Cover

Vorwort

Sammelband:

 

Lunadar I: Das Erbe der Carringtons

&

Lunadar II: Der Orden der Meander

 

© 2016 Betty Schmidt

 

1. Auflage

 

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Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte sind vorbehalten. Das Buch darf ohne Einwilligung der Autorin weder vollständig noch in Teilen schriftlich, elektronisch oder in anderer Form reproduziert werden. Davon ausgenommen sind Buchrezensionen, -besprechungen und Ähnliches. Diese dürfen kurze Abschnitte zitieren.

Personen, Orte und Handlungen innerhalb des Buches sind frei erfunden und entstammen der Fantasie der Autorin. Ähnlichkeiten mit realen Personen, Orten oder Ereignissen sind Zufall und un­beabsichtigt.

 

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Buch Design:

Charming Designs - https://supr.com/charmingdesigns

 

Bilder im Cover:

Anja Kaiser/Fotolia.com, Clker.com, Graphicstock.com, Pixabay.com

 

Lektorat & Korrekturen:

Ulrike Fair, Lina Lieblich, Jutta Schmidt, Thomas Hohn, Alexandra Höchtl, Michaela Sipek, Juliette Manuela Braatz

 

weitere Mitwirkende:

Jessica Holmes, Arlette Heiner, Nicole Ziegler, Tina Barth, Steffi v. d. Driesch, Manfred Lukaschewski und die kreativen Mitglieder der Fantasy und Autoren Foren:

http://www.fantasy-schreibforum.com

& http://www.fantasy-foren.de

 

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Dieses E-Book beinhaltet Teil 1 und 2 der Fantasy Reihe Lunadar.
 
Bisher erschienen:

1. Das Erbe der Carringtons (Buch 1)
1.1 Überraschende Wendung (Extra-Szene zu Buch 1)
1.5 Sarahs Interview (Charakterinterview in Form einer Szene)
2. Der Orden der Meander (Buch 2)
Magische Weihnachten (Kurzgeschichte)
 
Aus Verständnisgründen wird empfohlen, die Bücher in der angegebenen Reihenfolge zu lesen.
 
Das Abenteuer beginnt ...
 
~ eine unerfahrene Hexe ~
~ eine Welt voller Magie, übernatürlicher Wesen und Gefahren ~
~ ein Geheimnis, das sie das Leben kosten könnte ~
~ eine Geschichte über Liebe, Freundschaft und Verrat ~
 
Nach dem Tod ihrer Mutter entwickelt Sarah Lewis magische Fähigkeiten. Fasziniert von der neuen Welt, die sich ihr offenbart, findet sie jedoch heraus, dass das Leben einer Hexe nicht nur verführerisch, sondern auch tödlich sein kann. Umgeben von Magie, Dämonen, Werwölfen, Vampiren und einem mysteriösen Verfolger, der sie einfach nicht in Ruhe lassen will, versucht sie, die Geheimnisse ihrer Vergangenheit aufzudecken. Darüber hinaus muss sie lernen, sich selbst zu verteidigen, um sich zu schützen und das Leben, und den Willen, des Mannes zu retten, in den sie sich mehr als nur ein bisschen verlieben könnte.
 
Das Abenteuer geht weiter ...
 
Nach ihrem turbulenten Eintritt in die Welt des Übernatürlichen möchte Sarah sich erholen und genießen, dass sie noch am Leben ist. Dazu gehören Dates mit Ryan, der Einzug in ihr neues Haus mit ihren besten Freundinnen und sich am Strand zu entspannen. Was sie nicht gebrauchen kann, sind die Feinde ihres Vaters und einen skrupellosen Jäger, für den alles Übernatürliche automatisch böse ist. Natürlich interessiert es niemanden, was sie möchte. Ryan ist distanziert, Damien schikaniert sie und bevor sie weiß, wie ihr geschieht, wird sie nicht nur verfolgt, sondern beobachtet auch noch einen Mord. Langweilig scheint das Leben einer Hexe zumindest nie zu werden.

 

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Altersempfehlung: 16+

 

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Warnung: Wer keine Cliffhanger mag, sollte den Epilog von Lunadar 2 erst kurz vor Erscheinen des dritten Teils der Reihe lesen. Das Buch an sich hat eine abgeschlossene Geschichte, der Epilog ist eine Überleitung zum nächsten Band, sozusagen eine Art Teaser.

 

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Vielen Dank an alle, die mir geholfen haben! Ohne Euch wären meine Bücher nicht möglich. Vor allem möchte ich mich bei meiner Mutter bedanken, die immer an mich geglaubt und mich unterstützt hat, und bei Ulrike, die mir ständig mit Rat, Ideen, Verbesserungsvorschlägen und Korrekturen zur Seite steht.

 

Another person who deserves a very big thank you is my American friend Jess, who was always there to listen to my troubles, helped me plot and agreed to make me a great homepage.

 

Darüber hinaus geht ein ganz dickes Dankeschön an Lina und Thomas, die mich kaum kannten und trotzdem einverstanden waren, für mich das Korrekturlesen zu übernehmen. Danke für eure ehrliche Meinung und all die wertvollen Tipps!

 

Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um mich auch bei euch, den Lesern, zu bedanken. Zum einen für eure Geduld und zum anderen für all die lieben Worte, die ich nach Teil 1 über Facebook, meinen Blog und auf anderen Wegen erhalten habe. Als Autorin freue ich mich natürlich, wenn meine Bücher gekauft werden. Noch wichtiger ist es mir allerdings, dass sie euch gefallen, vielleicht sogar ein Lächeln auf euer Gesicht zaubern. Deshalb freue ich mich ganz besonders über Rückmeldungen & Rezensionen. Vielen Dank! <3

 

Und nun wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen und eine zauberhafte Reise durch Lunadar!

Lunadar 1: Das Erbe der Carringtons

Lunadar

 

 

Band I

 

 

Das Erbe der Carringtons

 

 

Betty Schmidt

 

 

Fantasy-Roman

1. Magie

Es war bereits dunkel. Nur der sanfte Schein der Straßenlaternen erhellte den Bürgersteig ein wenig. Ein leichter Wind wehte. Sarah Lewis zog ihre Jacke enger, um sich warm zu halten. Mit jedem Schritt schien es jedoch kälter zu werden. Oder war es gar nicht die Kälte, die sie beunruhigte? Sie fühlte sich unsicher. Vielleicht hätte sie nicht allein nach Hause gehen sollen? Eigentlich brauchte sie nur fünf­zehn Minuten von der Party, auf der sie gewesen war, bis zu ihrem Studentenwohnheim. Jetzt kam es ihr sehr weit vor.

Verunsichert sah sie sich um. Nichts. Nur Dunkelheit. Sie war allein. Langsam ging sie weiter, lauschte angespannt. Da war doch etwas. Hinter ihr. Abrupt blieb sie stehen. Schritte verhallten. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Eine Gänsehaut ließ sie erschauern. Hastig suchte sie die nächtliche Straße ab. Nichts. Bildete sie sich das alles ein? Vermutlich. Sie seufzte über sich. Dennoch ging sie schneller. Das unangenehme Gefühl wollte nicht von ihr ablassen.

Plötzlich hörte sie ein Knacken. Direkt hinter ihr. Leise nur. Für sie klang es laut wie ein Pistolenschuss. Erschrocken wirbelte sie herum und starrte in das von Dreck verschmierte Gesicht eines Mannes. Unter seiner Kapuze konnte sie nur einen grimmigen Mund erkennen. Ihr Herz fing an, laut zu schlagen. Blitzschnell griff er nach ihrer Tasche. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Wäre sie nicht so überrascht gewesen, hätte Sarah ihm die Tasche aus Angst überlassen. Stattdessen klammerte sie sich mit aller Kraft daran fest.

 „Gib her, Göre“, rief der Mann und zog fester. Sarah roch seinen nach Alkohol stinkenden Atem.

Als sie immer noch nicht losließ, zog er ein Messer. Starr vor Angst, verfolgte sie die blitzende Klinge, die in rasender Geschwindig­keit näher kam. Sie kniff die Augen zu, ließ die Tasche los und betete, dass er sie nun in Ruhe ließ. Abgesehen von einem leichten Ziehen in ihrem Magen passierte nichts. Sie blinzelte zaghaft und sah sich um. Der Mann war verschwunden, die Gefahr gebannt.

Mit hämmerndem Herzen atmete Sarah ein und aus, bevor sie ihre Umgebung genauer wahrnahm. Verwirrt drehte sie sich einmal um ihre Achse. Der Raum wurde nur notdürftig von einer Straßenlampe durch das Fenster beleuchtet, dennoch erkannte Sarah, dass sie in ihrem Zimmer stand. Das Ziehen in ihrem Magen fiel ihr wieder ein. Als sie es gefühlt hatte, war ihr nicht klar geworden, was es bedeutete. Sie hatte sich unbewusst in Sicherheit gebracht. Erleichtert atmete sie auf, schaltete das Licht ein und setzte sich auf ihr Bett.

Das Gesicht in den Händen vergraben, saß sie für einige Minuten still. Es war wieder geschehen. Seit Monaten passierten ihr bereits seltsame Dinge. Sarah konnte sich die Ereignisse nicht erklären und hatte sich immer gewünscht, sie würden aufhören. Diesmal tat sie das nicht. Der Mann hätte auf sie einstechen und sie töten können, wenn sie nicht wieder auf mysteriöse Weise von einem Ort verschwunden und an einem anderen aufgetaucht wäre.

Es hatte kurz nach dem Tod ihrer Mutter begonnen, vor etwas über einem Jahr. Sarah erinnerte sich noch genau und sah es beinahe vor ihren Augen. Es war ein kalter, verregneter Tag gewesen und der Bus hatte - wie üblich - Verspätung. Eine Gruppe von Mitschülern tuschelte ein paar Meter entfernt. Ihren verstohlenen Blicken zufolge, ging es wahrscheinlich um den Tod von Sarahs Mutter. Es war die Sensation in Tohosé, dem kleinen Ort, in dem Sarah aufwuchs. Noch nie hatte es dort einen Raubmord gegeben. Viele schienen geradezu erpicht auf blutige Geschichten zu sein und zerrissen sich die Mäuler. Sarah hasste es, zusätzlich zu ihrem Verlust, auch noch im Mittelpunkt zu stehen. Sie wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Zum Glück wurden ihre Mitschüler mit einem Auto abgeholt, bevor sie dumme Fragen stellen konnten. Der Bus kam allerdings immer noch nicht, und Sarah sah ihre neugierige Nachbarin von Weitem kommen. In diesem Moment wünschte sie sich nichts mehr, als endlich zu Hause zu sein und sich in ihrem Bett verkriechen zu können. In der nächsten Sekunde stand sie in ihrem Zimmer.

Vorfälle wie diesen gab es im Verlauf der folgenden Monate mehrere. So sehr Sarah auch versuchte, nicht darüber nachzudenken oder sich einzureden, dass es eine plausible Erklärung gab, sie glaubte es nicht mehr. Einen Blackout zu haben oder sich in Gedanken zu verlieren, sodass die Zeit an einem vorbeiraste, war zwar möglich, aber dass es immer wieder passierte, war lächerlich. Wahrscheinlich würden die Meisten darauf bestehen, dass es nach dem Schock, den sie durch den Verlust ihrer Eltern erlebt hatte, nicht ungewöhnlich war, mal abzuschalten und nicht mitzubekom­men, wie die Zeit verging. Es klang auch einleuchtend. Allerdings gab es ein Problem bei dieser Erklärung. Egal wie weggetreten sie auch sein mochte, wenn sie wieder zu sich kam, müsste Zeit vergangen sein.

Sarah blickte zur Uhr auf ihrem Nachttisch. Vor zehn Minuten hatte sie die Party verlassen. Um bereits hier zu sein, hätte sie rennen müssen. Und wenn sie gerannt wäre, müsste sie außer Atem sein. Nein, sie war nicht gerannt, und es war auch keine Zeit verstrichen, zwischen ihrem Verschwinden von der Straße und dem Auftauchen in ihrem Zimmer.

Was passierte mit ihr? Stimmte etwas mit ihr nicht? War sie anders? Sofort fielen ihr Filme über Menschen mit Fähigkeiten ein: Hexen, Superhelden, Mutanten. Ein Schauer lief ihren Rücken hinunter. Sie konnte doch kein Mutant sein. Nein, bestimmt nicht. Handelte es sich vielleicht um … Magie. Sie hörte beinahe das Lachen ihrer Mutter, als sie das Wort dachte. Amanda Lewis hatte ihr bei jeder Gelegenheit mitgeteilt, was sie von Magie und dem Übernatürlichen hielt: absolut gar nichts. Geschichten über Zauberei, Vampire, Werwölfe und dergleichen gab es schon immer. Sarah fand diese interessant und aufregend. Als Kind glaubte sie sie sogar, aber ihre Mutter redete ihr das mit der Zeit aus. ‚Glaubst Du nicht, wir hätten schon längst Berichte und Videoaufzeichnungen über Vampire und andere Wesen gesehen, wenn es sie gäbe? Nein, das Übernatürliche ist nicht real und darüber auch nur nachzudenken, ist reine Zeitverschwen­dung“, sagte Amanda immer wieder. Sarah glaubte ihr. Warum auch nicht? Es kam ihr so vor, als wüsste ihre Mutter alles und die hätte ihre Tochter niemals angelogen. Aber vielleicht hatte sie es doch nicht besser gewusst? Sarah konnte sich eher mit dem Gedanken an Magie anfreunden als damit, eine Mutantin zu sein. Fantasy mochte sie mehr als Science Fiction.

Sarah seufzte. Mutmaßungen brachten nichts. Genauso wenig würde es ihr helfen, die Tatsache zu ignorieren, dass sie immer wieder von einem Ort verschwand und an einem anderen auftauchte. Es passierte und hörte sicher nicht auf, weil sie es sich wünschte. Nein, sie musste den Tatsachen ins Auge sehen, ihre Ängste überwinden und herausfinden, warum das alles geschah. Da es immer wieder passierte, egal wo sie sich aufhielt und wer sich in ihrer Nähe befand, deutete alles darauf hin, dass Sarah es selbst unbewusst auslöste. Sie musste mehr über Magie und übernatürliche Fähigkeiten in Erfahrung bringen. Vielleicht würde sie dadurch lernen, was auch immer sie tat, zu kontrollieren. Denn so konnte es nicht weitergehen. Was wenn sie es weiterhin aus Versehen machte und dabei etwas Schlimmes passierte? Sie könnte in einer Wand landen! Oder vor einem Auto. Sie atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Sie würde dieses ‚Verschwinden’ in den Griff bekommen! Einen Namen dafür zu finden, wäre auch nicht schlecht. Was machte sie da eigentlich? Beamen? Nein, das klang zu sehr nach Star Trek. Teleportation? Das hörte sich auch seltsam an, aber besser als beamen. Bis sie mehr darüber herausfand, würde sie ihre seltsame Fähigkeit Teleportieren nennen. Sarah lächelte. Jetzt hatte ihr Problem wenigstens einen Namen und erschien ihr seltsamerweise gleich erträglicher. Oder vielleicht war es erträglicher, weil sie ohne diese Fähigkeit wahrscheinlich niedergestochen worden wäre?

Sarah holte tief Luft und versuchte, nicht mehr daran zu denken, dass sie beinahe, wie ihre Mutter, das Opfer eines Raubmordes geworden wäre. Unruhig und ängstlich, stand sie auf und ging zum Fenster, um zu prüfen, ob es verschlossen war. Danach verließ sie ihr Zimmer, durchquerte den Gemeinschafts­raum der Wohneinheit, die sie sich mit zwei anderen Studentinnen teilte, und kontrollierte die Wohnungstür. Abgeschlossen. Sarah fasste in ihre Jackentasche und holte ihren Schlüssel heraus. Erleichtert schloss sie die Augen. Zum Glück hatte sie ihn in die Jacke und nicht ihre Handtasche gesteckt, die ihr gestohlen worden war. Sonst hätte sie mit Sicherheit kein Auge zugetan.

„Sarah?“, fragte plötzlich eine Stimme.

Erschrocken drehte Sarah sich um, schnappte nach Luft und versuchte, im Dunkeln etwas zu erkennen. Einen Moment später ging das Licht an.

„Selina! Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du dich nicht immer so anschleichen sollst?“

Selina Matar lächelte, und schon fühlte Sarah sich besser. Wie immer, wenn sie ihre Freundin sah, kam es ihr so vor, als würde die Sonne aufgehen. Sarah wusste nicht, wie sie das machte. Vielleicht hatte Selina die Gabe, andere aufzuheitern oder jeder reagierte so auf seine beste Freundin. Sarah wusste es nicht und es war ihr auch egal. Sie war einfach nur froh, nicht mehr allein zu sein.

„Bist du okay?“, fragte Selina. „Du siehst blass aus.“

„Ja, ja, alles in Ordnung“, erwiderte Sarah, zog ihre Jacke aus und strich sich ihre langen, braunen Haare aus dem Gesicht. „Ich bin nur etwas schreckhaft heute und mir ist kalt. Am besten mache ich mir einen Tee.“

„Gute Idee“, sagte Selina und lief zum Wasserkocher. „Ich könnte auch was Warmes vertragen.“

Sarah hängte ihre Jacke auf und ging zum Schrank, um Tassen zu holen. Warmer Tee würde ihr gut tun und ihr etwas geben, auf das sie sich konzentrieren konnte, während sie sich beruhigte. Selina würde sonst merken, dass etwas nicht stimmte. Sie wollte ihre Freundin nicht beunruhigen. Und außerdem, was sollte sie ihr erzählen? Ich wurde überfallen, aber es ist alles okay, ich habe mich in Sicherheit teleportiert? Ja, super Idee, das klang reif für die Klapsmühle.

„Sarah!“

Sie drehte sich um, als sie die beharrliche Stimme ihrer Freundin vernahm.

„Hörst du mir überhaupt zu? Ich rede mit …“ Selina brach ab und sah Sarah eindringlich an. „Was ist los? Und sag nicht wieder, dass alles in Ordnung ist. Du zitterst ja.“

Sarah blickte zu der Tasse, die sie aus dem Schrank geholt hatte und fest umklammert hielt. Sie zitterte tatsächlich. Schnell stellte sie das Gefäß weg, bevor sie es fallen ließ. Selina nahm ihre Hand und zog sie zum Sofa.

„Setz dich und erzähl. Vor mir kannst du sowieso nichts verheim­lichen, das weißt du doch.“

Seufzend sank Sarah auf die Couch. Selina kannte sie zu gut. Etwas vor ihr zu verheimlichen, war nicht leicht. Sie waren seit der ersten Klasse befreundet, hatten sich seitdem beinahe jeden Tag gesehen und fast alles zusammen gemacht. Nun teilten sie sich eine Wohneinheit im Studentenwohnheim. Niemand kannte Sarah besser. Sie hatte Selina immer alles anvertraut. Sie wünschte sich, es wäre immer noch so. Aber aus einem ihr unerfindlichen Grund, hatte sie es nicht übers Herz gebracht, ihrer besten Freundin von den seltsamen Vorkommnissen zu erzählen, die ihr seit Monaten schlaflose Nächte bereiteten.

„Ich wurde überfallen … jemand hat meine Tasche gestohlen … und er hatte ein Messer“, sagte sie auf einmal. Sie konnte oder wollte Selina nichts von ihren ‚Teleportations-Problemen’ erzählen, aber was sonst noch diese Nacht geschehen war, musste sie nicht verheimlichen. Wozu hatte man denn Freunde?

„Was?“, rief Selina. Schockiert rutschte sie auf dem Sofa näher. „Bist du verletzt? Was ist passiert? Hast du die Polizei gerufen?“

Als sie das beunruhigte Gesicht ihrer Freundin sah, bekam Sarah ein schlechtes Gewissen. So schlimm war es gar nicht gewesen, oder? Sie hatte diese ungewöhnliche Fähigkeit, mit der sie aus heiklen Situationen herauskam. Allerdings konnte sie diese nicht kontrollieren. Vielleicht war sie also doch in Gefahr gewesen?

