Cover

Prolog

 

Die vier Rösser

 

 

Ein Schrei durchbricht die Stille der Nacht

Spürst du die Kälte ihrer Macht?

Blutroter Nebel verdunkelt den Himmel

Daraus hervor tritt ein aschfahler Schimmel.

 

 

Funkelnde Augen lassen Blut gefrier‘n

Sie scheinen nach einer Seele zu gier‘n.

Kräftige Muskeln spielen unter der Haut

Die Tritte am Boden wie ein Donnerlaut.

 

 

Das schnaubende Untier nähert sich an

Du stehst bereits tief unter seinem Bann.

Wind bewegt die flatternde Mähne

Im Mondlicht blitzen die scharfen Zähne.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein Biss lässt das Blut zu fließen beginnen

Der Blick des Tieres ist wie von Sinnen.

Roter Lebenssaft tränkt die Erde

Es nähern sich zwei weitere Pferde.

 

 

Mondschein wirft Licht auf das wilde Gescheh‘n

Wie grausame Monster sind sie anzuseh‘n.

Stück für Stück wird ihr Opfer zerrissen

Kein‘ fremde Seele wird davon je wissen.

 

 

Teil I

"Erneut wurde die Leiche am Waldrand gefunden. Sie war bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Nach dem Täter wird nach wie vor gefahndet. Alle Hinweise bitte an die Nummer, die unten eingeblendet ist." Das Bild verschwand und wurde von dem eines kleinen Pandas ersetzt, der gerade eine Bambussprosse in sein Maul schob. "Im Tierpark ..."

Arthur schaltete den Fernseher aus. Kopfschüttelnd. Wie konnte das sein? Er hatte nicht gewusst, dass wieder ein Mord geschehen war, und dennoch hatte er genau zu dem Zeitpunkt das überwältigende Bedürfnis gehabt, die Nachrichten anzusehen, als darüber berichtet wurde.

Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Dieser Mord war nicht der erste gewesen. Es ging schon einige Wochen so, und als er den ersten Artikel in der Zeitung darüber gefunden hatte, war er Feuer und Flamme gewesen. Zwar wusste er nicht genau, was genau ihn daran so faszinierte, aber er war von den Worten damals wie gefesselt gewesen. Genau so, wie eben bei diesem Bericht. Selbst wenn er es gewollt hätte, hätte er ihn nicht wegschalten können.

Zögerlich lief er die Treppe nach oben und ging in sein Zimmer. Die Tür verschloss er hinter sich, lehnte sich daran und ließ sich zu Boden gleiten. Was war nur mit ihm los? So etwas war ihm noch nie passiert. Er ließ seinen Blick über das Zimmer schweifen. Es war unaufgeräumt, doch das war keine Besonderheit. Was anderes war als all die Jahre zuvor, waren die Dinge, die es so unaufgeräumt scheinen ließen. Ausgeschnittene Zeitungsartikel, Hefte mit Notizen, am aufgeklappten Computer lief noch eine Videoaufzeichnung, als über den letzten Mord berichtet wurde. Arthur hatte nicht einen versäumt, er wusste über alles Bescheid.

Die Mordserie spielte sich in einem kleinen Dorf etwa fünf Autostunden östlich von hier, Sedemoid hieß es. Seit einem knappen halben Jahr ging das nun schon - etwa alle zwei Monate wurde mal jemand tot am Waldrand gefunden. Bis jetzt war es stets ein junger Mann gewesen, blutüberströmt, und so zerfetzt, dass man die Identität meist schwer bis gar nicht anhand von Blickdiagnosen feststellen konnte.

Natürlich war bereits der ansässige Förster gefragt worden, ob es Tiere im Wald gab, die derartiges machen konnten. Doch dieser hatte verneint. Er meinte, seinen Bestand genau zu kennen, und das Gefährlichste in dem Wäldchen war wohl die Fuchsmutter, wenn sie Junge hatte. Doch in einem solchen Fall mussten meist nur ein paar Hühnchen daran glauben, es war für den Alten unvorstellbar, dass sie einen Menschen anfallen würde oder auch könnte.

Außerdem war bereits ein Kommandotrupp der Polizei vorgerückt und hatte den Wald Meter für Meter abgesucht. Es gab keine Spuren, keine Auffälligkeiten, nichts. Nur den Ort des Geschehens hatten sie gefunden - eine kleine Lichtung, die eigentlich weit weg von dem Platz war, an dem alle Leichen gefunden wurden. Auf ihr wuchs auch kein Gras mehr, das viele Blut dürfte sie unfruchtbar gemacht haben. Doch eine Blutspur von ihr weg? Oder eine vom Waldrand weg? Absolute Fehlanzeige. Es war allen ein Rätsel.

Mit einem Ruck sprang Arthur auf. Er klappte seinen Computer zu, hob die Zeitungsartikel vom Boden auf, packte die Hefte und alle anderen Dinge weg, die etwas mit seinem neuerlichen Wahn zu tun hatten. Schnell ließ er alles unter seinem Bett verschwinden, er wollte sie nicht mehr sehen.

Seufzend ließ er sich dann auf sein Bett fallen, das Gesicht bedeckte er mit seinen Händen. Er musste sich irgendwie ablenken.

Schnell sprang er auf, wollte aus dem Zimmer stürmen, und prallte dort fast gegen die abgeschlossene Tür. Ungeduldig schloss er sie wieder auf und lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter.

"Wohin bist denn du so schnell unterwegs?" Sein Vater wich einen Schritt zurück, nachdem Arthur ihn fast umgerannt hätte.

"Oh, 'tschuldigung, hab dich nicht gesehen", murmelte er und wich seinem Blick aus. Er hatte das Gefühl, als wüsste sein Vater, was ihn ihm vorging, obwohl er mit ihm noch nicht einmal darüber gesprochen hatte.

"Ja, das hab ich bemerkt." Er machte eine kurze Pause, als ober überlegen wollte, ob er noch etwas dazu bemerken sollte. Dann entschied er sich aber augenscheinlich dagegen. "Zieh dir den warmen Mantel an, es fröstelt bereits draußen."

Arthur verdrehte die Augen. Obwohl er schon fünfzehn war, behandelte ihn sein Vater manchmal noch so, als wäre er ein kleines Kind. Aber er war froh, dass er ihn gehen ließ.

Er befolgte den Rat seines Vaters, was sich als eine gute Entscheidung herausstellte. Sobald die Haustüre hinter ihm ins Schloss gefallen war, trieb der eisige Wind Tränen in seine Augen. Gut so. Vielleicht ließ das die Gedanken erfrieren.

Die Hände in den Taschen vergraben stapfte er durch den kargen Garten, den Kopf eingezogen, um dem Wind ein bisschen zu entkommen. Das Gartentor quietschte, als er es bewegte, um hinauszugehen. Kurz blieb er unschlüssig stehen, wusste nicht, wohin er sollte. Dann entschied er sich aber für den Weg, den er in letzter Zeit schon so oft beschritten hatte.

Seine Beine führten ihn über einen kleinen Feldweg hinaus aus dem Ort. Dass es beinahe eine Stadt war, bemerkte man hier am Rand nicht. Arthur mochte das Haus, und seine Lage besonders. Er war in fünf Minuten im Zentrum, konnte alles machen, was man sich als Jugendlicher wünschte. Aber wenn er wollte, drehte er dem Rummel einfach im wahrsten Sinne des Wortes den Rücken zu und ging auf diesem Feldweg hinaus, wo er selten einer anderen Menschenseele begegnete. Meistens tat er dies, um nachzudenken, doch heute hatte er ein anderes Ziel vor Augen.

Etwa zeitgleich mit dem Auftauchen der Morde war er zum ersten Mal einen Weg gegangen, den er bisher nicht gekannt hatte. Diesen schlug er auch nun wieder ein. Er führte ihn zwischen den Feldern hindurch, kurz an einem Waldstück vorbei, und schließlich stand er endlich davor. Es war nur ein kleiner, abgezäunter Fleck Wiese, und auf ihm stand ein kleines, weißes Pferd.

Eigentlich machte Arthur sich nichts aus den großen Tieren, geschweige denn, dass er jemals daran gedacht hatte, eines zu reiten. Aber dieses hier hatte es ihm irgendwie angetan.

Als er an den Zaunrand trat, hob das kleine den Kopf und schnaubte leise. Ein Lächeln glitt über Arthurs Gesicht. Schnell schaute er sich um, doch wie es zu erwarten gewesen war, sah er außer sich selbst keine andere Person. Also schlüpfte er schnell zwischen den untersten zwei Zaunlatten hindurch und ging auf das Pferd zu. Instinktiv verhielt er sich ruhig, er wollte es nicht erschrecken. Doch das Tier hatte keine Angst, immerhin kannte es Arthur nun ja schon und wusste, dass er ihm nichts Böses wollte.

Bei ihm angekommen, streichelte Arthur sanft über das flauschige Fell des Tieres. Es war dichter geworden in den letzten Wochen, das Pferd bereitete sich auf den Winter vor. Kurz ließ ihn das Weiße gewähren, dann senkte es wieder den Kopf und knabberte an den letzten Grashalmen, die diese Weide für es übrig hatte.

Mitleid überkam Arthur, wie so oft. Nach dem, was er wusste, waren Pferde Fluchttiere und außerdem Herdentiere. Dieses hier jedoch war immer, wenn er kam, ganz alleine. Er wusste nicht, wer der Besitzer war, doch augenscheinlich kümmerte es diesen nicht, ob sein Pferd Freunde brauchte, oder nicht.

Gewohnheitsbedingt hob Arthur immer wieder den Blick und prüfte, ob er nach wie vor der einzige Mensch hier war. Das wäre Gesprächsthema Nummer eins in der Schule - er, der harte Typ mit der großen Klappe, suchte Trost bei einem armen Pferdchen. So weit wollte er es nicht kommen lassen.

Seufzend ließ er seine Hand noch ein letztes Mal durch die ungekämmte Mähne fahren, dann murmelte er ein leises 'Tschüss' und trat seinen Heimweg an.

Der Himmel war bereits dunkler geworden, der Tag näherte sich seinem Ende. Als er schließlich endlich durch das Gartentor ging, war es bereits stockdunkel um ihn.

Drinnen nickte sein Vater ihm nur kurz zu. Arthur wich seinem Blick aus. Er hasste es, dass er ihn so abblockte, aber er konnte nicht anders.

"Ich mach dann Abendessen, Spaghetti, willst du auch welche?", fragte sein Vater ihn, als er gerade nach oben verschwinden wollte. Arthur überlegte nur kurz. Einerseits war ihm nicht wirklich danach, eine weitere schweigsame Mahlzeit mit seinem Vater einzunehmen, aber sein Magen hatte schon vor Stunden zu knurren begonnen.

"Ja, gerne", antwortete er deshalb. "Ich kann den Tisch aufdecken, wenn du willst. Vorher gehe ich mich aber noch schnell umziehen."

Auf eine Antwort wartete er nicht mehr, sondern lief die Treppe hinauf in sein Zimmer. Dort schälte er sich aus seinen Klamotten, und beschloss, sich auch noch kurz unter die Dusche zu stellen. Seine Gliedmaßen waren so kalt, ein bisschen heißes Wasser würde wahrscheinlich Wunder wirken.

So war es auch. Sogar ein Lächeln schlich sich auf Arthurs Züge, als das Wasser über seinen Körper lief und ihn beinahe verbrannte. Doch er genoss es. Auch schrubbte er sich, als wollte er den Geruch des Pferdes vorhin losbekommen. Er verstand sich selbst nicht mehr.

Nachdem er in seinen Jogginganzug geschlüpft war, ging er nach unten und richtete wie versprochen den Tisch her. Sein Vater war auch schon am Fertigwerden, und so saßen die beiden wenige Minuten später vor einem dampfenden Teller Nudeln.

Am Anfang aßen sie schweigend, dann ergriff jedoch der Vater das Wort. "Arthur, du gehst mir aus dem Weg", sprach der die Tatsache endlich aus. Arthur wand sich auf seinem Stuhl. "Tu ich doch gar nicht."

"Tust du doch." Sein Vater legte das Besteck zu Seite. Auweia, das konnte ein interessantes Gespräch werden.

"Ich hab bis jetzt nichts gesagt, weil ich dachte, es wäre vielleicht nur eine kurze Phase. Aber das geht jetzt schon Monate so. Ich bin doch nicht blind, Arthur. Ich weiß, dass es etwas mit diesen Morden zu tun hat, die sich in Sedemoid ereignen. Was hat es denn damit auf sich, dass du dich so verändert hast?"

Zuerst war Arthur wie erstarrt. Sein Vater wusste es. Obwohl er sich bemüht hatte, alles versteckt zu halten, war er irgendwie darauf gekommen. Plötzlich durchfuhr ihn eine Erkenntnis. "Du warst in meinem Zimmer." Seine Stimme war ruhig, aber fest. Er blickte seinem Vater starr in die Augen. Das war eigentlich die einzige Regel, an die sein Vater sich zu halten hatte. Arthurs Zimmer war tabu. Arthur spürte Wut in sich aufsteigen und seine Finger verkrampften sich um das Besteck. Doch sein Vater schüttelte den Kopf.

