Ausschau gehalten.“
„Gut so“, entgegnete sie, ohne sich zu der tiefen Stimme an ihrem Ohr umzudrehen. Es war noch sehr ungewohnt, einfach von Christian berührt zu werden. Zwar fühlte es sich gut an, aber der Unterschied zu dem Pärchen an der Bar, das sie eben noch heimlich beobachtet hatte, entging ihr trotzdem nicht.
Ach was, sie versuchte hier, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Cat und Dareon waren Gegenstücke. Diese Verbindung ließ sich nicht herbei reden oder künstlich erzeugen. Sie war vorherbestimmt und Xandra hatte ihr ganzes Leben damit verbracht, auf diese Bestimmung zu warten. Sie musste sich endlich von diesem Wunschtraum verabschieden, damit sie trotzdem echtes Glück und Zufriedenheit finden konnte. Sonst würde sie die ihr verbliebene Zeit mit Warten vergeuden. Die Jahre würden vergehen und sie wäre immer nur ein verdammter Zaungast ihres eigenen Lebens. Neben ihrer kleinen, ödipalen Vater-Problematik. Nein, so wollte sie die Ewigkeit nicht verbringen. Sie hatte noch nie aufgegeben und würde jetzt nicht damit anfangen.
Xandra lehnte sich zurück und legte den Kopf an Chris‘ Schulter. „Ich wusste, du würdest mich finden.“
„Immer.“
Sie schloss für einen Moment die Augen. Sagte sich, dass sie sich darauf einlassen musste, wenn sie wollte, dass es funktionierte. Schließlich war dieser Kerl in ihrem Rücken nicht nur verflucht heiß und brandgefährlich im Kampf, was sie ziemlich sexy fand. Es zeigte sich, dass hinter der charmanten Witzbold-Fassade noch andere Qualitäten steckten. Wer wusste schon, was da noch auf sie wartete und wohin sich diese Beziehung entwickeln würde.
Es war einen Versuch wert.
„Klingt ….“
Mit schrillen Lauten schnitt ihr der Communicator das Wort ab.
Xandra warf einen entschuldigenden Blick über die Schulter und löste sich von Christian. Ein paar Schritte vom Lärm der Veranstaltung entfernt blieb sie stehen, um den Anruf entgegen zu nehmen.
„Das Manöver mit den gestohlenen Dokumenten scheint geklappt zu haben. Die Gentechnik für Saatgut wird gerade in aller Öffentlichkeit geteert und gefedert.“
„Jap. Das ist auch euer Verdienst.“
Syn schwieg lange. „Die Zusammenarbeit zwischen uns funktioniert. Das solltest du dem Rat berichten. Und wenn du schon dabei bist, bestell‘ ihnen doch gleich, dass wir die Drohne haben.“
„Oh…“
„Also ein bisschen mehr Jubel hatte ich schon erwartet.“
Sie hätte sich langsam daran gewöhnen sollen, dass der Venus Orden allerhand Überraschungen auf Lager hatte. „Syn, du und deine Leute, ihr seid beinahe so etwas wie eine Wundertüte.“
„Ich bin wirklich unschlüssig, ob das ein Kompliment war oder nicht.“
„War es. Rein professionell natürlich.“ Moment. Wieso hatte sie das gerade gesagt? Und dann auch noch in diesem Tonfall? Bedeutsame Stille.
„Natürlich.“
Sag‘ was, sag‘ irgend etwas, befahl sie sich selbst. Doch es dauerte noch ein, zwei Sekunden bis das gelang. „Ich werde die Nachricht weitergeben und melde mich dann wieder.“
Ein kurzes Geplänkel folgte, doch Syn merkte schnell, dass sie nicht drauf einsteigen wollte. Nach einer knappen Verabschiedung legte Xandra auf und starrte noch eine Weile auf das Übertragungsgerät. Rätselte herum, was zum Teufel da gerade in sie gefahren war.
Eben hatte sie sich für Christian entschieden, nur um sich gleich darauf umzudrehen und mit dem nächstbesten Kerl zu flirten, mit dem sie sprach. Sie hatte es nicht geplant und obwohl sie sich als strikt monogam bezeichnet hätte, es war einfach so passiert.
Oh Mann, bei ihr war in dieser Hinsicht definitiv was kaputt.
Danke, Dad…
„Es geht hier um Menschenleben, Xandra!“
„Glaubst du, ich weiß das nicht?!“, entgegnete sie wutschnaubend. „Erst vor drei Tagen habe ich vier Jäger verloren. Vier! Ich weiß ganz genau, worum es hier geht!“ Nicht umsonst hatte sie die ersten beiden Anrufe von Evrill am heutigen Abendignoriert.
„Warum zum Teufel meldest du dich dann nicht und gehst noch nicht mal an dein Scheiß-Telefon?“
„Hast du mir überhaupt zugehört? Du bist hier nicht der Einzige mit Problemen. Ich hatte Einiges um die Ohren.“ Zumindest ein Teil der Wahrheit, denn sie war sich immer noch nicht sicher, ob sie es schaffen würde, ihn zu belügen. Trotz der neueren Entwicklungen in ihrem Privatleben. Aber daran wollte sie im Moment erst recht nicht denken.
Nach einer Pause seufzte Evrill voller Verdruss. „Hast du wenigstens mit deinem Vater gesprochen?“
Und schon ging's ans Eingemachte. Keine Schonfrist. Und sie wusste immer noch nicht, wie sie verfahren sollte. Verdammt. Dank ihres Vaters und Markus‘ wagemutigen Plänen war die Sache noch viel komplizierter geworden.
„Ev…“
„Ich hätte heute auch fast eine Kollegin verloren. Ich kann verstehen, dass die Geschichte mit dem Orden nicht deine oberste Priorität ist, aber ich brauche dringend Informationen.“
„Warum? Was ist passiert?“
„Unser Deal war, dass ich dir erst erzählen muss, was hier los ist, wenn du mir sagst, wie der Rat zur Unterstützung des Venus Ordens steht. Ach, und mittlerweile hätte ich da noch mehr Fragen.“
Oh, Mann. Sie hasste diesen Mist. Immerhin hatte sie etwas für Evrill übrig. Daran hatte sich nichts geändert auch wenn der Anstand verbot, dem noch nachzugeben.
„Hör‘ zu, mein Vater…“
„Dein Tonfall sagt alles. Du darfst nicht drüber sprechen, stimmt’s?“ Als sie nicht antwortete, lachte er bitter auf. „Sonst warst du doch auch nicht so brav.“
Er hatte sie schon immer leicht durchschaut und ihr dann den Spiegel vorgehalten. Damit traf er auf einen Nerv. Frustriert griffen ihre Finger fester zu, das Gehäuse des Smartphones beklagte sich mit einem vernehmlichen Knarzen.
„Da stand nicht so viel auf dem Spiel.“
„Ist das dein letztes Wort?“
Xandra zögerte, was ihr Gesprächspartner wie üblich sofort spürte. „Bitte. Tu’s für mich. Ich würde nicht so drängen, wenn es nicht wichtig wäre.“
Das war ihr klar und auch, dass sie nicht imstande war, ihm etwas abzuschlagen. Ach, was für ein Schlamassel! Dieser Kerl würde sie beide noch in Teufelsküche bringen. Aber mal ganz ehrlich, war sie wirklich verpflichtet, ihren Vater zu decken?
„Es besteht bereits Kontakt zwischen Orden und Legion. Bald wird es ein Treffen geben, zu dem leitende Persönlichkeiten unserer Organisation, Ratsmitglieder sowie Vertreter des Ordens geladen sind.“
Die gänzliche Stille schien ihr irgendwie voller Wut. Und das konnte sie nachvollziehen.
