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Die Anreise

Der Zug tuckerte gemächlich durch die Landschaft. Es dämmerte bereits und dadurch bekamen die unzähligen Windräder, die auf den umliegenden Feldern standen, einen  zarten Schimmer. Die beiden Wagons des Zuges waren so gut wie leer; außer mir befanden sich noch zwei Damen mittleren Alters mit einem Hund, so einer Art Yorkshire Terrier, im Abteil. Es herrschte so eine Stille, dass es wie ein Echo hallte, wenn der Hund bellte. Ein Fahrscheinkontrolleur war nicht anwesend. „Genau das Richtige für mich“, dachte ich.

 

Ich hatte mir diesmal bewusst ein Fischerdorf ausgesucht um Urlaub zu machen. Ich lebte in der Großstadt, war auch fasziniert, ja, schon fast abhängig von ihr, nutzte auch jeden Urlaub, um andere Metropolen kennen zu lernen. Bis ich irgendwann an einen Punkt gekommen war, wo ich einfach raus musste aus der Stadt. Einfach Abstand zu dem Gewusel, der Hektik bekommen. Ich hatte ein „City-Burnout“.

 

 Irgendwohin fahren, ausspannen, ein Zimmer in einer Pension, das Meer und ich. Das war alles, was ich drei Wochen lang wollte. Durch Zufall hatte ich von Hummerich, einem netten kleinen Ort an der Nordseeküste erfahren. Das hatte mich besonders gereizt, die raue, ursprüngliche Nordsee. Mein Zimmer hatte ich gebucht, nachdem mir in einem dieser Wochenblätter die Telefonnummer einer Maklerin in die Finger gekommen war. Diese hatte für mich ein Zimmer in der Pension „Seemannsgeist“ gebucht.  Dies wäre provisionsfrei hatte sie mir gesagt. Dies hatte mir die Frau damit begründet, dass an der Westküste doch keine Gebühren für solche Dienste verlangt würden vom Kunden sonders diese der Vermieter zahlt. Auch den Weg zur Pension hatte sie mir erklärt. Nun konnte ich mich zurücklehnen und mich auf die Ankunft freuen. Vor mir lag noch circa eine Viertelstunde Fahrzeit.

Der Zusammenbruch

Ohnmächtig lag der alte Mann auf dem Deich. Er war mit seiner Frau spazieren gewesen. Sie hatten einen Hafenrundgang gemacht und waren anschließend ans Meer gegangen. Dort hatten sie auf einer Bank gesessen und waren dann über die Stufen auf den Deich gelangt. Als sie sich umgedreht hatten, um noch einen Blick auf das nächtliche Meer zu werfen, hatte der siebzigjährige Mann urplötzlich ein Stechen in der Lungen gespürt, sofort im Anschluss daran wurde sein Atem zu einem Röcheln. „Ich kriege. keine. Luft....ich......verdammt“, stammelte er.

 

Die Atemnot schien ihm sämtliche Kräfte zu rauben, der Senior sackte auf die Knie. „Ich kann nicht mehr“, ächzte der Mann, der immer kerngesund und fit gewesen war. Seine Frau, eine elegante Fünfundsechzigjährige, schaute sich verzweifelt um, ob jemand, vielleicht ein Spaziergänger kam, der Hilfe leisten konnte, während sie versuchte, ihren Ehemann festzuhalten, damit er nicht auf den harten, kalten Asphaltgehweg fiel. Aber weit und breit war niemand zu sehen. Das einzige Leben ging vom Leuchtturm aus, der perfekt seinen Dienst leistete, indem er sein Licht abgab. Das Cafe an der Promenade war geschlossen, genauso wie das Solarium, das Wellenbad und die biologische Trinkkurhalle, welche sich am Haupteingang zum Strand befanden.

 