"Nein, war ich nicht. Als ich bemerkt habe, dass du dich veränderst, hab ich einfach mehr aufgepasst." Er hob die Augenbrauen. "Denkst du, es fällt nicht auf, wenn du Artikel aus der Zeitung ausschneidest? Und wenn du den Fernseher einschaltest, kann man ihn auch aus der Küche noch hören. Ich hab dir nicht hinterher spioniert, aber ich mache mir Sorgen!"

 

Arthur starrte ihn misstrauisch an. Hatte er wirklich so offensichtlich gehandelt?

"Du verstehst das nicht." Er lehnte sich an seinem Sessel zurück.

Sein Vater schüttelte den Kopf. "Wie denn auch, wenn du mich davon ausschließt. Ich würde es aber gerne verstehen."

Arthur war hin und hergerissen. Einerseits vertraute er seinem Vater sonst auch alles an, immerhin war es immer sie gegen den Rest der Welt gewesen, nachdem seine Mutter gestorben war. Durch diese seltsamen Morde jedoch hatte er sich wirklich sehr von ihm distanziert. Eigentlich seltsam, dass er es so lange hingenommen hatte, ohne etwas dagegen zu unternehmen.

Schließlich rang er sich dazu durch, zumindest einen Teil der Wahrheit zu erzählen. "Ich weiß nicht genau, was es ist. Aber diese Morde faszinieren mich." Erschrocken, wie zweideutig man diese Worte auffassen könnte, besserte er sich aus: "Also nicht in dem Sinne, dass ich sie gut finde oder selbst nachmachen will, natürlich. Aber sie haben etwas an sich, was meine gesamte Aufmerksamkeit beansprucht." Verunsichert schwieg er, und auch sein Vater wartete kurz, ehe er zu einer Antwort ansetzte.

"Hast du das Gefühl, dass diese Morde nicht nur deine Aufmerksamkeit, sondern auch dich anziehen?", sprach er schließlich genau das aus, was Arthur nicht gesagt hatte. Sein ungläubiger Gesichtsausdruck sprach Bände, und sein Vater nickte bedächtig. "Dachte ich es mir." Er seufzte und lehnte sich nach vorne, in Arthurs Richtung. Die Arme waren am Tisch abgestützt. "Ich selbst habe das zwar nicht erlebt, aber mein Großvater hat mir davon erzählt. Ich dachte immer nur, es wäre ein nettes Märchen, aber es passt genau auf dich." Wieder machte er eine Pause, als ob er nicht sicher war, ob er es ihm wirklich erzählen sollte. Dann entschied er sich endgültig dafür. "Weißt du, in der Geschichte erzählte er mir von den sogenannten Blutmondgeborenen."

Arthur zog eine Augenbraue in die Höhe. Das klang nun wirklich nicht nach einer Lösung für sein Problem. Aber er unterbrach seinen Vater nicht.

"Damit gemeint sind Lebewesen, es kann sich um Menschen, Tiere, oder auch Pflanzen handeln, die in einer Nacht geboren wurden, in der Blutmond war. Blutmond ist eigentlich jedes Jahr ein paar Mal, aber manchmal kommen noch andere seltene Naturphänomene dazu, die eine Geburt in einer solchen Nacht zu etwas Besonderem machen. Nun ja, auf jeden Fall haben diese Blutmondgeborenen eine besondere Gabe, oder einen Fluch, je nachdem, wie man es bezeichnen möchte."

Nur mit Mühe konnte sich Arthur ein Schnauben verkneifen. Einen Fluch? Blutmondgeborene? Was sollte das bitte alles mit ihm zu tun haben? Er war in einer kalten Novembernacht geboren, zwar stürmte es, wie ihm seine Mutter erzählt hatte, aber es herrschte mit Sicherheit keine besondere Mondkonstellation.

"Dieser Fluch unterscheidet sich individuell, und mein Großvater hat das auch nie genauer definiert. Auf jeden Fall ist es meistens so, dass er die Blutmondgeborenen zu einer Gefahr für andere macht. In welcher Form auch immer."

In Arthur keimte ein Verdacht auf, was der Gedanke seines Vaters gewesen sein könnte. Er vermutete, dass der Mörder aus Sedemoid ein Blutmondgeborener war.

"Alles schön und gut, aber wo komme dann ich ins Spiel?", unterbrach er ihn ungeduldig und runzelte die Stirn.

Sein Vater nickte beschwichtigend. "Dazu wollte ich gerade kommen. Je nach Form dieser Gefahr wollen sich die Betroffenen selbst daraus befreien, sie können die Polizei informieren oder holen jemand, der Geister austreiben will - auf jeden Fall helfen diese Dinge meist nicht. Dazu kommt nämlich eine andere Persönlichkeit in die Geschichte: mein Großvater nannte sie Jäger." Er machte eine bedeutsame Pause, damit Arthur das Erzählte kurz sacken lassen konnte. Dieser fühlte sich immer mehr wie in einem schlechten Fantasyfilm.

"Die Jäger sind dazu bestimmt, diese Blutmondgeborenen von ihrem Fluch zu befreien und dadurch natürlich auch die anderen Betroffenen zu retten, mehr oder weniger."

Wieder unterbrach Arthur ihn: "Und was haben bitteschön die Jäger davon?"

Sein Vater lächelte leicht und legte den Kopf etwas schief. "Diese sind anscheinend von Anfang an gegen die Einflüsse der Blutmondgeborenen immun, und sobald sie ihren Blutmondgeborenen von dessen Fluch befreit haben, können sie wie alle anderen Menschen auch wieder ein freies Leben führen, nur behalten sie diese Immunität."

Arthur schüttelte den Kopf. "Du weißt schon, dass das total absurd ist? Das hast du deinem Großvater jetzt aber nicht wirklich geglaubt?" Fast verächtlich verschränkte er seine Arme vor der Brust und stieß ein Schnauben aus.

Sein Vater zuckte entschuldigend mit den Schultern. "Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Er selbst hat daran geglaubt, das habe ich gemerkt. Außerdem hat er mir erzählt, dass für diese Bestimmung ein bestimmtes Gen verantwortlich sein soll, das sich auf den männlichen Personen einer Familie weitervererbt. Mein Vater hat mir allerdings nie etwas Ähnliches erzählt, er wusste vielleicht nicht einmal davon, da mein Großvater selbst ja noch jünger war, als ich geboren wurde. Mir ist so etwas auch nicht widerfahren, aber ganz ehrlich, Arthur", er schaute ihn fast traurig an, "du hast dich in den letzten Monaten extrem von mir entfernt. Zuerst dachte ich, es wäre vielleicht eine pubertäre Phase. Aber ich habe noch nie gehört, dass das Sammeln von Informationsmaterial über eine bestimmte Mordserie eine pubertäre Phase startet."

Als er sich nun vom Stuhl erhob, wirkte er um etliche Jahre gealtert. Sein Haar war zwar noch von einem satten Braun, aber die Sorgen zeichneten sein Gesicht.

"Ich weiß nicht, vielleicht ist es wirklich alles nur Humbug. Ich persönlich fände es erleichternd, wenn du diese Obsession beenden könntest, und stattdessen wieder mehr mit mir unternimmst." Ein Hoffnungsschimmer flog kurz über sein Gesicht, verschwand jedoch genauso schnell, wie er gekommen war.

Arthur duckte sich unter der Last des schlechten Gewissens. Es tat ihm furchtbar leid, seinen Vater so zu sehen.

"Ich werd's versuchen, Paps", murmelte er leise.

Sein Vater lächelte ihm aufmunternd zu. "Würde mich sehr freuen! Und falls nicht - denk doch vielleicht noch einmal über diese Geschichte, Märchen, was auch immer es für dich ist, nach. In jeder Geschichte steckt ein Fünkchen Wahrheit, nicht?"

Arthur verdrehte die Augen, musste jedoch auch grinsen. Es tat gut, wieder einmal so offen miteinander zu sprechen. "Mal sehen", meinte er nur. Dann seufzte er und machte sich auf den Weg in sein Zimmer.

 

Das kann doch nicht wahr sein! Frustriert schlug er die Hände hinter seinen Kopf und drückte diesen dagegen. Er versuchte nun schon seit einer geschlagenen Stunde, seine Sammlungen in eine Kiste zu verpacken, um diese dann wegzuwerfen. Vergeblich. Irgendetwas hielt ihn zurück. Er schaffte es, die Artikel in die Hand zu nehmen. Er brachte es auch noch fertig, sie in die Box zu verfrachten. Doch als dann alles Material darin war und er sie hinuntertragen wollte, passierte immer etwas Unerklärliches.

Zuerst hatte er sich den Fuß am Bettrand gestoßen und die Kiste fallen gelassen - der Inhalt lag daraufhin natürlich wieder wunderschön verteilt überall am Boden. Ein unglücklicher Zufall, könnte man meinen. Doch beim nächsten Versuch stolperte Arthur über eine Teppichfalte am Boden. Wieder begann die Arbeit von vorne.

Aller guten Dinge waren ja bekanntlich drei, dachte er sich, und schaffte es beim dritten Anlauf auch wirklich fast aus seinem Zimmer. Doch dann blieb er mit seinem Ärmel an der Türschnalle hängen, und die Kiste fiel ihm aus den Armen.

Ein weiteres Mal stolperte er danach, übersah eine Stufe und fiel beinahe die Treppe hinunter, oder er eckte an einer Kurve an der Wand an. Auf jeden Fall schaffte er es nicht, sein Vorhaben auszuführen.

Frustriert versetzte er dem Karton am Boden einen harten Tritt mit dem Bein. Na gut, die Dinge wollten ihn also nicht verlassen. Aber innerhalb seines Zimmers konnte er sie ja wenigstens wegräumen.

Gedacht - getan. Wenige Minuten später befand sich die gefüllte Box in einem Eck neben seinem Schreibtisch, als sein Blick auf seinen Laptop fiel. Ein bisschen Abwechslung würde ihm sicher nicht schaden, dachte er.

Ohne wirkliches Ziel begann er, im Internet zu surfen. Er besuchte einige Websites, wo er verschiedene Onlinespiele kurz ausprobierte, doch diese wurden ihm mit der Zeit immer wieder langweilig. Über die verschiedensten Seiten fand er sich schließlich auf einer Immobilienbörse wieder.

Und wie der Zufall es so wollte, war das erste Haus, das zu verkaufen war, in Sedemoid.

Kaum hatte er es gelesen, riss er die Hände zurück, als hätte er sich verbrannt. Schnell klappte er den Computer zu und kauerte sich auf seinem Bett zusammen. Das war doch schon ein sehr unwahrscheinlicher Zufall, oder nicht? Was würde denn noch alles passieren? Vielleicht sollte er doch einmal nachschlagen, was es mit diesen Blutmondgeborenen auf sich hatte.

Langsam näherte er sich wieder seinem Schreibtisch, als lauerte ein gefährliches Tier auf ihm, und öffnete seinen Laptop. Die Immobilienseite klickte er schnell weg, und googelte stattdessen Blutmondgeborene.

Die Suchmaschine spuckte ihm nur wenige Ergebnisse aus, die Arthur schnell durchgeschaut hatte. In ihnen ging es hauptsächlich um irgendwelche Romane, die um Werwölfe handelten.

Er versuchte es anders: Jäger Blutmond.

Dieses Mal erschienen lauter Artikel über den Blutmond selbst, wann der letzte war, wann der nächste sein würde, und so weiter.

Fast wollte Arthur schon aufgeben, dann probierte er es ein letztes Mal: Blutmond Sage Jäger.

Die ersten paar Seiten, auf die er stieß, halfen ihm nicht weiter. Doch schließlich fand er auf einer Psychologie-Website eine Passage, die mit dem Märchen seines Urgroßvaters zusammenpasste:

 

Dem Blutmond wird nachgesagt, dass er eine ganz spezielle Wirkung auf bestimmte Personen haben kann. Es wird von Betroffenen erzählt, die in einer Blutmondnacht geboren wurden, und eine unsagbare Anziehungskraft auf spezielle andere Personen haben. Meist haben sie außerdem eine besondere Affinität zur Nacht, manche sagen sogar, die Sonnenstrahlen meiden sie und sie müssen in stetiger Dunkelheit wandern.

Immer wieder geben Leute Erfahrungsberichte ab, bei denen man streiten kann, ob sie wahr sind, oder nicht. Allerdings bezeugen alle diese Berichte, dass dieser Geburts-Fluch durch eine andere, spezielle Person gebrochen werden konnte.

 

Danach folgte wieder eine andere Erzählung über die Wirkung des Mondes auf bestimmte Kräuter, das überflog Arthur nur kurz, es war nicht mehr von Relevanz für ihn. Schließlich las er den interessanten Teil noch einmal, und noch einmal, bis er das Gefühl hatte, ihn auswendig zu können. Klar, Menschen erzählten viel. Und nur diese paar Zeilen waren noch lang keine Bestätigung dafür, dass es so etwas wirklich gab. Aber dennoch... In ihm baute sich ein Druck auf, der nach mehr verlangte. Er musste mehr darüber erfahren.

Schließlich kam ihm eine Idee - Er konnte die Autorin der Seite anschreiben und sich als Betroffener ausgeben. Er würde ihr seine momentane Situation beschreiben, er würde sie in dem Glauben lassen, dass er davon überzeugt war, ein Jäger zu sein - also diese eine spezielle Person, die den Fluch brechen konnte.