„Gut zu wissen“, sagte er schließlich kühl. Dass es nicht gerade die feine Art war, ihn zu übergehen, ließ Evrill unausgesprochen. „Und was soll auf dieser Versammlung diskutiert werden? Wo und wann findet sie statt?“
„Ev, es tut mir leid. Ich kann mir vorstellen, dass du viele Fragen hast, aber ich habe Chronos mein Wort gegeben, die Geschichte bis nach dem Treffen geheim zu halten. Er hat mir im Gegenzug versprochen, die Elevender der Legion danach aufzuklären. Ich will es dir ja sagen, aber bitte hab‘ noch etwas Geduld, ok?“
„Das Versprechen an deinen Vater hältst du, aber das, das du mir gegeben hast, brichst du?“
Xandra wand sich unglücklich auf dem Schreibtischstuhl. Die Gewissenskrise verursachte drängende Unruhe, weswegen sie aufstand und in ihrem Zimmer auf und ab lief.
„Das ist bestimmt schwer nachzuvollziehen, aber ich habe meine Gründe.“ Triftige Gründe, oder etwa nicht?
Schöne Scheiße, sie war einfach miserabel darin, Freunde; oder was auch immer Evrill für sie war; auf Abstand zu halten oder gar zu belügen. Wieder ein Beweis, dass Geheimnisse eine unüberwindbare Kluft schufen. Und dennoch, wenn sie Ev nach dem Treffen über die Pläne für die Waffe und für die Zusammenarbeit mit dem Venus Orden in Kenntnis setzte, hätte sie beide Abmachungen, die mit ihrem Vater und die mit ihrem Freund, eingehalten. Das schien ihr ein guter Plan und war auch mit ihren moralischen Ansprüchen vereinbar.
„Bitte gib‘ mir einfach noch ein paar Tage Zeit. Dann werde ich dich einweihen. Und bevor du dich beschwerst, ich habe dir das überhaupt nur verraten, weil wir Freunde sind.“
„Hm. Freunde also.“
Grrr. „Du weißt, was ich meine.“
„Nein. Bitte klär‘ mich auf.“
Spätestens jetzt wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, von Christian zu erzählen. Aber es wollte nicht so recht über Xandras Lippen kommen. „Du kannst es nicht lassen, oder?“
„Selten.“
„Schön, ähm. Ich melde mich in ein paar Tagen.“
„Sicher?“
„Ist ja gut. Ganz sicher.“
„Nicht, dass du’s vergisst.“
„Mach’s gut, Ev!“
„Ehrlich, vielleicht solltest du dir ein Memo schreiben.“
„Bis dahaann.“
Sie atmete auf, nachdem der Anruf beendet war, und hoffte inständig, dass diesmal alles so laufen würde, wie sie eben versprochen hatte. Das Gespräch rief ihr in Erinnerung, dass sie das Geschehen scharf im Auge behalten musste. Chronos und Markus hatten etwas vor und sie würde sich einmischen, falls es nötig sein sollte.
Eine Weile grübelte sie über die verfahrene Situation nach und versuchte währenddessen auszublenden, welche Gefühle dieser „Freund“ in ihr geweckt hatte. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, zu der sie auch stand. Egal, ob ihr Unterbewusstsein Anderes im Sinn hatte. Mit der Zeit würde sie sich schon daran gewöhnen, dass da jetzt ein Mann in ihrem Leben war. Bestimmt.
Um dem Gedankenkarussell zu entgehen, flüchtete Xandra sich in Papierkram, bis es Zeit war Blaise ein wenig Unterricht in Sachen Jäger-Ausbildung zu geben. Nach dem erfolgreichen Einsatz bei der Suche nach Cat, war allen klar geworden, dass die kleine Küchenfee auch noch andere Aufgaben übernehmen konnte. Dazu brauchte sie aber eine entsprechende Vorbereitung, so wie sie jeder Mitarbeiter der Legion für den Außendienst erhielt. Hierbei war Xandra nur zu gerne behilflich. Blaise lag ihr am Herzen und sie würde es sich nicht nehmen lassen, auf ihre beste Freundin aufzupassen.
Für das körperliche Training würden Dareons Kampfsportstunden sorgen, aber Blaise musste auch in andere Bereiche eingewiesen werden. Heute wollte Xandra ihr die Grundzüge der Vorgehensweisen beim Einsatz erklären und ihr einen Crashkurs für die Bedienung der elektronischen Hilfsmittel verpassen. Aus diesem Grund hatten sie sich bei Jordan verabredet.
Als sie in der verräucherten Bude mit der würzigen Note ankam, fand sie dort jedoch einen ganzen Menschenauflauf vor.
Cat und Dareon diskutierten aufgeregt mit Roman, während Blaise und Jordan besorgt die holografischen Bildschirme fixierten. Dort liefen die Aufnahmen einer Überwachungskamera im Schnelldurchlauf. Xandra bahnte sich einen Weg durch das organisierte Chaos und gesellte sich zu der Gruppe.
„Was ist denn passiert?“
Roman wandte sich erstaunt um, als hätte er sie eben erst bemerkt. „Hi, X. Ich habe heute an der Kamerasuche nach Jayce weiter gearbeitet und bin auf das hier gestoßen.“ Er drehte sich um. „Zeig‘ es uns bitte noch mal, Jordan.“
Das Computergenie nickte geschäftig und ließ einen weiteren Bildschirm erscheinen, auf dem nicht weniger als eine Entführung zu sehen war. Die Aufnahmen zeigten einen Jungen von großer Statur, der Cats‘ Gesichtsausdruck nach Jayce war. Er wurde von einem Elevender überwältigt, der ihn dann zu einem Auto brachte und davon fuhr.
„Ich bin ihm gefolgt. Bis dort hin.“ Rome strich über das Bildschirmhologramm und wechselte das Video. Wieder der Elevender, der den bewusstlosen Jungen aus dem Kofferraum und über die Schulter hievte. Im Dunkeln brachte er ihn zu einem großen Backsteingebäude.
„Aber das ist doch klasse. Wie lautet die Adresse? Wir sollten sofort hinfahren und uns das ansehen.“
„Und genau hier liegt das Problem.“ Dareons verschränkte Arme und die finstere Miene verhießen nichts Gutes. „Das ist das Gebäude, unter dem Slater und ich beinahe begraben worden wären.“
„Shiiiit“, hauchte Xandra unwillkürlich. Das konnte ja wohl nicht…
„Du sagst es. Zwar haben wir damit die Bestätigung, dass die Leute, die sich Cat schnappen wollten und die, die ihren Freund entführt und getötet haben, ein und die Selben sind. Aber das Haus ist jetzt nur noch Schutt und Asche. Egal was dort war, es ist verloren.“ Der Wickinger-Elevender fluchte ungehalten und zog Cat näher an sich heran. Was er noch nicht mal mehr zu registrieren schien. Dieses süße Pärchen hatte sich wohl schon in gewisser Weise eingespielt. Als jene Sehnsucht erneut in Xandra aufsteigen wollte, verpackte sie den Gedanken in eine Truhe mit sieben Siegeln und verstaute sie im hintersten Winkel ihres Verstandes. Und da würde er auch bleiben. Ein für alle Mal.
„Immerhin wissen wir jetzt sicher, dass es dieselben Täter sind.“
„Und wir verfolgen gerade, wann Jayce wieder raus gekommen und wer sonst noch in diesem Gebäude ein und aus gegangen ist“, ergänzte Roman Xandras Aussage und erst jetzt fielen ihr die vielen Porträtbilder auf, die der Computer unter den Aufnahmen, die immer noch im Schnelldurchlauf liefen, aufreihte. Keines der Gesichter kam Xandra bekannt vor, aber das waren Spuren, mit denen man arbeiten konnte.