Zu der nächsten Telefonzelle würde sie am Cafe, das bei Dunkelheit sehr ungemütlich wirkte, vorbeilaufen und die Stufen hinuntersteigen müssen. Dann würde sie ihren Gatten aus dem Blickfeld verlieren. Rosemarie Weinmeisters Nerven waren aufs Äußerste angespannt. Sie dachte: „Was für ein Dilemma, oh Gott, was soll ich tun.“ Nur abwarten und hoffen, dass irgendjemand vorbeikam, konnte sie beim Besten Willen nicht. Hermann, ihr treuer Lebensgefährte und Mann, gab mittlerweile nur noch schwach surrende Laute von sich, er konnte nicht mal mehr sprechen, selbst das Schlucken bereitete im starke Anstrengungen. Sein Blick war verschleiert. Rosemarie überlegte kurz. Lange konnten sie hier nicht mehr bleiben. Hermanns Zustand verschlechterte sich sekundenschnell. Schweren Herzens würde ihren Mann für einige Minuten zurücklassen müssen um einen Krankenwagen zu holen. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände, da brach Hermann zusammen. Er war bewusstlos. Rosemarie erschrak, reagierte aber noch intuitiv, um Hermanns Fall abzustützen, damit er nicht mit dem Kopf auf den Asphalt prallte. Nun musste sie sich schnell auf den Weg machen.

 

Die Frau zog ihren Mantel aus, um ihren Mann zuzudecken, denn es war kalt, zu dem herrschte Windstärke sechs. Und das im Juni. Dann rannte sie los, was sie auch nicht mehr wie eine Gazelle konnte seit der Hüftoperation, die drei Monate zurücklag.

Nach wenigen Minuten hatte sie die beiden Telefonzellen erreicht. In denen waren keine Apparate vorhanden! Über dem Wort“ Telefonzelle“ war, viel kleiner, „Muster“ drüber geschrieben. „Nein“ schrie die arme Frau. Sie wandte ihren Kopf zum Deich, wo ihr Mann lag, der dringend Hilfe brauchte.

„Nächster Halt: Hummerich“ kam die Durchsage, die durch den Lautsprecher etwas verzerrt klang. Der Zug hielt und ich stieg aus. Sofort nahm ich einen Geruch war, der mich an eine Mischung aus Jod und Gas erinnerte, was natürlich nicht sein konnte. Wahrscheinlich roch es hier besonders stark nach Jod und Meersalz, den Hummerich war ja ein Kurort. „Meine Nase ist auch schon völlig gestört durch die ganzen Schadstoffe, die ich tagtäglich in der Stadt einatme“, dachte ich kopfschüttelnd.

Das Bahnhofsgebäude war kleiner als ein Einfamilienhäuschen und war zu dem geschlossen. Richtig süß. An dem Häuschen vorbei gelangte ich zu den Taxis. Oder besser gesagt, zu dem Taxi, denn es war nur eins vorhanden. Erleichtert stellte ich fest, dass die Frauen, die mit mir im Zug gereist waren, in die andere Richtung gingen, wo sich in einer kleinen Straße Einfamilienhäuser befanden.“ Um so besser für mich“, schoss es mir durch den Kopf. Ich hätte jetzt nach der Fahrt keine große Lust gehabt, im Dunkeln nach der Pension zu suchen. Einen Plan von Hummerich besaß ich ebenfalls nicht. Ich wusste, dass ich zum „Hummergrund“ musste, so hieß die Straße, in der sich meine Pension befand. Auch die nette Maklerin hatte mir empfohlen, ein Taxi zu nehmen.Während der ungefähr fünfminütigen Fahrt verschaffte ich mir einen ersten Eindruck von Hummerich. Viel sehen konnte ich nicht, denn draußen war es fast rabenschwarz geworden. Ich kam an einem großen Supermarkt und an einer Sparkasse vorbei und sonst konnte ich nur Häuser erkennen. So gut wie in keinem von denen brannte Licht. Hier würde ich die Ruhe finden, die ich so dringend brauchte. Dann hielt das Taxi vor dem Haus „Seemannsgeist“.

 

Ich war verblüfft, so elegant hatte ich mir das zweigeschößige Haus nicht vorgestellt. Es besaß im ersten Stock einen großen Balkon, wunderschön mit Säulen der griechischen Art verziert. Das Haus selbst sah aus wie mit Zuckerguss übergossen. Der Zaun, der das Anwesen von dem Bürgersteig des Hummergrunds trennte, reichte mir kaum zu den Kniekehlen. Durch den Garten, der mit Rosensträuchern bepflanzt und mit Engelstatuen dekoriert war, gelangte ich zur Eingangstür, die sich an der rechten Seite des Hauses befand. Auf ihr war ein Kranz aus Stroh und getrockneten Blumen befestigt. Links neben der Tür war der Klingelknopf. Ich betätigte ihn und nach wenigen Sekunden vernahm ich Schritte.