„Nein, ich bin nicht verletzt“, sagte sie schnell, um Selina nicht weiter zu verunsichern. „Ich konnte entkommen.“ Sie schüttelte sich beim Gedanken daran, was alles hätte passieren können. Plötzlich war ihr eiskalt. Sie nahm eine Decke vom Ende der Couch und wickelte sich darin ein. Danach erzählte sie Selina detaillierter, was geschehen war … alles, außer wie sie entkam. Selina hörte besorgt zu, stellte ein paar Fragen und machte ihnen einen Tee.

Eine halbe Stunde später saßen die Freundinnen aneinan­der gekuschelt auf dem Sofa und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Es hatte Sarah gut getan, sich Selina anzuvertrauen, auch wenn sie einen Teil verschwieg. Zumindest fühlte sie sich weniger allein und nicht mehr so ängstlich.

„Du solltest Anzeige gegen Unbekannt erstatten“, unterbrach Selina die Stille. „Die Polizei findet den Mann bestimmt.“

„Ja, vielleicht“, murmelte Sarah und trank ihren Tee aus. Dann stand sie auf. „Jetzt gehe ich aber erst mal ins Bett. Ich bin müde.“

„Okay, aber wenn irgendwas ist, wenn du was brauchst, weißt du ja, wo du mich findest.“

„Ein Zimmer weiter?“, erwiderte Sarah mit einem Versuch zu lächeln, war sich aber nicht sicher, ob sie es schaffte.

„Gute Nacht“, rief Selina.

„Schlaf gut“, erwiderte Sarah wie automatisch, diesmal ein echtes Lächeln auf den Lippen.

„Und träum schön“, beendete Selina ihr nächtliches Ritual, das sie als Kinder gestartet hatten, wenn sie beieinander übernachteten.

Als Sarah ihre Zimmertür hinter sich schloss, fühlte sie sich wirklich besser. Sie zog ihren Schlafanzug an, schnappte sich ihren Laptop und legte sich auf ihr Bett. Es war an der Zeit, im Internet zu recherchieren. Vorher konnte sie sowieso nicht schlafen. Auch wenn es geholfen hatte, mit Selina zu reden, plagten sie immer noch hunderte von Fragen. Sie wollte endlich ein paar Antworten finden.

 

Am nächsten Tag machte sich Sarah nach ihrer letzten Vorlesung auf den Weg in die Altstadt. Bei ihrer Internetrecherche hatte sie einen Magie-Laden in Lunadar, der Stadt in der sie seit ein paar Monaten studierte und wohnte, entdeckt. Das Gebäude befand sich in der Nähe eines Restaurants, in dem sie und Selina öfter aßen. Seltsam, dass sie den Laden noch nie bemerkt hatte. Als sie davor stand, wunderte sie das allerdings nicht mehr. Der Eingang war in einer Seitengasse und ziemlich unscheinbar. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihn jemand zufällig fand. Wenn es mein Geschäft wäre, würde ich wenigstens ein größeres Schild über die Tür hängen, das Kunden anlockt, dachte sie. Aber das war nicht ihr Problem. Sie hatte ein anderes. Konnte ihr hier jemand helfen? Wahrscheinlich nicht. Aber nun bin ich hier und kann mich auch umsehen. Tief einatmend nahm sie ihren Mut zusammen und trat ein.

Von innen sah der Magie-Laden einladender aus. Mystische Symbole zierten die Wände, die hell-orange schimmerten. Sarah wusste nicht, was sie bedeuteten. Vermutlich sollten sie magisch aussehen und auf Kunden professionell wirken. Weiße und rötliche Lampen wechselten sich ab und gaben dem Raum eine angenehme Atmosphäre. Es roch nach Räucherstäbchen, aber nicht zu streng. Sarah relaxte und merkte, dass sie sich wohlfühlte. Noch vor wenigen Minuten war sie angespannt und unsicher gewesen, jetzt fühlte sie sich wie ausgewechselt. Wahrscheinlich war alles in diesem Laden Unsinn und Geldmacherei, aber wenigstens war es nicht unheimlich.

Sarah ging weiter in den Raum und sah sich genauer um. Eine Seite war voller Schmuck, darunter Armbänder, Ringe und Amulette. Auf der anderen Seite des Ladens befanden sich Regale mit Büchern. In der Mitte stand die Kasse auf einem Schränkchen, das Tarot-Karten und Zaubertrick Artikel enthielt. Sarah schmunzelte. Einer ihrer früheren Mitschüler hatte versucht, Mädchen mit Zaubertricks zu beeindrucken. Dauernd gab er vor, Geldstücke hinter Ohren hervorzuziehen. Wegen dieser Art von Magie war sie wirklich nicht hier. Aber was hatte sie erwartet? Zaubertränke und Hexen, die vor ihren Augen Zaubersprüche aufsagten, die auch noch funktionierten? Sie unterdrückte ein Lachen und schlenderte zu den Schmuck-Regalen. Sie wollte sich vor allem die Bücher genauer ansehen, war aber neugierig auf die Ketten. Selina hatte bald Geburtstag. Vielleicht würde sie hier etwas Schönes finden. Sie ignorierte die Armbänder und Ringe zugunsten der Amulette. Es gab einige mit Fledermäusen, Wölfen, Hexen auf Besen, Drachen und anderen mystischen Wesen. Sie lief weiter und die Anhänger veränderten sich. Nun gab es Symbole, von denen Sarah nur wenige kannte. Eines sah wie ein Kreuz mit einer Schlaufe aus, ein anderes wie drei Monde aneinander. Daneben gab es welche mit verschiedenen Arten von Sternen. Sarah erkannte ein Pentagramm. In einem Film, den sie vor Jahren gesehen hatte, wurde es als Symbol für Teufelsanbetung auf Mordopfern hinterlassen. Sarah erinnerte sich, wie ihre Mutter darüber gelacht hatte.

„Gute Wahl“, sagte eine Stimme, und Sarah bemerkte, dass sie nicht mehr allein war. Eine junge Frau in ihrem Alter, mit roten, lockigen Haaren, stand neben ihr und deutete auf die Kette, die Sarah in Gedanken verloren angestarrt hatte. „Das Pentagramm ist ein Schutzsymbol.“

Sarah musterte sie und fragte sich, ob sie wirklich daran glaubte.

„Außerdem ist es sehr beliebt und wird am meisten gekauft“, fügte die junge Frau hinzu.

Sarah mochte die offene Art ihres Gegenübers.

„Ariana Henley, ich arbeite hier. Der Laden gehört meiner Mutter.“ Sie streckte ihre Hand aus und Sarah ergriff sie.

„Sarah Lewis, und ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich die Kette nehme.“

„Ah, noch ein bisschen unschlüssig. Falls du Fragen hast, was die Symbole bedeuten, ich erkläre dir gern alles.“

„Ist es so offensichtlich, dass ich mich hiermit nicht auskenne?“, fragte Sarah.

„Ein wenig, aber ich habe dich hier auch noch nie gesehen. Die meisten unserer Kunden kenne ich bereits.“

Das macht Sinn, dachte Sarah. So versteckt, wie der Eingang des Ladens ist.

„Das Pentagramm ist also ein Schutzsymbol?“, hakte sie nach. „Ich habe in einem Film gesehen, dass es für Teufelsanbetung steht.“

Lachend schüttelte Ariana den Kopf. „Du solltest nicht alles aus dem Fernsehen glauben. Mit dem Teufel hat das Pentagramm eigentlich gar nichts zu tun. Allerdings benutzen es einige Unwissende in ihren Teufelsanbeter-Kulten. In dem Fall steht es aber andersrum.“ Sie nahm den Anhänger der Kette, die Sarah angeschaut hatte, und drehte das Symbol, bis die Spitze des fünf-zackigen Sterns nach unten zeigte.

„Du scheinst viel über Pentagramme und Magie zu wissen. Bist du … bist du eine Hexe?“, fragte Sarah vorsichtig und fühlte sich gleich darauf ziemlich dumm. Dass Ariana erneut lachte, machte die Sache auch nicht besser.

„Sehe ich etwa aus wie eine Hexe?“, erwiderte die Verkäuferin. „Abgesehen von den roten Haaren, die laut vieler Geschichten und Märchen natürlich auf eine Hexe hindeuten müssen.“

Sarah schmunzelte. Obwohl sie sich bescheuert vorkam, gab ihr Ariana nicht das Gefühl, sich über sie lustig zu machen. Bestimmt wurde sie als Verkäuferin eines Magie-Ladens nicht zum ersten Mal gefragt, ob sie eine Hexe sei und fand das Ganze nur noch amüsant.

„Naja, eine Warze hast du nicht und auch keinen Besen in der Hand, auf dem du davonfliegen könntest“, witzelte Sarah. Natürlich glaubte sie nicht, dass auch nur eines der Hexen-Stereotype stimmte. Falls sie selbst eine Hexe war, widerlegte sie diese. Eine Warze hatte sie zum Glück nicht auf der Nase, ihre Haare waren dunkelbraun, nicht rot, und auf einem Besen konnte sie schon gar nicht fliegen.

Ariana lachte abermals. „Gut, dass wir das geklärt hätten. Und um auf deine Frage zurückzukommen, nein, ich bin keine Hexe, aber ich weiß eine Menge über Magie und das Übernatürliche.“

„Glaubst du auch daran?“, wollte Sarah wissen. Die Rothaarige bedachte sie mit einem Blick, den Sarah nicht deuten konnte. Es kam ihr fast so vor, als würde sie versuchen, direkt in sie hineinzusehen. Sarah wüsste zu gern, was in diesem Moment in Ariana vor sich ging. Gedankenlesen wäre eine hilfreiche Fähigkeit. Das Einzige, was Sarah bisher, mehr oder weniger aus Versehen, hinbekommen hatte, war allerdings Teleportieren. Und dann war da noch das Schweben. Sie war schon öfter aufgewacht und hatte das Gefühl gehabt, ein paar Zentimeter über ihrem Bett zu schweben. Sobald sie die Sache genauer untersuchen wollte, war sie jedoch zurück auf die Matratze gefallen und konnte sich, sobald sie richtig wach war, nie sicher sein, ob sie alles nur geträumt oder sich eingebildet hatte. Aber egal, ob sie schweben konnte, diese Fähigkeit würde ihr auch nicht helfen, herauszufinden, was die Verkäuferin des Hexen-Ladens dachte.

„Was ich glaube, ist bedeutungslos“, antwortete diese nach einer Weile und bedachte Sarah mit einem verschwörerischen Blick. „Wichtiger ist, was die Kunden annehmen.“

Sarah runzelte die Stirn. Wollte sie damit andeuten, dass sie alles vertreten würde, solange es ihr half, etwas zu verkaufen? Falls sie das beabsichtigte, glaubte Sarah ihr nicht. Ihr Gefühl wies eher darauf hin, dass Ariana ihr etwas verheimlichte. Wusste sie mehr über Magie, als sie zugab? Hatte sie vielleicht sogar gelogen und war doch eine Hexe?

Bevor Sarah genauer nachfragen konnte, wurde sie von der Türglocke abgelenkt. Eine ältere Frau kam in den Laden. Als sie Sarah erblickte, nickte sie ihr auf eine seltsame Weise zu. Es kam Sarah beinahe so vor, als würde die Frau glauben, sie zu kennen oder als würden sie ein Geheimnis teilen und sich wissend zunicken. Sie wusste nicht, wie sie auf diese Gedanken kam, aber sie erinnerte sich, dass ihr in Lunadar schon zweimal jemand auf die gleiche Weise zugenickt hatte. Sie kannte die Personen nicht und war sich unsicher, ob sie jemanden neben oder hinter ihr gemeint hatten. Diesmal befand sich allerdings niemand außer ihr und Ariana, die mit dem Rücken zu der Frau stand, im Laden. Sarah strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte die Frau an. Wahrscheinlich war sie einfach ein freundlicher Mensch und hätte jedem, den sie in diesem Laden antraf, auf die gleiche Weise zugenickt. Sarah schüttelte ihren Kopf über ihre seltsamen Gedanken und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Ariana. Die hatte sich jedoch zu der Kundin gedreht.

„Frau Karras, schön Sie wiederzusehen. Ihre Bestellung ist da. Ich hole sie gleich, oder kommen Sie am besten mit.“ Sie deutete auf eine Tür hinter der Kasse, die Sarah erst jetzt bemerkte. Bevor sie ging, drehte Ariana sich noch mal zurück. „Ich bin gleich wieder da. Du kannst dich so lange ja weiter umsehen.“

Sarah nickte und beobachtete, wie Ariana und die Kundin verschwan­den. Für einen Moment wurde sie neugierig, was sich hinter der Tür befand, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Bestimmt handelte es sich um ein Hinterzimmer, das als Lagerraum diente. Sie drehte sich wieder zu den Ketten und nahm zwei mit Pentagrammen. Eine davon würde sie Selina zum Geburtstag schenken und die andere selbst behalten. Falls Ariana recht hatte und das Pentagramm ein Schutzsymbol darstellte, konnte es nicht schaden, eines zu haben. Wenn nicht, sahen die Ketten zumindest schön aus.

 

Nachdem Sarah sich mindestens eine halbe Stunde bei den Büchern umgesehen hatte, kamen Ariana und Frau Karras zurück. Die ältere Frau bedankte sich und verließ den Laden. Was auch immer die beiden im Hinterzimmer gemacht hatten, hatte doch länger gedauert. Sarah fand das nicht weiter schlimm. Es hatte ihr genügend Zeit gegeben, in Ruhe die Regale durchzustöbern. Einige von den Büchern schienen interessant zu sein. Sie suchte sich zwei davon aus: „Einführung in die Welt der Magie“ und „Magische Wesen von A bis Z und deren Fähigkeiten“. Für den Anfang würde sie sich die beiden anschauen und danach überlegen, ob sie noch welche kaufen sollte. Vielleicht standen in diesen auch Empfehlungen für weitere Bücher. Falls sie überhaupt hilfreich sind und nicht nur unnützen Schrott enthalten, dachte Sarah skeptisch. Auch wenn ihre Fähigkeiten etwas mit Zauberei zu tun hatten, bedeutete das noch lange nicht, dass alles, was sie über Magie und das Übernatürliche las, stimmte. Trotzdem musste sie mit ihren Recherchen irgendwo anfangen.

An der Kasse entdeckte Sarah ein Schmunzeln auf Arianas Gesicht.

„Du hast wirklich keine Ahnung vom Übernatürlichen, was? Wieso willst du dich darüber informieren?“, wollte die Verkäuferin wissen, als sie die Preise in die Kasse tippte.

„Reine Neugier“, erwiderte Sarah ausweichend. Es war auch nicht gelogen. Nachdem sie den Magie-Laden gesehen hatte, war sie neugieriger als zuvor, ob das Übernatürliche existierte und welche Gerüchte stimmten. Ihre persönlichen Gründe behielt sie für sich. Sie mochte Ariana zwar, kannte sie aber nicht.

Ariana schien nicht überzeugt zu sein, nickte jedoch und packte die Bücher und Ketten ein. Nachdem Sarah bezahlt hatte, reichte sie ihr den Beutel mit den Einkäufen, zögerte aber.

„An deiner Stelle würde ich mich von alldem fernhalten.“ Sie deutete im Laden herum.

Überrascht sah Sarah sie an. Was sie überraschte, war allerdings nicht, dass jemand, der in einem Laden arbeitete und versuchen sollte, mehr zu verkaufen, ihr riet, nicht wiederzukommen, sondern wie sie es sagte. Sarah wusste nicht einmal, was sie an Arianas Worten so besonders fand, aber sie lösten eine Gänsehaut bei ihr aus.

„Soll das eine Warnung sein?“, fragte sie zaghaft.

Ariana starrte sie an, aber Sarah konnte nicht deuten, was sie dachte. Nach einem Moment schien die Verkäuferin sich eines Besseren zu besinnen und schüttelte leicht den Kopf, als würde sie sich amüsieren.

„Ich wollte dir nur einen Tipp geben, nicht deine Zeit zu ver­schwenden.“

Sarah runzelte die Stirn. Aus einem ihr unerfindlichen Grund glaubte sie Ariana kein Wort. Die Warnung hatte ehrlich geklungen, der Tipp nicht im Geringsten.

„Ich entscheide, womit ich meine Zeit verschwende“, erwiderte sie, drehte sich um und ging. Als sie den Laden verließ, bekam sie ein schlechtes Gewissen. Eigentlich mochte sie Ariana. Davonzurennen war unfreundlich und half ihr kein bisschen. Vielleicht hätte Ariana ihr mehr verraten, wenn sie öfter in den Laden gekommen wäre und sie sich besser kennengelernt hätten. Diese Möglichkeit hatte sie sich mit ihrem Verhalten vermutlich ruiniert. Aber falls sie noch einmal in den Laden gehen sollte, konnte sie immer noch versuchen, mit einer Entschuldigung alles wieder hinzubiegen.

In Gedanken verloren, schenkte Sarah ihrer Umgebung keine Beachtung und stieß beinahe mit einer Gruppe junger Leute zusammen, die in der Nähe des Ladens standen. Sie hielt gerade noch rechtzeitig an und machte einen Bogen um die Jugendlichen. Dabei hörte sie, wie ein Mädchen sich verabschiedete: „Bis heute Abend im Pandora.“ Daraufhin lief sie zum Magie-Laden und verschwand darin, während ihre Freunde weitergingen. Pandora, überlegte Sarah. Hatte sie nicht schon mal davon gehört? War das nicht der Club, in den ihre Mitbewohnerin Kelly letzte Woche mit ihrem neuen Freund gehen wollte? Kelly meinte, es wäre ein Geheimtipp. Vielleicht sollte sie ihre Freundin danach fragen. Wenn jemand, der in einem Magie-Laden einkaufte, dorthin ging, konnte sie dort vielleicht Antworten finden. Einen Versuch war es wert.

2. Pandora

Das Pandora war ganz anders, als Sarah es sich vorgestellt hatte. Die meisten angesagten Clubs befanden sich in Randgebieten Lunadars oder in Vororten. Sarah hatte ein Gewerbegebiet, eine ehemalige Lagerhalle, einen Keller oder vielleicht ein neumodisches Haus erwartet. Das Pandora hingegen lag mitten in der Altstadt, nur ein paar Straßen vom Magie-Laden entfernt. Als neu konnte das Bauwerk nicht bezeichnet werden. Im Gegenteil, es war sehr alt und bestimmt historisch wertvoll. Es würde Sarah nicht überraschen, zu erfahren, dass es unter Denkmalschutz stand. Umso mehr erstaunte es sie, einen Club in dem zweistöckigen Gebäude vorzufinden, das mit seinen Erkern, Pfeilern und zwei Türmen eher wie eine altertümliche Villa oder ein Herrenhaus aussah. Ein Museum wäre hier weitaus passender. Wahrscheinlich stellte das Pandora aus genau diesem Grund einen Geheimtipp dar. Wer nicht wusste, dass das Gebäude einen Club beherbergte, würde hier sicher nicht nach einem suchen.

„Sarah, komm endlich! Wir sind nicht hergekommen, um das Pandora von außen zu bewundern“, rief Kelly schmunzelnd, als sie mit ihrem Freund Frank zum Eingang lief.