„Da!“, rief Blaise und deutete auf den Bildschirm mit dem dahin rasenden Video. „Stopp. Und dann eine halbe Minute zurück. Ich glaube, das war er.“
Jordan tat wie geheißen und die gesamte Meute heftete die Augen auf die Bilder. Und tatsächlich. Es war wieder Nacht, man sah das riesige Gebäude von vorn, nur die rechte Seite konnte man ein bisschen im Profil erkennen. Dort bewegte sich etwas. Eines der Fenster im Erdgeschoss wurde geöffnet, erst kam ein Bein zum Vorschein, kurz darauf noch eins, dann fiel eine dunkle Gestalt kraftlos zu Boden. Sie schien jedoch eindeutig in Eile, denn sie kam nur wenige Sekunden später wieder auf die Beine und sah sich misstrauisch um. Dabei fiel das Licht der Straßenlaterne für einen kurzen Augenblick auf das Gesicht des Flüchtigen, bevor er sich zwischen den Häusern davon schlich. Es war wirklich Cats inzwischen verstorbener Freund. Älter und sehr abgemagert.
Cat schluchzte unterdrückt und beugte sich vor, bis ihre Nase fast das Hologramm berührte. „Seht ihr das Datum? Das war in der Nacht, als er plötzlich vor meiner Tür aufgetaucht ist.“
„Er war also über…“ Blaise rechnete nach. „… vier Jahre dort eingesperrt?“
Jordan tippte hektisch auf dem digitalen Tastenfeld herum. „Das Grundstück gehört einer Briefkastenfirma mit Sitz auf den Camen Islands. Die Daten über den Inhaber sind dort geheim, aber mit etwas Mühe kann ich die Firewall der Finanzbehörden knacken. Ich werde den Computer auch gleich nach anderen Personen suchen lassen, die ins Gebäude hinein gebracht wurden und erst nach langer Zeit oder gar nicht wieder herausgekommen sind. Außerdem wird eines meiner selbstkonzipierten Programme die Datenbanken nach den anderen Gesichtern in dieser Videoaufnahme durchstöbern.“
Xandra beugte sich zu der jungen Frau hinunter, die den Befehl gerade mit der Entertaste eingespeist hatte und sich einen weiteren Joint ansteckte. „Wie lange wird das dauern?“
„Das ist eine riesige Datenmenge. Ein bis zwei Tage denke ich.“
Da blinkte einer der fünf schwebenden Monitorabbilder grün auf.
„Was ist das?“, erkundigte sich Cat neugierig.
Jordan zog den Bildschirm in die Mitte. „Das ist das Programm, welches ich auf das verkohlte Laufwerk angesetzt hatte, das Dareon, Slater und Pavel aus diesem geheimnisvollen Gebäude geborgen haben.“
„Und warum blinkt es?“
„Es konnte etwas entziffern. Kleinen Augenblick.“ Sie schob sich die Selbstgedrehte zwischen die Lippen und ließ die Finger erneut über die Tastatur tanzen. Die Hände wirbelten so schnell, dass einem schon vom Zusehen schwindelig wurde und die träge aufsteigenden Rauchkringel trugen ihres dazu bei. Der Eindruck verdichtete sich zu einem leichten, nicht unangenehmen High, das den Anwesenden die spannungsgeladene Wartezeit versüßte.
Keiner sprach ein Wort, bis die blasse Frau mit den Rastazöpfen nach einer Weile einen enttäuschten Laut von sich gab. „Scheibenkleister. Da ist kaum was zu retten. Alles was wir haben, ist eine kryptographische Aufzählung verschiedener Chemikalien und eine Namensliste, auf der fast alle Einträge kodiert sind.“
„Was soll das bloß bedeuten?“, fragte Cat und sah besorgt zu ihrem Gegenstück auf.
Der küsste ihren Scheitel abwesend, während er fortwährend auf die Informationen starrte. „Keine Ahnung, Süße.“
„Wartet!“ Jordan setzte sich plötzlich kerzengerade hin. „Das Programm hat beim Abgleich mit unserer Datenbank ein paar Treffer in der Namensliste gefunden.“
Alle fünf drängten sich noch näher zusammen, um das Ergebnisgenau betrachten zu können.
„Oh, mein Gott!“, entfuhr es Xandra tonlos, als sie den ersten Namen las und fürchten musste, ihr Kopf würde explodieren. Vor allem, weil da nur ein Vor- und kein Nachname zu lesen war.
Filigrane, weiße Lettern auf blauem Grund hätten eigentlich nicht so bedrohlich wirken dürfen. Aber da stand…
Markus.
Xandra war es, als verlöre sie den Boden unter den Füßen und das war noch bevor sie Cat neben sich aufschreien hörte.
Ein Blick auf den zweiten und dritten Namen dieser mysteriösen Liste erklärte die Reaktion.
Robert und Patricia Campbell.
Zwei Tage später….
Dareon unterbrach den leidenschaftlichen Kuss und beugte sich zum Nachtkästchen hinüber. Im Schubfach unter der Tischplatte hatten sie die Kondome gebunkert.
„Wirst du die jemals weglassen?“
Ihr Gegenstück hielt mitten in der Bewegung inne und sah sich um. „Ich wusste nicht, dass du es so eilig hast, Kinder zu kriegen.“
Sie hätte gerne gesagt, dass das auch nicht zutreffe, doch nach den Ereignissen, die am heutigen Nachmittag die gesamte Legion in den Grundfesten erschüttert hatten, war sie sich da nicht mehr so sicher. Mein Gott, sie mochte vielleicht einem unsterblichen Volk angehören und doch konnte das Leben schneller vorbei sein, als sie es sich vorstellen konnte. Das hatten sieben tote Ratsmitgliederin Europa, darunter auch Chronos, eindrucksvoll bewiesen.
Xandra war am Boden zerstört gewesen, nachdem sie die Nachricht per Telefon erhalten hatte. Cat und Dareon waren nur wenig später in Kenntnis gesetzt worden, als sie zusammen an dem hübschen Camaro gebastelt hatten.
Anscheinend hatte der Rat heimlich versucht, eine Waffe gegen die Hegedunen zu bauen, um dann gemeinsam mit dem Venus Orden in den Krieg zu ziehen. Markus, dessen Name Cat nun allzu bekannt war, hatte behauptet, man könne dieses Mordinstrument speziell für Elevender mit Hilfe von sechs kleinen Steinen herstellen, die eine Art Energiequelle bilden sollten. Ein Jägerteam aus Europa war beauftragt worden die kleinen Dinger zu stehlen. Jedoch war besagte Gruppe dabei auf Ungereimtheiten gestoßen und hatte in Zusammenarbeit mit Evrill, einem Freund von Xandra, versucht, die ganze Sache zu klären.
Das Ende vom Lied war, dass einMitglied dieses Teams, eine Jägerin namens Aurelia, plötzlich weltweit bekannt wurde. Sie war früher eine Hegedunin gewesen und ihr ehemaliger Partner von der Gegenseite hatte sie und Markus mit seiner Gabe dazu gebracht, die Steine, den Rat und den Orden zu einem Treffen zu versammeln. Genau jenes Treffen, über das Xandra mit dem Orden verhandelt hatte.
