Vorwort:
Ich hatte mich verlaufen. Das wunderte mich nicht allzu sehr, mein Orientierungssinn ließ schon immer zu wünschen übrig. Es passierte mir ja nicht zum ersten Mal. Üblicherweise schaltete ich dann das Navigationssystem auf meinem Handy ein. Aber das funktionierte schon seit ein paar Stunden nicht mehr. Wieso fand mich denn der blöde Satellit hier nicht? Langsam wurde ich wirklich unruhig. Irgendetwas schien das Signal zu stören. Aber so etwas gibt es doch gar nicht. Ich meine, bei irgendwas dachte ich sofort an dunkle Mächte, aber so etwas gibt es nicht. Ich hatte einfach unglaubliches Pech. Gerne hätte ich mir gesagt, dass es nur ein Traum war, aber da hätte ich sicher darüber gelacht. Es war kein Traum. Dem wurde ich mir immer sicherer. Ich konnte nicht träumen. Ich konnte mich nämlich nicht daran erinnern, mich ins Bett gelegt zu haben und schlafen gegangen zu sein. Ich war auf dem Weg um mich mit ein paar Freunden zu treffen. Am Moor. Um Mitternacht. Aber es war längst nicht mehr Mitternacht.
Ich hatte mich verlaufen. Aber ich ging weiter. Vielleicht fand ich ja jemanden, der mir weiterhelfen konnte, oder etwas, das mich an etwas Bekanntes erinnerte. Aber es schien allmählich wirklich aussichtslos. Ich geriet immer tiefer in den Nebel und es wurde immer dunkler. Die Luft war stickig, obwohl es eiskalt war. Es roch komisch und ich hoffte, dass das nicht der Geruch des Bevorstehenden Todes war. Ich bekam richtig Angst. Es kam mir so vor, als würde mich die Umgebung verschlingen. Nach und nach wurde mir bewusst, dass ich verloren war, aber dieses Wissen war noch nicht zu meinen Beinen vorgedrungen. Sie liefen unaufhörlich weiter. Vielleicht spürten sie, dass mir unheimlich war und wollten mich weg bringen. Es war fast so als gehörten sie nicht mehr zu meinem Körper.
Aber was brachte mir das? Der Tod war etwas simples, starkes, man konnte davor nicht weglaufen. Meiner war nahe. Aber warum eigentlich nicht? Ich war ganz allein, hatte keine Ahnung wo ich war und wusste nicht wohin ich gehen sollte. Das war doch irgendwie perfekt. Andererseits echt kitschig. Als Kind wurde mir immer gesagt ich sollte mich vor dunklen Wäldern hüten. Meine Frage: wie kann man sich vor etwas hüten, das man nicht beeinflussen kann? Mein Schicksal ist es, hier zu sein… Und schon hatte ich mich davon abgefunden. Zumindest die obere Hälfte meines Körpers. Meine Beine hatten es noch nicht verstanden. Sie liefen immer schneller. Ich schaute mich ein wenig um. Viel gab es nicht zu sehen. Die Landschaft war karg und unfreundlich. Es gab kaum Vegetation, nur ein paar nackte Bäume, von denen mich Eulen finster anstarrten. Als würden sie meinen, ich würde ihnen die Beute verjagen. Wobei ich mir nicht vorstellen konnte, dass es hier für sie genug zu fressen gab. Wo zur Hölle war ich hier? Der Wind blies mir ununterbrochen meine Haare ins Gesicht, als wollte er mich dazu zwingen, weiter zu gehen. Und ich bewegte mich weiter. Durch… irgendetwas. Ich konnte nicht viel erkennen, da ich nur daran vorbei lief aber plötzlich baute sich vor mir ein schlankes altes Gebäude aus. Es erinnerte mich an einen Turm, aber als ich stehen blieb erkannte ich Grabsteine. Die nackten Bäume überragten die Ruine. Um mich herum lag Staub in der Luft, als hätte etwas Asche aufgewirbelt. Ich begann zu husten und bewegte mich langsam voran. Aus der Nähe erkannte ich ein riesiges Glasfenster in der Front. Es handelte sich also um eine Kirche. Das Fenster war bunt, aber es war so verdreckt, dass die einzelnen Glasteile alle die Selbe aschegraue Farbe hatten. Der Großteil der Grabsteine war schief, als hätte jemand mehrmals dagegen getreten. Es erinnerte mich auch ein wenig an einen Film. Da kamen irgendwelche Leichen aus den Gräbern und durch das Bewegen der Erde sank der Grabstein zur Hälfte ein. Natürlich verwarf ich den Gedanken sofort wieder und redete mir ein, dass es hier einfach ein heftigeres Klima gab. Wobei ich eigentlich nicht weit weg von Zuhause sein konnte. Ich war nur knapp zwei Stunden gegangen. Also das war schon weit, aber nicht so weit, dass ich gleich in eine andere Klimazone geraten konnte…
Als ich eine Fledermaus schreien hörte bewegte ich mich langsam wieder zurück und lief dann in die Richtung aus der ich gekommen war. Der Wind hatte ebenfalls gedreht und drückte wieder gegen meinen Rücken. Ich war auf dem Richtigen Weg!