Vielleicht würde ihre Antwort mehr Licht in diese Finsternis bringen.

 

Am nächsten Morgen riss der Wecker ihn aus dem Schlaf. Arthur schreckte in die Höhe. Sein Körper war schweißbedeckt und sein Atem ging viel zu schnell. Ein Albtraum war es gewesen, der ihn verfolgt hatte in dieser Nacht, doch sobald der Junge die Beine auf den Boden gestellt und den Kopf in den Händen vergraben hatte, waren die Erinnerungen daran bereits verflogen.

Immer noch etwas außer Atem schlurft Arthur in das Bad und stellte sich unter die Dusche. Dort wusch er all den Schweiß herunter, und ließ dann das kalte Wasser noch so lange auf seinen Kopf laufen, bis er einigermaßen munter war.

Widerwillig drehte er schließlich den Wasserhahn ab und verließ die Dusche. Im Spiegel erkannte er nur schemenhaft Umrisse seiner selbst - kurze mittelblonde Haare, ein längliches Gesicht mit ausgeprägtem Kinn und harten Wangenknochen, von denen in den letzten Monaten der Kinderspeck verloren gegangen war.

Mit einem gezielten Griff griff er nach seiner Kontaktlinsenbox und setzte sich die Sehhilfe ein. Schon viel besser. Nun konnte er sogar die grünen Sprenkel in seinen grauen Augen erkennen.

Mit einem Handtuch rubbelte er sich über das Haar, bis es nur mehr feucht war, und griff dann kurz zum Föhn. Es war bereits die Zeit gekommen, in der man besser nicht mit nassen Haaren hinaus ging, sondern eher zu Haube und Handschuh griff.

In seinem Zimmer schlüpfte er in Jeans und ein weißes Shirt, darüber zog er einen dunklen Sweater. Ein Blick auf sein Handy zeigte ihm, dass ihm noch genug Zeit für ein stressloses Frühstück blieb.

Also ging er nach unten und richtete sich dort eine Schale Müsli her. Gerade, als er sich an den Tisch gesetzt hatte, betrat sein Vater den Raum. Er hatte nur einen Bademantel an, und wirkte noch ziemlich verschlafen.

"Morgen, Paps", begrüßte Arthur ihn. "Musst du heute nicht arbeiten?"

Sein Vater arbeitete als Architekt in einer Firma in der nächsten Stadt, normalerweise verließ er kurz vor Arthur das Haus. Aber heute sah es nicht danach aus.

"Guten Morgen. Doch natürlich, aber heute habe ich ein Meeting, das beginnt erst um zehn, daher habe ich heute mal wieder ausgeschlafen."

Er zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich zu Arthur. Dieser warf ihm einen sehnsüchtigen Blick zu. "Du Glücklicher."

"Ach was, sei froh, dass du noch zur Schule gehst. Nächsten Sommer kannst du dann nach einem Ferialjob suchen, dann bist du froh darüber!"

Arthur verdrehte nur die Augen und winkte ab. Sein Müsli war inzwischen auch fertig gegessen, also räumte er seine Schüssel weg und machte sich auf Richtung Haustüre.

"Ich werd heute nach der Schule noch etwas mit Moe unternehmen, also komme ich erst etwas später nach Hause!", verkündete er schließlich.

Sein Vater nickte. "Kein Problem, viel Spaß!"

Das gestrige Gespräch hatte keiner von beiden erwähnt, fiel Arthur auf, als er die Tür hinter sich ins Schloss fallen hörte. Seine Stirn zog sich kurz in Falten, doch dann beschloss er, dass es wahrscheinlich besser so war. Außerdem war er gespannt, ob eine Antwort von dieser Blutmondtante zurückkommen würde.

 

Als er das Klassenzimmer betrat, war sein Sitznachbar bereits da. Moritz und er saßen seit Beginn dieser Schule immer zusammen, außer ein Lehrer beschloss, dass es für alle Beteiligten besser war, sie für einige Stunden zu trennen. In diesem Fall waren sie schlimmer als viele der Mädchen, was sie natürlich vehement bestritten.

"Hey, Moe!", begrüßte Arthur seinen Kumpel mit einem Faustschlag. Dieser führte ihn ebenfalls aus, ihr morgendliches Begrüßungsritual.

"Hast du schon bei wem die Mathe-Hausaufgaben abgeschrieben?", erkundigte er sich dann. Moritz schüttelte betreten den Kopf. "Jacko wollte sie mir nicht geben. Aber vielleicht hast du mehr Glück!" Sein Gesichtsausdruck verriet jedoch, dass er das schwer bezweifelte.

Jakob hatte immer jede Hausübung gemacht, und meistens erlaubte er den anderen, sie abzuschreiben. Nur selten war er dagegen, das wurde dann immer zu einem Problem für viele seiner Klassenkameraden.

Arthur zog sein Heft aus dem Bankfach und schlenderte damit zu Jackos Tisch.

"Darf ich abschreiben?", kam er gleich zum Punkt, doch sein Mitschüler schüttelte den Kopf.

"Ich hab Moe bereits gesagt, dass ihr das ruhig mal selber auch machen könnt!" Hinter ihm begann Maggie zu kichern. Arthur warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Sie hatte bestimmt abschreiben dürfen.

"Ach komm schon, du weißt genau, dass wir ohne dich aufgeschmissen sind!", versuchte er es auf die mitleidige Tour.

Jacko grinste selbstgefällig. "Aber ich erinnere euch auch immer wieder gerne daran", meinte er nur.

Arthur stöhnte laut auf, verdrehte die Augen und verzog sich dann aber. Dann hatte er eben einmal keine Hausübung, davon ging die Welt auch nicht unter.

Leider war es nämlich inzwischen auch schon zu spät, um sich jemand anders zu suchen, denn die Glocke läutete in diesem Moment schrill und startete die erste Unterrichtsstunde. Auf die Sekunde genau trat Frau Stein ein, und die Klasse verstummte augenblicklich. Jeder fürchtete die Mathemathiklehrerin, da diese stets saftige Strafen auferlegte.

"Nehmt bitte alle eure Hausübungen heraus", begann sie die Stunde gleich wie jeden Tag.

Arthur zog unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern, während alle anderen herumkramten und die Aufgabe aufschlugen. Frau Stein ging durch die Reihen, warf einen kurzen Blick auf jedes Heft, setzte ein Zeichen darunter und kam so schließlich auch bei Arthur an.

Missbilligend schüttelte sie den Kopf. "Arthur, Arthur, Wo soll denn das enden? Das ist nun die dritte vergessene Hausübung, du kommst nach der Stunde bitte zu mir und holst dir eine extra Übung."

Nur mit Mühe konnte Arthur ein genervtes Schnauben unterdrücken. Das hier war die Oberstufe, darauf hatte er sich eigentlich gefreut, in der Annahme, dass alles viel lockerer sein würde. Aber er hatte sich geirrt - es kam, wie früher auch schon, nur auf den Lehrer an. Manchen war es egal, ob man vorbereitet in die Stunde kam, seine Aufgabe hatte oder nicht, hauptsache, man bestand einen kleinen Test im Semester, und andere wie Frau Stein agierte, als wären sie alle noch Schulanfänger. Es war zum Verrücktwerden.

Nach der Aufgabenkontrolle starteten sie in ein neues Thema - lineare Gleichungen mit zwei Variablen. Arthur versuchte zwar, nicht noch mehr unangenehm aufzufallen, doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab und die Lehrerin ermahnte ihn in dieser Stunde noch weitere zwei Mal.

Endlich läutete es zur ersten Pause, und Arthur zog rasch sein Handy hervor, sobald die Professorin verschwunden war. Mit wenigen Klicks hatte er sein Mailfach aktualisiert und legte es enttäuscht wieder weg. Keine neuen Nachrichten.

Moe hatte ihn beobachtet und grinste belustigt. "Wartest du auf etwas Bestimmtes? Hast du am Wochenende einer deine Emailadresse gegeben, ist das jetzt so ein neuer Trend?"

Arthur schüttelte den Kopf. "Ach, quatsch. Ich hab nur nachgeschaut, einfach so."

Er klang anscheinend nicht sehr überzeugend, denn Moe bedachte ihn noch einmal mit einem misstrauischen Blick, ließ das Thema dann jedoch fallen.

 

Der restliche Schultag verging ziemlich schnell, und danach brachten Moe und Arthur ihre Schulsachen kurz zu Moe nach Hause, um dann ihrer Lieblingsbar einen Besuch abzustatten. Eigentlich durfte man dort erst ab sechzehn hinein, aber Moes Schwester arbeitete dort, und daher wurde für sie meist eine Ausnahme gemacht.

Anstatt sich aber an die Bar zu setzen, bestellen sie beide ein Bier - auch hier wurden sie bevorzugt, allerdings erhielten sie stets nur eines - und beanspruchten dann den Billard-Tisch für sich.

Nacheinander versenkten sie die Kugeln, tranken dabei das bittere Gebräu und unterhielten sich über das neueste Fifa-Spiel. Als nur mehr zwei Kugeln am Tisch waren, wechselte Moe plötzlich das Thema.

"Hast du eigentlich von der Party am Wochenende gehört?"

Arthur runzelte die Stirn. "Nein, wo soll die sein?"

"Bei Maria, ihre Eltern sind weg, sie hat sturmfrei. Sie hat ziemlich viele Leute eingeladen, auch Mädels aus den Klassen über uns. Du weißt schon, Alex und Kelly zum Beispiel!" Er zwinkerte ihm zu.

Arthur hob wissend die Augenbrauen und grinste. "Ah, Alex und Kelly also. Ich nehme an, da werden wir wohl auch hin müssen dann?" Sein Freund träumte schon seit Jahren davon, etwas mit Kelly zu haben, und logischerweise fand er es nur naheliegend, wenn Arthur sich dann um Alex annahm. Er unterstrich diese Behauptung meist noch, in dem er Arthur davon überzeugen wollte, dass er Alex schon öfters dabei ertappt hatte, wie sie Arthur angestarrt hatte, als dieser nicht hinsah. Dann kniff Arthur immer nur die Augen zusammen, sagte jedoch nichts dagegen. Er wollte seinem Freund nicht den Spaß nehmen.

"Maria wohnt aber am anderen Ende der Stadt, wie kommen wir denn da hin?", wollte er wissen.

Moe winkte ab. "Alles geklärt. Meine Schwester ist auch eingeladen, sie kann uns natürlich mitnehmen. Meinen Eltern sage ich, ich bin bei dir, in Ordnung?"

Arthurs Vater war in dieser Hinsicht viel lockerer drauf als Moes Eltern. Seine Schwester war nun bereits achtzehn und musste immer noch um Erlaubnis bitten, wenn sie später als zehn Uhr nach Hause kommen wollte.

"Klar, kein Problem", versicherte Arthur und warf einen schnellen Blick zur Bar, wo Moes Schwester Beth gerade einigen alten Männern ein paar Gläser Whiskey hinstellte. Man würde nie auf die Idee kommen, dass die beiden Geschwister waren: Moe hatte das dunkle Haar seiner Mutter geerbt, und Beth die blonde Lockenmähne ihres Vaters. Obwohl sie sie immer glättete, fand Arthur sie mit Naturhaar ziemlich attraktiv. Nicht, dass er das jemals seinem besten Freund erzählt hatte. Damit würde er unnötig einen Streit provozieren, das wusste er.

Schnell schüttelte er den Kopf und damit den Gedanken weg. Ein Blick auf sein Handy verriet ihm, dass sie bereits knappe fünf Stunden hier verbracht hatten.

"Du, ich muss dann los", kündigte er an und verabschiedete sich wieder mit dem gleichen Handschlag vom Morgen.

"Ciao!"

"Tschüss Beth!", rief er in Richtung Bar, und sah noch, wie sie kurz die Hand hob, bevor er aus der Tür war.

 

Draußen war es bereits stockdunkel. Die Straßenbeleuchtung war hier auch nicht gerade optimal, doch sie reichte aus, um nicht das Handy als Taschenlampe benutzen zu müssen. Arthur holte es dennoch heraus, und checkte wieder seine Mails. 1 ungelesene Nachricht. Bingo.

Sein Herz begann etwas schneller zu pochen, als er das Symbol anklickte. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend begann er zu lesen:

 

Hallo Arthur!

Es freut mich sehr, von dir und deiner Erfahrung zu hören. Ich weiß nicht, ob ich dir weiterhelfen kann, aber ich werde es versuchen! :-)

Das, was du mir beschrieben hast, klingt wirklich so, als ob du ein - wie du es nennst - Jäger bist. Viele andere Erfahrungsberichte schildern ähnliche Symptome, ehe sie sich ihrer Aufgabe bewusst wurden.