Bei dieser Zusammenkunft hatte die Jägerin Aurelia ihr Team durch eine Verkettung mysteriöser Umstände dazu gebracht, die Gegner in den dortigen Stützpunkt der Legion einzulassen. Diese hatten daraufhin einer ganzen Schar von Hegedunen die Tore geöffnet, die dann in die Versammlung geplatzt waren, um den Ratsmitgliedern die Elevender-Kräfte zu stehlen und sie dann zu töten. Viele waren gestorben, bevor es den Anwesenden gelungen war, sich gegen die Attacke zur Wehr zu setzen und die Angreifer zu vertreiben.
Aurelia konnte offenbar nicht für die Geschehnisse verantwortlich gemacht werden, da sie von der Gabe des Hegedunen, der die ganze Sache inszeniert hatte, manipuliert worden war.
Seitdem die Nachricht in den vereinigten Staaten angekommen war, herrschte tiefe Trauer unter den Bewohnern von Blackridge.Vorher war Cat nicht bewusst gewesen, wie sehr sich die Mitglieder der Legion untereinander verbunden fühlten, obwohl zum Teil ganze Ozeane zwischen ihnen lagen. Man bedauerte diese Tode genauso wie die der Jäger des Stützpunktes bei Ceiling vor knapp einer Woche. Als ob man jeden persönlich gekannt hätte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass es die Führungsriege der Organisation getroffen hatte, der Cat neuerdings irgendwie angehörte. Auch wenn es noch nicht offiziell war. Immerhin hatte sie ihren Putzjob im Opernhaus endgültig an eine Bekannte abgetreten und wohnte mittlerweile gemeinsam mit ihrem Gegenstück auf Blackridge. Um sich in die Gesellschaft einzubringen, hatte sie zusätzlich ein paar Aufgaben übernommen.
Deshalb spürte sie den Verlust deutlich, obwohl sie diesem illustren Verein erst kürzlich beigetreten war. Jetzt betraf sie das auch. Und offensichtlich war das Leben in der Legion keineswegs ungefährlich. Ein bisschen wie Bergsteigen. Dieses Gefühl von Freiheit, die Wahnsinns-Aussicht, eine wunderbare Sache. Doch ein falscher Schritt, und es war der letzte, den man jemals machen würde. Dieses Wissen konnte Cat jedoch nicht einschüchtern. Denn während sie sich integriert hatte, hatte sie auch immer besser verstanden, dass die Mitglieder der Legion aus Überzeugung handelten. Dass sie ihr Leben zum Wohle der gesamten Menschheit aufs Spiel setzten und dafür noch nicht mal ein Dankeschön erwarteten.
Cat hatte sich nie für nobel gehalten, war die ganze Zeit fest in ihrem privaten Mist verstrickt gewesen. Jetzt allerdings, da an dieser Front plötzlich alles in bester Ordnung schien, die Erinnerung an ihre Entführung sie nachts nicht mehr wachhielt, wollte sie einen Beitrag leisten. Etwas Gutes und Wahrhaftiges tun. Aber dieser Wunsch hatte eigentlich schon immer in ihr geschlummert, was?
Schließlich hatte sie das Netzwerk nicht nur für sich selbst gegründet. Es hatte vielen ihrer Bekannten aus Schwierigkeiten geholfen und noch heute profitierten Cats Freunde davon.Und deren Freunde und so weiter. Letztlich war das Konstrukt gar nicht so großartig anders als das, was die Elevender mit der Legion aufgebaut hatten.
Jedenfalls wusste sie jetzt, wie sie ihre Ewigkeit; es war immer noch befremdlich dieses Wort auch nur zu denken, verbringen wollte. An der Seite ihres Gegenstücks, im Kreise ihrer Freunde und Gleichgesinnten und für eine bessere Zukunft kämpfend. Sie hatte schon zu viele Jahre vergeudet und nach allem was passiert war, war sie es dem Schicksal schuldig, etwas aus ihrer Zeit auf Erden zu machen. Und irgendwie gehörte zu dieser träumerischen Vorstellung auch, Kinder in die Welt zu setzen, die hoffentlich irgendwann in den Genuss einer friedlichen, freien, gesunden Weltordnung kamen. Wofür hätte sich der Kampf sonst lohnen sollen?
Cat reckte sich und gab Dareon einen Kuss. „Ich habe es nicht eilig. Aber ich will das Leben voll und ganz auskosten, nichts auslassen.“ Außerdem wollte sie es besser machen, als ihre eigenen Eltern, die seit der Entdeckung auf der verkohlten Festplatte verstärkt durch ihren Kopf spukten. Und nicht nur das, auch die Bilder aus ihrer Kindheit standen ihr lebhaft vor Augen. Wenigstens wusste sie, wie man sich als Elternteil nicht verhalten durfte.
Dareon gab es auf, nach dem Knauf der Schublade zu greifen und damit das voran zu treiben, was sie vor ein paar Minuten begonnen hatten. Stattdessen zog er Cat fest an sich. „Wenn wir es nicht eilig haben, können wir die Diskussion doch ein andermal führen.“
„Nein.“ An seiner Brust schüttelte Cat energisch den Kopf. „Ich will nur wissen, ob Kinder im Bereich des Möglichen liegen. Im Übrigen finde ich, dass wir als Gegenstücke zur Fortpflanzung verpflichtet sind.“
Dareons leises Lachen dröhnte unter ihrem Ohr. Sein Bauch zuckte. „So?“
„Eindeutig. Und wir haben ja jetzt geklärt, dass du dir um deine Gene keine Sorgen machen musst.“
„Scheint, als hättest du schon alles geplant.“
„Überhaupt nicht.“ Wer’s glaubt…
„Sicher?“ Schmunzelnd hob er ihr Kinn an, sodass sie in den wundervollen Winterhimmel blickte, der gar nicht kühl wirkte. Warme Zuneigung stand darin und Cat wusste, worauf das hinauslaufen würde, bevor Dareon es aussprach. „Denn wenn es doch so wäre, könnte ich dagegen nicht mehr viel unternehmen, oder? Ich meine, ich könnte mein Gegenstück doch unmöglich so enttäuschen.“
„In diesem Fall“, stieß sie schnell hervor, während sich ein Grinsen so breit wie Russland auf ihre Lippen schlich. „Es ist alles schon hieb- und stichfest. Die Details sind niedergeschrieben, quasi in Stein gemeißelt. Du musst nur noch ja sagen.“
Dareon zeigte beim Lächeln beinahe so viele Zähne wie sie selbst. Mann, sie glaubte sogar, die Weisheitszähne an den Enden der beiden Reihen blitzen zu sehen.
„Siehst du? Aus der Nummer komme ich sowieso nicht mehr raus.“ Doch bevor Cat um seinen Hals fallen konnte, hielt er sie an den Schultern fest. „Unter einer Bedingung.“
„Welche?“
„Vorher musst du die Geschichte mit deinen Eltern erledigen. Wir wissen immer noch nicht, warum sie in den Daten aus diesem Gebäude aufgetaucht sind und du hast alle darum gebeten, sich zurückzuhalten, weil du das selbst in die Hand nehmen wolltest. Seitdem drückst du dich davor.“
„Ich drücke mich gar nicht. Und diese Bedingung ist total bescheuert!“
Er tippte an die Unterlippe, die sie schmollend vorgeschoben hatte. „Ist sie nicht. Du hast für mich das mit meinem Vater geklärt und erst jetzt kann ich unbekümmert in die Zukunft schauen. Ich will das auch für dich.“
„Ich bin unbekümmert. Total unbekümmert.“
„Ich merke es.“
Ok, es zwei Mal zu sagen, hatte der Glaubwürdigkeit der Aussage keinen Gefallen getan. „Wirklich.“
„Ich habe mitbekommen, dass du über deine Eltern nachgrübelst. Und nach deiner Entführung ist das das zweite, große, einschneidende Ereignis, das du scheinbar einfach so wegsteckst. Wenn du das nicht verarbeitest, kommt es irgendwann wieder hoch. Meist gerade dann, wenn du es überhaupt nicht brauchen kannst.“
Lange schaute Cat einfach nur an die Decke und dachte über die Worte nach. Schob sie in ihrem Kopf herum wie Möbel, die nach dem Umzug einfach nicht so ganz in die neuen Zimmer passen wollten. Und die zudem plötzlich verdammt unbequem geworden waren.