Sarah folgte ihnen. Die beiden hatten darauf bestanden, mit ihr zu gehen. Zum Glück war wenigstens Selina zu beschäftigt, da sie eine Hausarbeit schreiben musste. So gern Sarah ihre beste Freundin auch dabei gehabt hätte, sie wollte nicht, dass Selina herausfand, warum sie sich für den Club interessierte. Sarah wusste nicht einmal, wieso es ihr so wichtig war, dass sie nichts von ihren seltsamen Fähigkeiten erfuhr. War es ihr peinlich? Wollte sie nichts erzählen, solange sie sich nicht sicher sein konnte, was vor sich ging? Hatte sie Angst, dass ihre Freundin sie für verrückt halten würde? Oder möglicherweise sogar für einen Freak, falls sie ihr glaubte? Selina war immer für sie da gewesen. Sarah wollte nicht, dass sich das änderte. Sie hatte schon ihre Mutter, ihren Stiefvater und ihren Vater, den sie nie kennengelernt hatte, verloren. Selina war nun definitiv der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Sarah brauchte sie und konnte nicht riskieren, dass sie davonlief oder in etwas Gefährliches hineingezogen wurde. Sie hatte genügend Filme über Hexen, Werwölfe, Vampire und dergleichen gesehen, in denen Menschen starben, sobald sie herausfanden, dass das Übernatürliche existierte. Ihre Freundin aus alldem herauszuhalten, wäre mit Sicherheit besser. Was Selina anging, war das Pandora nur ein Club, in den Kelly sie schleppte, und nichts Besonderes.

Dass das Pandora nichts Besonderes war, war allerdings eine Lüge. Sobald sie ihre Jacken abgegeben hatten und einen größeren Raum betraten, kam Sarah aus dem Staunen nicht mehr heraus. Von innen beeindruckte sie das Gebäude fast noch mehr. Es wirkte beinahe wie eine Burg oder gar ein Schloss. Säulen zierten Durchgänge und Treppen. Wasser plätscherte in Brunnen und Statuen ergänzten das atemberaubende Ambiente. Dennoch hatte der Innenausstatter es geschafft, die altertümliche Atmosphäre mit der eines modernen Clubs perfekt zu vereinen. Indirekte Lichtquellen beleuchteten die Figuren und verliehen dem dunklen Raum das gewisse Etwas. Das Wasser der Brunnen schimmerte in einem sanften Rot-Orange. Wellen spiegelten sich glitzernd an der Decke. Eine Frauenstatue wurde in ein warmes Gelb getaucht. Die Farbe umspielte ihre weiblichen Formen und ließ sie beinahe lebendig erscheinen. In der Hand hielt sie eine leicht geöffnete Schatulle. Ein Leuchten kam aus dem Inneren. Die Büchse der Pandora, dachte Sarah, bevor sie von einem Engel abgelenkt wurde, der zu ihrer Rechten mit ausgebreiteten Flügeln im Raum zu schweben schien. Als sie sich nach links drehte, entdeckte sie eine Elfe, die sich graziös über eine Tulpe beugte und daran schnupperte. Für einen Moment glaubte Sarah, den Duft der Blume zu riechen. Beeindruckt atmete sie ein und wusste kaum, wohin sie schauen sollte.

„Genau so hab ich bei meinem ersten Besuch auch ausgesehen“, sagte Kelly grinsend. Daraufhin drehte sie sich zu Frank, der lachend ihre Hand nahm und sie hinter sich herzog. Mit strahlenden Augen lief Sarah ihnen nach. Sie beeilte sich, obwohl sie sich keine Sorgen darüber machen musste, die beiden zu verlieren und nicht mehr zu finden. Mit ihren grünen Haaren, die hochgegelt in alle Richtungen standen, war Kelly kaum zu übersehen.

„Es gibt drei Räume hier unten und mehrere kleinere im ersten Stock“, informierte ihre Freundin sie und deutete nach oben. Sarah folgte der Geste. Der Innenbereich war weiträumig offen, wodurch sie Gänge mit eleganten Balustraden und kleinen Balkonen sehen konnte, die über die Tanzfläche reichten.

„Und den VIP Bereich im Keller“, fügte Frank hinzu und zeigte auf eine Treppe am Ende des Flures. „In den ich schon immer mal wollte. Aber ich habe noch nicht herausgefunden, wie man eine Einladung dafür bekommt.“ Er klang geknickt.

„Wenn wir oft genug herkommen, schaffen wir es bestimmt irgendwann“, versicherte Kelly ihm. „Aber jetzt holen wir uns erst mal was zu trinken.“ Sie zog Frank mit sich in Richtung Bar. Sarah folgte ihnen, blickte aber noch einmal zur Treppe, die zum VIP Bereich führte. Eine Kette hing davor und ein ‚Türsteher’ stand daneben. Allerdings sah er mit seiner kleinen, zierlichen Figur nicht wirklich wie einer aus. Dennoch strahlte er Autorität aus. Seltsam. Ein Pärchen versuchte, nach unten zu gehen. Als er sie abwies, gingen sie ohne Proteste weiter.

„Sarah, was willst du trinken?“

Blinzelnd richtete Sarah ihre Aufmerksamkeit auf ihre Freunde und lief zu ihnen. Sie konnte sich später genauer umsehen.

 

Nach einem Rundgang durch den Club, einem Cocktail und einem Abstecher auf die Tanzfläche hatte Sarah noch immer nichts Außergewöhnliches entdeckt. Das Pandora war zwar anders als alle Clubs, die sie bisher kannte, und hatte eine mystische Atmosphäre, aber das bedeutete offenbar nicht, dass es hier auch Hexen oder andere übernatürliche Wesen gab, abgesehen von den Engel- und Feenstatuen. Mit einem Seufzer ging sie zu Kelly und sagte ihr, dass sie eine Tanzpause brauchte und zur Toilette gehen würde.

Das Bad befand sich am anderen Ende des Clubs. Auch auf dem Weg dorthin nahm sie nichts Besonderes wahr. Das Mädchen aus dem Magie-Laden, das vom Pandora gesprochen hatte, entdeckte sie nirgends. Vermutlich konnte Sarah sie im Gedränge nicht finden oder sie hatte ihre Pläne geändert. Und selbst wenn sie hier war, nicht jeder, der in einen Magie-Laden ging, musste eine Hexe sein. Wieso hatte Sarah sich überhaupt eingeredet, dass sie im Pandora etwas Ungewöhnliches finden würde? Anscheinend war sie so erpicht darauf, Antworten zu finden, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Selbst wenn es sich bei dem Mädchen um eine Hexe handelte, wieso sollte das bedeuten, dass der Club, in den sie ging, voller übernatürlicher Wesen war? Viel wahrscheinlicher wäre, dass Hexen, wie jeder andere auch, hingingen, wo es ihnen gefiel, nicht an einen speziellen Ort für Übernatürliches.

Auf dem Rückweg beschloss Sarah, sich einen netten Abend zu machen und für heute ihre Fragen beiseite zu schieben. Dann kam sie an der Treppe vorbei, die in den VIP Bereich führte. Stirnrunzelnd beobachtete sie, wie sich ein Pärchen mit dem ‚Türsteher’ unterhielt. Danach verschwanden die beiden hinter der Absperrung. Sie hatte doch noch nicht den ganzen Club ausgekundschaftet. Aber wie sollte sie nach unten gelangen? Frank kam seit über einem Jahr her und hatte es noch nicht geschafft herauszufinden, wie man eine Einladung in den VIP-Bereich bekam. Sie würde es bestimmt nicht bei ihrem ersten Besuch hinbekommen. Vielleicht sollte sie jemanden fragen, der hinunterging? Oder noch besser, sie musste jemanden finden, der sie mitnahm. Kaum hatte sie das gedacht, fiel ihr Blick auf einen jungen Mann, der direkt auf die Treppe zuging. Er war groß, ganz in schwarz gekleidet, hatte lange, schwarze Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, und einen gut gebauten Körper. Das Stereotyp ‚groß, dunkel und mysteriös’ passte auf ihn wie die Faust aufs Auge. Er sah auf jeden Fall gut aus, auch wenn Sarah nicht auf düstere Typen stand. Mit ihm zu flirten, um in den VIP-Bereich zu kommen, wäre sicher nicht schlimm. Das einzige Problem war, ihn anzusprechen, und das, bevor er verschwand. Sie wünschte sich bestimmt zum hundertsten Mal, mehr wie Selina zu sein. Ihre beste Freundin hatte nie Probleme, jemanden kennenzulernen und meistens musste sie nicht einmal den ersten Schritt machen. Egal wohin sie kam, Selina stand im Mittelpunkt und das, ohne es zu wollen. Sie zog mit ihren gold-blonden Haaren, ihrer tollen Figur, ihrem umwerfenden Lächeln und ihrer fröhlichen und offenen Art jeden in ihren Bann. Sarah wusste, dass sie auch eine gute Figur hatte und nicht schlecht aussah, aber Selinas Selbst­bewusstsein und Fähigkeit auf Menschen zuzugehen, besaß sie nicht. So schwer konnte es aber nicht sein, jemanden anzusprechen. Selina würde sie auslachen, wenn sie wüsste, wie sie sich anstellte. Seufzend beschloss Sarah ihn zu fragen, ob er etwas mit ihr trinken wolle und das, bevor er die Treppe hinunterging. Der ‚Türsteher’ hatte ihm schon zugenickt und die Absperrungskette zur Seite getan.

Als Sarah loslaufen wollte, drehte sich der mysteriöse Unbekannte um und sah zu ihr. Sie hatte das Gefühl, als würde er direkt in sie hineinsehen, um ihre tiefsten und dunkelsten Geheimnisse zu erfahren. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus. Sie fühlte sich unsicher und wollte am liebsten davonlaufen, aber ihre Füße schienen am Boden angefroren zu sein. Sie schaffte es nicht, auch nur einen Schritt zu machen. Einen Moment später drehte sich der Fremde weg und ging die Treppe hinunter.

Verdutzt schnappte Sarah nach Luft. Hatte sie sich seinen hypnotischen Blick eingebildet? Hatte er nicht sie betrachtet, sondern sich nur umgesehen? Denn wieso sollte er sie so intensiv anstarren und anschließend verschwinden? Oder gefiel sie ihm nicht? Egal was geschehen war, sie hatte ihre Chance verpasst, den Fremden dazu zu bringen, sie mitzunehmen. Toll gemacht, dachte sie zähneknirschend. Jetzt musste sie auf den Nächsten warten, der allein in den VIP-Bereich wollte, und hoffen, dass sie sich nicht wieder genauso blöd anstellte. Sie wollte sich gerade nach einem Kandidaten umschauen, merkte aber, wie der ‚Türsteher’ ihr zuwinkte. Überrascht sah sie ihn an. Er hielt die Kette noch in der Hand und schien zu warten, bis sie durchlief. Oder meinte er jemand anderen, der hinter ihr stand? Nein, sie würde sich nicht umsehen und ihm zeigen, dass sie unten nichts verloren hatte. Zielstrebig lief sie los. Den ‚Türsteher’ anlächelnd, straffte sie ihre Schultern und verschwand hinter der Absperrung, als wäre es etwas ganz Gewöhnliches für sie.

Als sie hinabstieg, holte Sarah tief Luft. Es gab keinen Grund, nervös zu sein. Wahrscheinlich würde sie nichts Besonderes finden. Sie hatte den Gedanken kaum beendet, als die Treppe eine Kurve machte und ihr einen ersten Blick auf den VIP-Bereich gab. Ihre Augen weiteten sich. Der Atem stockte ihr. Es wimmelte nur so von seltsamen Kreaturen. Was waren sie? Dämonen? Es konnten keine Menschen sein. Sarah fühlte es instinktiv. Die Meisten hätten sicher angenommen, dass eine Kostümparty stattfand. Sarah glaubte das nicht.

Mit flauem Gefühl im Magen ging sie die letzten Stufen hinunter und zupfte nervös an einer Haarsträhne herum. Tief durchatmen, ermahnte sie sich. Die Wesen taten nichts Ungewöhnli­ches. Außerdem befanden sich auch Menschen in der Menge und unterhielten sich mit ihnen. Das deutete darauf hin, dass alles in Ordnung war. Hörner, Schuppen und grüne Haut machten die Wesen nicht furchteinflößend, nur anders.

Als Sarah an einer menschlich aussehenden Frau vorbeilief, merkte sie, dass diese spitze Ohren hatte. Vielleicht waren die ‚Menschen’ hier unten doch keine Menschen? Wo war sie nur gelandet? Sie fühlte sich, als würde sie von allen Seiten angestarrt. Ihr Atem ging schneller. Ihr Herz schlug immer lauter.

„Darf ich dich zu einem Drink einladen? Oder vielleicht einem Snack?“

Sarah wirbelte herum und starrte in das Gesicht eines Mannes. Er wirkte menschlich, bis er sie anlächelte. Er hatte zwei lange, spitze Zähne. War das etwa … ein Vampir? Und was meinte er mit Drink oder Snack? Er wollte doch nicht andeuten, dass sie der Snack sein sollte, oder? Sie schluckte und überlegte fieberhaft, wie sie aus der Situation wieder herauskam. Dann hörte sie eine weitere Stimme.

„Hey Marc, such dir jemand anderen zum anbaggern. Wir haben kein Interesse an untoten Blutsaugern.“

Erleichtert merkte Sarah, dass die Stimme zu einer normal aussehen­den Frau gehörte. Nein, sie sah nicht nur normal aus, sondern umwerfend. Sie hatte eine Model-Figur, helle Haut, die in starkem Kontrast zu ihren langen, schwarzen Haaren stand, rote Lippen und trug ein dazu passendes, dunkelrotes Kleid mit einem sexy Schnitt. Sarah fühlte sich plötzlich wie eine graue Maus in ihren dunkelblauen Jeans und dem schwarzen Trägeroberteil, das zwar leicht durchsichtig schimmerte, aber im Gegensatz zu dem Outfit ihres Gegenübers langweilig aussehen musste.

Marc, der anscheinend wirklich ein Vampir war, verdrehte die Augen und ging grummelnd davon. Sarah glaubte, etwas wie „arrogante Hexen“ herauszuhören. Hexen? Hatte sie tatsächlich eine gefunden? Sie blickte zu der jungen Frau, die sie nicht nur vor einem Vampir gerettet hatte, sondern möglicherweise auch genau das war, wonach sie suchte. Was machte es da schon, wenn sie Sarah mit ihrer exotischen Schönheit in den Schatten stellte?

„Danke für die Rettung“, sagte sie.

„Kein Problem. Wir Hexen müssen doch zusammenhalten, vor allem gegen Blutsauger. Nicht dass Marc besonders gefährlich wäre. Er wurde erst vor ein paar Monaten verwandelt und ist ohnehin nicht der Schlauste. Er hat wahrscheinlich nicht mal gegen die meisten Prima Vista ne Chance.“

Verblüfft starrte Sarah sie an. „Wie … wie kommst du darauf, dass ich eine Hexe bin?“, fragte sie leise. „Und was sind pri… ?“

„Prima Vista“, kam die Antwort mit einem Stirnrunzeln. „Und ich habe es natürlich gespürt. Du verbirgst dein magisches Talent ja nicht. Aber davon scheinst du keine Ahnung zu haben, oder?“ Ihre Augen wurden immer größer. „Unglaublich, ich habe noch nie eine untrainierte Hexe getroffen. Wie hast du nur bis jetzt überlebt?“ Als sie Sarahs Gesichtsausdruck betrachtete, schmunzelte sie und legte einen Arm um ihre Schultern.

„Sorry, das war nicht gerade nett von mir. Komm einfach mit. Ich stelle dich meinen Hexen-Freundinnen vor. Zusammen können wir deine Fragen beantworten. Du hast bestimmt tausende. Ich heiße übrigens Lorraine. Lorraine Karras.“

 

Sarah blickte in die Runde. Wie versprochen stellte Lorraine sie ihren Freundinnen vor. Sarah sah von einer zur nächsten und versuchte, sich ihre Namen zu merken. Kurze, dunkelblonde Haare: Nadira. Lange, glatte, hellblonde Haare: Elaine. Dunkelbraune Haare: Joanne. Wellige, gold-blonde Haare: Cassandra. Sie waren alle ungefähr in Sarahs Alter, manche vielleicht ein bisschen jünger, andere ein bis zwei Jahre älter.  Genau wie Lorraine trugen sie sexy Kleider und sahen umwerfend aus. Sarah schluckte und blickte an sich hinunter. Im nächsten Moment bemerkte sie, dass sie von allen Seiten angestarrt wurde und Lorraine gerade aufhörte zu sprechen. Was sie gesagt hatte, hatte Sarah nicht mitbekommen. Sie lächelte unsicher, woraufhin Lorraine sie auf einen leeren Stuhl zuschob und sich selbst einen vom Nachbartisch holte.

„Du hast echt keine Ahnung von Magie und dem Übernatürli­chen?“, fragte Joanne und unterbrach dadurch die Stille.

Sarah drehte sich zu ihr und schüttelte den Kopf, bevor sie alle weiter betrachtete. „Ihr seid wirklich Hexen?“, platzte sie heraus.

Ein Lachen ging durch die Gruppe. 

„Natürlich“, antwortete Elaine, als wäre das selbstverständ­lich. Kurz darauf wirbelte Joanne mit dem Finger durch die Luft. Ein Wind kam aus dem Nichts auf und blies Sarah die Haare aus dem Gesicht. Ihre Augen weiteten sich. Cassandra schüttelte grinsend ihr Glas. Die Flüssigkeit drehte sich, erhob sich und flog in einem Bogen in das Glas von Joanne, während deren Getränk in Cassandras landete.

„Hey!“, beschwerte Joanne sich und stieß ihren Ellenbogen spielerisch in die Seite ihrer Freundin. „Dein Gesöff kannst du selber trinken.“ Erneut kam eine Brise Wind auf, die die Gläser verrückte, bis jede wieder ihr Getränk vor sich stehen hatte.

Cassandra verzog ihr Gesicht.

„Angeber“, rief Lorraine mit einem Lachen. „Und wenn du deinen Cocktail nicht magst, Cassy, probier mal das.“ Sie beugte sich vor, berührte das Glas und der Inhalt färbte sich gelblich.

„Wer ist jetzt die Angeberin?“, entgegnete Cassandra, bevor sie einen Schluck nahm und erfreut nickte. „Nicht schlecht.“

Sarah beobachtete sie und relaxte. Sie mochte das vertraute Geplänkel. Es ließ die surreale Situation normaler erscheinen.

Lorraine grinste schelmisch, bevor sie sich zu Sarah drehte. „Dass wir Hexen sind, sollte damit geklärt sein, oder?“, fragte sie lachend.

Sarah stimmte in das Lachen ein. „Ja, könnte man so sagen“, antwortete sie.

„Dann erzähl mal, wie hast du das Pandora gefunden, wenn du nichts über die Welt des Übernatürlichen wusstest?“, forderte Lorraine sie auf.

„Und wie hast du erfahren, dass du eine Hexe bist?“, fügte Nadira hinzu.

„Ja, genau, erzähl“, sagte Elaine. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, unter Prima Vista aufzuwachsen. Das muss furchtbar sein!“

„Auf jeden Fall“, stimmte ihr Lorraine zu. „Ohne Zauberei zu leben, ist doch schrecklich! Wie überlebt man denn das?“

Sarah wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, verunsicherte sie immer. Sich zwischen Hexen zu befinden, verbesserte das nicht gerade. Lorraines Worte und ihr Gesichtsausdruck ließen Sarah das allerdings vergessen. Sie schmunzelte.

„Wenn man nicht weiß, dass es Magie wirklich gibt, ist es ganz normal, ohne auszukommen“, beteuerte sie. Weder Lorraine noch die anderen schienen überzeugt, was Sarah zum Lächeln brachte und sie auftauen ließ.

„Ich kannte nichts anderes und habe bis vor kurzem nicht einmal vermutet, dass es Hexen geben könnte, geschweige denn, dass ich eine bin. Erst als mir immer wieder seltsame Dinge passiert sind, habe ich angefangen nachzuforschen und bin in den Magie-Laden hier in der Nähe gegangen. Dort habe ich jemanden vom Pandora reden hören und beschloss herzukommen.“

„Was für ein Glück, dass du uns dadurch gefunden hast. Wir können eine Hexe unmöglich weiterhin wie eine Prima Vista leben lassen“, sagte Lorraine.

Sarah strahlte sie an. Das klang, als wollten sie ihr helfen. Vielleicht würden sie ihr sogar das Zaubern beibringen? Zumindest konnte sie auf ein paar Antworten hoffen.

„Was bedeutet eigentlich Prima Vista?“, fragte sie das Erste, das ihr in den Sinn kam.