 

Die Tür schwang auf und vor mir stand ein schwarzhaariger bebrillter Mann mit Schnauzbart.“Waaaas, äh, ich meine, guten Abend, sie sind sicher Frau Marks, herzlich willkommen“, raunzte der Herr, der sich als Herr Gelböhler, der Pensionsbesitzer, vorstellte. Ihm war anzumerken, wie sehr er sich bemühte, überhöflich zu sein. Mich überfiel kurz das Gefühl, unerwünscht zu sein, dem schenkte ich jedoch nicht so viel Beachtung. Dennoch musste der Mann seinen Text gut auswendig geübt haben. Er redete ununterbrochen, es glich einem herunterrattern. Von Hummerich erzählte er, vom Wetter, von diversen Aktivitäten, die durchgeführt wurden. Der Mensch schien ein Tonband verschluckt zu haben. Er führte mich während des Gesprächverlaufs durch einen Flur, dessen Wände mit den selben Kränzen verziert waren, wie der, der an der Eingangstür hing. Rechts vom Eingang führte eine Treppe zu den oberen Räumen. Auf der linken Seite hing ein großer Spiegel mit einem goldenen Rahmen verziert. Am Ende des Raums war dann zur Linken der Frühstücks-und Aufenthaltsraum, wie Herr Gelböhler mit einem verkrampften Lächeln erklärte. Auch dieses Zimmer war mit Kränzen dekoriert. Der Pensionsbesitzer meinte: „ Im Kühlschrank sind Getränke, wenn sie sich etwas nehmen, notieren sie es einfach auf dem Zettel auf dem Beistelltisch.“ Er löschte wieder das Licht und bat mich mit ihm noch die Formalitäten kurz durchzugehen. Dazu gingen wir in den kleinen Raum, der wohl Küche und Büro gleichzeitig war. Dies wunderte mich ein wenig, wo doch genug Räume zur Verfügung standen. Und so gut gebucht schien das Haus auch nicht zu sein. Im Gegenteil, es herrschte eine bedrückende Stille. Totenstille. Herr Gelböhler knipste das Licht in der Küche an. Auch hier hingen Kränze. Genauso, wie auf dem Flur, der zu den Gästezimmern führte. Ich sprach ihn darauf an.“ Es ist beeindruckend, wie hier die Passion für diese wunderschönen Kränze zum Ausdruck gebracht wird. Und das Haus ist damit mit soviel Mühe dekoriert worden, alle Achtung“. Ich hatte ganz offen meine Bewunderung aussprechen wollen. Doch der Mann schien es anders verstanden zu haben. Sein Gesichtsausdruck bekam etwas Lauerndes, und er wirkte nun noch verkrampfter. Sichtlich um Höflichkeit bemüht, sagte er: „ Ach, gute Frau, wissen sie, das war schon seit Generationen bei uns Tradition.“ Er griff zu einer Schachtel Zigaretten, die auf einem der Regale herumlag. „Es gibt Gepflogenheiten, die Sturmfluten und Kriege überleben.“ Ich nickte beipflichtend.

 

Herr Gelböhler erzählte noch einiges über Traditionen und Sitten und dabei holte er ein Sturmfeuerzeug aus der Hosentasche, um sich Feuer zu geben. So ein wunderschönes Teil, das zur Küste passte wie Leuchttürme und Fischfang. Schon immer war ich beim Anblick dieser Feuerzeuge ins Schwärmen geraten, denn von ihnen ging so etwas beständig-herbes aus, das dem Sturm und Wind standhält. Nach so etwas, was so männlich, so rau und doch so friedlich zugleich wirkte, suchte man in der Stadt vergeblich. Nur eins hatte mich doch daran gestört: das Feuerzeug hatte eine Gravur. Einen Kranz. Das Markenzeichen der Pension? !

 