„War es für dich auch so unangenehm, dich deinem Vater zu stellen?“
„Nimm’s mir nicht übel, aber ich glaube, es war schlimmer.“
Womit er wahrscheinlich recht hatte. Und wenn er so mutig war, wollte Cat dem in nichts nachstehen. Wollte eine würdige Partnerin und aufrecht durchs Leben gehende Frau sein. Sich nie wieder vor irgendetwas verstecken oder sich davon einschränken lassen.
„Na gut, du hast gewonnen. Ich fahre hin. Aber du musst mich begleiten und meine Hand halten.“
„Natürlich.“ Seine Finger schlossen sich wie versprochen um ihre und ohne Vorwarnung stand er aus dem Bett auf, zog an ihrem Arm. Von seiner splitterfasernackten Pracht geblendet brauchte Cat einen Augenblick, bis sie reagieren konnte.
„Was wird das?“
„Du wolltest hinfahren. Also los.“
„Jetzt? Es ist gleich halb acht und wir brauchen mindestens eine Stunde mit dem Auto.“
„Also sollten wir uns beeilen. Komm‘ schon, Peppi.“
„Peppi?“
„Peppi, aus Das kleine Arschloch. Sag‘ bloß, du kennst den Film nicht.“
Cat schüttelte ratlos den Kopf.
„Lange Geschichte. Geradezu perfekt, um eine einstündige Autofahrt damit zu füllen.“
Nachdem sie sich weiterhin sträubte, setzte Dareon seine körperliche Überlegenheit ein. Und mit dem Argument, dass sie ja bereits zugestimmt hatte, scheuchte er sie unter die Dusche, in ihre Kleider und dann hinunter in die Garage.
Nur eine halbe Stunde später befanden sie sich auf dem Weg und nach Cats Geschmack war die Schonfrist viel zu kurz, bis sie das altvertraute Anwesen erreichten, auf dem sie aufgewachsen war. Es lag am Rande einer der Vororte von Ceiling und erstrahlte immer noch im pompösen Glanz einer Villa. Dareon stoppte den Wagen vor der hübschen Einfahrt und gemeinsam blickten sie zu dem prätentiösen Gebäude hinauf.
„Naja. Du hast ja gesagt, dass du aus gehobenen Kreisen stammst“, kommentierte Dareon das hochwertige Heim ihrer Eltern. Jeder Quadratzentimeter daran schrie den Namen des Designers. Kein einziges Detail war wahllos platziert worden. Auch die Beleuchtung folgte einem klaren Regime. Gleißende Strahler setzten die Fassade der beiden Gebäudeteile, die durch einen runden Bau mit Glaskuppel verbunden waren, aufsehenerregend in Szene. Die Spaliere mit den Rosengittern zu beiden Seiten der Hausflügel waren immer noch an Ort und Stelle. Cat konnte noch fühlen, wie sich die Dornen in ihre Unterarme und Schienbeine gebohrt hatten, jedesmal, wenn sie da hinunter geklettert war, um diesem von strengen Vorschriften und himmelschreiend sinnloser Etikette regiertem zu Hause für eine Weile zu entfliehen.
Auch jetzt war sie alles andere als begeistert, hier her zurückkommen zu müssen. Es schien ihr, als kehrte sie in ein anderes Leben, zu einer anderen Cat zurück. Das alles passte nicht mehr zu ihr, hatte es wahrscheinlich noch nie. Sich ihren Eltern zu stellen, war jedoch noch unangenehmer.
Cats Hand zitterte, als sie sie nach dem Türgriff ausstreckte. Der Camaro, den sie mit Dareon fertig gestellt hatte, bot noch einen gewissen Schutz, weswegen sich das Aussteigen als echte Hürde erwies. Schließlich konnte Dareon es nicht mehr mit ansehen, ging ums Auto herum und öffnete ihr. Er musste sie beinahe die Einfahrthinauf schleifen, doch zu guter Letzt stand sie vor dem Eingang, zu dem sie früher noch einen eigenen Schlüssel besessen hatte.
Da das der Vergangenheit angehörte, musste sie wohl die Klingel betätigen, aber auch das übernahm Dareon nach minutenlanger Stille, in der sie mit sich rang.Klar, dass es keine herkömmliche Türglocke war. Der Druckknopflöste ein Klangkonzert vom Allerfeinsten aus. Es hätte Cat kaum gewundert, wenn es Bach oder Mozart gewesen wäre.
Jetzt war es also so weit. Mit staubtrockener Kehle und angehaltenem Atem stand sie auf der Türschwelle und wartete darauf, den Menschen in die Augen zu blicken, die sie im Stich gelassen hatten.
Wie in einer Traumwelt beobachtete Catmerkwürdig distanziert, dass die Türe geöffnet wurde. Dareon griff nach ihrer Hand, als hätte er gespürt, dass sie es brauchen konnte.
Natürlich erschien ein Bediensteter im Rahmen. Sie kannte ihn nicht, aber das war wenig verwunderlich, immerhin hatte sie seit fast dreizehn Jahren keinen Fuß mehr in ihr Elternhaus gesetzt. Außerdem konnte sie auf diese Weise noch ein paar Minutenraus schinden, bevor sie ihren Erzeugern gegenübertreten musste.
„Hi, mein Name ist Cat. Ich würde gerne mit Patricia und Robert Camp…“
„Catlynn?“, tönte es da ungläubig aus dem Hintergrund.
Aus Reflex lehnte sie sich zur Seite, um an dem Butler im schnieken Pagen-Outfit vorbei zu schauen. Sie erhaschte einen Blick in den Empfangssalon, an dessen anderem Ende eine kleine Frau stand. Starr wie eine Salzsäule hatte sie die Finger an die Lippen gelegt und machte große Augen. Sogar aus dieser Entfernung leuchteten diese im selben Grün, wie Cat es besaß. Patricia Campbell trug auch zu dieser späten Stunde ein Chanel Kostüm in hellem Blau. Das kupferrote Haar war zu einem eleganten Knoten am Hinterkopf aufgesteckt. Jede der schillernden Wellen saß perfekt, nur einige hellgraue Strähnen hatten sich darunter geschummelt. Das hübsche Gesicht zeigte ein paar Falten mehr, dennoch war es akkurat und äußerst vorteilhaft geschminkt. Keine Spur eines Fernsehabends, und Gott bewahre, dass man es sich abends zu Hause in bequemen Klamotten gemütlich gemacht hätte.
Das Wiedersehen machte auch Cat für einen Moment sprachlos. Sie war vollauf damit beschäftigt, sich mit verrenktem Hals auf den Beinen zu halten, während sie ihre Mutter inspizierte und dabei von tausenden von Erinnerungen heimgesucht wurde.
Dareon räusperte sich hinter ihr. Weil sie kein Wort rausbrachte, sprang er ein. „Guten Abend, Mrs. Campbell. Mein Name ist Dareon. Wir sind hergekommen, um mit ihnen zu sprechen.“
Nun ging ein Ruck durch Patricia und sie kam über den teuren Teppich zum Eingang geeilt. Das flauschige Gewebe sorgte dafür, dass die hohen Absätze keine Geräusche machten. Ja, hier war es immer sehr still gewesen.