Falls du wirklich Recht hast, und dich diese Vorfälle auf eine bestimmte Spur lenken wollen, würde ich auf jeden Fall darüber nachdenken, ihr zu folgen. Wenn du ein Jäger bist, wirst du sowieso früher oder später dort landen, wo du gebraucht wirst. Irgendwie findet das Schicksal immer einen Weg. Und wenn du ihm nicht jetzt folgst, dann leitet es womöglich andere Begebenheiten ein, die dich zwingen, dich ihm zu beugen. Ich habe schon erzählt bekommen, wie sich Menschen weigerten, diesem Drängen zu folgen, und dann durch einen Jobverlust eine neue Arbeitsstelle suchen mussten, und erst die Zusage dort erhielten, wo es für ihre Aufgabe von Nutzen war. An einen Fall kann ich mich auch noch erinnern, wo die Ehefrau gestorben ist und in ihrer Heimatgemeinde begraben werden musste, viele Autostunden von ihrem damaligen Heimatort entfernt, und dort wartete dann die Aufgabe auf den Jäger.

Ich will dir keineswegs Angst machen, ich will dir nur raten, vielleicht zumindest einen Besuch dort abzustatten, wo du denkst, dass deine Aufgabe dich erwartet.

Ich würde mich auf jeden Fall freuen, mehr von dir zu hören, wie deine Geschichte weitergeht, und hoffe, ich konnte dir ein wenig weiterhelfen!

Gutes Gelingen,

Alice

 

Gepresst stieß Arthur die aufgestaute Luft aus. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er sie angehalten hatte, während er die Mail las. Damit hatte er absolut nicht gerechnet. Eigentlich hatte er mit dieser Anfrage bezwecken wollen, dass die Antwort total unlogisch und unglaubwürdig ausfallen würde, um dieses Märchen endlich als ein solches abstempeln zu können. Doch auch, wenn diese Schilderungen eher nach einem schlechten Horrorfilm klangen, gab es einen Teil in Arthur, der den Worten Glauben schenkte. Es war auch der Teil, der bei dem Anblick des zu verkaufenden Hauses in Sedemoid am liebsten sofort dort hingezogen wäre. Es war der Teil, den Arthur fürchtete.

 

Zuhause angekommen, rannte er beinahe die Treppe hinauf in sein Zimmer und warf sich auf sein Bett. Das Gesicht hatte er im Kissen vergraben, und obwohl er sich hundeelend fühlte, verließ keine Träne seine Augen. Seit seine Mutter damals gestorben war und er Wochenlang quasi nur durchgeheult hatte, hatte er beschlossen, dass dies genug Tränenvergießen für lange Zeit war und sich geschworen, zumindest bis er erwachsen war, nie wieder zu weinen. Es gab Zeiten, da fiel es ihm schwer, aber inzwischen hatte er sich an den dumpfen Schmerz gewohnt, der immer dann auftauchte, wenn er sich zurückhielt. Seine Brust schwoll an, er fühlte sich an, als würde er jeden Moment platzen. Doch dann atmete er kontrolliert langsam aus, und der Druck verschwand wieder.

Arthur lag schon eine Weile so da, als es plötzlich an seiner Zimmertür klopfte. Er schreckte hoch und setzte sich im Bett auf, gerade noch rechtzeitig, bevor sein Vater den Kopf herein steckte.

"Hast du bei Moe schon gegessen?", wollte er wissen.

Arthur räusperte sich. "Ja", log er. Zwar war er ein wenig hungrig, nachdem er nur in der Mittagspause in der Mensa eine kleine Portion Nudeln gegessen hatte, aber er wollte im Moment einfach mit keinem reden.

Sein Vater nickte. "Hattet ihr einen schönen Nachmittag?"

Wieder antwortete Arthur einsilbig. Sein Vater seufzte. "In Ordnung. Es ist schon spät, ich werde dann mal ins Bett gehen. Gute Nacht!"

"Nacht", erwiderte Arthur und sobald die Tür zu war, ließ er sich wieder zurückfallen. Er breitete die Decke über sich aus und war innerhalb von wenigen Minuten eingeschlafen.

 

In den kommenden Tagen schaffte Arthur es, sich abzulenken. Er unternahm viel mit Moe, sie besprachen viele verschiedene Wege, wie sie bei der Party am Wochenende vorgehen würden. Moe war davon überzeugt, dass es dieses Mal mit Kelly klappen würde. "Das letzte Mal, als sie mit mir geredet hat, war ich quasi noch ein Baby", meinte er. "Sie wird mich nicht mehr wieder erkennen, und sich Hals über Kopf in mich verlieben", prophezeite er.

Arthur zog nur kritisch die Augenbrauen hoch. "Ach, letztes Mal? Lass mich überlegen..." Moe warf ihm bereits einen finsteren Blick zu. "War das nicht, als du so besoffen warst, dass du gerade noch an ihr vorbeigekotzt hast?", erinnerte Arthur ihn dennoch an den Vorfall vor einigen Monaten.

"Klappe. Wie gesagt, damals war ich noch ein Baby. Jetzt bin ich erfahren und wie perfekt für sie!"

Arthur seufzte nur und verkniff sich den Kommentar, dass er durch die paar Knutschereien auf diversen Festivals, bei denen sowieso jeder nur sturzbetrunken war, nicht wirklich als Erfahrung zu zählen waren.

Als er am Freitag nach der Schule nach Hause kam, erzählte er auch seinem Vater von seinen Plänen.

"Morgen ist eine Party von einer aus meiner Klasse, da würde ich gerne mit Moe hingehen."

Sein Vater blickte von der Zeitung auf und wirkte zuerst ein wenig abwesend. Dann hatte er sich jedoch schnell gefangen. "Was? Ach so, jaja, kein Problem. Wann wirst du denn wieder zuhause sein, zirka?"

Manchmal hatte Arthur das Gefühl, sein Vater streute solche Sätze nur hin und wieder ein, damit es nicht so wirkte, als kümmerte es ihn überhaupt nicht. Aber Arthur wusste, dass das nicht der Fall war und er ihm nur die Jugend ermöglichen wollte, die ihm selbst nie erlaubt gewesen war.

"Ich weiß noch nicht, aber nicht so bald. Vielleicht bleiben wir auch dort, ich weiß noch nicht, wie sie das geplant hat. Aber wir können mit Beth mitfahren, daher werden wir uns nach ihr richten, schätze ich!"

Nun war der Blick seines Vaters intensiver. "Beth? Und sie wird nüchtern bleiben? Da ist es mir wirklich lieber, ihr bleibt gleich dort, wenn das möglich ist. Ich kann euch am Vormittag dann auch dort holen, wenn ihr wollt."

Innerlich wand sich Arthur ein wenig. Es wäre ihm ziemlich peinlich, wenn sein Vater auf einmal dort aufkreuzen würde, um ihn abzuholen. Selbst, wenn es erst am nächsten Tag war. Dennoch nickte er. "Ja, klar. Aber ich ruf dich an in der Früh, damit wir uns eine Zeit ausmachen können und so." Als sein Vater ihn weiterhin ansah, kniff er misstrauisch die Augen zusammen. "Ist noch was?"

"Hm, was, nein. Nichts." Der Sessel wurde zurückgeschoben, und mit der Zeitung unter dem Arm verließ der Vater das Zimmer.

Arthur seufzte, und sein Blick verlor sich aus dem Fenster in der Weite der Felder dahinter. Die Gedanken kehrten wieder zurück.

Er hatte Alice noch nicht zurückgeschrieben. Nach wie vor zweifelte er an ihren Worten, doch er wollte sie auch nicht ganz ignorieren. Aber was dann?

Jetzt konzentriere ich mich zuerst einmal auf morgen, und dann sehe ich schon weiter. Vielleicht löst sich das ja irgendwie von selbst, hoffte er inständig.

 

Am nächsten Tag schlief er lange. Als er schließlich zur Mittagszeit endlich im Pyjama nach unten kam, drang bereits ein herrlicher Duft in seine Nase. Mit geschlossenen Augen atmete er tief ein. Sein Vater machte Brathühnchen, seine Leibspeise.

Gut gelaunt rauschte er in die Küche. "Mmm, hier riecht es aber lecker!"

Lächelnd drehte sein Vater sich zu ihm um. "Damit du auch was im Magen hast, wenn du heute auf diese Party fährst!"

Wieder einmal war Arthur stolz auf seinen Vater. Moe konnte es dem seinen nicht einmal erzählen, wohin er ging, und sein eigener wusste sogar, dass sie vermutlich relativ viel Alkohol konsumieren würden, und er war okay damit. Auch früher war es meist so gewesen, dass seine Mutter die strengere der beiden Eltern war. Nach ihrem Tod hatte sein Vater nicht sehr viel an seinen Erziehungsmethoden geändert, worüber Arthur sehr froh war.

"Kann ich dir noch wo helfen?" Suchend blickte sich der Junge in der Küche um.

"Du kannst schon mal aufdecken, oder abwaschen."

Schnell griff Arthur nach der Bestecklade und zog sie heraus. Abwaschen war eines der Dinge, die er absolut nicht ausstehen konnte. Da kochte er lieber selbst etwas Aufwändiges, aber das Aufräumen danach überließ er gerne jemand anderem.

Dieses Mal machte es dann auch sein Vater, der sich aber vorher das Versprechen geben ließ, dass Arthur dafür später alles abräumen würde.

Als das Hühnchen schließlich lange genug im Ofen gewesen war, zog Arthur es heraus und richtete zwei große Portionen an. Diese trug er dann zu dem kleinen Tisch im Speisezimmer, wo sein Vater schon wartete.

"Guten Appetit!", wünschte er ihm, und begann bereits, Fleisch und Reis und Kartoffeln in seinen Mund zu schaufeln. Sein Vater ließ sich etwas mehr Zeit, und folglich war Arthur auch schon etwas früher mit der Mahlzeit fertig. Er lehnte sich auf dem Sessel zurück und hielt sich den Bauch. "Das war wirklich sehr gut! Könntest du ruhig öfter machen!"

Sein Vater grinste. "Du könntest auch ruhig mal am Wochenende freiwillig in die Küche gehen und was kochen. Hätte ich auch nichts dagegen einzuwenden." Er zwinkerte ihm zu, beide wussten, wie unwahrscheinlich es war, dass dieser Fall eintreten würde. Arthur schlief meist bis in den späten Vormittag hinein, und am Abend war er meist unterwegs. Keine Zeit, da auch noch ans Kochen zu denken.

Wie Versprochen räumte Arthur dann alles weg, und rief dann bei Moe an wegen der Party.

"Kommt ihr mich abholen?", erkundigte er sich und sein Freund bejahte. Sie machten es sich auf acht Uhr aus, dann hatte die Party schon begonnen, aber es war dennoch noch früh genug. Arthur konnte es nicht leiden, erst kurz vor Mitternacht wo aufzukreuzen. Es war zäh, wenn alle anderen bereits total betrunken waren und man selbst als einziger noch nüchtern.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er noch ein paar Stunden totzuschlagen hatte. Etwas unentschlossen stand er vor seinem Bett und überlegte, ob er doch lieber hinunter gehen und den Fernseher anmachen sollte. Aber seit ihm dort meist irgendeine Neuigkeit aus Sedemoid auflauerte, hatte er seine Zeit vor der Glotze in den letzten Wochen stark reduziert. Doch was sollte er dann machen? Wieder fiel sein Blick aus dem Fenster, und Arthur fasste einen Entschluss. Das kleine Pferd hatte absolut nichts mit diesen Morden zu tun, wieso also nicht. Er würde rechtzeitig zurück sein, es würde aber auch eine gewisse Zeit dauern, hin und wieder zurück zu kommen. Im Grunde also perfekt, um diese paar Stunden zu nutzen.

Sein Vater war unten nirgends zu sehen, also begann Arthur nicht, nach ihm zu suchen, um ihm Bescheid zu sagen. Stattdessen verließ er einfach das Haus, nahm sicherheitshalber seinen Schlüssel mit, und startete den Weg durch die Felder.

Wieder war er sehr darauf bedacht, von niemandem entdeckt zu werden, doch alle Sorgen waren unbegründet. Obwohl es ein relativ schöner Tag war - die Sonne strahlte vom Himmel - war es dennoch viel zu kalt, als dass jemand einen größeren Spaziergang wagte. Arthur war froh darüber.

Als er endlich die Wiese erreicht hatte, runzelte er die Stirn. Das Pferd war weg. Er ging alle Seiten der Koppel ab, schlüpfte dann durch den Zaun, als ob er dadurch besser sehen könnte. Aber das Tier blieb verschwunden.

Eine dumpfe Leere erfüllte Arthur. Was war nur mit dem Tier geschehen? Sollte es ihn kümmern, dass es weg war? Und wieso bahnte sich dieses Drängen in ihm wieder auf, von hier wegzugehen? Das Drängen, das er auch bei allen Erwähnungen von Sedemoid spürte. Aber die beiden Dinge hatten doch nichts mit einander zu tun, oder?

Bestürzt kletterte Arthur auf den Zaun und setzte sich auf die oberste Sprosse. Das Holz sah zwar schon etwas älter aus, aber es hielt ihn immer noch problemlos. Seine Gedanken schweiften ab und vor seinem inneren Auge sah er plötzlich wieder dieses Haus, das zu verkaufen war. Doch in seiner Vorstellung graste nun dieses Pferd im Garten. Arthur schüttelte den Kopf, als ob er das Bild dadurch vertreiben konnte. Sein Unterbewusstsein spielte ihm wirklich böse Scherze!

