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Auf einmal war alles anders


Mein Telefon klingelte. Beim dritten Klingeln hob ich ab. „Ist dort Mr. Shane Jones?“, fragte die Stimme auf der anderen Leitung. Ich bejahte etwas verwirrt. Wer sollte denn sonst an mein Telefon gehen? „Kennen sie eine gewisse Ms. Carrie Snow?“ Wieder beantwortete ich die Frage der Anruferin mit Ja. „Sie ist meine Arbeitskollegin, wieso?“ Dass sie meine beste Freundin und die Frau, die ich liebte, war, musste ich der Anruferin doch sicher nicht sagen. „Mein Name ist Kimberly Carter. Ich bin Krankenschwester im London Hospital. Ms. Snow hatte einen Autounfall und liegt hier auf der Intensivstation. Die Augenzeugin hat, während sie versuchte uns zu erreichen Ms. Snows Ausweis gefunden. Als Ms. Snow hier eingeliefert wurde haben wir nach irgendwelchen Hinweisen für die Telefonnummern von ihren Angehörigen besucht. Zum Glück hatte Ms. Snow ihr Mobiltelefon in ihrer Handtasche. Ihre Nummer war die erste Telefonnummer auf Ms. Snows Anrufliste. Deshalb habe ich Sie angerufen. Mr. Jones, sind Sie noch da?“
Erst erstarrte ich, wie ein Ball, der plötzlich angehalten wurde, während Kimberly Carter weiterredete. Dann fügte sich nach einiger Zeit alles zusammen, wie wenn man ein Puzzle zusammensetzt. Carrie Snow … Autounfall … Intensivstation. Ich sagte bloß noch schnell in den Hörer, dass ich sofort komme und legte dann auch auf. Der Verkehr in London war heute einmal wieder grauenvoll. Aber gerade jetzt, als meine beste Freundin auf der Intensivstation lag, dachte ich zum ersten Mal als Kenner der Straßenverkehrsordnung daran, einfach über die rote Ampel zu fahren, jedes Auto und jedes Taxi zu überholen. Daraus wurde leider nichts, denn irgend so ein Sonntagsfahrer wartete sogar noch, nachdem die Ampel grün leuchtete noch zehn Sekunden, bis er losfuhr. Jede Sekunde zählte für mich. Jede Sekunde zählte für Carrie, das wusste ich in meinem teifesten Inneren. Als ich nach zwanzig Minuten, die mir wie Jahre vorkamen, am Krankenhaus ankam war die Hölle los. Krankenschwestern eilten von Raum zu Raum. Ärzte rannten hin und her. Ich ging schnellen Schrittes zum Empfang und sagte Carries Namen. Die Schwester winkte mich durch und erklärte mir, dass Carrie gerade im OP sei und ich nur warten könne. Ich fuhr sie wütend an: „Ich kann nicht einfach nur warten, während ich noch nicht einmal weiß, was mit meiner Freundin passiert ist. Lassen sie mich wenigstens vor ihrem Zimmer warten, wenn Sie denken, dass ich im OP zu viel Panik machen würde!“ „Die Intensivstation befindet sich im dritten Stock.“, erwiderte sie neutral, aber mit einem Gesicht, das mich am liebsten in eine Gummizelle schicken würde.
Alles, was jetzt geschah, passierte so langsam, als ob ich in Slow-Motion gefangen wäre. Die Gesichter der Angehörigen der Patienten, die sorgenvoll auf einen geliebten Menschen warteten, gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich hatte wahrscheinlich dieselbe Miene aufgesetzt. Aus einem Zimmer kam das Geräusch eines schreienden Kindes. Ein Arzt versicherte einer Familie, dass ihr Großvater nun bei Gott wäre. Bis zu diesem Tag hatte ich das Krankenhaus immer als einen Ort der Wunder empfunden. Einen Ort, an dem Hoffnung existierte. Aber ab heute war es für mich ein Ort des Todes, der Verzweiflung, der ewigen Tränen.

Impressum

Texte: (c) Cover by Cleo Johnson (c) Covermotiv DEVIANTART "Shattered Dreams" by blankfaceisclaimed
Tag der Veröffentlichung: 08.11.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Inken, eine fleißige Zettelhortleserin und Freundin

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