Cats Mutter lehnte sich zur Tür hinaus und sah sich besorgt um. Erst nachdem sie die Straße zu beiden Seiten der Einfahrt beobachtet hatte, wandte sie sich ihrer Tochter zu.
„Du solltest nicht hier sein“, flüsterte sie mit ihrer klaren Stimme und Cat hätte nicht für möglich gehalten, dass diese Worte sie nach all den Jahren erneut so treffen konnten.
Unwillkürlich wanderte ihre Hand nach oben, legte sich über ihr Herz, das gerade einen Heldentod starb. Sie atmete tief durch und kämpfte um Fassung, doch da wurde sie am Arm gepackt und von ihrer Mutter ins Haus gezogen.
„Schnell, kommt rein. Bevor euch jemand sieht.“
Kaum waren sie drinnen, schloss Patricia die schwere Eingangstür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Ihre Brust hob und senkte sich hektisch. „Du darfst nicht hier sein. Damit bringt du dich in große Gefahr!“
Diesmal war es an Cat, ungläubig zu starren. „Warum sollte mich das in Gefahr bringen?“
„Ist euch jemand gefolgt? Wurdet ihr auf dem Weg hier her gesehen?“
Cat und Dareon wechselten einen fragenden Blick und zuckten dann beide mit den Schultern, was unter anderen Umständen sicher witzig gewesen wäre.
„Mo…, Patricia, du verhältst dich völlig irrational. Was ist hier los?“
Irgendetwas schien der Dame des Hauses ziemlich zuzusetzen, denn plötzlich traten Tränen in ihre Augen. Sie löste sich vom hellen Holz der Türe und kam langsam auf Cat zu. Die war so überrascht von dem ungewohnten Gefühlsausbruch, dass sie sich nicht rühren konnte. Vorher hatte sie ihre Mutter nie weinen sehen.
Als die ältere Frau Cat erreichte, wurde sie in eine erstaunlich feste Umarmung gezogen, die sie den schlanken Gliedern nie und nimmer zugetraut hätte. Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal von ihrer Mutter in den Armen gehalten worden war und kam zu dem Schluss, dass sie damals noch ein Säugling gewesen sein musste. Umso erstaunlicher war die ganze Sache.
Nach dem ersten Schock lösten sich Cats Muskeln und unglaublich aber war, ihr eben noch verwundetes Herz erwärmte sich. Etwas in ihr schmolz. Ein vereistes Ding, von dem sie noch nicht mal gewusst hatte, dass es existierte. Sicher, sie hatte nie geleugnet, wie sehr ihr die Zurückweisung durch ihre Eltern zugesetzt hatte, aber Cat hatte nicht geahnt, dass es ihren tiefsten Kern verändert hatte.
Andererseits; vielleicht hätte sie dann nie überstanden, was ihr in den vergangenen Wochen zugestoßen war. Die Vergangenheit hatte sie geformt, abgehärtet, wie der Druck aus Kohle einen Diamanten machte. Ein versöhnlicher Gedanke, der Cat dazu brachte, zögerlich die Arme zu heben und um die Taille ihrer Mutter zu legen.
Patricia, die nur wenige Zentimeter größer war, presste die Nase in Cats Schulterbeuge und saugte den Geruch tief ein.
„Meine Kleine. Ich bin so erleichtert darüber, dass es dir gut geht“, hauchte sie atemlos, dann lehnte sie sich zurück und betrachtete das Gesicht ihrer Tochter eindringlich. „Du bist noch hübscher geworden.“
Während Cat noch verwirrt zur Kenntnis nahm, dass es keinen Kommentar zu den gefärbten Haaren und dem ganzen Metall an ihrem Körper gab, rief ihre Mutter über die Schulter.
„Robert! Robert, komm‘ schnell!“ In diesem Haus erhob man normalerweise nicht die Stimme.
Im nächsten Augenblick kam Cats Vater wie von der Tarantel gestochen die nobel geschwungene Treppe hinunter gestürzt. Auch er verwandelte sich zum Standbild, als er die verstoßene Tochter entdeckte. Sein aristokratisches Gesicht wurde leichenblass, der Griff ums Geländer verstärkte sich, als habe er Mühe nicht umzukippen.
„Cat?“ Den tiefen, sachlichen Tonfall kanntesie nur zu gut, doch das Zittern darin war neu. Schließlich stolperte der große, dunkelhaarige Mann auf sie zu und fiel ihr quasi um den Hals. Er murmelte unverständlich vorsich hin und betastete ihr Gesicht, die Schultern, konnte offensichtlich gar nicht fassen, sie direkt vor sich zu sehen. Als müsste er sich vergewissern, dass sie keine Fata Morgana war.
„Bist du es wirklich?“
„Ja“, antwortete sie automatisch, obwohl sie sich da nicht ganz sicher war. Die Cat von vor zwölf Jahren existierte nicht mehr und ihre Eltern waren mit dafür verantwortlich. Diese überschwänglich positive Begrüßung war sehr verwirrend, um nicht zu sagen, verstörend. Hatten die beiden denn vergessen, dass sie nichts mehr mit Cat zu tun haben wollten?
„Ich dachte,… ihr wolltet mich nie wieder sehen“, stieß sie erstickt hervor und sah zwischen ihren Erzeugern hin und her. Dareon bewegte sich leise, hielt sich aber vornehm zurück.
Robert und Patricia machten todunglückliche Gesichter, das Schuldbewusstsein stand ihnen in dicken Leuchtbuchstaben auf die Stirn geschrieben. Cats Mutter erbebte und biss sich auf die Lippen, ihr Ehemann legte fürsorglich einen Arm um sie. So hatte Cat die beiden noch nie gesehen. Sie waren immer distanziert gewesen, damit sie die distinguierte Fassade aufrecht erhalten konnten.
„Lasst uns doch ins Wohnzimmer gehen. Dort scheint mir der rechte Ort, deine Fragen zu klären.“
Cat nickte ihrem Vater zu und folgte ihm durch eine breite doppelflügelige Tür. Dareon blieb ganz nah. Sein Arm streifte den ihren und das erfüllte sie mit Kraft und Trost. Sie wusste nicht, was sie jetzt erwarten würde, wo schon die ersten paar Minuten in ihrem alten Heim ein echter Schocker gewesen waren.
Das Wohnzimmer war beinahe so groß wie eines auf Blackridge und wirkte nahezu unverändert. Cat hätte sich blind im Raum zurecht gefunden. Rechts eine riesige Fensterfront, die in den Garten führte, der jetzt im Dunkeln lag. An der Wand daneben ein Kamin aus luxuriösem Marmor, davor die vielteilige Sofagarnitur aus feinstem, dunklem Leder. Auch der samtrote Teppich hatte die Jahre überdauert, der Abnutzung getrotzt. Wahrscheinlich hatte er das immer noch tadellose Aussehen dem Butler zu verdanken, der eben an ihnen vorbei huschte. Vermutlich, um Tee und Gebäck für die Herrschaften und deren unverhofften Besuch zu holen.
So vertraut der Raum für Cat auch wirkte, als sie vor der Feuerstelle stehen blieb, dann nach oben schaute, wurde ihr ganz anders. Und das nicht, weil sie für den Bruchteil einer Sekunde auf ein Bett zurück versetzt wurde, an das man sie gefesselt hatte. Eine Sache in diesem Raum hatte sich doch verändert.