Rosemarie Weinmeister war zu einem wenige Schritte entfernten Restaurant gelaufen, um Hilfe zu holen. Doch der Wirt war gerade dabei abzuschließen. Die verzweifelte Frau flehte eindringlich: „Ich will doch nur telefonieren, mein Mann, er...“. Doch der südländisch wirkende Mann ließ sie nicht einmal ausreden. In sehr stark gebrochenem Deutsch entgegnete er: „Morgen, heute nix, heute Feierabend.“ Er machte noch andeutungsweise eine Verbeugung, drehte sich um und ging einfach in Richtung Fußgängerzone. Rosemarie war verzweifelt, die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie spürte, wie die Hilflosigkeit begann, sie zu lähmen. Das die Restaurants und Cafes in unmittelbarer Nähe geschlossen waren, und in keinem der Häuser Licht brannte, verstärkte dieses Gefühl. „Ich muss Hilfe holen, ich darf nicht aufgeben“, wisperte sie zu sich selbst, „nur nicht aufgeben“. Der Gedanke an ihren Mann, der ohnmächtig auf dem Deich lag, ließ sie fast mechanisch denken. „ Ich muss Hilfe holen, es muss sein“. Sie lief in die Fußgängerzone. Diese war von Ein- und Zweigeschoßern umsäumt.In ungefähr jedem zweiten Haus befand sich ein Restaurant oder eine Tränke. Dies wechselte sich mit Bekleidungsgeschäften und Souvenirshops ab. Die fünfundsechzigjährige Frau lief am Rathaus vorbei und kam zum Ende der Fußgängerzone. Auf dem Weg, für den sie zwar nur fünf Minuten gebraucht hatte, der ihr im Angesicht dieser schlimmen Situation aber wie eine Ewigkeit vorkam, war alles geschlossen gewesen und die Telefonzellen am Rathauspark waren kaputt. Am Ende der Fußgängerzone führte eine Straße in die linke Richtung. Eine Kneipe wurde sichtbar. Das Herz der Frau machte einen Sprung. Sie wollte lachen und weinen zugleich. Beides wollte nicht so recht gelingen. Die Wirtschaft war geöffnet.

 

Es saßen noch Leute drin. Sie schwang die Tür auf und begab sich zum Tresen. Er war unbesetzt. Sofort wandte Rosemarie sich an den Mann, der neben ihr auf einem Barhocker saß: „Ich muss sofort telefonieren. Ich brauche einen Arzt. Wo kann ich hier telefonieren?“ Sie schleuderte diese Worte förmlich aus sich heraus. Hinter ihr erklang eine reichlich angetrunkene Stimme: „Die Puppe braucht doch keinen Arzt. Die ist verdammt gut in Schuss!“ Der Mann, der das gerufen hatte, stieß zwischen seinen Worten auf und lachte höhnisch. Und der Gast, den Frau Weinmeister angesprochen hatte, zuckte nur mit den Schultern und wandte sich wieder seinem Glas zu. Er prostete Rosemarie zu und sagte: „Zum Wohl, mein Häschen!“ Da erschien endlich jemand hinter dem Tresen, es musste wohl der Wirt sein. Er trug eine Brille mit bunten Rahmen, die seinen übermürrischen Gesichtsausdruck aber auch nicht milderten. Ein weiterer Gast mischte sich ein. Er rief mit einem dreckigen Lachen: „Waldi, das Herzchen hier will telefonieren.“ Während er Rosemarie näher kam und ihr eine seine entsetzliche Alkoholfahne fast den Atem raubte, bekamen seine Augen einen gierigen Glanz. Waldi, der Wirt, wies den Mann zurecht indem er meinte: „Benimm dich, denk doch nicht immer an Weiber!“ Dann wandte sich der Wirt Rosemarie zu. Er klopfte ungeduldig mit seinen Fingern auf den Holztresen. Die Frau, der nervlichen Erschöpfung nahe und vor Angst um Hermann fast wahnsinnig werdend, rang um Fassung. „Ich brauche einen Arzt. Mein Mann, er liegt auf dem Deich. Er ist bewusstlos! Bitte, ich brauche Hilfe.“ Sie schrie es beinahe heraus. „Oha, muss gutes Zeug gewesen sein, was der da genommen hat“, lallte dieser widerliche Kerl dazwischen, der Rosemarie hatte belästigen wollen. Der Wirt fuhr ihm über den Mund. „Geh deine Schrauben zählen, Klaus Peter und quatsch hier nicht dämlich“. Dann teilte er der geschockten Rosemarie mit, wo eine Apotheke sei, der sie den diensthabenden Arzt entnehmen könne. Telefonzellen wären bei der Post. Alles Flehen und Bitten der Frau nützte nichts. Barsch sagte Waldi: „Nur wer hier trinkt, darf hier vielleicht auch mal telefonieren. Das ist eine Kneipe und nicht die Pro Familia“. Mit zitternden Knien verließ die am Rande eines Nervenzusammenbruchs stehende Frau das Lokal. Dies wurde vom Kollektivgegröle der Männer begleitet.

Was geht hier vor?

Durch pochende Schläge an meine Tür wurde ich geweckt. Ich dachte noch, dies geschehe im Traum.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 02.05.2016
ISBN: 978-3-7396-5162-0

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