Nach Hause kam ich trotzdem nicht mehr…
1. Der langweilige Alltag
Wieso musste eigentlich diese scheiß Schule immer so scheiß langweilig sein? Fünf Tage die Woche. Und an den Wochenenden war in diesem scheiß Dörfchen auch nichts los. Ja, das Wort Scheiß gehört zu meinen Lieblingsworten. Das nennt man Slang, sowas ist heutzutage beliebt.
Wenn ich nach der scheiß Schule nach Hause kam konnte ich mir von meinen Eltern oder meinem Bruder etwas anhören. Meine Eltern standen kurz vor der Scheidung, ich konnte es nicht mehr erwarten, dass der alte endlich auszog.
Das schlimmste ist ja, dass Montag war und der Montag beginnt immer mit Mathe. Und das war für mich das schlimmste Fach. Denn für dieses Fach wurde mir wenig in die Wiege gelegt. Meine Lehrerin hatte auch längst erkannt, dassmein Talent ganz woanders lag. Deswegen behandelte sie mich auch irgendwieanders. Sie legte nicht ganz so viel Wert auf das, was ich machte. Sie hatteerkannt, dass sie gegen eine Wand redete, wenn sie mir etwas erklären wollte. Deshalbversuchte sie es gar nicht erst. Ich saß nur in der ersten Reihe zwischen dendrei Schlauköpfen, die jedes Beispiel, das wir an der Tafel begannen, nach dreiSekunden berechnet hatten. Alles was ich machte, war still dasitzen und allesirgendwie halbwegs der Reihe nach von der Tafel abzumalen.
Meinem Bruder ging es da genauso. Der saß eine Klasse über mir und hatte das gleiche Problem. Sein Name war an der Schule ziemlich bekannt. Er war der, der sich immer mit allen Mittel irgendwie durch schummelte. Und ich war seine kleine Schwester. Das klang so dumm. Er wurde behandelt wie etwas Besonderes… Nikolas Reiter, der große und atemberaubende Magier und Nadja, die kleine Schwester.
Das klang alles andere als phantastisch. Aber was sollte ich machen. Wenn ich mein Leben ändern könnte, hätte ich es längst gemacht. Aber man kann sich weder das Schicksal, noch die Familie aussuchen. Manche haben einfach wahnsinniges Pech. Wobei meine Pechsträhne sich langsam dem Ende neigt. Seit fast zwei Jahren stritten meine Eltern ununterbrochen. Über jeden Blödsinn. Sie regte sich auf, wenn der Rasen schlecht gemäht war – wobei es doch sowieso niemanden interessierte, wie der aussah, vor allem dann nicht wenn mein Vater und mein Bruder darauf Fußball spielten – oder darüber, ob es denn wirklich zuviel verlangt war, sich einmal die Woche zu rasieren. Und er Beschwerte sich regelmäßig über das schlecht geputzte Haus und das doch angeblich so versalzene Essen – sogar wenn es Marillenknödel oder Kaiserschmarren gab, meine Mutter war einfach nicht dazu fähig, das Salz richtig zu konzentrieren. Ich fand das richtig lächerlich. Aber wehe ich machte einmal den Mund auf. Mein Bruder hatte einmal eine bekommen, weil er gesagt hatte, dass es gar nicht sooo versalzen war.
Wie fast jeden Montag bekamen wir in Mathe eine mordskomplizierte Hausaufgabe. Aber meine Lehrerin war schon damit zufrieden, wenn ich es fertig brachte, den Mist von irgendjemandem abzuschreiben. Sie wusste, dass kaum einer das noch selbst machte. Aber sie konnte nichts dagegen machen. Vielleicht interessierte es sie auch nicht, dass das so war.
„Ich will die Hausaufgaben am Mittwoch hier vorne liegen haben“, murmelte sie noch gedankenlos, als es läutete. Aber das interessierte schon niemanden mehr. Es hatte geläutet. Da schalteten alle das Gehirn aus bis es das nächste Mal läutete.
Das war ein Reflex. „Natürlich“, wisperte ich noch sarkastisch, als ich mich durch die Tür hinaus bewegte. Auf dem Gang herrschte Gedränge. Einerseits, weil manche es unheimlich eilig hatten und andererseits, weil es ein paar Idioten gab, die sich richtig langsam fortbewegten. Und dann gab es ein paar, die einfach alle beiseiteschoben. Diese Idioten schoben auch mich regelmäßig aus dem Weg und ich hasste das. Wenn ich stärker oder nur annähernd so groß wäre wie sie, hätte ich sicher zurück geschubst. Ich wusste nicht, warum sie das machten. Vermutlich dachten sie, wenn ich schon kein Mädchen haben kann, dann brauche ich sie auch nicht nett zu behandeln. Vermutlich war der kleine Freund in ihrer Hose besonders klein. Hätte mich nicht gewundert.