„Das steht für Ahnungslose oder Unwissende, also jemanden, der keinen blassen Schimmer hat, wie die Welt wirklich aussieht“, erklärte Cassandra.

„Es ist quasi die gängige Bezeichnung für normale Menschen“, fügte Nadira hinzu.

Sarah nickte. Das klang zwar seltsam, aber mit der Zeit würde sie sich bestimmt daran gewöhnen.

Bevor Sarah eine Chance hatte, zu überlegen, was sie noch wissen wollte, wurde ihr eine Frage nach der anderen gestellt. Die Hexen sprühten vor Neugier. Sie hatten schon davon gehört, dass manchmal jemand, der zur Welt des Übernatürlichen gehörte, als Prima Vista aufwuchs, hatten aber noch nie so jemanden kennengelernt. Sie schienen fasziniert zu sein. Sarah ging es nicht anders. Es war alles sehr aufregend. Zwischendurch schaffte sie es, auch etwas zu fragen. Leider schwirrte ihr bald der Kopf. Die Antworten, die sie bekam, warfen noch mehr Fragen auf und sie wusste nicht länger, was sie denken sollte.

Nadira hatte bisher am wenigsten gesagt, schien aber am ehesten nachvollziehen zu können, wie ungewohnt und seltsam die Situation für Sarah sein musste. Sie schlug vor, etwas zu trinken und sie nicht mit Fragen zu erschlagen. Dafür war Sarah ihr sehr dankbar. Sie musste erst ihre Gedanken ordnen. Sie hatte Hexen gefunden … und jede Menge andere übernatürliche Wesen. Magie war real, genau wie Vampire. Als sie beschlossen hatte, ins Pandora zu gehen, um Nachforschungen anzustellen, hatte sie gehofft, etwas zu finden, das ihre Vermutungen bestätigte, aber sie hatte sich nicht klargemacht, was das für sie bedeuten würde. Auch wenn sie angenommen hatte, dass Magie existierte, sie hatte sich trotzdem nicht ausgemalt, wie sich ihre Welt verändern würde, wenn sie Beweise dafür fand. Bisher hatte sie geglaubt, zu wissen, wie die Welt aussah. Jetzt war alles anders. Sie hatte keine Ahnung mehr, was möglich war und vor allem wusste sie nicht mehr, wer sie selbst war. Laut Lorraine wurden Hexen mit magischen Fähigkeiten geboren oder erlernten Magie. Fähigkeiten tauchten nicht aus dem Nichts auf. Woher kamen sie bei ihr? Konnte sie von Geburt an eine Hexe gewesen sein? Wenn ja, wieso hatte sie als Kind keine Fähigkeiten gehabt? Und von wem stammte ihre Magie ab? Ihre Mutter hatte immer darauf beharrt, dass Zauberei lächerlich sei. Sie konnte unmöglich eine Hexe sein. Folglich musste Sarah ihre Fähigkeiten von ihrem Vater geerbt haben. War er ein Hexer? Nannte man das so oder anders? Zauberer? Magier? Mehr und mehr Fragen schwirrten durch Sarahs Kopf. Als Nadira ihr ein Glas gab, trank sie es auf einmal aus.

„Durstig oder überwältigt?“, fragte Lorraine.

„Beides?“, antwortete Sarah zaghaft.

Lachend bestellte Lorraine noch eine Runde.

„Für mich nur einen Orangensaft“, sagte Sarah schnell. „Ich möchte mich morgen nicht fragen müssen, ob ich mir das alles eingebildet habe, weil ich zu betrunken war.“

„Das hast du auf keinen Fall“, versicherte Lorraine ihr. „Es ist alles real. Und falls du dich fragst, in was du da hineingeraten bist … eine Hexe zu sein, ist einfach … magisch“, fügte sie hinzu und machte eine ausschweifende Bewegung mit ihrem Arm. Wo ihre Hand entlangfuhr entstanden kleine, glitzernde Punkte in der Luft, die hinunter­rieselten und um Sarah und Lorraine tanzten.

Strahlend starrte Sarah die Glitzerpunkte an. Lorraine hatte es mit dem Wort ‚magisch’ auf den Punkt gebracht.

„Wow.“ Mehr brachte Sarah nicht heraus, als sie beobachtete, wie der Glitzer langsam aufhörte zu schweben und auf dem Tisch liegenblieb. Auf ihren Armen und Haaren war auch einiges gelandet, wie sie bemerkte, als Elaine anfing zu pusten und einen erneuten Glitzer-Regen verursachte.

„Wie hast du das gemacht?“, wollte Sarah wissen. „Kannst du mir das beibringen?“

„Klar, komm doch morgen zu mir und wir fangen mit deiner Hexenausbildung an“, antwortete Lorraine. „Und wir können auch über alles reden, was du noch wissen möchtest und dir jetzt nicht einfällt, weil du viel zu aufgewühlt bist.“

„Gute Idee“, erwiderte Sarah. Wenn sie Zeit gehabt hatte, über alles nachzudenken, würden ihr bestimmt tausende von Dingen einfallen, die sie wissen wollte.

„Gib mal dein Handy. Wir geben dir unsere Nummern“, sagte Lorraine.

 

Nachdem Nadira als letzte ihre Handynummer in Sarahs Smartphone eingetragen hatte, kam eine Nachricht über WhatsApp. Sarah ergriff ihr Handy und sah, dass sie von Kelly war. Oje, sie hatte Kelly und Frank ganz vergessen. Die beiden vermissten sie sicher schon.

„Die Nachricht ist von meinen Freunden, die ich oben gelassen habe“, erklärte Sarah, als sie ihrer Mitbewohnerin antwortete und mit ihr ausmachte, sich gleich an der Bar zu treffen. „Ich sollte wieder hochgehen.“

„Hol sie doch runter“, schlug Joanne vor.

„Hierher?“, fragte Sarah überrascht.

„Ach ja, sie sind Prima Vista“, antwortete Joanne. „Und haben keine Ahnung davon, wie die Welt wirklich aussieht.“

„Und ich weiß nicht, ob es eine gute Idee wäre, es ihnen anzu­vertrauen“, fügte Sarah hinzu.

„Auf keinen Fall“, riefen die anderen sofort.

„Du darfst Prima Vista nie von der Welt des Übernatürlichen erzählen“, erläuterte Lorraine. „Es ist verboten.“

„Ist das ein Gesetz?“, fragte Sarah perplex.

„Könnte man so sagen“, antwortete Elaine. „Das oberste Gesetz. Es wurde nach der letzten großen Hexenverfolgung erlassen, um dafür zu sorgen, dass wir und alle anderen übernatürlichen Wesen in Zukunft vor den Menschen geschützt sind.“

„Und Wächter wurden auserwählt, um sicherzustellen, dass das Gesetz befolgt wird. Wer es bricht, muss sich einem von ihnen stellen“, fügte Nadira hinzu. Sie klang, als wäre es das Letzte, das sie jemals tun wollte.

Sarah schluckte. Sie hatte das Gefühl, dass sie gar nicht erfahren wollte, was genau passierte, wenn man von einem dieser Wächter aufgesucht wurde. Wahrscheinlich sollte sie es trotzdem wissen, aber sie konnte sich nicht dazu bringen, zu fragen. Zumindest nicht heute. Der Kopf schwirrte ihr genug, und morgen war auch noch ein Tag.

„Ihr könnt mir nächstes Mal mehr davon erzählen, jetzt sollte ich gehen“, sagt sie. „Ich melde mich bei dir, Lorraine, um was Genaueres auszumachen.“

„Okay, wir bringen dich noch hoch, nicht dass du wieder von einfältigen Blutsaugern angemacht wirst“, erwiderte Lorraine.

„Gute Idee, lasst uns hochgehen. Die Männer hier unten sind mir sowieso zu … unmenschlich“, sagte Elaine mit einem Lachen und zwinkerte Lorraine zu. Diese nickte grinsend.

Sarah fand es beruhigend, dass die Hexen mehr auf ‚Prima Vista’ standen als auf andere Wesen. Das deutete darauf hin, dass man zumindest Beziehungen mit normalen Menschen eingehen durfte.

Auf dem Weg nach oben überlegte Sarah, wie die exotischeren Wesen, die sich im VIP-Bereich tummelten, durch das Pandora nach unten kamen, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Gab es einen Hintereingang?

„Angeborene Zauber, die sie in Gegenwart von Prima Vista menschlich aussehen lassen“, antwortete Lorraine, nachdem Sarah danach fragte. „Oder magische Amulette, die eine Illusion kreieren. Einige Hexen erstellen und verkaufen sie.“

Normale Menschen konnten also gar nicht sehen, wenn ein übernatürliches Wesen an ihnen vorbeiging, dachte Sarah. War sie schon oft an einem von ihnen vorbeigelaufen, ohne es zu merken? Oder war sie vorher nur nie welchen begegnet, weil sie bis vor kurzem in einem kleinen, uninteressanten Ort gelebt hatte? Sie würde morgen mit Lorraine darüber reden und fragen, was sie davon hielt. Vor allem wollte sie aber herausfinden, wieso sie erst jetzt magische Fähigkeiten entwickelt hatte.

Oben verabschiedete Sarah sich von den Hexen und machte sich auf den Weg zu Kelly und Frank.

 

Als Sarah nach Hause kam, ließen ihr die Ereignisse der Nacht keine Ruhe. Stundenlang wälzte sie sich in ihrem Bett herum. Sie war eine Hexe, eine richtige, echte Hexe! Zumindest hatte das eine Gruppe von Hexen behauptet und die schienen zu wissen, wovon sie sprachen. Noch viel wichtiger war, dass sie sie aufgenommen hatten, als wäre sie eine von ihnen. Sie waren nett, bereit ihre Fragen zu beantworten und hatten sogar angeboten, ihr das Zaubern beizubringen. Sarah konnte es immer noch kaum glauben, sie hatte endlich die Chance herauszufinden, was es mit ihren Fähigkeiten auf sich hatte. Außerdem gab es nun Leute, mit denen sie ehrlich sein konnte. Sie musste nichts mehr verbergen, aus Angst abgelehnt zu werden oder jemanden in Gefahr zu bringen. Lorraine und ihre Freundinnen konnte sie in nichts mehr hineinziehen, sie befanden sich schon mittendrin. Trotz schwirrender Gedanken und lauter Mitbewohner, schlief Sarah gegen morgen endlich ein. Ihre Träume waren wirr, voller seltsamer Kreaturen und Magie. Später hatte sie das Gefühl, einmal aufgewacht zu sein und durch ihr Fenster den Fremden gesehen zu haben, den sie dazu bringen wollte, sie im Pandora mit nach unten zu nehmen. Aber das war sicher auch nur ein Traum. Der Mann hatte kein Interesse an ihr gezeigt. Wieso sollte er sie beobachten? Er wusste weder ihren Namen, noch wo sie wohnte. Bestimmt träumte sie von ihm, weil sie sich dämlich angestellt hatte und ihr das peinlich war.

Als sie am frühen Nachmittag aufstand, schob Sarah die Gedanken an den Fremden und den Rest ihrer wirren Träume beiseite und schrieb Lorraine eine Nachricht. Sie konnte es kaum abwarten, sie wiederzusehen. Lorraine würde ihr nicht nur ihre Fragen beantworten und ihr zaubern beibringen, sondern könnte auch noch eine gute Freundin werden. Sarah hatte sich in ihrer Nähe gleich wohlgefühlt und das lag bestimmt nicht nur an der unheimlichen Umgebung. Manchmal traf man Leute, mit denen man sich sofort gut verstand. Mit Selina war das auch so gewesen.

Nachdem sie geduscht hatte, kam eine Antwort von Lorraine. Sie sollte gegen 17 Uhr zu ihr kommen. Am liebsten hätte Sarah gefragt, ob sie nicht gleich kommen dürfe, wollte aber nicht aufdringlich sein. Stattdessen machte sie sich etwas zu essen und legte sich danach mit ihren Magie Büchern auf ihr Bett. Sie würde die verbleibende Zeit nutzen, um sich wenigstens ein bisschen zu informieren. Dann würde sie später hoffentlich nicht ganz so unwissend und dumm dastehen.

 

Als Sarah sich Lorraines Adresse näherte, kam sie aus dem Staunen kaum mehr heraus. Es handelte sich um eine Villengegend in der Nähe des Strandes. Ein Anwesen sah besser aus als das andere und Sarah fühlte sich ein wenig fehl am Platz. Aufgrund der reichen Familie ihres Stiefvaters hatte es ihr selbst nie an etwas gemangelt. Trotzdem hatten sie in einem normalen Einfamilien­haus mit einem kleinen Garten gelebt. Es war mehr als groß genug für drei Personen gewesen und Sarah konnte sich kaum vorstellen, in einer riesigen Villa zu wohnen. Was machte man mit all dem Platz?

Lorraines Villa war im Vergleich zu den anderen, die Sarah auf dem Weg gesehen hatte, nicht die größte, aber sie lag direkt am Strand. Sarah liebte das Meer. Am Strand zu leben, musste toll sein, und da die Villa von Lorraines Familie nicht ganz so groß war, schien sie auch gleich viel einladender.

Lorraine begrüßte sie mit einer Umarmung und führte sie stolz durch ihr Heim. Schicke, neumodische Möbel zierten die weiß gestrichenen Räume. Bilder hingen in größeren Abständen an den Wänden. Die Zimmer waren nicht zu vollgestellt und ordentlich aufgeräumt. Es sah beein­druckend aus und gefiel Sarah sehr. Dennoch bevorzugte sie Häuser mit einem gemütlicheren Ambiente, die wirkten, als lebte jemand darin.

Während Lorraine ihr alles zeigte, erzählte sie, dass sie mit ihren Eltern vor ungefähr einem Jahr aus Magijaria hergezogen war und wie sehr sie es liebte, direkt am Strand zu wohnen. Dafür habe sie auch gern die Uni gewechselt. Durch Lorraines Fröhlichkeit und Offenheit fühlte sich Sarah bei ihr gleich wohl, obwohl sie meistens etwas Zeit brauchte, um mit jemandem warm zu werden. Wie sie bereits vermutet hatte, war das mit Lorraine nicht so. Ihre neue Freundin behandelte sie, als kannten sie sich schon Jahre und verwickelte sie problemlos in ein Gespräch nach dem anderen. Aus der Küche nahmen sie sich etwas zu trinken mit und gingen in Lorraines Zimmer. Es war groß, hell und mit einer Terrassentür in Richtung Strand.

„Wow“, sagte sie wahrscheinlich nicht zum ersten Mal.

„Ja, hier lässt es sich leben“, stimmte Lorraine ihr zu und setzte sich auf das Sofa.

Sarah nahm neben ihr Platz und sah sich genauer um. Sie saßen rechts vom Eingang. Ein großer Flatscreen TV stand auf einem Schränk­chen, gegenüber dem Sofa. Daneben startete ein ovaler Erker mit Platz für Lorraines Bett und zwei kleine, abgerundete Ein­bauschränkchen. Gegenüber vom Zimmereingang befanden sich die Terrassentür und ein großes Fenster.

„Wenn ich gewusst hätte, dass du einen privaten Strand hast, hätte ich meinen Bikini mitgebracht“, sagte Sarah mit einem sehnsüchtigen Blick nach draußen.

„Zum Baden ist es noch zu kalt, auch wenn es heute endlich mal warm ist. Bisher kam mir der Frühling ja eher wie Winter vor“, klagte Lorraine. „Aber wenn du baden gehen möchtest, wir haben auch einen beheizten Pool im Garten. Ich kann dir gern einen Bikini leihen.“

Sarah glaubte kaum, dass Lorraines Bikini ihr passen würde. Sie war zwar selbst schlank, aber Lorraine trug mit ihrer Model-Figur sicher mindestens eine Kleidergröße kleiner.

„Vielleicht später oder nächstes Mal“, antwortete sie. So gerne sie schwimmen gehen würde, deshalb war sie nicht hier.

„Stimmt, du hast wahrscheinlich was anderes im Sinn“, sagte Lorraine lachend und stand auf. Sie stellte ihr Glas weg und ging zu einer Tür, die Sarah bisher nicht bemerkt hatte. Sie war am anderen Ende des Raumes, in der Nähe der Terrassentür und neben dem Schreibtisch, der gegenüber vom Bett stand.

„Willst du mir deinen begehbaren Schrank zeigen?“, witzelte Sarah und stand auf.

Lorraine schüttelte den Kopf. „Der ist da vorn, gleich neben meinem Bad.“

Natürlich, ein begehbarer Schrank und ein eigenes Bad, wie hatte sie auch etwas anderes erwarten können? Sarah schmunzelte über sich selbst und entdeckte die beiden Türen neben dem Eingang. Sie hatte sie beim Hereinkommen übersehen. Es war auch kein Wunder, wenn man einen direkten Blick durchs Fenster auf das Meer hatte. Aber wenn Bad und begehbarer Schrank vorne waren, was befand sich in dem Raum, den Lorraine ihr zeigen wollte? Neugierig durchquerte sie das Zimmer.

„Sie ist nicht besonders groß, aber immerhin … meine eigene, kleine Hexenküche“, verkündete Lorraine stolz. „Meine Mutter hat noch eine größere im Keller, die ich mitbenutzen darf, aber das Meiste mache ich hier.“

Erfreut sah Sarah sich in dem Zimmer um. Es war mit Bücher­regalen, Schränken und einem großen Tisch in der Mitte vollgestellt, wodurch es kleiner wirkte. Der Raum erschien dadurch aber auch wohnlicher und nicht so protzig, wie der Rest des Hauses. Obwohl Sarah die Villa von Lorraines Familie gefiel, fühlte sie sich hier am wohlsten. Außerdem waren da noch die Hexen-Utensilien, die in den Schränken und auf dem Tisch lagen. Es gab viele, kleine Fläschchen mit bunten Flüssigkeiten. Waren das Zaubertränke? Oder Zutaten für welche?

„Wow, eine echte Hexenküche. Das ist …“ Sarah fehlten die Worte. Das alles kam ihr immer noch unglaublich und surreal vor. Sie stand in einem Zimmer, in dem Magie praktiziert wurde, als wäre es etwas ganz Alltägliches. Normale Menschen richteten sich Näh-, Bügel- oder Bastelzimmer ein, Lorraine hingegen hatte eine Hexenküche!

„Es gefällt dir also?“, wollte diese wissen und Sarah kam es so vor, als wäre es ihrer Freundin wichtig, was sie dachte.

„Natürlich! Es ist einfach toll und so … magisch. Sind das Zauber­tränke? Und Bücher mit Zaubersprüchen? Hast Du auch einen echten Hexenkessel oder sogar einen Zauberstab?“, fragte sie aufgeregt.

Lorraine lachte. „Immer mit der Ruhe und eine Frage nach der anderen“, sagte sie und setzte sich auf einen der Stühle am Tisch. „Erstens, ja, das sind Zaubertränke, die ich in einem Hexenkessel zubereitet habe.“ Sie grinste, als sie Sarahs Gesichtsausdruck sah. „Bücher mit Zaubersprüchen habe ich natürlich einige, aber einen Zauberstab brauche ich zum Glück nicht. Es gibt zwar welche, aber die werden nur von Leuten benutzt, die wenig magische Begabung haben. Wenn du jemanden mit einem siehst, ist es offensichtlich, dass er ohne ihn so ziemlich gar nichts zu Stande bekommen würde.“

„Ein Zauberstab verstärkt also magische Fähigkeiten?“

„Nein, er verstärkt magische Begabung, sozusagen alle Magie, die erlernt werden kann. Fast alle Menschen sind mehr oder weniger magisch begabt und könnten das Zaubern erlernen, wenn sie wüssten, dass es möglich ist. Magische Fähigkeiten dagegen sind angeboren und können weder erlernt noch durch Hilfsmittel verstärkt werden. Außerdem sind sie leichter anzuwenden“, erklärte Lorraine.

Sarah setzte sich neben sie auf einen Stuhl und dachte einen Moment nach.