Oberhalb des Kamins hing ein Ölgemälde, das die ganze Familie Campbell abbildete. Cat in der Mitte auf einem Stuhl, Robert und Patricia zu beiden Seiten. Sie hatten jeweils eine Hand schützend auf die Schultern ihrer Tochter gelegt. Welch Hohn, schoss es ihr durch den Kopf, doch dann glitt ihr Blick tiefer. Auf dem Marmorsims reihte sich ein elektronischer Bilderrahmen an den nächsten. Sie führten eine Diashow vor und allesamt zeigten sie Cat in den verschiedenen Altersstufen, bis sie etwa 15 war. Die schmalen Freiräume zwischen den vielen Rahmen wurden von Kerzen und Blumen besetzt. Das Ganze hatte etwas von einem Schrein.
Vorsichtig hob Cat die Hand und berührte eine Fotographie, die bei ihrer ersten Reitstunde entstanden war. Sie hatte sich nicht sonderlich geschickt angestellt, doch das Pferd hatte sich sofort in sie verliebt und begeistert an ihr geschnuppert. So hatte das Aufsitzen gleich beimersten Versuch geklappt. Genau da hatte jemand den Auslöser betätigt.Sie hatte gar nicht gewusst, dass diese Aufnahme existierte.
Eine Berührung am Arm holte sie in die Realität zurück. Ihre Mutter blickte sie forschend an und hielt ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit in die Höhe.Cat nahm das Angebotene entgegnen, in der Hoffnung, dass es dazu gedacht war ihre Nerven zu beruhigen. Jap, eindeutig. Das Brennen im Rachen versprach den baldigen Eintritt der Wirkung.
Gestärkt drehte sie sich zu den anderen Anwesenden um und stellte fest, dass Dareon und ihr Vater samt ihren Gläsern auf der Couch gegenüber Platz genommen hatten. Patricia wollte ihr allerdings nicht von der Seite weichen.
„Was ist das?“ Sie wies über die Schulter zu dem kleinen Catlynn-Altar. „Und warum tut ihr so als wäre die verlorene Tochter endlich nach Hause gekommen? Ihr habt mich verlassen.“
Robert Campbell gab einen gequälten Laut von sich. „Liebes, es nicht so, wie du denkst. Wir mögen dir herzlos erscheinen, aber dich dort in der Anstalt zurück zu lassen war das Schwerste, das wir je getan haben.“
„Aber wieso habt ihr es dann gemacht?“ Diese alte Verletzung riss wieder auf und flutete Cats Nervensystem mit einem fiesen Schmerz. „Und wieso benehmt ihr euch jetzt, als wäre der Teufel hinter euch her?“
Patricia wollte erneut nach ihr greifen, aber Cat wich aus. Sie ging zur Sitzlandschaft hinüber und ließ sich in den weichen Sessel fallen, den sie schon als Kind meist gewählt hatte. Es war aufwühlend, wieder hier zu sitzen und das Gefühl des Verlorenseins kehrte ebenso prompt zurück.
„Als das mit diesem Jungen passierte….“
„Martin. Sein Name war Martin“, unterbrach Cat ihre Mutter nachdrücklich.
„Ja…. Als Martin gestorben ist und du steif und fest behauptet hast, du hättest ihn mit einem Kuss getötet, hielten wir es für das Beste, dich in eine psychiatrische Einrichtung zu bringen und den Kontakt abzubrechen. Es war der einzige Weg, deine Sicherheit zu gewährleisten. Wärst du bei uns geblieben, hätten sie dich irgendwann gefunden.“
Erstaunt horchte Dareon auf. „Wie bitte?“
„Wer hätte mich gefunden? Und… wartet mal, ihr wusstet, dass ich eine anormale Fähigkeit habe?“
Cats Mutter zögerte, doch Robert redete ihr gut zu. „Sie scheint es zu wissen, Schatz. Wir müssen ihr endlich die Wahrheit sagen.“
„Welche Wahrheit?“ Langsam verlor Cat wirklich die Geduld.
Lange schaute Patricia zu ihrem Mann hinüber. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, nickte sie zustimmend.
„Vor dreißig Jahren, es war kurz nach unserer Hochzeit und die Firma deines Vaters steckte noch in den Kinderschuhen, bekam er den Auftrag seines Lebens.“
„Was macht ihr Unternehmen genau?“ Dareon lehnte sich interessiert nach vorn und ließ die Flüssigkeit in seinem zierlich geformten Glas kreisen.
Cats Vater antwortete routiniert. „Wir fördern Rohstoffe. Damals beauftragte uns besagter Kunde, ein äußerst seltenes Metall zu finden und dann abzubauen. Es dauerte ewig, überhaupt eine Quelle zu entdecken, aber er zahlte horrende Summen.“ Er breitete die Arme aus. „All das hier verdanken wir ihm, doch das hatte seinen Preis…“ Er ließ die Hände in den Schoß fallen und senkte beschämt die Lider. „Schon vor deiner Geburt wurde mir klar, von wem ich mich wirtschaftlich abhängig gemacht hatte. Die Gruppe um meinen Auftraggeber bestand aus unsterblichen Wesen, die besondere Kräfte besaßen. Sie nannten sich Elevender.“
Cats Kopf schnellte zu ihrem Gegenstück herum, der sie ebenso alarmiert ansah. Sie konnten wohl beide nicht glauben, was sie da hörten. Doch Robert Campbell hatte noch mehr zu bieten.
„Als du sechs Jahre alt warst und uns aufgefallen ist, wie stark du trotz deiner geringen Körpergröße warst, verfestigte sich unser Verdacht zusehends, dass du auch eines dieser Wesen bist. Ich hatte von meinem Kunden einiges über diese Spezies erfahren und zählte bald eins und eins zusammen. Dann, ein paar Jahre später, ich war inzwischen zu einem wichtigen Mitarbeiter für meinen Auftraggeber geworden und er vertraute mir ohne Einschränkungen, begann seine Gruppierung, andere Elevender zu entführen. Ich weiß nicht, was mit ihnen geschah, aber sie tauchten nie wieder auf.“ Die Stimmte ihres Vaters erstarb und in Cat keimte ein undenkbarer Verdacht auf.
„Ich hatte Angst, sie würden dich uns wegnehmen, wenn sie jemals erführen was du bist. Ich habe versucht, auszusteigen, aber sie haben gedroht, meiner Familie etwas anzutun, wenn ich nicht weiter für sie arbeite und alles tue, was sie verlangen. Und dann, als Martin gestorben war und wir Gewissheit hatten, blieb uns nichts anderes übrig, als dich für verrückt erklären zu lassen.“
Robert Campbell stand auf und setzte sich auf den Couchtisch, direkt vor Cat. Ein absolut ungebührliches Verhalten in diesem Hause. Während er ihre Hände nahm, flehten seine Augen bereits um Verzeihung.
„Cat. Ich dachte, besser halten diese Elevender dich für geistesgestört, als dass sie erfahren, was du wirklich bist und damit ihr Interesse geweckt wird. Wir wollten dich beschützen und bitte glaub‘ mir, wenn ich sage, dass ich seither keine Nacht mehr ruhig geschlafen habe. Kein einziges Mal habe ich die Augen geschlossen, ohne mich zu fragen, wo du bist und ob es dir gut geht. Es war die schwierigste Entscheidung meines Lebens und als ich sie traf, tat ich es für deine Zukunft.“
Erneut sprachlos starrte Cat in die braunen Iriden, die ihr so vertraut waren und doch zum ersten Mal herzlich erschienen. Sie verarbeitete immer noch das Gesagte, versuchte den Sinn zu begreifen. Ihre Eltern hatten sie zwar verlassen, aber nur, um sie in Sicherheit zu bringen? Und sie hatten gewusst, dass auch Cat eine Elevenderin war. Das stieß offenbar nicht ab, trotzdem hatten sie es ihrer Tochter verschwiegen, die es mit diesem Wissen wesentlich leichter gehabt hätte. Und außerdem…wer war bloß dieser Auftraggeber, von dem ihr Vater sprach? Arbeitete er immer noch für ihn?