Nachdem er noch wenige Minuten so sitzen geblieben war, wurde ihm aber allmählich kalt und er beschloss, sich wieder auf den Heimweg zu machen. Langsam schlenderte er den Weg zurück, und ließ sich dabei so viel Zeit, dass es dann tatsächlich nicht mehr lange dauerte, bis Moe und Beth ankamen.

Anstatt zu läuten, rief Moe bei Arthur an. "Ja, komme sofort, bin schon fertig", erklärte Arthur seinem Freund, noch ehe dieser ein Wort gesagt hatte. Dann legte er wortlos auf.

"Paps, ich bin jetzt weg! Ruf dich dann an, wegen morgen. Tschüss!"

Er vernahm ein gedämpftes "Viel Spaß!" von oben, dann zog er sich seine Schuhe an, schlüpfte in seine Lederjacke und verließ das Haus.

Als er die Autotür hinter sich zuschlug, warf Beth ihm einen Blick über den Rückspiegel zu. "Hi Arthur. Du hast dich heute aber aufgebrezelt!", beschrieb sie seinen Look. Dieser bestand aus schwarzer Jeans, einem engen weißen Shirt, der schwarzen Lederjacke, und einer RayBan Sonnenbrille. Zwar war es bereits finster draußen, aber Arthur fand, dass sie ihn viel cooler wirken ließ und außerdem super zu der Lederjacke passte. In seinen Haaren fand sich etwas mehr Gel als normal wieder, doch eigentlich hätte er seinen Zustand nicht als 'aufgebrezelt' beschrieben.

"Ich nehm's mal als Kompliment", meinte er daher nur, und sie zuckte grinsend mit den Schultern, als sie das Auto wieder auf die Straße steuerte.

Sein nächster Blick fiel auf Moe und er musste sich ein spöttisches Schnauben verkneifen. Sein Freund sah aus wie ein billiger Abklatsch von Elvis. Mit einem Hauch von einem Man in Black. Seine dunklen Haare, die normalerweise in alle Richtungen abstanden, hatte er irgendwie in diese schmalzige Rolle gebracht, außerdem war er ganz in Schwarz gekleidet - wie Arthur eine schwarze Jeans, dann allerdings ein schwarzes Hemd, dessen Kragen er aufgestellt hatte, und darüber einen schwarzen Pullover.

"Also Kelly wird sich sofort auf dich stürzen, das sehe ich jetzt schon kommen!" Er überließ es seinem Freund, ob er in diesem Kommentar Sarkasmus sehen wollte, oder nicht. Beth schüttelte vorne den Kopf und Arthur sah ein fettes Grinsen in ihrem Gesicht. Sofort spürte auch er, wie sich seine Mundwinkeln nach oben zogen.

Moe nahm es gelassen. "Und ich wette mit dir, dass ich sie heute rumkriege!"

Arthur warf seinem Freund einen spöttischen Blick zu. "Bist du dir sicher? Worum willst du denn wetten?"

Moe starrte ihm direkt in die Augen. "Wenn ich gewinne, gehst du eine Woche in dem alten Rock von eurem Dachboden zur Schule."

Arthur schluckte schwer. Das war ein heftiger Einsatz. Das alte Teil war bestimmt schon von seiner Urgroßmutter, es hatte Mottenlöcher und war in einer Farbe von hässlichem Beige. "Und was, wenn ich gewinne?"

Moe lehnte sich gelassen zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. "Das darfst du dir dann aussuchen."

Arthur dachte scharf nach. Womit konnte er diese Demütigung ausgleichen?

"Wenn ich gewinne", begann er dann schließlich, "musst du Kelly nächste Woche in einer Mittagspause vor allen ihren Freundinnen ein Liebesgeständnis machen. Und sie anbetteln, sie solle es sich doch noch einmal überlegen. Mit Kniefall und so."

Nun konnte Beth sich das Lachen nicht mehr verkneifen und prustete los. Moe hingegen blieb cool und hielt ihm die Hand hin. "Deal?"

Arthur schlug ein. "Deal."

Einige Minuten später lenkte Beth das Auto auch schon in einen Parkplatz nahe dem Haus. "Na dann, Jungs: Let's get that party started!"

 

Die laute Musik war bereits von weitem zu hören. Marias Nachbarn waren entweder extrem tolerant, oder ihre Eltern würden sich morgen etwas anhören können. So oder so, es war nicht ihr Problem.

Kurz überlegte Arthur, ob er läuten sollte, dann entschied er sich jedoch dagegen und öffnete selbst die Haustüre. Bei diesem Lärm würde die Glocke sowieso niemand hören.

Drinnen erwartete die drei eine Masse an Menschen, viel mehr als erwartet. Die Party war bereits voll im Gange, es sah aus, als war auch bereits genug Alkohol geflossen. Arthur drehte sich kurz zu Moe und Beth um, ob die beiden eh noch hinter ihm waren. Dann drängte er sich seinen Weg durch fremde Körper, bis schließlich Maria vor ihm stand. Ihre schwarzen Locken hingen schlapp an ihrem feuchten Gesicht hinunter, und ihre Kleidung war ebenfalls nass. Da hatte sie wohl jemand in den Pool geschmissen, den Arthur im Innenhof weiter hinten erahnen konnte.

"Hallo, Maria!", schrie er gegen den wummernden Bass an.

Auf dem Gesicht ihrer Gastgeberin breitete sich ein großes Lächeln aus, doch ihre Augen schienen durch ihn hindurch zu blicken. Sie wankte auf ihn zu und umarmte ihn schwerfällig. Arthur erwiderte die seltsame Geste mit einem unsicheren Tätscheln ihres Rückens. Er schenkte ihr danach noch ein etwas angewidertes Grinsen, ehe er das Weite suchte. Maria war normalerweise eher schüchtern, ein Mauerblümchen, mit Zahnspange und allem, was dazu gehörte. Noch nie hatte sie eine Party geschmissen, oder generell mehr als ihre beiden besten Freundinnen zu Besuch gehabt, wie Arthur vermutete. Wahrscheinlich hatte sie sich von dieser Party hier einen sozialen Durchbruch erwartet, doch es lag nahe, dass die meisten Gäste nicht einmal wussten, wer hier zu Hause war.

Als Arthur erneut seinen Blick durch die Menge schweifen ließ, stellte er fest, dass er Moe und Beth verloren hatte. Eigentlich hatte er mit ihnen zusammen bleiben wollen, bis er wenigstens ein paar Bier getrunken hatte, aber jetzt konnte er es auch nicht mehr ändern.

Mit einem Seufzen hielt er Ausschau nach etwas zu trinken, oder jemandem, der halbwegs ansprechbar aussah. Himmel, es war gerade einmal halb neun, wann hatten die hier denn schon zu trinken begonnen?

Als er sich gerade an einem schweißigen Typen vorbeidrängte, der zu tanzen versuchte, sah er einen Biertisch, auf dem einige Dinge standen. Schnell bahnte er sich seinen Weg dorthin, und griff nach einer Flasche Zipfer. Aus seiner Hosentasche holte er ein Feuerzeug hervor, mit dem er die Kapsel gekonnt entfernte. Mit einem Ploppen war die Flasche geöffnet und Arthur trank die Hälfte davon in einem Satz aus. Den Rülpser, der daraufhin folgte, verkniff er sich nicht.

So, was nun?, überlegte er mit gerunzelter Stirn. Sein Blick schweifte über verschiedenste Personen - ein knutschendes Pärchen, jemand, der in einen Blumentopf kotzte, zwei Typen, die so aussahen, als würden sie sich gleich prügeln, ein Mädchen in rotem Kleid, das alleine neben dem Pool stand, Kelly und einer seiner Klassenkameraden, der allerdings nicht Moe war, ein - halt. Schnell fuhren seine Augen zu der Szene einige Meter zuvor: ein Mädchen, ganz alleine am Pool. In ihrer Hand hielt sie ein Glas mit Strohhalm, aus dem sie hin und wieder nippte. Sie wirkte noch eher nüchtern, auch beobachtend, und nicht wirklich so, als ob sie jemanden kennen würde.

Das werden wir dann mal ändern, beschloss Arthur, und schlängelte sich durch die Menschenmenge auf sie zu. Endlich stand er schließlich vor ihr und richtete den Blick auf zwei unwahrscheinlich blaue Augen. "Hey!", begrüßte er sie, "Ich bin Arthur!"

Kurz sah sie sich um, ob hinter ihr noch jemand stand, den er meinen könnte, dann erwiderte sie etwas überrascht seinen Blick. "Mara", stellte sie sich einsilbig vor.

Arthur nickte lächelnd. "Willst du was trinken, Mara?" Er deutete mit dem Kinn nach hinten, von wo er herkam.

Mara grinste nun auch und hob die Hand, in der sich das Glas - ein Cocktail, wie Arthur nun feststellte - befand. "Danke, ich hab schon!"

Innerlich schlug Arthur seinen Kopf gegen eine Wand. Verdammt, wie hatte er das übersehen können. Naja, das war nun mal sein Standard-Erster-Kennenlern-Satz, er war ihm anscheinend schon in Leib und Blut übergegangen.

Doch äußerlich tat er diese Unaufmerksamkeit mit einem lässigen Schulterzucken ab und hielt ihr die Bierflasche hin, dass sie anstoßen konnte. "Na dann Prost!"

Sie kicherte, als das Glas laut klirrte, jedoch stand hielt. "Prost!"

Gleichzeitig tranken sie einen Schluck, dann herrschte kurz eine unangenehme Pause. Arthur brach sie schließlich. "Mit wem bist du denn hier? Ich hab dich noch nie gesehen, bist du aus der Gegend?"

Mara schaute ihn verständnislos an. "Was hast du gesagt?", brüllte sie ihm zu.

Arthur verdreht die Augen und deutete mit der Hand in Richtung Hinterseite des Hauses. "Gehen wir ein bisschen weg?", fragte er sinnloser Weise, denn sie würde ihn wahrscheinlich nicht verstehen. Die Geste hingegen schien angekommen zu sein, denn sie nickte, griff nach seiner Hand und bahnte sich einen Weg durch tanzende Körper, weg von der Musikquelle, die eindeutig im vorderen Teil des Hauses platziert war.

Arthur hielt den Atem an. Sein ganzes Ich schien sich nur auf die paar Quadratzentimeter Haut zu konzentrieren, die die ihre berührte. Ihre Hand war warm, aber nicht feucht. Ihre Finger hielten die seinen fest im Griff, als wolle sie ihn nie mehr loslassen. Arthurs Hand begann zu kribbeln, und dieses Kribbeln setzte sich über den ganzen Arm fort, bis es seinen ganzen Körper eingenommen hatte. Er ließ sich von ihr mitziehen und wusste, dass er ihr in diesem Moment überall hin folgen würde. Selbst, wenn sie ihn in ein tiefes Moorloch lotsen würde, aber sein Verstand hatte sich zu dem Zeitpunkt verabschiedet, als ihre Finger die seinen berührten.

Wenige Minuten später durchquerten sie eine Tür, die Mara hinter ihnen schloss. Dann lösten sich ihre Fingern von seinen, und Arthur kam wieder zu Sinnen. Unauffällig blickte er sich um. Sie waren zwar noch im Garten, aber anscheinend auf der anderen Seite des Hauses, denn es war viel leiser, und außerdem waren sie die einzigen Gäste hier.

Mara lächelte ihn an. "Das hast du doch gemeint, als du weggedeutet hast, oder?"

Arthur nickte und erwiderte das Lächeln. "Genau, hier versteht man sich wenigstens!"

Wieder folgte eine kurze Pause. Dieses Mal brach Mara sie. "Was wolltest du vorhin sagen?"

"Ach ja, mit wem du denn hier bist?! Ich hab dich hier in der Gegend noch nie gesehen", wiederholte Arthur seine Frage von zuvor.

Mara ging ein paar Schritte weiter weg vom Haus, und Arthurs Blick blieb fest an ihrer Gestalt hängen. Der Mond schien schon am Himmel und ließ ihr rotes Kleid samtig schimmern. Ihre Haut war blass, doch Arthur wusste, dass sie das wunderschönste Mädchen war, das er jemals gesehen hatte.

Plötzlich drehte sie sich wieder um, und anstatt ertappt den Blick zu senken, wie er es normalerweise tun würde, starrte Arthur sie weiterhin an. Mara musste es bemerken, doch sie zeigte keine Reaktion. Dann setzte sie zu einer Antwort auf seine Frage an.

"Nein, ich bin nicht von hier. Ich hab nur eine weit entfernte Cousine, die ich besucht habe, und die wollte heute unbedingt hierher kommen. Und da bin ich halt mit, hab sie allerdings nach wenigen Minuten bereits verloren!"

Arthur lächelte schief. Es war ihm unerklärlich, wie man eine solche Schönheit alleine lassen konnte. Langsam ging er einen Schritt auf sie zu. "Aber jetzt hab dich ja ich gefunden."

Seine Stimme war tiefer als sonst, und ein wenig rauchig. Gerade, als er nach Mara greifen wollte, trat diese erneut einen Schritt nach vor in den Garten und ging auf seine Mitte zu. Dort angekommen, legte sie sich auf die Wiese und winkte Arthur zu sich. "Komm, Arthur! Der Himmel ist wunderschön!"