„Habe ich eine magische Begabung oder magische Fähigkei­ten? Und was ist besser?“, wollte sie wissen.

„Ich nehme an, du hast beides. Es gibt nur sehr wenig Menschen, die absolut keine magische Begabung haben. Die meisten sind ein bisschen begabt und nur ein paar wenige sind begabt genug, um Magie zu studieren und sich als Hexen zu bez…“

„Man kann Magie studieren?“, fragte Sarah erstaunt und fiel Lorraine ins Wort, was diese erneut zum Lachen brachte.

„Ich vergesse immer wieder, dass du absolut nichts von unserer Welt weißt. Ja, das kann man. Es gibt drei Universitäten für Magie und magische Wesen, eine in Magijaria, eine in Nocterin und eine hier in Lunadar.“

„Man kann es sogar in Lunadar studieren? Aber dazu muss man bestimmt schon wissen, dass Magie und die Welt des Übernatürlichen existieren. Beim Googeln nach Studiengängen taucht Magie wahrscheinlich nicht als Fachrichtung auf.“

„Genau“, stimmte ihr Lorraine zu. „Offiziell ist Zauberei nur eine Erfindung von Menschen mit zu viel Fantasie. Aber wenn man weiß, wonach man suchen muss, kann man die UM Lunadar, was für Universität Magija Lunadar steht, auch online finden. Wenn du magst, zeige ich es dir nachher.“

„Gern“, antwortete Sarah erfreut und überlegte, wie ein Magie­studium aussah. War es so ähnlich wie der Unterricht in den Harry Potter Büchern?

„Es gibt auch Anfängerkurse in allen magischen Fachrichtungen“, fügte Lorraine hinzu. „Falls du nächstes Semester welche belegen möchtest.“

„Wirklich?“ Das ist ja toll, dachte Sarah aufgeregt. Aber was machte man, nachdem man Magie studiert hatte? Gab es Jobs, für die ein Magie Studium sinnvoll wäre? Oder besser, gab es einen Beruf, der für sie in Frage kam, für den sie Zauberkurse belegen sollte? Bisher hatte sie keinen bestimmten Berufswunsch. Geschichte hatte sie nur angefangen zu studieren, weil sie darin in der Schule gut gewesen war und es interessant fand. Magie war aber noch viel faszinierender. Sie fühlte sich wieder genauso aufgeregt und neugierig, wie damals als Kind, als sie das erste Mal von Hexen und Zauberern gehört hatte.

„Am besten zeige ich dir gleich, wie du auf die Homepage der UM Lunadar kommst, damit du dir zu Hause alles in Ruhe anschauen kannst“, schlug Lorraine vor und holte ihren Laptop.

„Solange der PC hochfährt, du hattest gefragt, ob du magische Begabung oder Fähigkeiten hast“, fing Lorraine an.

Sarah nickte. Das hatte sie fast vergessen.

„Du hast sicher beides. Da du noch unausgebildet bist, kann ich mir nur vorstellen, dass du eine oder mehrere angeborene Fähigkeiten besitzt. Und wer magische Fähigkeiten hat, der ist, soweit ich weiß, auch immer magisch begabt.“

Das klang vielversprechend. Aus irgendeinem Grund wollte Sarah plötzlich in allem, was Magie betraf, gut sein. Sie konnte sich kaum mehr vorstellen, dass sie sich noch vor kurzem gewünscht hatte, ihre Fähigkeiten würden wieder verschwinden. Im Gegenteil, jetzt wollte sie mehr können. In Gedanken verloren bekam Sarah nicht mit, dass Lorraine sie etwas fragte.

„Sarah!“

„Hm?“, murmelte sie und sah zu Lorraine, die grinste.

„Wieder ein bisschen überwältigt, was?“, sagte diese schmun­zelnd. „Ich habe gefragt, was für seltsame Dinge dir passiert sind. Was ist denn deine magische Fähigkeit?“

„Schweben“, antworte Sarah schnell. „Ich glaube, ich kann schweben.“ Hoffentlich, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie fühlte sich diesbezüglich immer noch unsicher. Das Einzige, von dem sie wusste, dass sie es konnte, war teleportieren. Aber das wollte sie Lorraine nicht erzählen. Am Nachmittag hatte sie in ihren Büchern aus dem Magie-Laden nach Hexen und deren Fähigkeiten gesucht. Diese listeten Teleportation als äußerst seltene Fähigkeit und sehr schwer zu erlernende Art der Magie, zumindest in Bezug auf Hexen. Danach hatte sie noch unter dem Begriff Teleportation nachgesehen und ihn als weitverbreitete Fähigkeit unter Dämonen gefunden. Sie war aber keine Dämonin. Lorraine und ihre Freundinnen hatten gesagt, sie könnten spüren, dass Sarah, wie sie, eine Hexe wäre. Sie hatten sich bestimmt nicht alle geirrt. Leider wusste Sarah kaum etwas über Hexen und noch weniger über Dämonen. Solange sie keine Beweise dafür hatte, woher ihre Fähigkeiten kamen, wollte sie niemandem davon erzählen, dass sie teleportieren konnte. Erst musste sie mehr erfahren. Sie würde nicht riskieren, es Lorraine zu sagen, ohne die Fakten zu kennen. Dämonen waren, soweit sie es gelesen hatte, unter Hexen nicht sehr beliebt, und im Moment bildete eine Gruppe von Hexen ihre einzige Informationsquelle. Das würde sie sich auf keinen Fall ruinieren, genauso wenig wie ihre neue Freundschaft mit Lorraine.

„Schweben ist eine tolle Fähigkeit. Eine meiner Freundinnen aus Magijaria kann es“, berichtete Lorraine, während sie eine Internetadresse aufrief. „Wenn du willst, kann ich sie nach Tipps fragen, wie du das Schweben schnell in den Griff bekommst.“

„Gern, danke“, sagte Sarah, erleichtert, dass Lorraine nicht gemerkt hatte, dass sie etwas verbarg und erfreut über die mögliche Hilfe.

„Mach ich doch gern“, erwiderte Lorraine und drehte den Laptop zu Sarah, damit sie besser sehen konnte. „Um zur Homepage der UM Lunadar zu kommen, gehst du auf www.unimagija.net.“

Sarah schaute auf den Bildschirm. Die Internet­adresse war schon eingegeben. Allerdings kam eine Fehlermeldung, dass die angeforderte Seite nicht existierte. Als Sarah darauf hinwies, lachte Lorraine.

„Die Fehlermeldung ist nur dazu da, um Prima Vista davon abzuhalten, die Homepage aus Versehen zu finden. Hier, siehst du den i-Punkt über ‚nicht’? Er ist ein bisschen größer als alle anderen Punkte auf der Seite. Wenn du ihn vergrößern würdest, könntest du sehen, dass es eigentlich kein Punkt, sondern ein Pentagramm mit einem Kreis außenrum ist. Klick drauf …“ Sie demonstrierte es und wurde auf eine andere Seite weitergeleitet. Diese zeigte drei Bilder: einen Mond, ein Pentagramm und eine Fledermaus. „… und du kommst auf die nächste Seite, wo du die Stadt auswählen kannst, deren Uni Homepage du ansehen willst.“ Sie klickte auf den Mond und kam zur Homepage der Uni Magija Lunadar.

„Der Mond steht für Lunadar?“, wollte Sarah wissen.

„Klar“, antwortete Lorraine mit hochgezogener Augenbraue. „Hast du noch nie gehört, dass Lunadar auch die Mondstadt genannt wird? Sogar die meisten Prima Vista wissen das, auch wenn sie keine Ahnung haben wieso. Sie denken, es kommt nur davon, dass Luna, was Mond bedeutet, im Namen Lunadar enthalten ist.“

Sarah schüttelte den Kopf und hörte Lorraine leise seufzen.

„Wo hast du nur bisher gelebt?“, fragte sie lachend.

„In einem winzigen Dorf, ungefähr zwei Stunden von hier. Dort war so ziemlich gar nichts los.“

„Wieso überrascht mich das kein bisschen?“, murmelte Lorraine neckisch.

Sarah zuckte verschmitzt mit den Schultern und drehte sich wieder zum Bildschirm. Ein Halbmond leuchtete in der linken, oberen Ecke.

„Und warum wird Lunadar nun Mondstadt genannt?“, hakte sie nach.

„Weil sie von Werwölfen gegründet wurde“, begann Lorraine zu erläutern. „Nach der letzten großen Hexenverfolgung, bei der übrigens nicht nur Hexen, sondern auch andere übernatürliche Wesen auf Scheiterhaufen verbrannt wurden, entstanden drei Städte, die Zuflucht und Sicherheit für übernatürliche Wesen aller Arten versprachen. Lunadar wurde hier, im Süd-Westen des Landes, von den Lunar, einer alten Werwolf-Dynastie, gegründet. Magijaria, die Magische Stadt, erbauten die drei mächtigsten Hexen-Familien im Nord-Westen. Hast du von denen schon mal gehört? Nein, natürlich nicht, verzeih“, sagte Lorraine schmunzelnd. Sarahs Gesichtsaus­druck schien sie zu belustigen. Sie räusperte sich, bevor sie fortfuhr: „Dazu gehören zum einen die MacKennas. Blond und blauäugig, sehen sie beinahe wie nordische Wikinger aus. Die Sinclairs sind das genaue Gegenteil. Mit schwarzen Haaren erscheinen sie dunkel wie die Nacht. Laura ist der beste Beweis dafür. Sie läuft herum wie ein Grufti. Von ihr habe ich mich in der Schule lieber ferngehalten.“ Lorraine erschauderte bei dem Gedanken. „Und dann gibt es noch die Carringtons. Die haben das schönste Schloss von allen.“ Sie blickte wehmütig in die Ferne und Sarah bekam das Gefühl, dass ihre neue Freundin gerne zu dieser Familie gehören würde. Nach einem Moment schien sich Lorraine wieder zu fangen. „Die dritte Stadt, Nocterin, wird passenderweise auch als Stadt der Nacht oder Dunkle Stadt bezeichnet. Sie liegt im Nord-Osten und wurde von den Blacks, einer der ältesten Vampir-Familien, erschaffen.“

 „Es gibt Vampir-Familien?“, fragte Sarah verblüfft. „Hat da etwa jemand ganze Familien in Vampire verwandelt?“

Lorraine lachte lauthals. „Das wäre natürlich möglich, aber das habe ich nicht gemeint. Nicht alle Vampire werden verwandelt. Mit Gerüchten solltest du vorsichtig umgehen. Vieles, was über Vampire bekannt ist, ist Unsinn. Dazu gehört auch der Glaube, dass alle einmal Menschen gewesen sind.“

Erstaunt starrte Sarah sie an. Aus irgendeinem Grund hatte sie geglaubt, zumindest über Vampire einiges zu wissen.

„Schau nicht so geknickt. Bei so vielen Gerüchten, Fantasy-Büchern, -Filmen und -Serien ist es nicht leicht, zu erahnen, was stimmt, wenn man nicht schon damit aufgewachsen ist. Außerdem bin ich mir sicher, dass du bald alles weißt, was wichtig ist“, beteuerte Lorraine.

„Es gibt also verschiedene Arten von Vampiren?“

„Zwei, um genau zu sein. Geborene Vampire stammen von den Urvampiren ab, die aus einer anderen Dimension kommen und nie Menschen waren. Diese kamen vor hunderten von Jahren auf die Erde und fanden heraus, dass sie Menschen, indem sie sie aussaugten und ihnen ihr eigenes Blut gaben, in Wesen verwandeln konnten, die ihnen ähnelten. Verwandelte Vampire müssen dem gehorchen, der sie erschaffen hat, weshalb mehr und mehr Menschen zu Vampiren gemacht wurden. Urvampire nutzten sie als Sklaven und bildeten eine Armee zu ihrem Schutz. Du weißt schon, falls Menschen herausfanden, dass sie es mit Blutsaugern zu tun hatten und sie deshalb auslöschen wollten.“

Sarah schluckte. Vampire klangen nicht sehr freundlich und definitiv nicht wie in Twilight.

„Aber mach dir keine Sorgen, die meisten Vampire haben nicht vor, eine Armee zu gründen. Viele ausgesaugte Menschen erregen in der heutigen Zeit Aufmerksamkeit, was alle übernatürli­chen Wesen in Gefahr bringen könnte. Wächter lassen das nicht zu und würden einschreiten, um sicherzustellen, dass die Welt des Übernatürlichen weiterhin geheim bleibt.“

Diese Wächter waren also nicht nur dazu da, um einen davon abzuhalten, normalen Menschen zu erzählen, wie die Welt aussah, dachte Sarah. Sie beschützten auch alle übernatürlichen Wesen, zu denen Sarah sich jetzt zählen musste. Wahrscheinlich war es gut, dass es Wächter gab. Eine erneute Hexenverfolgung wollte sie nicht erleben. Sie besuchte eine Vorlesung über die Zeit der letzten Hexenverfolgung an der Uni. Sie wusste nicht, ob sie darin alles lernten, was wirklich passiert war, aber auch das, was sie bisher erfahren hatte, fand sie mehr als grausam genug.

„Außerdem sind nicht alle Vampire so übel“, fügte Lorraine hinzu. „Manche sind beinahe erträglich.“ Sie lachte erneut. „Aber nun genug von Vampiren. Ich gebe dir nachher ein Buch über sie und andere übernatürliche Wesen mit. Damit kannst du dich über alles schlaumachen, was dich interessiert. Und auch im Internet gibt es einige Informationen. Natürlich ist das Meiste Unsinn, aber du weißt ja jetzt, wie du eine vertrauenswürdige Seite erkennst.“ Sarah sah sie verwirrt an. „Genau wie bei der Homepage der Uni“, erläuterte Lorraine. „Es sieht aus, als existiere die Webseite nicht, aber es gibt einen Link in einem Mini-Pentagramm, der dich auf eine Homepage weiterleitet, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von jemandem erstellt wurde, der Ahnung hat.“

Wow, es gab versteckte Hinweise auf die Welt des Übernatürli­chen online. Was normale Menschen dachten, falls sie aus Versehen auf einen dieser, in Pentagramm-Punkten versteckten, Links klickten? Bestimmt dass ein Fanatiker die Seite gestaltete. Sarah blinzelte, als sie von Lorraines Stimme aus ihren Gedanken gerissen wurde, und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf sie.

„… genug von alldem. Wie wäre es, wenn wir jetzt ein bisschen zaubern üben? Wir könnten Zaubersprüche ausprobieren oder einen Zaubertrank brauen. Nein, ich weiß, womit wir anfangen. Du brauchst als Erstes was zum Schutz gegen nicht so freundliche Kreaturen der Nacht. Ein Schutzamulett od…“

„Übernatürliche Wesen sind also gefährlich“, stellte Sarah verunsichert fest und unterbrach Lorraine.

„Einige schon. Menschen können unter anderem skrupellos, machthungrig oder verrückt sein. Bei übernatürlichen Wesen ist es nicht anders, und da sie oft sehr viel mächtiger sind als Menschen, sind sie auch umso gefährlicher. Es ist besser, auf das Schlimmste vorbereitet zu sein.“

Das klang vernünftig, dachte Sarah. Es würde nicht schaden, auf Nummer sicher zu gehen. Abgesehen davon konnte sie es kaum abwarten, dass Lorraine ihr etwas Magisches beibrachte.

„Schutzamulett klingt gut“, entschied sie und holte ihre Tasche. Nachdem sie eine Weile darin gekramt hatte, fand sie, wonach sie suchte.

„Ich habe im Magie-Laden vor kurzem zwei Ketten mit Penta­grammen gekauft“, sagte sie und legte den kleinen Beutel mit den Ketten auf den Tisch.

„Pentagramme sind super als Grundlage“, erwiderte Lorraine erfreut. „Sie haben an sich schon eine schützende Wirkung. Wenn wir sie noch ein bisschen verstärken, lässt sich daraus mit Sicherheit was Brauchbares zaubern.“

Sarah lachte. Zaubern war genau das richtige Wort, und sie konnte es kaum abwarten, damit anzufangen.

„Dann mal los“, sagte Lorraine strahlend und stand auf, um Materialien und Bücher zu holen. „Damit du eine der Ketten gleich heute Abend im Pandora herumzeigen kannst.“

„Wir gehen ins Pandora?“, fragte Sarah überrascht.

„Klar, wo willst du sonst einen Samstagabend verbringen? Wir treffen Elaine, Joanne, Cassy und Ira um zehn. Wenn wir fertig sind, essen wir noch zusammen was und gehen danach von hier aus los.“

Sarah betrachtete ihr Outfit. „Ich bin für einen Club nicht richtig angezogen.“ Sie hatte sich schon gestern, neben Lorraine, wie eine graue Maus gefühlt. Heute würde es noch schlimmer werden.

„Du kannst dir von mir was zum Anziehen ausleihen. Ich habe mehr als genug“, versicherte Lorraine ihr.

„Ich weiß nicht, ob mir deine Sachen passen“, gestand Sarah zaghaft, was Lorraine wieder zum Lachen brachte. Sie lachte sogar so herzhaft, dass ihr Tränen in die Augen traten.

„Du bist zu süß und mit dir wird es einem auch nie langweilig. Ich habe mich schon lange nicht mehr so amüsiert“, sagte Lorraine, als sie sich wieder in den Griff bekam. „Wir sind Hexen, Sarah! Was nicht passt, wird passend gemacht. Wenn ich mit dir fertig bin, bist du fürs Pandora auf jeden Fall richtig gekleidet.“

 

Lorraine hatte nicht zu viel versprochen, dachte Sarah, als sie sich im Spiegel bewunderte. Sie sah auf jeden Fall mehr als gut genug aus, um ins Pandora zu gehen. Sie glaubte nicht, dass sie jemals so sexy ausgesehen hatte. Sie trug ein kurzes, dunkelgrünes Trägerkleid, das perfekt zu ihren grünen Augen passte und sie noch besser zur Geltung brachte. Nach etwas zauberhafter Hilfe war das Kleid wie für Sarah maßgeschneidert, und auch beim Schminken half Lorraine magisch nach. Sie besaß eine selbst angefertigte Flüssigkeit, die wie Parfüm aufgesprüht wurde und zum Outfit passendes Make-up kreierte. Der Lidschatten wurde grün, ihre Lippen färbten sich dunkelrot. Um ihre Augen und im Ausschnitt tauchte grünlicher Glitter auf. Sarah konnte das alles kaum glauben und starrte in den Spiegel, als sie sich vor ihren Augen magisch veränderte. Ob sie sich jemals an all das gewöhnen würde?

Sarah war immer noch damit beschäftigt, ihr Spiegelbild zu betrachten, als Lorraine breit grinsend neben ihr auftauchte.

„Du siehst toll aus“, sagte sie und legte Sarah die Pentagramm Kette um, die sie gemeinsam mit Schutzzaubern verstärkt hatten. Außerdem hatten sie noch durchsichtige, glitzernde Perlen und schwarze Rosen auf beiden Seiten des Pentagramms hinzugefügt, die zuvor in Zaubertränke eingelegt worden waren. Das Resultat sah, Sarahs Meinung nach, toll aus und sollte sie zumindest vor schwächeren magischen Angriffen schützen. Sarah hoffte, nie herausfinden zu müssen, ob die Kette funktionierte, aber sobald sie um ihren Hals lag, fühlte sie sich schon sicherer. Sie lächelte und bemerkte, wie die durchsichtigen Perlen der Kette grün wurden.

„Sie passen sich immer dem Outfit an“, sagte Lorraine, als sie Sarahs erstaunten Blick entdeckte.

Sarah nahm eine der Perlen zwischen zwei Finger, um sie genauer zu betrachten und stellte dabei fest, dass auch ihre Fingernägel grün schimmerten. Leicht ungläubig schüttelte sie den Kopf, konnte aber nicht sagen, dass sie es vermissen würde, Nagellack und vor allem Nagellackentferner zu benutzen. Hexe zu sein hatte eine Menge Vorteile.