„Aus dem Weg!“, als ich sie das rufen hörte wich ich schon aus. Einmal hatten sie einen so grob beiseitegeschoben, dass er sich einen Zahn ausgeschlagen hatte. Der sah jetzt aus wie ein… keine Ahnung… irgendetwas das nur einen Schneidezahn hatte.
Während also alle aus dem Weg gingen und versuchten, so beiläufig wie möglich auszusehen, dachte ich daran, dass ich eigentlich nicht wollte, dass dieser Schultag endete. Hier war es zwar echt scheiße, aber mein Vater war immer noch da. Ich wollte nicht nach Hause. Was mich da erwartete war nur noch mehr Lärm und streit. Vor allem Streit. Meine Eltern kannten keine gute Laune mehr, egal was passierte, sie reagierten, als hätte ich jemanden umgebracht. Vielleicht solle ich einmal jemanden umbringen, um zu sehen, ob ihre Reaktion dann gleich ausfiel, aber vermutlich sollte ich das nicht versuchen.
Nachdem ich mich auf den Weg zum Biologiesaal fast übergeben hätte, als ich durch einen Türspalt sah, dass einer gerade mit dem Kopf in die Kloschüssel gedrückt wurde, traf ich unterwegs einen guten Freund von mir. Markus grinste mich schon von weitem an.
„Schau nicht so blöd, irgendwann kriegst du das dämliche Grinsen nicht mehr weg“, sagte ich lachend und deutete mit dem Finger auf ihn.
Er schnappte mit der Hand nach meinem Finger. „Daran hätte dich schon viel früher jemand erinnern sollen“, er streckte die Zunge aus.
„Wie charmant“
Er grinste noch breiter. „Wie immer“
Ich schüttelte den Kopf. „Naja, ein Gentleman warst du noch nie“
„Die kommen heutzutage auch nicht mehr weit“
„Bei mir schon“
„Ach, du lässt ohnehin jeden ran“
Ich drehte mich um, zeigte ihm noch einmal den Mittelfinger und stapfte wütend davon. Der sollte bloß seine Klappe halten. Er lief mir hinterher. „Seit wann bist du denn so empfindlich?“
„Du weißt genau…“ Das war eine verdammte Nacht.
Er unterbrach mich. „Ja ich weiß davon, na und? Du solltest mal damit abschließen“„Du solltest einfach mal die Klappe halten“, mit diesen Worten versuchte ich erneut, ihn einfach eiskalt stehen zu lassen. Aber er ließ sich wieder nicht abwimmeln.
„Ach ja? Oder ich mache genau das Gegenteil davon und erzähle es jemandem“, drohte er.
„Dann bring ich dich um“
„Natürlich tust du das und dann kannst du dich von der Welt verabschieden“
„Mir egal, Hauptsache du gehst zuerst“ Und auf Einmal waren wir keine Freunde mehr.
„Blöde Schlampe! Du zickst doch jedes Mal bei Vollmond rum!“, rief er mir noch hinterher. Oh wahnsinnig clever von ihm, mich auf meine Tage anzusprechen. Darauf reagierten Mädchen ja immer so begeistert!
„Da kenne ich noch jemanden“, murmelte ich ruhig. Es hatten bereits viele von unserem Streit mitbekommen, deshalb versuchte ich jetzt, einige Ansehenspunkte herauszuhauen, indem ich mich gelassen gab.
Es funktionierte scheinbar nicht. „Was hat die denn?“, fragte jemand.
„Ihre Tage“, murmelte Markus grinsend.
Ich drehte mich noch einmal um, um ihn wieder anfahren zu können. „Halt endlich deine blöde Klappe“, schlimm genug, vor allen bloßgestellt zu werden, aber dann auch noch von ihm!
„Du hast doch angefangen“
„Der Klügere gibt nach“, rief wieder jemand dazwischen.
„Das ist ja das Problem! Die sind beide dumm!“, meinte jemand anderes.
Ich war kurz davor, mich umzudrehen und weg zu laufen. Aber das machten nur kleine schwache Mädchen und diese Rolle wollte ich Markus überlassen.
„Jaja, rede nur weiter. Ich höre dir bestimmt zu, ich weiß doch dass du immer so große Probleme damit hast, mit Mädchen zu reden. Besonders die, die du magst, stimmt’s? Versuchs doch mal, rede mit Annika. Obwohl nein, das kannst du ja nicht. Du solltest froh sein, dass wenigstens eine hier ab und zu mit dir redet!“
Damit war das Gespräch beendet. Er starrte mich an, als wollte er gleich aussprechen, wozu ich ihn eigentlich provoziert hatte. Aber ich hielt meinen kleinen Finger hoch und erinnerte ihn, dass er mir geschworen hatte, es für sich zu behalten. Das war es. Freundschaft beendet. Gespräch beendet. Stimmung: im A.
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2013
Alle Rechte vorbehalten