All diese Gedanken rasten durch ihren Kopf, ließen sie verwirrt zurück ohne dass sie eine Antwort gefunden hätte. Die Unordnung in ihrem Hirn wollte sich zunächst nicht lichten.
„Ist dieser Elevender immer noch Ihr Kunde?“, fragte ihr Gegenstück in die betretene Stille, da Cat stumm wie ein Fisch war. Als wäre Dareons Vater aus seinem Grab auferstanden, um ihr erneut die Stimme zu rauben.
Während Patricia sich neben ihren Gatten stellte, nickte der beklommen. „Deswegen ist es hier nicht sicher für dich, Catlynn. Wir vermuten seit langem, dass wir beobachtet werden.“
Dareon nannte die Adresse, wo er beinahe in die Luft gesprengt worden war. „Kennen sie diesen Ort, Mr. Campbell?“
Das blanke Erstaunen passte nicht zu einem derart souveränen Mann wie Cats Vater. Es verzerrte seine Gesichtszüge zu einer nicht wieder zu erkennenden Fratze. Schließlich senkte er das Kinn. „Ja. Dort bringen sie die Entführten hin. Ich war einige Male dort.“
Nach dem ganzen Chaos wirkte diese Aussage in Cats Gehirn wie eine Leuchtrakete. Brachte Licht in die trübe Suppe. Ihr Vater hatte für die Leute, besser gesagt Hegedunen gearbeitet, die aus ungeklärten Gründen seit Jahren Elevender verschleppten?
„Sir, hätten sie ein andermal Zeit, mit mir ausführlich über ihren Kunden zu sprechen?“
„Wieso?“
„Nun, sie müssen wissen, dass es nicht nur bösartige Elevender gibt.“
„Das haben wir uns selbst zusammen gereimt, da diese Leute Exemplare ihrer eigenen Sippe entführten.“
„Ihre Tochter und ich gehören einer Organisation an, die versucht, diese Machenschaften zu stoppen.“
Das Ehepaar blickte Cat an als wäre sie ein Geist, doch dann trat unverkennbarer Stolz in ihre Gesichter.
„Aus dir ist eine… wundervolle, starke Frau geworden. Mehr als wir uns je erhofft haben“, wisperte Patricia andächtig und schließlich gewann die Wärme, die sich vorher in Cats Herz eingenistet hatte, die Oberhand. Wirkte sogar noch besser als eine Leuchtrakete. Sie vertrieb alle Fragen und Sorgen fürs Erste und machte Platz für dieses befreiende Gefühl.
Ihre Eltern mochten vielleicht versnobbt und, mit Ausnahme von heute, kühl und ehrgeizig sein, doch sie hatten Cat geliebt. Taten es noch.
Ein riesen Stein fiel von ihrer Seele ab und mit einem Mal fühlte sie sich unwahrscheinlich leicht. Einfach geliebt, trotz ihres Makels. Oder wie sie jetzt wusste, ihrer Gabe. Das klang ja so viel besser….
Wie ferngesteuert stand Cat auf und warf sich an die Brust ihres Vaters. Mit der Rechten zog sie ihre Mutter zu einer Gruppenumarmung heran. Ein paar Tränen rollten über ihre Wange, genauso wie bei der Frau, die ihr die Sommersprossen vererbt hatte. Tja, offensichtlich hatte sie im Gesicht ihrer Mutter einen Ausblick auf die eigene Zukunft vor sich. Und zum ersten Mal fand sie das nicht gruselig.
Über die Schultern ihrer Eltern hinweg schenkte sie Dareon ein strahlendes, glückliches Lächeln, das er sogleich erwiderte. „Danke!“, formte sie lautlos mit den Lippen und er neigte den Kopf, als sei es eine Selbstverständlichkeit, seinen Lebenspartner dazu zu bewegen, sich mit seinen Erzeugern auszusprechen. War es vielleicht auch.
Cat schob ihre Eltern ein Stück von sich weg.
„Mom, Dad,…“ Sie wies mit dem Kinn zur Couch hinüber, wo der Wickinger-Elevender saß, der sie seit ihrer ersten Begegnung in seinen Bann gezogen hatte und dem sie jetzt mehr verdankte, als sie je vergelten konnte. Sie konnte ihn nur lieben, für den Rest ihrer Tage.
„Ich möchte euch meinen Mann vorstellen. Er ist mein Gegenstück. Mein Seelenverwandter.“
Und jetzt auch der Vater ihrer Kinder.
- Ende -
Liebe Leser,
ich möchte mich an dieser Stelle noch ein Mal ausdrücklich für eure Begleitung auf dieser Reise bedanken. Das Schreiben dieses Romans hat beinahe ein Jahr gedauert und ich hatte meine Höhen und Tiefen mit dem Text ;) Eure Klicks, Herzchen und Kommentare haben mich wieder aufgebaut, wenn es mal nicht so gut lief. Es klingt vielleicht kitschig, aber ihr wart der Wind unter meinen Flügeln ;) Obwohl man ja zum Selbstzweck schreibt, steigt die Motivation gehörig, wenn man merkt, dass es auch gelesen wird. Deshalb lasst euch gesagt sein, ohne euch wäre Gifted wahrscheinlich nie so weit gekommen.
Mittlerweile sind mir die einzelnen Figuren der Reihe derart ans Herz gewachsen, dass ich mir ein Leben ohne sie gar nicht mehr vorstellen kann. Immerhin spuckt meine Fantasie dieses Zeug nun schon eine ganze Weile aus und es ist einfach zur Gewohnheit geworden, meine Freizeit mit Träumen und Schreiben zu füllen. Und ich habe nicht die Absicht, mich allzu bald davon zu verabschieden. Der nächste Band wartet schon, rumort in meinem Kopf und ganz ehrlich, auch ich bin gespannt, wie es mit Aurelia, Pareios, Viktor, Xandra und Co weitergeht. Da gibt es so viele Möglichkeiten…. :D
Ich hoffe, ich konnte euch mit diesem Roman unterhalten und begeistern, euch aber auch eine andere Sichtweise zeigen und zum Träumen und Nachdenken anregen. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte eure Gesichter sehen, wenn ihr bei bestimmten Textstellen angekommen seid, aber naja, man kann nicht alles haben. Stattdessen hoffe ich auf rege Rückmeldung, ob ich noch etwas verbessern kann, ob man alles versteht oder Plotholes auftauchen. Wem so etwas auffällt, der gebe mir doch bitte Bescheid. ;) Natürlich freue ich mich aber auch über andere Meinungsäußerungen von euch.
Ich drücke die Daumen, dass ihr weiter dabei bleibt, wenn es mit „Gifted – Der Schatten in mir“ in die nächste Runde geht.
Auf ein baldiges Wiederlesen und Danke für alles,
Aven
Texte: Aven Miles (Obwohl teilweise von realen Vorkommnissen inspiriert, ist diese Geschichte frei erfunden und stellt weder tatsächliche Personen noch wahre Begebenheiten dar.)
Bildmaterialien: Cover by Glaux
Lektorat: Rechtschreibfehler und kleinere Ungereimtheiten werden im Lauf der Zeit noch ausgemerzt :)
Tag der Veröffentlichung: 17.01.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für all jene, die hinfallen und wieder aufstehen.
***Ich danke allen Lesern und Herzchen-Gebern für eure Aufmerksamkeit und hoffe, es gefällt euch. Kommentare oder Kritik sind immer gerne gesehen :)***