Mit sich und ihrem Aussehen zufrieden, drehte sich Sarah zu Lorraine. Auch sie sah super aus, aber das war zu erwarten gewesen. Lorraine würde wahrscheinlich sogar in einem Kartoffelsack glänzen.

„Schick“, sagte Sarah. „Silber steht dir gut.“

Lorraine grinste selbstsicher und schnappte sich ihre Handtasche. Es war Zeit zu gehen.

 

Joanne, Cassy, Elaine und Ira warteten vor dem Pandora auf sie. Auch beim zweiten Besuch war es noch genauso beeindruckend wie beim ersten Mal. Sarah konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder in einen anderen Club gehen zu wollen. Die waren im Vergleich langweilig.

Auf dem Weg zum VIP-Bereich erzählte sie den anderen, dass sie sich freute, mit ihnen zusammen nach unten zu gehen, da sie nicht sicher war, ob der ‚Türsteher’ sie nur aus Versehen runter gelassen hatte und sie diesmal vielleicht allein nicht mehr durchlassen würde. Ihre Freundinnen lachten amüsiert.

„Bernie macht nichts aus Versehen“, sagte Joanne. „Er ist Halb-Dämon und sehr talentiert darin, auf einen Blick zu erkennen, wer zur Welt des Übernatürlichen gehört und wer nicht.“

Bernie, dachte Sarah. Das klang nicht gerade dämonisch.

„Außerdem hat er, Gerüchten zufolge, telepathische Fähigkeiten oder so. Er kann Prima Vista beeinflussen und dafür sorgen, dass sie, ohne Probleme zu machen, auf ihn hören“, fügte Cassy hinzu.

Sarah beobachtete Bernie, wie er die Kette zum VIP-Bereich für sie entfernte. Nun verstand sie, wieso jemand, der auf den ersten Blick unscheinbar aussah, einen guten ‚Türsteher’ abgab und warum er trotz seines Aussehens Autorität ausstrahlte.

Als sie die Treppe hinuntergingen, bot sich Sarah ungefähr der gleiche Anblick wie am vorherigen Abend. Kreaturen, von denen sie immer noch nicht wusste, welcher Rasse sie angehörten, tummelten sich zwischen Menschen, oder Wesen, die zumindest auf den ersten Blick menschlich wirkten. Im Gegensatz zu gestern, verspürte Sarah heute keine Angst. Umgeben von ihren Hexen-Freundinnen, fühlte sie sich, als würde sie hierher gehören. Lächelnd drehte sie sich zu Lorraine, die anfing, ihr zu erklären, an welchen Wesen sie vorbeiliefen. Im VIP-Bereich des Pandoras wimmelte es von Dämonen, Halb-Dämonen, Werwölfen, Vampiren, Hexen, Elfen, Gestaltwandlern und anderen mystischen Wesen. Sarah versuchte, sich die Erscheinungsbilder der Wesen einzuprägen, aber es war nicht leicht. Viele glichen Menschen optisch, andere hielten auch hier unten eine Illusion aufrecht, und Sarah musste sich stark konzentrieren, um zu erkennen, wie jemand wirklich aussah. Es strengte sie an, aber immerhin schaffte sie es nach ein paar Anweisungen von Lorraine. Dämonen waren ohne Illusionen am leichtesten auf den ersten Blick zu erkennen, aber laut Joanne gab es eine Unmenge verschiedener Arten, die sich drastisch von einander unterschieden. Sarah seufzte. Sie hatte noch viel zu lernen.

Nach einem informativen Rundgang durch den unteren Bereich des Pandoras, fand Ira einen Tisch in der Nähe der Tanzfläche. Elaine kündigte an, dass sie allen an der Bar einen Hexencocktail bestellen gehen würde und der Rest setzte sich an den Tisch, der zu Sarahs Überraschung rund um einen kleinen Brunnen gebaut war. Ein farbiges Licht darin ließ das Wasser rötlich schimmern.

„Was für Zauberei habt ihr schon geübt?“, fragte Joanne, während Cassy sich vorlehnte und mit ihrem Zeigefinger durch das Wasser fuhr. Das Licht im Brunnen färbte sich von rot über lila zu blau und langsam wieder zurück.

„Wir haben Sarah erst mal ein Schutzamulett erstellt. Keine Hexe sollte ohne eines herumlaufen“, antwortete Lorraine. Die anderen stimmten ihr zu und wollten die Kette genauer betrachten. Sarah interessierte es mehr, was Cassy tat. Sie lehnte sich zu ihr.

„Kannst du mir beibringen, wie du das machst? Die Farbe des Lichts im Brunnen ändern, meine ich.“

„Klar“, antwortete Cassy. „Es ist ganz einfach, du musst es dir nur bildlich vorstellen.“

„Okay“, murmelte Sarah unsicher. Sie konzentrierte sich und starrte auf die Lampe im Wasser. In Gedanken erinnerte sie sich, wie es bei Cassy ausgesehen hatte. Zeit verstrich, aber nichts passierte. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn.

„Stell dir den Brunnen in mehreren Farben vor. Zum Beispiel erst in helleren Rottönen, dann orange“, schlug Lorraine vor.

„Ja, probier kleinere Schritte“, stimmte Cassy zu.

„Wie bei Bildern, die zu einem Film werden“, mischte sich Ira ein.

Sarah nickte. Mit geschlossenen Augen stellte sie sich den Brunnen im Detail vor. Danach veränderte sie im Geiste die Farben. Als sie die Augen öffnete, schimmerte das Wasser orange. „War ich das? Ihr habt nicht geholfen?“

Alle schüttelten die Köpfe.

„Nein, Ehrenwort.“

„Siehst du, du kannst es“, sagte Lorraine aufmunternd. „Ich habe ja gleich gewusst, dass du ein Naturtalent bist.“

Sarah strahlte glücklich und voller Stolz. Sie konzentrierte sich erneut. Das Licht färbte sich gelb und weiß, bevor es langsam wieder rot wurde. Sie atmete tief ein und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Plötzlich war sie ausgelaugt und müde.

„Hier, trink was. Zaubern ist anstrengend, vor allem wenn man es nicht gewöhnt ist“, sagte Joanne und schob einen Cocktail auf sie zu.

Sarah nahm einen Schluck. Eine angenehme Wärme durchströmte ihren Körper. Von einem Augenblick zum Nächsten fühlte sie sich erfrischt und munter. Überrascht sah sie die anderen an.

„Hexencocktail“, erläuterte Lorraine. „Er stärkt uns und unsere Magie. Es ist immer gut, einen zu haben, wenn man vorhat, viel zu zaubern. Und keine Sorge, da sind keine Aufputsch­mittel oder so drin, und er hilft auch nicht unbegrenzt. Er gibt uns nur einen kleinen Schub, damit wir nicht immer gleich so erschöpft sind.“

„Na dann könnt ihr mir ja noch mehr beibringen“, erwiderte Sarah fröhlich und trank noch mehr.

„Klar, was willst du lernen?“, wollte Joanne wissen.

„Alles“, antwortete Sarah lachend. „Ich weiß nicht mal, was Hexen alles können, also fangt einfach irgendwo an.“

 

Die nächsten Tage und Wochen verliefen ähnlich. Sarah besuchte Lorraine fast täglich und die beiden verbrachten Stunden in ihrer Hexenküche, wo sie Zaubersprüche ausprobierten, Zaubertränke brauten, Schutzzauber Amulette und Ähnliches auf Vorrat anfertigten oder sich am Strand in die Sonne legten, wenn das Wetter mitspielte. Manchmal kamen auch Elaine, Joanne, Cassy oder Ira dazu. Abends gingen sie gemeinsam ins Pandora, wo sie etwas tranken, Zaubern übten, Sarah beibrachten, die verschiedenen Arten übernatürlicher Wesen zu erkennen und tanzen gingen. Sarah hatte in ihrem Leben noch nie so viel Spaß gehabt und genoss jeden Tag. Sie liebte es, eine Hexe zu sein.

3. Hexen Spiele

Sarah saß mit geschlossenen Augen im Schneidersitz auf ihrem Bett und atmete tief ein und aus. Je mehr sie relaxte, desto leichter wurde es, zu schweben. Lorraine hatte mit ihrer Freundin aus Magijaria gesprochen und ihr danach ein paar Tipps gegeben. Seitdem übte Sarah das Schweben fast täglich. Allerdings klappte es nur manchmal und heute gehörte anscheinend nicht dazu. Sie saß schon eine halbe Stunde auf ihrem Bett und nichts passierte. Ihre Gedanken kreisten um ihre Zukunft. Sollte sie die Uni wechseln oder würde es reichen, ein paar Kurse an der UM Lunadar nebenher zu belegen? Zusätzlich beschäftigte sie die Frage, was sie heute Abend ins Pandora anziehen sollte. Sie konnte sich nicht ständig Klamotten von Lorraine ausleihen. Leider sahen ihre eigenen nicht halb so sexy und schick aus. Vielleicht sollte sie einkaufen gehen? Ja, das war eine gute Idee. Am besten würde sie gleich Selina fragen, ob sie mitkommen wolle. Sie stand auf und verließ ihr Zimmer.

Selina saß im Gemeinschaftsraum, ein Buch in ihren Händen. Aber sie schien in Gedanken verloren und nicht bei der Sache zu sein.

„Hey“, grüßte Sarah und setzte sich zu ihrer Freundin aufs Sofa. Selina sah überrascht zu ihr. Sie hatte sie wohl nicht kommen hören.

„Hi“, entgegnete sie mit einem kleinen Lächeln.

„Ich hätte mal wieder Lust auf einen Einkaufsbummel. Falls du nichts anderes vorhast …“

Selina ließ sie nicht aussprechen. „Das klingt super“, verkündete sie fröhlich. „Ich habe sowieso keine Lust mehr auf Soziologie.“ Sie legte ihr Buch demonstrativ auf den Tisch und klappte es zu. „Und ich habe nichts Gescheites zum Anziehen für die Party.“

„Party?“, fragte Sarah verlegen.

„Die Wohnheim-Party heute Abend. Sie ist diesmal auf unserem Stockwerk. Das hast du doch nicht vergessen, oder? Es hängen überall Flyer auf dem Campus.“

Oje, das hatte Sarah tatsächlich vergessen. Sie war, wie jeden Samstag, mit Lorraine und den anderen im Pandora verabredet und konnte es kaum abwarten, dorthin zu gehen, vor allem weil Lorraine heute Nachmittag keine Zeit gehabt hatte.

„Sag nicht, du hast was anderes geplant. Wir haben uns doch schon seit langem auf diese Party gefreut und wir haben sowieso schon ewig nichts mehr zusammen gemacht“, sagte Selina geknickt.

Sarah schluckte und fühlte sich plötzlich schuldig. Seit sie Lorraine kannte, hatte Sarah ihre Freizeit fast nur noch mit ihr und den anderen Hexen verbracht. Selina war dabei irgendwie auf der Strecke geblieben. Anfangs hatte sie ihr nichts erzählen und sie in nichts hineinziehen wollen. Dann hatte sie erfahren, dass sie ihr sowieso nichts erzählen durfte und danach war sie so begeistert vom Zaubern und der neuen Welt gewesen, die sich ihr aufgetan hatte, dass sie ihre beste Freundin total vernachlässigte. Es war Sarah so wichtig gewesen, Selina nicht zu verlieren und nun verbrachte sie so gut wie keine Zeit mehr mit ihr. Das war nicht nur bescheuert, sondern sie hatte sich auch noch zu einer miesen Freundin entwickelt. So konnte es auf keinen Fall weitergehen. Nur weil sie jetzt eine Hexe war, bedeutete das nicht, dass sie nur noch mit Hexen befreundet sein konnte oder wollte.

„Du hast recht, aber das wird sich ändern, versprochen. Und natürlich gehen wir zusammen auf die Party“, versicherte Sarah ihr. „Mit unseren neuen Outfits, die wir jetzt kaufen gehen.“

Strahlend stand Selina auf. „Ich geh mich umziehen.“

Sarah nickte und ging in ihr Zimmer. Sie musste Lorraine noch absagen.

 

Der Einkaufsbummel war ein voller Erfolg, dachte Sarah, als sie sich für die Party fertig machte. Sie hatte sich zwei neue Hosen, vier Oberteile, zwei Paar Schuhe und einige Kleider gekauft. So viel Geld hatte sie schon lange nicht mehr ausgegeben, aber genau deshalb war es in Ordnung. Sie hatte genug Geld geerbt und konnte sich ab und zu etwas leisten, vor allem weil sie im Studentenwohn­heim lebte und dadurch Geld sparte. Zufrieden betrachtete sie ihre Einkäufe noch einmal. Nun besaß sie endlich etwas Eigenes zum Anziehen, das sie neben Lorraine und den anderen nicht verblassen lassen würde.

Obwohl Sarah am liebsten gleich eines ihrer neuen, sexy Kleider angezogen hätte, entschied sie sich für die schwarze Jeans und ein dunkelrotes, glänzendes Trägeroberteil, das ihre Figur betonte. Es sah sexy aus, aber nicht zu schick, wodurch es sich für eine Studentenfeier besser eignete. Sie nahm das magische Make-up, das sie vor kurzem mit Lorraine für sich hergestellt hatte, sprühte es auf und beobachtete, wie sich ihre Schminke und ihr Nagellack dem Outfit anpassten. Sie glaubte kaum, dass es ihr je langweilig werden würde, dabei zuzusehen.

Gut gelaunt schnappte Sarah sich ihr Schutzamulett und legte es um ihren Hals. Ihr Handy machte sich bemerkbar. Sie setzte sich auf ihr Bett und öffnete WhatsApp. Die Nachricht war von Lorraine. Obwohl Sarah ihr schon vor Stunden, trotz unzähligen Überredungs­versuchen, abgesagt hatte, schien Lorraine nicht aufgeben zu wollen. Sie konnte Sarahs Entscheidung, ihren Abend lieber mit Prima Vista zu verbringen, nicht nachvollziehen. So langsam bekam Sarah das Gefühl, dass Lorraine nicht viel von normalen Menschen hielt. Wahrschein­lich sollte sie mit ihr darüber reden, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Die Party ging gleich los. Sie antwortete Lorraine schnell und versprach, noch ins Pandora zu kommen, falls es ihr auf der Studentenfeier zu langweilig werden würde. Sie glaubte es nicht, aber vielleicht wäre Lorraine damit zufrieden.

Nachdem sie die Nachricht abgeschickt hatte, steckte Sarah ihr Smartphone ein und verließ den Raum, den sie sicherheitshalber abschloss. Sie wollte heute Nacht nicht in ihr Zimmer kommen und betrunkene Partygäste in ihrem Bett vorfinden oder riskieren, dass jemand ihre Hexenutensilien und Bücher fand.

„Fertig?“, fragte Selina, als sie aus ihrem Zimmer trat und es abschloss.

Nickend lief Sarah zu ihrer Freundin, die wie immer super aussah. Ihre blonden Haare fielen ihr in leichten Wellen über die Schultern. Sie trug eine helle Jeans, zusammen mit der blauen Bluse, die sie heute gekauft hatten. Ihr Lächeln war umwerfend. Mit ihrer natürlichen Schönheit brauchte Selina nicht einmal magisches Make-up. Was das Aussehen anging, stellte Sarah in dem Moment fest, war Selina das genaue Gegenteil von Lorraine.

„Mal sehen, wer schon alles da ist“, sagte Selina. „Vielleicht lernen wir heute ein paar nette Typen kennen. Ich hatte schon ewig keine Verabredung mehr.“

„Ich auch nicht“, erwiderte Sarah. Sie war viel zu sehr auf Magie und ihre neuen Freundinnen fixiert gewesen, um ihrem nicht-vorhandenen Liebesleben einen Gedanken zu schenken. Vielleicht sollte sie auch in dieser Hinsicht etwas ändern. Zumindest ein kleiner Flirt wäre nicht schlecht.

„Mal sehen, ob wir das nicht ändern können“, beschloss Selina.

Sarah nickte und die beiden machten sich Arm in Arm auf den Weg.

 

Es sah so aus, als würde die Party ein großer Erfolg werden. Der gesamte Flur, die Küchen, Aufenthaltsräume und auch mehrere Gemeinschaftsräume von Wohneinheiten waren brechend voll. Getränke gab es fast überall umsonst, wenn man jemanden kannte. Trinkspiele wurden gespielt, die Musik war gut und die Leute nett. Mit ihrer offenen Art hatte Selina es geschafft, dass sie ohne viel Zutun schon von mehreren Typen angesprochen wurden. Selina schien sich blendend zu amüsieren. Sarah hingegen schaffte es nicht, sich wohlzufühlen. Obwohl sie immer gerne auf Studentenpartys gegangen war und auf diesen jede Menge Spaß gehabt hatte, gelang ihr das heute Abend nicht. Ihre Gedanken schweiften immer wieder zum Pandora und ihren Hexen-Freundinnen, die sie erst gestern Abend gesehen hatte, aber schon unheimlich vermisste. Sie konnte sich beinahe bildlich vorstellen, wie sie mit Lorraine und den anderen an einem Tisch saß, einen Hexencocktail schlürfte, der viel besser schmeckte als alles, was es hier zu trinken gab, die Farben von Lichtern im Club veränderte, neue Zaubereien lernte und zusah, wie Lorraine, Joanne, Elaine oder Cassy die Getränke von anderen Wesen mithilfe von Magie vertauschten, Stühle verrückten, Glitter über küssenden Paaren regnen ließen oder sich irgendwelche anderen lustigen, magischen Spielchen und Scherze ausdachten.

Sarah seufzte leise und versuchte, sich wieder auf ihre Umgebung und Selina zu konzentrieren. Sie würde doch noch einen Abend ohne Magie, Hexen und das Pandora aushalten. Es wäre lächerlich, wenn sie sich mit normalen Menschen nicht mehr amüsieren könnte. Gut aussehende, junge Männer gab es hier genügend. Mit einem davon würde sie sich bestimmt gut verstehen. Als sie ihren Blick durch den Raum schweifen ließ, entdeckte sie einen großen Mann mit langen, dunklen Haaren. Es war der Fremde, den sie an ihrem ersten Abend im Pandora gesehen hatte. Er betrachtete sie wieder genauso eindringlich wie damals.

„Sarah!“

Blinzelnd drehte sie sich zu Selina, die sie stirnrunzelnd ansah.

„Alles okay mit dir?“

„Ja, alles klar“, antwortete Sarah und drehte sich zurück in Richtung des Fremden, fand ihn aber nicht mehr. War er wirklich hier gewesen oder hatte sie ihn sich eingebildet? Sie hatte schon öfter geglaubt, ihn irgendwo zu sehen, aber er verschwand immer gleich wieder. Oder bekam sie ihn nur nicht aus ihrem Kopf und bildet sich alles ein? Sah sie ihn möglicherweise immer wieder, weil er ihr mehr gefiel, als sie dachte? Interessierten andere Männer sie deshalb nicht so recht? Nein, mit seiner düsteren Art, war er ganz sicher nicht ihr Typ. Bestimmt begegnete sie ihm nur ab und zu. Sie lebten schließlich in der gleichen Stadt. Es handelte sich um Zufall, nicht um Einbildung oder Wunschdenken ihrerseits.

Als zwei gut aussehende, junge Männer mit Getränken auf sie und Selina zukamen, schob Sarah ihre Gedanken an den Fremden beiseite. Die beiden wirkten fröhlich und gefielen ihr deshalb besser. Einen davon kannte sie flüchtig aus ihren Vorlesungen. Er begrüßte sie, als wären sie alte Freunde und schenkte Selina ein strahlendes Lächeln. Sarah schmunzelte, bevor sie die beiden einander vorstellte.