Obwohl er normalerweise mindestens zwei halbe Bier trinken musste, um irgendeine Wirkung des Alkohols zu spüren, fühlte Arthur sich auf eine seltsame Art und Weise betrunken, als er ihrer Einladung folgte und sich neben ihr ins taunasse Gras sinken ließ.

Sein Herz pocht wie wild in seinem Brustkorb, als er ihre gleichmäßigen Atemzüge neben sich hörte. Sie blickten beide in den tiefschwarzen Himmel, auf dem jedoch tausende von Sterne erstrahlten. Obwohl Arthur wirklich versuchte, sich nur auf die Schönheit über ihm zu konzentrieren, war er sich mit jeder Faser seines Körpers bewusst, dass nur wenige Zentimeter neben ihm Mara lag, und atmete, und er nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie sich ihre Brust langsam hob und senkte, wie das Kleid sich an ihren Körper anschmiegte, als wäre es eine zweite Haut.

Fast ohne es zu bemerken, rutschte Arthurs Hand Millimeter für Millimeter in Maras Richtung, bis sie schließlich auf fremde, warme, weiche Haut stieß. Wie elektrisiert hielt Arthur in der Bewegung inne, doch dann waren es Maras Finger, die sich erneut um die seinen schlossen.

Arthur hatte das Gefühl, er würde gleich explodieren. Seine Brust schmerzte bei jedem Atemzug, da er sich bemühte, diese in einem gleichmäßigen, ruhigem Tempo zu halten. Er hoffte, seine Hand würde nicht all zu sehr schwitzen, oder Mara würde es für das Tau halten. Was sollte er jetzt denn bloß tun? Wollte sie, dass sie einfach so liegen blieben? Wollte sie, dass er sich über sie beugte und sie küsste? Wollte er sie küssen? Traute er sich, sie zu küssen?

Tausende Gedanken rasten ihm durch den Kopf, während nur Sekunden verstrichen. Als Mara schließlich seine Hand drückte, wusste er es ganz bestimmt: Noch nie in seinem Leben hatte er etwas so sehr gewollt, wie er gerade diesem Mädchen neben sich nahe sein wollte. Vorsichtig richtete er sich auf, darauf bedacht, die eine Hand nicht von Maras zu lösen. Der Mond warf Licht auf ihr Gesicht und er sah ein Lächeln darauf, während sie ihn mit strahlenden Augen ansah. In Arthurs Kopf begann sich alles zu drehen, und seine Hand zitterte, als er mit ihr nach Maras Kopf griff und ihr sanft über die Wange streichelte. Dann endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, senkten sich seine Lippen auf die ihren herab.

Zuerst passierte gar nichts, doch plötzlich richtete Mara sich ebenfalls auf, sie griff mit ihrer freien Hand in seinen Nacken und zog ihn näher an sich. Ihr Körper presste sich an den seinen, während sich ihre Hände immer noch fest hielten.

Als sich ihre Lippen kurz von einander lösten, spürte Arthur Maras heißen Atem auf seinem Gesicht.

"Mara", flüsterte er. "Mara."

Dann küsste er sie wieder, und sie erwiderte den Kuss zuerst stürmischer, dann immer sanfter, bis sie schließlich die Finger aus seinen Haaren löste und auf seine Brust löste. Mit einem leisen Schmatzen trennten sich ihre Münder voneinander, und Mara legte den Kopf in die Kuhle zwischen Arthurs Hals und Schulter. Er streichelte ihr unaufhörlich über ihr Haar, über ihren Rücken, über ihr Gesicht.

"Ich mach so etwas normalerweise nicht", flüsterte Mara plötzlich in seine Jacke, beinahe unhörbar.

Arthur überlegte, ob er lügen und 'Ich auch nicht' antworten sollte, entschied sich dann jedoch dagegen.

"So etwas ist mir noch nie passiert."

"Mir auch nicht." Und das war die Wahrheit. So eine starke Anziehung hatte noch kein Mädchen auf ihn gehabt.

Mit einem wehmütigen Seufzen löste Mara sich von ihm und blickte ihm traurig in die Augen.

"Du bist etwas Besonderes", versicherte sie ihm. "Das hier war besonders."

Arthur nickte nur, unsicher, was als nächstes kommen würde.

Mara richtete sich auf und blickte in den Himmel. "Meine Cousine wird sich schon fragen, wo ich bin...", murmelte sie. "Wir sollten wieder zurück hinein gehen."

Schon alleine der Gedanke daran, sie gehen zu lassen, oder auch nur ihre Aufmerksamkeit mit irgend jemand anderem teilen zu müssen, hinterließ ein schmerzendes Loch in Arthur. Doch er nickte.

"Ja, du hast Recht."

Langsam rappelte er sich auf, und gemeinsam gingen sie in Richtung Haus. Kurz davor fasste Arthur Mara am Arm und hielt sie zurück. "Warte kurz. Ich würde dich gerne wieder sehen!"

Mara drehte sich zu ihm um, blickte ihm tief in die Augen. Mit einem Schritt war sie bei ihm, stellte sich auf die Zehenspitzen, schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn.

"Ich wünschte, das könnten wir. Aber ich wohne weit weg, das würde nicht funktionieren, glaub mir." Betreten schüttelte sie den Kopf.

Arthur war völlig benebelt, er musste sich anstrengen, um den Sinn ihrer Worte erfassen zu können. "Alles geht, wenn man nur will!", versuchte er, sie zu überzeugen. "Woher bist du denn?"

Langsam entzog sich Mara seinem Griff, und bei ihrer Antwort stockte das Blut in Arthurs Adern. "Wirst du wahrscheinlich nicht kennen. Etwa fünf Autostunden von hier entfernt. Der Ort heißt Sedemoid."

Als Arthur nichts mehr erwiderte, drehte sie sich um und verschwand.

 

Arthur war noch einige Sekunden wie erstarrt. Es dauerte eine Weile, bis die vollständige Aussage der Wörter zu ihm durchsickerte. Mara war aus Sedemoid. Seinem Sedemoid. Der Ort, den er versucht hatte, zu verdrängen. Was ihm ja eigentlich auch recht gut gelungen war, vorhin mit Mara. Bis sie ihm offenbart hatte, dass sie genau von dort kam.

Das konnte doch auch kein Zufall sein, oder?

In Arthurs Kopf begann sich alles zu drehen, und er presste sich die Finger gegen die Schläfen. Jetzt nur nicht durchdrehen. Das muss nichts heißen. Das ist alles nur ein dummer, dummer Zufall.

Arthur schloss die Augen und atmete einige Male tief ein und aus, bis das Schwindelgefühl nachließ. Dann öffnete er seine Lider wieder und beschloss, diesen kleinen Vorfall einfach zu verdrängen. Er würde nicht mehr an Mara denken, sondern Moe suchen gehen, und schauen, wie es so mit Kelly lief.

Langsam setzte Arthur sich wieder in Bewegung, dorthin, wo vorhin Mara verschwunden war. Zurück hinein in die Party. Mara... Ob sie ihre Cousine inzwischen gefunden hatte? Ob ein anderer Junge sie angesprochen hatte, und sie mit ihm redete und lachte? Arthurs Hände ballten sich zu Fäusten. Nicht an sie denken. Nicht mehr an sie denken.

Ablenkung war gefragt. Erneut.

Sobald er wieder im Haus drinnen war, ummantelte ihn laute Musik und erleichterte ihm sein Vorhaben. Bei diesen Bässen war es schwer, irgendetwas zu denken. Nach dieser langen Ruhe schmerzten sie beinahe. Arthurs Augenbrauen zogen sich kurz zusammen, doch dann atmete er tief durch und hielt Ausschau nach Moe. Er musste doch hier irgendwo sein.

Ziellos schlenderte er durch die Menschenmassen, griff am Getränketisch nach einer Flasche Bier, schüttete sie dem nächsten drauf, der ihn anrempelte, trank den Rest in einem Zug leer, und war immer noch nicht fündig geworden.

Einige Minuten später sah er Beth am anderen Ende des Innenhofes und winkte ihr kurz zu, doch sie schien ihn nicht zu sehen. Und obwohl er natürlich nicht nach ihr Ausschau hielt, war Mara auch wie vom Erdboden verschluckt. Also hatte sie entweder ihre Cousine gefunden und sie waren zusammen schon gefahren, oder aber sie war tatsächlich mit irgend jemand anderem weg gegangen, und tat weiß Gott was mit ihm... Die Stimme in Arthur wollte nicht verstummen.

Frustriert ging er noch eine Runde, stets Ausschau haltend, doch seine Konzentration ließ nach. Er hasste es, auf Partys die anderen zu verlieren und dann ganz alleine zu sein. Theoretisch könnte er natürlich schnell andere Leute ansprechen, und mit denen etwas unternehmen. Normalerweise war das auch kein Problem für ihn, aber heute war ihm irgendwie nicht danach.

Nachdem er sich ein weiteres Bier gegönnt hatte, spürte er bereits eine leichte Übelkeit. Dennoch fühlte er sich nicht richtig betrunken. Normalerweise wurde er immer recht lustig, redlich und lachte viel, wenn er zu viel getrunken hatte. Heute jedoch fühlte er sich nur schrecklich. Sein Kopf dröhnte, seine Kehle war trocken, in seiner Brust war ein Loch und sein Magen protestierte.

Gerade, als er sich an den Poolrand setzen wollte, fiel sein Blick auf einen Tisch am Rande des Innenhofs. Da, dorthinten war zumindest einmal Kelly. Und wo Kelly war, konnte auch Moe nicht weit sein.

Entschlossen schlängelte sich Arthur an anderen Partygästen vorbei, immer auf Kelly zu. Doch als er ihr schließlich auf einige Meter nahe gekommen war, konnte er seinen besten Freund nirgends ausmachen. Kelly stand neben einem Tisch, darauf zwei Getränke, und sie unterhielt sich mit ihrer Freundin Alex. Die Alex, die laut Moe ja perfekt für Arthur wäre.

Schnell ließ Arthur seinen Blick über sie wandern, doch er fand nichts, wofür es sich lohnen würde, länger hinzusehen als geplant. Ganz anders als bei Mara. Bei ihr hätte er nicht wegsehen können, selbst, wenn er es gewollt hätte.

Gereizt schnaubte Arthur. Er wollte den Gedanken weg bekommen, nicht an sie erinnert werden.

Plötzlich griff eine Hand nach seinem Arm und zog ihn ein bisschen zurück. Sofort legte sich ein Lächeln auf Arthurs Züge, nachdem er - warum auch immer - mit Mara rechnete. Doch es war Beth. Als er das erkannte, bewegten sich seine Mundwinkel wieder nach unten.

"Hey, Arthur, hast du Moe gesehen? Es ist schon fast halb zwei, eigentlich hätte ich vorgehabt, in der nächsten halben Stunde mal zu fahren! Außer, ihr habt recht viel Spaß und wollt noch hier bleiben, aber du siehst jetzt auch nicht so übermäßig gethrilled aus." Sie kniff die Augen zusammen. "Geht es dir gut? Du wirkst irgendwie so ... deprimiert und wütend", stellte sie fest.

Arthurs Augen verdrehten sich ganz von alleine. "Alles bestens. Tolle Party. War selten besser!", schnauzte er sie an. Sobald die Worte seinen Mund verlassen hatten, tat es ihm auch schon leid, aber entschuldigen konnte er sich irgendwie auch nicht. Beth seufzte allerdings nur und fasste ihn wieder am Arm. Ohne irgendetwas zu sagen, schleifte sie ihn vorbei an den anderen Richtung Eingang. Dort setzte sie ihn auf die Stiege vor der Haustüre und blickte nachdenklich auf ihn hinab. "Wenn ich dich jetzt hier alleine lasse, wirst du auch wirklich hier bleiben? Ich suche nur kurz Moe, dann fahren wir nach Hause."

Arthur lachte trocken auf. "Den hab ich schon gesucht. Stundenlang. Is' weg", lallte er. "Aber Kelly is' noch da. Wohl nix gewesen!"

Beth lachte. "Na das hätte ich dir aber vorher auch schon sagen können." Sie warf ihm einen drohenden Blick zu. "Du bleibst hier, verstanden? Irgendwo muss er stecken, er kann sich nicht in Luft aufgelöst haben."

Mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand wieder im Haus.

Arthur blieb einige Minuten wie aufgetragen sitzen, aber dann wurde es ihm zu langweilig. Wer war sie denn bitte, dass sie ihm sagen konnte, was er zu tun hatte? Er würde doch jetzt nicht ewig hier sitzen bleiben, denn genau so lange würde es dauern, bis sie Moe aufgeriffen hatte.

Ächzend stützte er sich auf einer Stufe ab und erhob ich schwerfällig. Dann wankte er ebenfalls wieder Richtung Party, allerdings ging er nicht ins Haus hinein, sondern um es herum in den Garten. Dabei musste er über einen kleinen Zaun steigen, an dem er sich verfing und strauchelte.

"Mist, verdammter!", fluchte er, als seine Finger sein Gewicht am Boden abfingen mussten. Plötzlich griff von hinten jemand nach ihm. Gereizt schlug Arthur die helfende Hand weg. "Lass mich! Alles okay!"