 

Ungefähr eine Stunde später kam Sarah aus dem Bad und wollte gerade zu Selina, Matt und James zurückgehen, überlegte es sich aber anders. Matt war nett, aber total auf Selina fixiert. Das machte Sarah nichts aus, vor allem weil Selina ihn auch zu mögen schien, aber sein Freund James, mit dem Sarah sich notgedrunge­nerweise die letzte Stunde ‚unterhalten’ hatte, nervte total. Er sah gut aus, wusste das aber auch und verhielt sich dementsprechend. Er war viel zu arrogant und erzählte die ganze Zeit nur von sich. Es hatte ihm anscheinend noch keiner gesagt, dass Frauen ein bisschen Aufmerksamkeit und Interesse an ihnen mehr schätzten als Monologe und gutes Aussehen. Sie hatte keine Lust mehr auf ihn.

Sarah holte ihr Smartphone aus ihrer Tasche, fand jedoch keine neuen Nachrichten. Lorraine schien aufgegeben zu haben. Obwohl Sarah das noch vor einer Weile gehofft hatte, fühlte sie sich nun ein wenig enttäuscht. Sollte sie doch noch ins Pandora gehen? Sie war sich nicht sicher, vor allem weil sie schon einiges getrunken hatte. Einem eingebildeten Typen eine Stunde zuzuhören, wäre ohne Alkohol unerträglich gewesen. Am besten sie ging erst einmal in ihren Gemeinschafts­raum, etwas Alkoholfreies trinken. Danach konnte sie sich überlegen, was sie machen sollte.

Ihre Wohneinheit lag am Ende des Ganges, wodurch hier weniger los war. Als sie die Tür öffnete, schreckte sie ein Pärchen auf, das ihr Sofa vereinnahmt hatte. Die beiden standen auf und zogen ihre Klamotten zurecht, während sie torkelnd verschwanden. Sarah beschloss, nicht darüber nachzudenken, was auf ihrer Couch abgegangen war oder noch hätte passieren können, wenn sie nicht hereingekommen wäre. Stattdessen holte sie sich ein Mineralwasser und setzte sich auf den Sessel. Kaum hatte sie einen Schluck genommen, kamen Kelly und Frank herein. Auch sie waren angeheitert und kicherten leise, bevor sie bemerkten, dass sie nicht allein waren.

„Sarah, was machst du denn hier?“, wollte ihre Freundin wissen.

„Ich wohne hier“, antwortete sie amüsiert. „Und ich hatte Durst.“ Sie hielt ihre Wasserflasche hoch.

„Achso“, murmelte Kelly.

„Du gehst also gleich wieder?“, fragte Frank.

„Ihr wollt wohl allein sein? Kein Problem, ich …“

„Nein, nein, so war das nicht gemeint“, versicherte ihr Frank.

„Genau. Wir dachten nur … ich meine, wir wollten das hier ausprobieren“, stammelte Kelly und hielt etwas hoch. Sarah bemerkte erst jetzt, dass sie etwas in den Händen hielt. Es war länglich, hatte abgerundete Ecken und sah aus, als wäre es aus Holz.

„Ein Brett?“, fragte sie ungläubig.

„Das ist nicht nur ein Brett“, erwiderte Kelly aufgeregt, als sie sich Sarah gegenüber auf das Sofa setze und das Stück Holz auf den kleinen Tisch zwischen ihnen legte. Frank folgte ihr und ließ sich neben seine Freundin fallen. Sarah beschloss, ihnen nicht zu erzählen, was vor ihrer Ankunft auf der Couch abgegangen war.

„Es ist ein Hexenbrett“, erläuterte Frank.

Interessiert lehnte Sarah sich vor. Sie hatte im Fernsehen schon viele gesehen, aber noch keines in echt, nicht einmal bei Lorraine. Vielleicht lag eines in einem ihrer Schränke oder Hexenbretter waren Unsinn, den sich Prima Vista ausgedacht hatten. Sarah wusste es nicht, aber sie würde es gerne herausfinden.

„Wo habt ihr es her?“, fragte sie.

 „Ich glaube, es gehört Nina, zwei Wohneinheiten weiter. Sie hat es im Gemeinschaftsraum rumliegen lassen und ein paar Idioten haben Saufspiele darauf gemacht“, antwortete Kelly empört.

„Wir haben es im Bad gesäubert“, fügte Frank hinzu.

„Und dachten uns, als Gegenleistung dafür, dass wir es gerettet haben, leihen wir es uns aus und testen, ob es funktioniert“, sagte Kelly.

„Du kannst gern mitmachen, wenn du …“

„Klar, ich bin dabei“, entgegnete Sarah, bevor Frank aussprechen konnte.

Erstaunt sah Kelly sie an. „Ich dachte, du glaubst nicht an Magie und so.“

„Meine Mutter glaubte nicht daran. Ich bin eher der Ansicht, dass alles möglich ist, solange ich keine gegenteiligen Beweise gesehen habe.“ Oder zumindest war das Sarahs Einstellung, seit sie ihr Weltbild zurechtgerückt hatte.

„Das sehe ich genauso“, stimmte Frank ihr zu.

„Probieren wir es einfach mal aus“, beschloss Kelly. „Ich zünde uns noch ein paar Kerzen an. Ihr wisst schon, um die richtige Stimmung zu erzeugen.“

„Ich helfe dir“, bot Sarah an.

Nachdem der Raum nur noch von Kerzenlicht erhellt wurde, setzten sich die drei um den Tisch.

„Wem wollen wir Fragen stellen? Ich kenne nur meine Groß­eltern, die verstorben sind, und wir standen uns nie sehr nah“, sagte Frank.

„Sarah, du hast doch deine Eltern verloren. Willst du …“, begann Kelly unsicher.

Sarah überlegte kurz und nickte. Sie hatte ungefähr eine Million Fragen an ihre Mutter. Falls das Hexenbrett funktionierte, bekam sie möglicherweise eine Chance, zumindest ein paar davon zu stellen.

„Lasst uns versuchen, meine Mutter zu kontaktieren“, beschloss sie und legte ihre Finger so auf den Zeiger, wie es in Filmen gemacht wurde. Die beiden anderen folgten ihrem Beispiel und sahen sie fragend an.

„Okay“, murmelte Kelly, als ihr das Schweigen zu lange anhielt. „Wir rufen den Geist von …“

„Amanda Lewis“, fügte Sarah ein.

„Wir rufen den Geist von Amanda Lewis … aus der … äh … Geisterwelt“, schloss Kelly.

Erst passierte nichts, dann wehte ein leichter Wind durch den Raum und Kerzen fingen an zu flackern. Fröstelnd drehte Sarah sich um. Funktionierte es oder stand irgendwo ein Fenster offen? Das würde passen, denn es war auch ziemlich kalt.

„Stell eine Frage“, rief Kelly eifrig.

Sarah holte tief Luft und überlegte.

„Mama …“ Weiter kam Sie nicht, denn der Zeiger schoss unter ihren Fingern davon und blieb auf dem Feld ‚Nein’ liegen.

Kelly stieß einen Schrei aus und sank gegen Frank, der seine Arme um sie legte und verblüfft dreinschaute. Sarah starrte auf das Hexenbrett. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Hatten sie wirklich einen Geist kontaktiert? Oder fand es einer ihrer Freunde lustig, sich auf ihre Kosten einen Scherz zu erlauben?

 

Selina Matar stellte ihr leeres Glas auf einen Tisch. Sarah war schon eine Weile weg. So lange brauchte sie nicht im Bad. Außer, es wäre ihr schlecht, aber so betrunken hatte sie nicht gewirkt. Konnte sie schon wieder verschwunden sein? Seit Sarah ihr davon erzählt hatte, dass sie überfallen worden war, hatte ihre Freundin sich verändert. Zu Hause hielt sie sich kaum noch auf. Selina wusste nicht, wohin sie ging. Es hieß nur, sie treffe sich mit Freunden, aber diese mysteriösen Freunde kamen nie zu Besuch oder wurden namentlich genannt. Wahrschein­lich hätte sie Sarah schon längst darauf ansprechen sollen. Aber sie wollte ihre Freundin nicht drängen. Sarah hatte es nicht leicht gehabt im letzten Jahr. Nein, sie hatte es noch nie leicht gehabt. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt, da er vor ihrer Geburt bei einem Unfall ums Leben gekommen war, und vor acht Jahren war ihr Stiefvater an Krebs gestorben. Als wäre das nicht schlimm genug, musste es bei Tohosés einzigem Raubmord, vor einem Jahr, ausgerechnet Sarahs Mutter erwischen. Selina schluckte. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie man sich in so einer Situation fühlte. Und jetzt wurde Sarah auch noch überfallen. Dass es ihr nach alldem nicht gut ging und sie sich ein bisschen veränderte, war nicht verwunderlich. Selina wollte für sie da sein, wusste aber nicht wie, vor allem weil Sarah sich so verschlossen verhielt. Eine Freundin, die ihr sagte, dass sie sich negativ verändert hatte, war wahrscheinlich das Letzte, das sie gebrauchen konnte. Selina seufzte und beschloss, Sarah suchen zu gehen. Auch wenn sie sie zumindest im Moment noch nicht auf ihr Verhalten ansprechen wollte, konnte sie dennoch versuchen, für sie da zu sein und ihr zu zeigen, dass sie nicht allein war.

Nachdem sie sich von Matt verabschiedete und er ihr seine Telefonnummer gab, für den Fall, dass sie sich später auf der Party nicht mehr finden würden, machte Selina sich auf den Weg zum Bad. Sie kam an einer Gruppe betrunkener Jungen vorbei, die ihr nachpfiffen. Genervt machte sie einen Bogen um sie, wobei sie aus Versehen mit jemandem zusammenstieß.

„Tut mir leid, ich habe nicht aufge…“ Sie brach ab, als sie zu dem jungen Mann hochsah. Er war ganz in schwarz gekleidet und hatte einen gut durchtrainierten Körper, wie sie bei ihrem Zusammenstoß feststellte. Lange, schwarze Haare fielen ihm über die Schultern. Seine grünen Augen musterten sie so intensiv, dass sie eine Gänsehaut bekam. Noch nie war sie von jemandem so angesehen worden und noch nie hatte sie auf einen Mann so reagiert wie auf ihn. Normalerweise bereitete es ihr keine Probleme, jemanden anzusprechen. Im Moment bekam sie kein Wort heraus. Reden war auch nicht das, was sie tun wollte. Ihre Augen fixierten seine vollen Lippen. Es gab viel Wichtigeres …

„Selina!“

Sie blinzelte verwirrt, als sie ihren Namen hörte, und entdeckte eine Kommilitonin zu ihrer Rechten. Benommen winkte sie ihr zu und drehte sich zu dem Unbekannten zurück, der ihr im Moment viel wichtiger war. Er stand nicht mehr neben ihr. Überrascht suchte Selina den Raum ab, fand ihn aber nirgends. Wo war er so schnell hin verschwunden? Eben hatte er noch direkt vor ihr gestanden. Weit konnte er nicht gekommen sein. Und wieso war er gegangen? So, wie er sie angesehen hatte, musste er das Gleiche gefühlt haben wie sie. Sie hatte das Knistern zwischen ihnen förmlich spüren können. Das konnte sie sich unmöglich eingebildet haben.

Schnell ging Selina zu ihrer Kommilitonin und fragte, ob sie gesehen hatte, wo der Fremde hingegangen war. Auch sie wusste es nicht. Na toll. Sie hatte sich noch nie zu jemandem so hingezogen gefühlt, und nun war er, so schnell, wie er in ihrem Leben aufgetaucht war, auch wieder daraus verschwunden.

Frustriert beschloss Selina, nach Sarah zu suchen und vielleicht fand sie dabei auch den gut aussehenden, mysteriösen Unbekannten. Es gab nur zwei Richtungen, in die er gegangen sein konnte. Sie sah sich ein letztes Mal um, falls sie ihn doch übersehen hatte, fand ihn aber nicht. Stattdessen fiel ihr Blick auf Matt, mit dem sie sich mindestens eine Stunde unterhalten hatte und den sie mochte. Sie hatte sogar vorgehabt, ihn anzurufen. Wie schnell sich alles ändern konnte. Matt war ihr plötzlich überhaupt nicht mehr wichtig und ihm schien es genauso zu gehen. Er unterhielt sich bereits ausgiebig mit einer Anderen. Vor weniger als fünf Minuten hatte er ihr noch seine Telefonnummer gegeben und jetzt himmelte er eine Andere an. Toll, auf so einen konnte sie verzichten. Nicht, dass sie besser war … aber trotzdem. Das hätte sie nicht von ihm erwartet. Was fand er überhaupt an der? Ja, sie sah sehr sexy aus, war aber mit ihren schwarzen Haaren, der blassen Haut und dunklen Schminke so ziemlich das genaue Gegenteil von Selina. Außerdem klang ihr Lachen, das durch den Raum hallte, total unecht. Wenn Matt auf so etwas stand, war er definitiv nicht der Richtige für sie. Gut, dass sie auch kein Interesse mehr an ihm hatte! Geknickt drehte Selina sich um und ging. Sie hatte eine Freundin zu finden.

 

Ariana Henley lief durch das Wohnheim und versuchte, die fröhlichen und meist betrunkenen Studenten zu ignorieren. Nach einem Streit mit ihrem Freund war sie nicht in Partystimmung. Wieso musste Leo sie immer herumkommandieren? Natürlich wusste sie, warum. Als dominanter Werwolf tendierte er dazu. Die Frage war nicht, warum er sie so behandelte, wie er es tat, sondern, wieso sie sich immer in Typen wie ihn verliebte. Es gab genügend nette Männer und Frauen, die sie weitaus besser behandeln würden. Warum konnte sie sich nicht in einen oder eine von ihnen verlieben? Sie hatte freie Auswahl. So schwer konnte es nicht sein, jemand halbwegs netten zu finden.

„Ariana!“

Als sie Leos Stimme hörte, zuckte sie zusammen. Sie verspürte keine Lust, weiter mit ihm zu streiten und hatte ihm mitgeteilt, dass sie ihn nie wieder sehen wolle. Damit war für sie alles gesagt. Es war aus, und das war auch gut so. Sie würde nach Hause gehen und ganz sicher nicht noch einmal mit ihm reden. So wie sie sich selbst kannte, würde sie sonst noch auf dumme Ideen kommen und sich mit ihm versöhnen. Sich an zwei knutschenden Paaren vorbeidrängelnd, ging sie in den nächstmöglichen Raum, in der Hoffnung, dass Leo sie dort nicht finden würde. Sie schloss die Tür und lehnte sich mit geschlossenen Augen dagegen. Als jemand am Zimmer vorbeirannte, atmete sie hörbar aus. Das konnte nur Leo sein. Zumindest klang das Getrampel nach einem wütenden Werwolf. Erleichtert öffnete sie die Augen und nahm ihre Umgebung das erste Mal wahr. Es handelte sich um den Gemeinschaftsraum einer Wohneinheit, der nur durch Kerzenlicht erhellt wurde, und sie war nicht allein. Drei Paar Augen beobachteten sie neugierig. Sie wollte sich gerade entschuldigen, um schnell zu verschwinden, als eine der beiden Mädchen aufstand und auf sie zukam.

„Ariana, oder?“

Überrascht horchte sie auf. Woher kannte sie ihren Namen? Einen Moment später wurde ihr Gesicht vom Kerzenschein erhellt und Ariana erkannte sie. Sie war vor ein paar Wochen im Magie-Laden gewesen. Ariana erinnerte sich, dass sie sie seltsamerweise gleich mochte und ihr deshalb geraten hatte, sich lieber von Magie und der Welt des Übernatürlichen fernzuhalten. Davon schien sie nicht begeistert gewesen zu sein und war missmutig verschwunden. Aufgetaucht war sie allerdings nicht mehr, was Ariana als gutes Zeichen angesehen hatte.

„Ist mit dir alles in Ordnung?“

Ariana schob ihre Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf …

„Sarah, richtig? Und ja, alles in Ordnung. Ich wollte nur …“

„Dich vor aufdringlichen Verehrern verstecken?“, fragte das andere Mädchen schmunzelnd. Ihre grünen Haare standen in alle Richtungen. Ariana glaubte, sie schon mal im Pandora gesehen zu haben. „Ich bin übrigens Kelly, und das ist mein Freund Frank.“

„So was in der Art“, gab Ariana zu. Dann sah sie, was vor den beiden auf dem Tisch lag: ein Hexenbrett.

„Was macht ihr denn damit?“, fragte sie aufgebracht.

„Wir haben gerade angefangen, es auszuprobieren“, antwortete Sarah. „Du kannst gern mitmachen und dich solange - vor wem auch immer - bei uns verstecken.“

Ariana starrte sie an. Mitmachen? Bei einer Geisterbeschwörung mit einem Hexenbrett? Und noch dazu einem, das keine eingravierten Schutzsymbole hatte, wie sie bemerkte, als sie das Brett genauer betrachtete. Wahrscheinlich wäre es sogar eine gute Idee, wenn sie teilnehmen würde, dachte sie mit einem irritierten Lachen. Wenn sie dabei wäre, würde nichts passieren und alle Anwesenden wären in Sicherheit. Aber was würde das bringen? Die drei könnten es ein anderes Mal allein versuchen und was dabei alles geschehen könnte, wollte Ariana sich nicht ausmalen. Ohne weiter darüber nachzu­denken, schnappte sie sich das Brett.

„Das ist keine gute Idee. Ihr solltet nicht mit Dingen spielen, von denen ihr nichts versteht!“, sagte sie viel aufgebrachter als geplant. „Am besten nehme ich das hier mit.“

„Was?“, fragte Sarah entgeistert. „Du kannst doch nicht unser Hexenbrett mitnehmen! Mal ganz davon abgesehen, dass wir es nur ausgeliehen haben.“

Ariana bedachte sie mit einem finsteren Blick. „Wem auch immer dieses Ding gehört, ich verspreche dir, ich tue ihm oder ihr einen großen Gefallen, indem ich es entsorge.“

„Entsorgen? Wir haben gerade erst sichergestellt, dass es nicht von betrunkenen Idioten kaputt gemacht wird“, beklagte sich Frank.

Ariana schnaubte ungläubig. „Es wäre besser gewesen, es wäre zerstört worden. Ihr habt ja keine Ahnung, wie gefährlich so was ist.“

„Gefährlich?“, fragte Sarah und sah sich in dem Raum um, bevor sie sich die Arme rieb, als wäre es ihr kalt. Ariana fand es überhaupt nicht kühl.

„Es ist doch nur ein Hexenbrett. Damit kontaktiert man Tote, falls es überhaupt funktioniert“, sagte Kelly mit einem Schulterzucken.

„Genau“, fügte Frank hinzu. „Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass sich jemand gruselt und bei mir ankuschelt.“ Er blickte schmunzelnd zu seiner Freundin, die ihn mit ihrem Ellenbogen in die Rippen stieß.

„Ich grusle mich nicht“, protestierte sie. „Ich fand es nur nicht lustig, dass du den Zeiger bewegt hast!

„Und weil ihr das für das Schlimmste haltet, was passieren kann, ist ein Hexenbrett für euch nichts. Ihr habt ja keine Ahnung davon“, sagte Ariana energisch und bemerkte danach erst, was Kelly gesagt hatte. Den Zeiger bewegt? Meinte sie etwa …

„Ich habe ihn nicht bewegt!“ entgegnete Frank. „Das war ja wohl eine von euch! Lustig fand ich es trotzdem.“

„Aber du hast Ahnung davon“, sagte Sarah und ignorierte ihre Freunde. „Zeig uns doch, wie man es richtig benutzt.“

„Auf keinen Fall“, erwiderte Ariana und machte einen Schritt auf Sarah zu. „Dieses Hexenbrett ist von Amateuren gemacht worden und nicht geschützt!“, fügte sie leiser hinzu, so dass nur Sarah sie hören konnte. Da sie im Magie-Laden gewesen war, hatte sie hoffentlich genug Ahnung vom Übernatürlichen, um zu wissen, dass Magie und Geister existierten und würde verstehen, was Ariana meinte.

Sarah starrte sie an und kam noch einen Schritt näher. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich von unsicher zu verärgert. „Du willst mich also schon wieder nur warnen? Wie wäre es zur Abwechslung mit ein bisschen Hilfe, statt mir immer nur zu raten, mich von allem fernzuhalten? Dafür ist es sowieso zu spät. Ich weiß über Magie Bescheid!“, antwortete sie genauso leise, aber um einiges forscher.