Dann erst sah er sich um und blickte in Maras schockiertes Gesicht. Oder besser gesagt, er sah zwei Gesichter von Mara. Verschwommen.

"Oh, Mara, sorry. Hab nicht gesehen, dass du das bist", nuschelte er und versuchte, seine Beine ins Gleichgewicht zu bringen.

Mara trat einen Schritt zurück, als er nach ihr greifen wollte.

"Wir wollten gerade los, da hab ich dich fallen sehen. Geht es dir gut?", fragte sie unsicher.

Arthur breitete beide Arme aus und wollte sie um Mara schlingen, doch er griff ins Leere. "Ja, jetzt schon! Ich hab dich gesucht. Und Moe. Moe ist mein bester Freund. Er wollte heute eine aus der Klasse über uns aufreißen, und ich hab mit ihm gewettet, dass er es nicht schafft." Oh nein. Er redete schon wieder wie ein Wasserfall. Doch Mara schien das nicht so sehr zu stören wie seine offensichtlichen Gleichgewichtsprobleme und den Wunsch nach Nähe.

"Naja", meinte sie, "ich muss jetzt los. War wirklich nett, dich kennengelernt zu haben, Arthur!" Sie lächelte ihm noch ein letztes Mal zu, dann ging sie wieder zurück zum Weg und zur Straße, wo bereits ein Auto vorfuhr. Sie öffnete die Tür, drehte sich noch einmal zu Arthur um, winkte, stieg dann ein und fuhr davon.

Als das Auto außer Sichtweite war, sackte Arthur zusammen. Er rollte sich am Boden zusammen wie ein Baby, das Gesicht im kalten Gras, doch er fühlte keine Kälte mehr außer der, die innerlich von ihm Besitz ergriffen hatte. Mara war endgültig weg, Moe war immer noch nicht da, Beth hatte ihn alleine gelassen, er war so furchtbar arm.

Seine Gedanken verloren sich immer mehr im Nichts, bis er schließlich kurz abdriftete.

Ein leichter Tritt in den Magen brachte ihn wieder zu sich. Würgend setzte er sich auf, dann ergoss sich sein Mageninhalt auf die Wiese vor ihm. Ein Teil davon traf seine Hand, die er sich dann angeekelt im kurzen Gras abzuwischen versuchte.

Dann hörte er Stimmen hinter ihm.

"Na toll, hat das wirklich sein müssen?"

"Sei froh, dass er jetzt kotzt, und nicht später dann im Auto!"

Ein Stöhnen. "Schau, dass du ihn irgendwie ins Auto bekommst. Keine Ahnung, was mit dem heute los ist."

Als Arthur den Kopf langsam umwandte, erkannte er die Umrisse zweier Menschen, von denen sich einer von ihm entfernte und einer auf ihn zubewegte. Der zweite war Moe, wie er sekunden später feststellte.

"Los, Kumpel, du musst aufstehen!", versuchte dieser, in zur Mitarbeit zu bewegen. Arthurs Gliedmaßen schienen sich jedoch in Pudding verwandelt zu haben, er hatte absolut keine Kontrolle mehr über sie.

Als Moe das auch mitbekam, schlang er einen von Arthurs Armen um seine Schultern und stemmte ihn vorsichtig in die Höhe.

"So, und jetzt gaanz langsam ein Bein vor das andere. Schaffst du das?"

Taumelnd bewegten sie sich weg von dem Garten. Auf der Straße wartete bereits Beth, die ihnen eine Hintertür öffnete. Moe stopfte Arthurs Kopf zuerst in die Öffnung, dann schoben sie ihn gemeinsam hinein, bis er bäuchlinks auf der Rückbank lag.

"Muss passen. Sitzen kann der heute nicht mehr. Musst halt vorsichtig fahren."

Die Tür wurde zugeschlagen, und die beiden vorne geöffnete. Beth startete das Auto und setzte es langsam in Bewegung. Moe warf immer wieder vorsichtig einen Blick nach hinten, um nachzusehen, ob sich Arthur eh noch bewegte.

"Was machen wir denn mit ihm? Zu uns nach Hause können wir nicht, ich bin ja offiziell heute Nacht bei ihm", begann Moe schließlich, seine Gedanken zu sortieren.

Beth dachte kurz nach. "Dann werden wir wohl alle am besten zu Arthur heimfahren. Er muss in irgendeiner Jackentasche den Schlüssel haben, wir müssen halt leise sein, um seinen Vater nicht zu wecken. Aber sonst dürfte das kein Problem sein."

Moe nickte zustimmend, und schweigend legten sie den restlichen Weg zurück.

 

Arthurs Kopf dröhnte, als er am nächsten Morgen erwachte. Stöhnend griff er sich an die Stirn und richtete sich auf. Wo war er? Was war passiert? Nur fetzenhaft kehrten einige Szenen vom vergangenen Abend zurück. Die Party. Das Mädchen, Mara. Und danach ein riesengroßes Blackout. Was zum Teufel war passiert, dass er sich so hatte volllaufen lassen? Hatte er die Wette verloren, die er mit Moe abgeschlossen hatte? Es war unwahrscheinlich, aber möglich. Aber war das alleine Grund genug, dass er sich jetzt so fühlte?

Blinzelnd blickte er sich um und versuchte, sich zu orientieren. Er lag offensichtlich in seinem eigenen Bett, zu Hause in seinem Zimmer. Wie er hierhergekommen war - keine Ahnung.

Langsam stand er auf, hielt kurz inne, als sich alles zu drehen begann, und taumelte dann ins Badezimmer. Dort drehte er zu aller erst einmal das kalte Wasser auf und klatschte es sich ins Gesicht. Eine eiskalte Dusche würde besser helfen, aber dazu müsste er sich ausziehen, was ihm gerade einfach viel zu anstrengend war.

Nach der Katzenwäsche fühlte er sich ein bisschen erfrischter, und bereit, nach unten zu gehen. Wie spät war es überhaupt? Er hatte nicht auf sein Handy geschaut, als er aufgewacht war.

Schritt für Schritt wagte er sich die Treppe hinunter, darauf bedacht, den Schwindel nicht Überhand nehmen zu lassen. Seine Kehle war wie ausgedörrt und sie war ausgefüllt von einer riesigen, angeschwollenen Zunge. Arthur fühlte sich schrecklich.

Unten angekommen verriet ihm ein Blick auf die Wanduhr, dass es zehn Uhr am Vormittag war. Von seinem Vater keine Spur.

Mist, fuhr ihm durch den Kopf. Er hatte doch versprochen, sich zu melden, ob er abgeholt werden musste, oder nicht. Ob er es getan hatte, wusste er nicht mehr, aber seinem Zustand nach zu urteilen, tendierte er stark zu der Vermutung, dass er es nicht getan hatte. Hoffentlich hatte sein Vater ihn in der Früh gesehen und war nicht losgefahren, um ihn zu holen.

Arthur wollte schon in die Küche gehen um nachzusehen, ob sie etwas hatten, wovon ihm nicht noch schlechter werden würde, als ihm im Wohnzimmer etwas auffiel. Da lag doch wer auf der Couch. Er änderte seinen Kurs und steuerte Richtung der schlafenden Person. Oder eher, der schlafenden Personen, wie er Sekunden später bemerkte. Es waren Moe und Beth, die selig zusammengeengt auf dem Sofa schliefen. Dann hatten die beiden ihn also nach Hause gebracht und waren wahrscheinlich gleich hier geblieben, um Moes Alibi nicht auffliegen zu lassen.

Arthur überlegte noch, ob er sie wecken sollte oder nicht, als Beth ihre Augen aufschlug.

"Guten Morgen, du Saufnase", begrüßte sie ihn und richtete sich vorsichtig auf, darauf bedacht, Moe möglichst nicht zu wecken.

"Morgen", erwiderte Arthur und runzelte fragend die Stirn.

Beth bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick. "Woran kannst du dich denn noch erinnern?"

Arthur trat näher und ließ sich auf einen der ausladenden Couchsessel fallen. "Wir sind auf der Party angekommen, dann hab ich euch irgendwo verloren, und bin mit einem netten Mädchen ins Gespräch gekommen. Danach - nichts." Stöhnen vergrub er den Kopf in den Händen. "Oh Mann. So schlimm war es echt schon lange nicht mehr!"

"Das kannst du laut sagen. Als ich dich gefunden habe, warst du völlig von der Rolle. Ziemlich betrunken glaub ich, aber auch irgendwie total... deprimiert und fast schon aggressiv. Dann hab ich dich geschnappt und wollte gehen, hab dich vor die Haustür gesetzt und dir gesagt, du sollst warten, bis ich Moe gefunden habe. Als ich mit ihm dann wieder gekommen bin, bist du einige Meter weiter im Garten gelegen und hast geschlafen wie ein Baby. Moe hat dich aufgeweckt, woraufhin du gekotzt hast." Arthur warf ihr einen kurzen Blick zu, wandte ihn jedoch schnell wieder ab. Sie wirkte ehrlich sauer. "Wir mussten dich ins Auto schleppen, du konntest keinen Schritt mehr selbst machen." Ihre Stimme klang anklagend. "Weißt du wirklich nicht mehr, was da gestern noch passiert ist?"

Traurig und beschämt schüttelte Arthur den Kopf. "Nein, nichts."

"Na ich bin mal gespannt auf morgen, was eure Freunde in der Schule sagen. Vielleicht hat dich jemand gesehen."

Arthur wusste nicht, ob er darauf hoffen sollte, oder nicht. Einerseits interessierte es ihn brennend, was ihn zu diesem Saufgelage getrieben hatte, andererseits vermutete er, dass es entweder extrem peinlich oder erniedrigend oder deprimierend war, und es besser war, wenn es niemand wusste.

"Ja, mal sehen."

In diesem Moment erwachte Moe. Kurz rieb er sich die Augen und schaute leicht orientierungslos umher, dann fasste er sich und sah Arthur an. Er stieß ein belustigtes Schnauben aus. "Mensch, Arthur, was war mit dir los gestern? So besoffen hab ich dich ja noch nie erlebt! Du hättest mich beinahe angekotzt!"

Arthur verdrehte die Augen. "Keine Ahnung, totales Blackout. War wohl nicht meine Party."

Moe lachte. "Hast aber was verpasst! Ich hab Kelly sowas von rumgekriegt! An die Wette kannst du dich ja hoffentlich wohl noch erinner?!"

Arthur blickte finster drein. "Du hast leicht Reden. Kann das auch wer beweisen? Einfach so nehme ich dir das nicht ab!"

Beth mischte sich nun auch ein. "Einen Zeugen dieses Vorfalls würde ich auch gerne kennen lernen." Ihr Blick wanderte von Moe zu Arthur und wieder zurück. "Ich fürchte, ansonsten wird diese Wette eher unentschieden ausgehen."

Arthur überlegte kurz, ob er sich aufregen sollte. Behaupten konnte Moe alles, das wäre doch unfair, wenn er die Wette nicht verloren würde, weil Arthur ihm nichts Gegenteiliges beweisen konnte. Aber im Moment war es ihm egal.

Was ihm nicht egal war, waren hingegen die Stunden, die ihm abgingen. Er fühlte, dass sich etwas Wichtiges ereignet hatte. Etwas, woran er sich erinnern sollte. Vielleicht hatte es ja etwas mit diesem Mädchen zu tun. Mädchen hatten schließlich etwas an sich, Dinge unnötig kompliziert werden zu lassen.

"Ich hab mich da gestern glaub ich mit so einem Mädchen unterhalten. Mara hieß sie, oder so. Das ist das letzte, woran ich mich erinnern kann. Wisst ihr, wen ich meinen könnte?"

Moe grinste ihn an. "Ein Mädchen war also der Grund für deinen Zusammenbruch. Hat sie dir einen Korb gegeben?" Er lachte. "Oder, warte, besser: Hat sie dir keinen Korb gegeben, aber dann war es so schlecht, dass du nicht einmal einen hoch gekriegt hast?" Er war offensichtlich von seiner Fantasie selber sehr angetan.

Beth schüttelte sich angeekelt. "Es geht im Leben nicht immer nur um Sex, kleiner Bruder."

Moe warf ihr einen bösen Blick zu. "Ich bin größer als du, kleine Schwester!"

Beth verdrehte nur die Augen, wandte sich dann wieder Arthur zu. "Mara sagst du... Hm, wie sah sie denn aus?"

Kurz musste Arthur überlegen. Dann hatte er plötzlich ein Bild im Kopf und ihn durchfuhr ein warmer Schauer, gefolgt von einem heftigen Kribbeln, das über seinen ganzen Körper hinweg fuhr. Auf seinen Armen breitete sich eine Gänsehaut aus.

"Dunkle Haare, leuchtend blaue Augen, rotes Kleid", beschrieb er sie.

Beth nickte. "Also hübsch. Waren da noch andere Leute um sie, als du sie kennen gelernt hast?"

Arthur konnte diese Frage sofort verneinen. "Sie war alleine neben dem Pool und hat einen Cocktail getrunken. Dann sind wir...", er kramte in seinen Erinnerungen, "ich glaube, wir sind hinaus gegangen. Aber sicher bin ich mir nicht. Danach ist auf jeden Fall ein schwarzes Loch in meinem Gedächtnis."