Bevor Ariana etwas erwidern konnte, ging die Tür auf und fünf Mädchen kamen in den Raum. Sie stöhnte leise. Auch das noch! Der Abend wurde immer besser.

„Lorraine! Was macht ihr denn hier?“, fragte Sarah. Sie klang überrascht, kannte die Hexen aber offensichtlich. Na toll. Anscheinend hatten ihre Warnungen überhaupt nichts gebracht.

„Wir haben beschlossen, wenn du nicht zu uns kommst, schauen wir bei dir vorbei“, entgegnete Lorraine mit einem Lächeln, bei dem es Ariana beinahe schlecht wurde. Lorraine war so … falsch. Wieso erkannte das außer ihr keiner?

„Hier wohnst du also?“, rief Elaine. Sie rümpfte ihre Nase und schien nicht erfreut über ihren momentanen Aufenthaltsort.

„Willst du uns nicht vorstellen?“, fragte Nadira. Sie war Arianas Meinung nach die Einzige aus der Hexen-Clique, die natürlich und echt wirkte. Würde sie nicht mit Lorraine und Co herumhängen, könnte sie vielleicht ganz nett sein.

„Ich gehe jetzt am besten“, sagte Ariana schnell. Mit diesen Hexen wollte sie nicht länger als nötig in einem Raum bleiben, egal ob sie sie verzaubern konnten oder nicht. Mit großen Schritten eilte sie zur Tür, doch Sarah hielt sie zurück.

„Warum lässt du nicht das Hexenbrett hier? Du siehst ja, dass wir jemanden haben, der sich mit so was bestens auskennt.“

Ariana lachte missmutig. „Nicht einmal deine Hexen-Freundinnen wären dumm genug, ein Ouija-Brett ohne magische Schutzsymbole zu benutzen. Wenn du unbedingt Tote kontaktieren willst, kauf dir bei uns im Magie-Laden ein gescheites Brett oder frag deine Freundinnen. Die haben bestimmt ein brauchbares. Mit diesem hier lockst du zu viel an, mit dem du sicher nicht reden willst.“

Sarahs Augen weiteten sich. Vielleicht kapierte sie endlich, dass man ein Hexenbrett nur benutzen sollte, wenn man davon Ahnung hatte. „Und da wir gerade bei Dingen sind, die du nicht magst … an deiner Stelle würde ich mir noch mal überlegen, mit wem ich meine Zeit verbringe.“ Sie deutete zu den Hexen.

Sarah wirkte verärgert, Lorraines Hand auf ihrer Schulter hielt sie jedoch davon ab, etwas zu sagen.

„Lass mal Sarah, Ariana wollte sowieso gerade gehen“, säuselte Lorraine in einem zuckersüßen Ton. „Nicht wahr, Beraterin?“

Wütend funkelte Ariana sie an, drehte sich um und verließ das Zimmer. Über Lorraine würde sie sich nicht aufregen. Davon hatte sie ohnehin genug. Als sie vor zwei Stunden aus dem Haus gegangen war, hatte sie nicht damit gerechnet, sich heute Abend mit einem verärgerten Werwolf, einer möglicherweise fehlgeschlagenen Geisterbeschwörung und einer Gruppe zwielichtiger Hexen herumärgern zu müssen. Sie seufzte und überlegte, ob Sarah und ihre unwissenden Freunde wirklich einen Geist, oder etwas anderes, das auf der Geisterebene gefangen gewesen war, heraufbeschworen hatten. Wahrscheinlich nicht. Sarah schien kaum etwas über die Welt des Übernatürlichen zu wissen, und es gab keine Anzeichen, dass sie magisch begabt war. Die beiden anderen waren mit Sicherheit Prima Vista. Um Geister zu beschwören, brauchte man zumindest ein bisschen magische Begabung und Zeit. Mit ein wenig Glück hatten Sarah und ihre Freunde weder das eine noch das andere gehabt, bevor Ariana einschreiten konnte, und es hatte sich wirklich nur einer von ihnen einen Scherz mit dem Zeiger erlaubt. Und falls nicht, Lorraine und ihre Hexenbande konnten sich auch mal nützlich machen.

 

Sarah stöhnte und ließ sich auf ihr Sofa fallen, froh darüber, dass die Party endlich endete und so langsam auch draußen Ruhe einkehrte. Was für eine Nacht! Erst hatte sie sich James Lobeshymnen auf sich selbst anhören müssen. Danach war ihr Versuch, endlich ein paar Antworten vom Geist ihrer Mutter zu bekommen, von Ariana ruiniert worden. Als wäre das nicht genug, mussten auch noch Lorraine und die anderen auftauchen. Ihr Hexenleben vor Kelly, Frank und Selina geheim zu halten, war heute Nacht wirklich nicht leicht gewesen.

„Das waren also deine neuen Freundinnen?“, fragte Selina, stellte zwei Gläser mit Wasser auf den Tisch und setzte sich. Sie klang nicht begeistert.

 „Mochtest du sie nicht?“, fragte Sarah, obwohl sie nicht wusste, ob sie die Antwort hören wollte. Ariana schien nicht viel von den Hexen zu halten, aber was die Verkäuferin dachte, bedeutete ihr nichts. Selinas Meinung hingegen zählte. Auch wenn Sarah nicht vorhatte, Selina mit ins Pandora oder zu Lorraine nach Hause zu nehmen, wollte sie dennoch, dass sie ihre neuen Freundinnen mochte. Was sollte man an ihnen auch auszusetzen haben? Okay, Elaine war manchmal ein bisschen seltsam und zynisch, aber mit Joanne, Cassy und Ira verstand sie sich gut, und Lorraine musste man einfach mögen. Sie hatte ihr so viel geholfen, und Sarah konnte mit ihr über alles reden. Oder fast alles. Dass sie teleportieren konnte, hatte sie ihr immer noch nicht verraten, aber man musste nicht alles von sich preisgeben.

„Naja, ich kenne sie ja nicht“, antwortete Selina ausweichend, nahm ihr Glas und trank etwas. Bestimmt wollte sie damit verhindern, dass sie mehr sagen musste.

„Aber?“, hakte Sarah nach. Selina verstand sich mit fast jedem gut. Wenn sie jemanden nicht mochte, hatte das einen Grund.

„Ich weiß auch nicht.“

Sarah betrachtete sie ungeduldig. Manchmal druckste Selina ewig herum. Meist wenn es um etwas ging, das sie nicht so toll fand, es aber nicht zugeben wollte. Sie war viel zu diplomatisch und wollte nie jemanden verärgern.

„Ich habe Lorraine schon vorher auf der Party gesehen. Sie hat sich an Matt herangeschmissen, als ich nach dir suchen gegangen bin. Ich war kaum fünf Schritte weiter weg, da himmelte er eine Andere an“, grummelte Selina.

Sarahs Augen weiteten sich. Das hätte sie Matt nicht zugetraut. Er schien total auf Selina fixiert zu sein.

„Das tut mir echt leid“, sagte sie, rückte näher zu ihrer Freundin und legte einen Arm um sie. „Dann hat er dich nicht verdient, und es ist sein Pech! Von Lorraine war das natürlich auch nicht gerade nett, aber vielleicht hat sie ihn gar nicht mit dir gesehen. Sie hätte sonst bestimmt nicht mit ihm geflirtet.“ Oder vielleicht doch? Lorraine flirtete gern. Das bewies sie jedes Mal, wenn sie im Pandora aus dem VIP-Bereich nach oben gingen und von Menschen umgeben waren. Sie stand immer im Zentrum der Aufmerksamkeit, was ihr zu gefallen schien. Sarah hatte das bis jetzt nicht gestört. Sie war das von Selina gewöhnt. Auch sie stand immer im Mittelpunkt. Mochte Selina Lorraine vielleicht deshalb nicht, weil sie sich zu ähnlich waren?

„Ja, wahrscheinlich“, räumte Selina ein. „Und es ist eigentlich auch gar nicht wichtig. Ich hätte Matt sowieso nicht angerufen.“

„Ich dachte, du magst ihn. Ihr habt euch doch super verstanden“, entgegnete Sarah erstaunt.

„Ja, das haben wir. Aber … naja, Matt ist nicht der Einzige, der noch jemand anderen getroffen hat“, gab Selina kleinlaut zu.

„Selina!“

„Ich weiß, ich sollte mich nicht über andere beschwe­ren.“

Sarah schmunzelte, als Selina errötete. Ihre Freundin verhielt sich wieder einmal zu süß und genau deshalb waren sie und Lorraine sich wiederum überhaupt nicht ähnlich. Als süß konnte man Lorraine nicht bezeichnen. Ihr würde es auch nichts ausmachen, mit zwei oder mehr Typen am gleichen Abend zu flirten und allen zu versprechen, sie anzurufen. Vielleicht würde sie es hinterher sogar tun und mit jedem ausgehen.

„Ach, bei mir kannst du dich über alles beschweren, das weißt du doch“, versicherte Sarah ihr. „Und nun erzähl endlich! Wer ist er?“ Jemand der Selina noch mehr gefiel als Matt, musste etwas Besonderes sein.

„Das ist es ja, ich weiß es nicht. Er stand plötzlich vor mir und hat mich so intensiv angesehen, dass ich weiche Knie bekommen habe. Ich hab kein Wort rausgebracht!“

Verblüfft starrte Sarah sie an. Das konnte sie sich kaum vorstellen. Solange sie Selina kannte, hatte sie sie noch nie sprachlos erlebt und schon gar nicht, wenn es um einen Mann ging. Das bedeutete wohl, dass er wirklich etwas ganz Besonderes war.

„Er hat auch nichts gesagt und mich nur angesehen. Ich dachte, er würde mich gleich küssen. Blöderweise hat Francine mich abgelenkt und in der nächsten Sekunde war er weg.“

„Wie? Er ist einfach verschwunden?“, hakte Sarah nach.

„Ja, und ich habe ihn nicht mehr gefunden.“ Selina seufzte theatralisch. „Er geht mir nicht mehr aus dem Kopf, vor allem seine grünen Augen, mit denen er mich so leidenschaftlich angesehen hat.“

Das hörte sich romantisch, aber zugleich auch tragisch, an. Wieso war er verschwunden, wenn er und Selina so einen Moment geteilt hatten?

„Bestimmt triffst du ihn irgendwo wieder. Er war auf der Studentenparty. Wahrscheinlich geht er hier auf die Uni.“

„Hoffentlich“, hörte Sarah Selina murmeln, bevor ihr die Augen zufielen.

„Hey, auf dem Sofa wird nicht geschlafen! Wir gehen jetzt erst mal ins Bett und morgen schauen wir auf dem Campus, ob wir deinen Schwarm finden.“

Leise lachend stand Selina auf. „Und dabei können wir auch gleich nach einem für dich Ausschau halten.“

 

Leider hatten sie Selinas mysteriösen Schwarm bei einem Spaziergang über den Campus nicht gefunden, aber das wunderte Sarah nicht sonderlich. Die meisten Party-Gäste waren am darauffolgenden Tag nicht fit genug, um viel zu unternehmen. Selina und Kelly verbrachten den Abend aus genau diesem Grund vor dem Fernseher. Sarah hätte ihnen gern Gesellschaft geleistet, vor allem weil sie sich auch nicht so gut fühlte. Aber sie hatte Lorraine letzte Nacht versprochen, heute ins Pandora zu kommen. Sie wollte ihr nicht wieder absagen. Mal ganz davon abgesehen, dass das unhöflich wäre, sie wusste auch nicht, was Lorraine tun würde. Sarah wollte nicht riskieren, dass die Hexen wieder im Studentenwohnheim auftauchten. Ihr Geheimnis war leichter zu bewahren, solange ihre Prima Vista und ihre Hexen-Freundinnen so weit wie möglich voneinander entfernt blieben.

Sarah zog ihr neues, schwarzes Minikleid an und holte die verschließbare Holzkiste, in der sie ihre Zauberutensilien versteckte, unter dem Bett hervor. Ihr magisches Make-up würde die dunklen Ringe unter ihren Augen sicher überschminken. Sie setzte sich auf ihr Bett und bemerkte erstaunt, dass die Schachtel unverschlossen war. Wie konnte das möglich sein? Der Inhalt offenbarte ihr größtes Geheimnis. Sie schloss die Kiste immer ab. War jemand in ihrem Zimmer gewesen? Nein, bestimmt nicht. Sie hatte es zugesperrt und nach der Party war es immer noch verschlossen gewesen. Sie schüttelte ihren Kopf über sich selbst. Wer würde hier einbrechen? Das war doch lächerlich. Nichts kam ihr durcheinander vor. Bestimmt hatte sie vergessen, die Schachtel zu verriegeln. Das konnte mal passieren. Sie schob ihre paranoiden Gedanken beiseite, nahm ihr Make-up und machte sich ausgehfertig.

 

Als Sarah vor dem Pandora ankam, stellte sie überrascht fest, dass sich eine riesige Menschenmenge vor dem Eingang tummelte. Um diese Uhrzeit war hier normalerweise nicht viel los. Viele übernatürliche Wesen waren nachtaktiv und gingen erst später aus. Fand heute etwas Besonderes im Pandora statt?

Sarah zog ihre dünne Jacke enger und lief zum Ende der Schlange. Als sie sich anstellte, tauchte eine Gruppe junger Männer auf. Einer von ihnen rempelte sie an, wodurch ihr die Tasche von der Schulter rutschte. Bevor sie auf dem Boden landen konnte, fing eine Hand sie auf und hielt sie ihr entgegen. Was für Reflexe, dachte sie, nahm die Tasche und schaute zu dem Mann auf.

„Danke“, sagte sie. Dann trafen sich ihre Blicke und Sarah verstummte. Aus tiefblauen Augen sah er sie an. Braune Haare fielen ihm leicht ins Gesicht und er hatte ein umwerfendes Lächeln.

„Gern geschehen.“

Sogar seine Stimme klang total sexy. Und sie starrte ihn nur an. Sie sollte etwas sagen. Nein, nicht irgendwas, etwas Tolles und Lustiges. Aber was? Ihr fiel nichts ein.

„Sarah“, rief plötzlich jemand. „Hier drüben!“

Einen Moment später spürte sie eine Hand auf ihrem Arm und wurde weggezogen. Bevor sie wusste, was passierte, hatte sie den gut aussehenden, jungen Mann aus den Augen verloren. Sie drehte sich um, entdeckte ihn aber im Gedränge nicht mehr.

„Wir sind weiter vorn in der Schlange. Komm mit.“ Es war Ira, die ihre Hand nahm und sie mit sich zog.

„Ira, warte“, protestierte Sarah und blieb stehen.

„Was ist?“

Sarah suchte ihre Umgebung ab, aber es waren zu viele Leute hier. „Siehst du ihn irgendwo?“

„Wen?“

„Er stand direkt vor mir. Bevor du mich weggezogen hast und …“ Hilflos brach sie ab. Was sollte sie noch sagen? Sie kannte ihn nicht und beschreiben würde wenig bringen. Seine Augen sind blau. Als könnte man die Augenfarbe in der Menge erkennen. Er hat dunkle Haare. Das traf auf über die Hälfte der Männer zu.

„Wer?“

„Ich weiß nicht“, gestand Sarah frustriert. „Ich habe ihn gerade erst getroffen.“

„Oh“, murmelte Ira und ließ ihren Blick über die Menge streifen, konnte ihn aber natürlich erst recht nicht finden. „Tut mir leid, dass ich dich weggezogen habe“, sagte sie. Sarah hatte das Gefühl, als meinte sie es auch, aber das half ihr leider nicht.

„Vielleicht siehst du ihn drinnen wieder. Er will schließlich auch ins Pandora. Wir können nachher ein paar Runden drehen und nach ihm Ausschau halten.“

Sarah nickte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, und drinnen war es wenigstens warm. Sie ließ sich zu Lorraine, Cassy, Joanne und Elaine führen und begrüßte sie. In Gedanken war sie aber immer noch bei dem gut aussehenden Fremden. Er hatte plötzlich vor ihr gestanden und war kurz darauf wieder verschwunden, genau wie bei Selina letzte Nacht. Jetzt wusste sie, wie ihre Freundin sich fühlte. Hoffentlich hatte sie mehr Glück und würde ihn im Pandora wiederfinden.

„Ich kann es immer noch nicht glauben. Ein Wächter! Ich dachte, die wären unsterblich!“ Joannes Stimme riss Sarah aus ihren Gedanken.

„Ich auch“, stimmte ihr Cassy zu. Die beiden klangen aufgebracht.

„Wovon redet ihr?“, wollte Sarah wissen.

„Ein Wächter wurde heute tot aufgefunden“, berichtete Lorraine. „Ermordet!“

„Ein Wächter?“, fragte Sarah verwirrt.

„Ja, du weißt schon, die, die dafür sorgen, dass die Welt des Übernatürlichen geheim bleibt“, erläuterte Ira.

Oh, die Wächter, dachte Sarah und überlegte, was sie bereits über sie gehört hatte. Es war nicht viel.

„Soweit ich weiß, starb noch kein einziger von ihnen seit der letzten Hexenverfolgung“, sagte Lorraine. „Und sie sind sehr mächtig.“

„Genau“, stimmte ihr Elaine zu. „Ich wüsste gern, wer oder was es mit einem aufnehmen kann und es sogar schafft, ihn zu töten.“

„Weiß deine Mutter etwas?“, wollte Joanne von Lorraine wissen.

Diese zuckte mit den Schultern. „Ich habe sie heute noch nicht gesehen. Sie ist sicher sehr beschäftigt.“

Lorraines Mutter war stellvertretende Leiterin des Hexenzirkels in Lunadar, erinnerte sich Sarah. Sie hatte allerdings keine Ahnung, was das bedeutete.

„Vielleicht weiß jemand im Pandora mehr“, sagte Cassy.

„Wir können Bernie fragen. Bestimmt hat er mit seinen telepa­thischen Fähigkeiten was aufgeschnappt“, schlug Joanne vor.

 

Wie sich herausstellte, hatte nicht nur Joanne diese Idee. Bernie war heiß begehrt, genau wie die Barkeeper im VIP-Bereich. Nun wusste Sarah, warum es heute so voll im Pandora war. Der tote Wächter glich einer Sensation. Alle wollten sich darüber unterhalten und mehr erfahren. Sarah verstand nicht, was an einem Mord so aufregend sein sollte und warum jeder unbedingt darüber reden musste. Das machte es doch auch nicht besser.

Um den ewigen Gesprächen über den Wächter zu entkommen, und weil sie sowieso etwas oder besser jemand anderes interessierte, fragte Sarah Ira nach einer Weile, ob sie mit ihr nach oben gehen wolle, um Ausschau nach dem jungen Mann zu halten, der ihr nicht mehr aus dem Kopf ging. Ira willigte ein und die beiden verließen den VIP-Bereich.

Oben befanden sich weniger Leute, worüber Sarah sich freute. Das Gedränge war ihr auf die Nerven gegangen. Zusätzlich bedeutete es, dass es leichter sein würde, jemanden zu finden. Zumindest dachte Sarah das anfangs, aber auch nach mehreren Runden durch den Club hatte sie kein Glück. Obwohl es mehr als genug gut aussehende, dunkelhaarige Typen im Pandora gab und sie sogar von ein paar davon angesprochen und auf einen Drink eingeladen wurden,

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: © 2016 Betty Schmidt
Bildmaterialien: Cover: Charming Designs - https://supr.com/charmingdesigns, Einzelbilder: Anja Kaiser/Fotolia.com, Clker.com, Graphicstock.com, Pixabay.com
Lektorat: Ulrike Fair, Lina Lieblich, Jutta Schmidt, Thomas Hohn, Alexandra Höchtl, Michaela Sipek, Juliette Manuela Braatz
Tag der Veröffentlichung: 06.09.2016
ISBN: 978-3-7396-7230-4

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