Verärgert kniff er die Augen zusammen. Wie gern hätte er gewusst, was sie draußen getan hatten. Nur geredet? War mehr gewesen? Hatten sie womöglich sogar miteinander geschlafen? Er würde es sich zutrauen. Aber ihr? Sie hatte auf den ersten Blick nicht so gewirkt, als würde sie sofort mit jedem in die Kiste hüpfen, der sich anbot.

Beth unterbrach seinen Gedankengang. "Wenn du willst, frage ich Maria, ob sie sie gekannt hat."

Arthur winkte ab. "Ach was. Ist ja auch nicht so wichtig. Außerdem ist es eher unwahrscheinlich, da waren so viele Leute, das bezweifle ich, dass Maria genau sie gekannt hat."

Beth schmunzelte. "Du würdest sie also nicht gerne wieder sehen?"

Arthur zuckte mit den Schultern. "Ich kann mich ja nicht einmal richtig an sie erinnern. So wichtig kommt mir das jetzt auch nicht vor, sie war nur ein Mädchen, das ich auf einer Party kennen gelernt habe. Mehr nicht." Ein Teil von ihm glaubte auch wirklich daran, aber ein anderer wusste, dass es Unsinn war, was er da sagte. Beth auch.

"Und weil sie 'nur ein Mädchen' war, hast du auch Gänsehaut auf deinen Armen. Und diesen verklärten Blick, als du sie mir beschrieben hast." Sie stand auf und tätschelte Arthurs Hand. "Ich frag mal Maria. Weil es mich interessiert. Wenn du nicht willst, sage ich es dir eh nicht."

Arthur nickte. "Wie du willst."

Beth schüttelte den Kopf, und sah sich um nach Moe, der der Unterhaltung still gelauscht hatte. "Was bist du so schweigsam heute? Geschockt, dass Arthur vielleicht in einem Mädchen mal wirklich eine Person mit Charakter gesehen hat, was dir ja absolut nicht gelingen mag?"

Ihr Bruder erhob sich ruckartig. "Nur, weil ich in dir eine besserwisserische Nörglerin sehe, heißt das noch lange nicht, dass für mich alle Mädchen gleich sind. Kelly zum Beispiel ist etwas Besonderes."

Beth verdrehte die Augen. "Ja, besonders gut bestückt, oben herum." Sie nickte mit dem Kopf in Richtung Haustür. "Komm, wir sollten gehen. Es wird dann schon Mittag, Dad hat glaub ich eine Onkel Joe zum Essen eingeladen, da müssen wir da sein." Sie winkte Arthur zu. "Tschüss. Viel Spaß beim Ausnüchtern. Eine Dusche würde dir auch nicht schaden, falls ich dir einen Tipp geben darf!" Sie zwinkerte ihm zu.

"Jaja, du red' nur", kommentierte Arthur. "Tschüss, ihr zwei!"

Er blieb noch eine Weile auf dem Sessel sitzen und dachte über Beths Worte nach. Jedoch kam er zu keinem schlüssigen Ergebnis. Selbst wenn Mara in dieser Nacht etwas Besonderes für ihn dargestellt hatte, aufgrund von einer einzigen Nacht konnte man schlecht etwas aussagen. Wahrscheinlich hatte er sie einfach so scharf gefunden, dass ihn alleine der Gedanke daran noch erregte. Vielleicht hatten sie ja miteinander geschlafen, wer wusste das schon.

Angestrengt drückte er sich von dem bequemen Sessel hoch und beschloss, doch Beths Rat zu folgen. Wenige Minuten später prasselte abwechselnd heißes und kaltes Wasser auf seinen Körper, und vertrieb alle diffusen Gedanken.

 

Nach der Dusche ging Arthur wieder zurück auf sein Zimmer und legte sich in sein Bett. Er war immer noch ziemlich müde, doch der Schlaf wollte nicht mehr kommen. Arthur wälzte sich hin und her, probierte die verschiedensten Schlafpositionen aus, doch nichts wollte klappen.

Als er schließlich gegen Mittag seinen Vater unten in der Küche rumoren hörte, stand er wieder auf und ging hinunter.

"Morgen, Paps."

Sein Vater warf einen kurzen Blick über die Schulter. "Mahlzeit trifft es wohl eher! Es ist schon nach zwölf, ich bin gerade dabei, etwas zu kochen. Aber so wie du aussiehst, hast du vermutlich keinen Appetit, oder?"

Stöhnend ließ sich Arthur auf einen der Stühle sinken. "Nein, nicht wirklich."

"Wie war es denn gestern? Du hast dich nicht mehr gemeldet, aber wie ich sehe, bist du eh nach Hause gekommen."

Arthur nickte. "Es war ganz nett. Beth ist wirklich nüchtern geblieben, sie hat mich dann heim gefahren."

"Ja, das habe ich mitbekommen. Du Gentleman hast ihr natürlich dankbar dein Bett angeboten, nehme ich an, aber sie war viel zu gütig und hat sich freiwillig das Sofa im Wohnzimmer mit Moe geteilt, richtig?"

Na toll. Sein Vater hatte also alles mitbekommen. "Ja, so in die Art", murmelte Arthur.

"Du bist heute aber auch nicht recht gesprächig."

Arthur erwiderte darauf nichts, und die Pause, die daher folgte, wurde gefüllt vom Geräusch kochenden Wassers.

"Hast du für morgen für die Schule alles fertig?", wechselte der Vater das Thema.

"Klar", log Arthur. Er wusste zwar nicht mehr genau, was sie alles machen hatten müssen, aber er wusste sicher, dass er nichts getan hatte. Die ganzen Fächer in der Schule waren sowieso sinnlos, den Großteil davon brauchte man nie mehr im Leben. Wozu in Geschichte oder Geographie aufpassen, wenn man einmal Architekt werden wollte?

Als sein Vater nichts mehr darauf erwiderte, ging Arthur ins Wohnzimmer und drehte den Fernseher auf. Er zappte durch den Kanal und blieb schließlich bei einer Krimi-Serie hängen. Nebenan hörte er seinen Vater essen und dann die Treppe hinaufgehen. Es war gemütlich, einen Vater-Sohn-Haushalt führen zu können.

 

Am nächsten Tag in der Schule war die Party natürlich Gesprächsthema Nummer eins. Anscheinend waren fast alle aus seiner Klasse dort gewesen, obwohl sich Arthur nicht erinnern konnte, auch nur mit einem von ihnen geredet oder gesehen zu haben.

"Und dann ist er voll in den Pool gefallen! Sein Handy hat er noch eingesteckt gehabt, aber das geht zum Glück noch", hörte Arthur zwei Mädchen vorne reden.

"Hey, Moe!", begrüßte er seinen besten Freund. "Irgendwas Interessantes passiert auf der Party, das man wissen müsste?"

Moe schüttelte den Kopf. "Hab noch nichts mitbekommen. Aber Maria kann sich glücklich schätzen - die Party war der volle Erfolg. Zumindest wird in den nächsten paar Wochen immer jemanden geben, der weiß, wer sie ist. Wie es in der Früh bei ihr ausgesehen hat, will ich nicht wissen!" Er lachte. "Aber das ist ja nicht unser Problem, nicht?"

Arthur setzte sich neben ihm und stimmte ihm zu. "Damit muss man rechnen, wenn man so viele Leute einlädt! Oder glaubst du, das war gar nicht geplant?"

Plötzlich beugte sich Mia, eine Klassenkameradin, zu ihnen. "Anscheinend hat es eine ihrer Freundinnen auf Facebook gestellt! Klar, dass so viele unbekannte da waren!"

Arthur kniff misstrauisch die Augen zusammen. Gerüchte entstanden schnell, er versuchte zumindest, sie nicht immer sofort zu glauben. Anders so Moe. "Ha! Ich wusste es! Aber Maria sollte dankbar sein, wenn nur die paar Menschen aus unserer Schule gekommen wären, wäre sie ja erst wieder alleine wo im Eck gestanden! So hatte sie wenigstens die Chance, sich noch einmal neu zu präsentieren!"

Es war nicht so ganz klar, wieso Maria hier noch keinen Anschluss gefunden hatte. Irgendjemand hatte wahrscheinlich einmal beschlossen, dass das so war, und seitdem hielt sich jeder daran.

"Ach, Arthur, Beth hat glaub ich mit Maria gesprochen, wegen deiner Kleinen. Soll ich dir ausrichten!" Er zwinkerte seinem besten Freund zu, der beschämt abwinkte. "Hab ich doch gesagt, dass mir das egal ist."

Hanna, die gerade an ihrem Tisch vorbei gehen wollte, blieb stehen. "Hab ich da richtig gehört? Arthur ist nach einer Party noch in ein Mädchen interessiert? Ich kann es nicht glauben! Die Erde ist doch eine Scheibe!"

Arthur verdrehte die Augen. "Wann wirst du endlich darüber hinweg kommen, Hannilein?", fragte er sie bewusst provozierend. Es war schon über ein Jahr her, dass er mit ihr auf einem Festival geknutscht hatte. Was er dabei nicht gewusst hatte, war, dass sie zu dem Zeitpunkt anscheinend schon ewig in ihn verknallt gewesen war und er sie daher scheinbar ziemlich verletzt hatte, dass es für ihn nur eine Party-Knutscherei war. Aber das war nun schon lange her, und sie brachte es bei jeder Gelegenheit wieder auf. Klarer Fall von gekränktem Stolz.

"Tja, bist anscheinend doch nicht das schönste Mädchen, das Arthur bekommen kann!"

Hanna starrte die beiden eine Sekunde lang stockfinster an, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und rauschte aus der Klasse.

Arthur schüttelte den Kopf. "Sie wird mir immer ein Rätsel bleiben."

Moe hingegen lachte nur. Dann senkte er die Stimme. "Aber Recht hat sie ja schon irgendwie. Und Beth. Du hast noch nie auch nur im Ansatz ein Mädchen am nächsten Tag erwähnt. Nicht einmal, wenn man dich danach gefragt hat."

"Damals habe ich auch nie einen totalen Filmriss gehabt und wollte wissen, was passiert war." Arthur griff in sein Bankfach und holte einige Bücher und Hefte für die erste Stunde heraus. Ein klarer Fall, dass für ihn das Gespräch beendet war.

Dann hielt er jedoch kurz in der Bewegung inne und wandte sich wieder Moe zu. "Hast du Kelly heute schon gesehen? Das muss ja auch etwas Besonderes für sie gewesen sein, gestern. Die lässt doch normal auch nicht jeden ran. Habt ihr euch schon darüber unterhalten? Ich wette, sie will mit dir drüber reden!" Er machte eine Pause. "Oder willst du deine Aussage nicht vielleicht doch zurückziehen?"

Moe schüttelte den Kopf. "Absolut nicht, ich bleibe dabei. Ich hatte etwas mit ihr. Vielleicht wird sie es abstreiten, aber es ist definitiv geschehen."

Arthur seufzte. Er mochte seinen Freund, aber manchmal war er schon ein wirklicher Idiot. Hoffentlich war er klug genug, dieses Hirngespinst nicht zu laut hinauszuposaunen. Irgendwann würde ja doch herauskommen, dass es nur Wunschdenken war.

Genauso wie... Nein, seine Gedanken, die immer wieder zu Mara zurückflogen, waren eindeutig kein Wunschdenken. Das einzige, was er sich daraus erhoffte, war, die paar Stunden zu füllen, die ihm fehlten. Es lag nicht an dem Mädchen. Zumindest war es das, was er sich einzureden versuchte.

 

Nach der Schule ging er gemeinsam mit Moe über den Hof Richtung Straße, wo Beth schon im Auto auf Moe wartete. Als sie Arthur sah, kurbelte sie das Fenster hinunter.

"Hey Arthur! Ich habe interessante Neuigkeiten, falls es dich interessiert!"

Arthur verdrehte die Augen und stöhnte theatralisch auf. "Wie oft soll ich denn noch sagen, dass mir diese Tussi egal ist?"

Beth verzog den Mund zu einem halben Grinsen. "Wie du meinst. Falls du doch irgendwann mal ihre Nummer haben willst, du weißt, wo du mich finden kannst!" Sie zwinkerte ihm zu, während Moe am Beifahrersitz Platz nahm.

"Ja, genau", murmelte Arthur leise und winkte den beiden nach, als sie wegfuhren.

 

Auf seinem Weg nach Hause ließ er seinen Gedanken freien Lauf. Er hätte die Nummer nehmen sollen. Er hätte nicht so stolz sein dürfen, und darauf beharren, dass sie ihm egal war. Denn das war sie ganz offensichtlich nicht. Obwohl er hasste, es eingestehen zu müssen, hatten Beth und Hanna doch Recht behalten. Mara hatte es geschafft, selbst nach der Party noch interessant zu bleiben. Und Arthur hoffte inständig, dass dies einen guten Grund hatte, und nicht nur das Unwissen es war, das er so anziehend fand.

Zuhause angekommen, richtete er sich zu aller erst eine Schale Müsli her. Sein Vater war noch in der Arbeit, und er selbst war viel zu faul, um sich selbst etwas zu kochen. Manchmal ging er am Heimweg bei einem Fastfood-Laden vorbei und kaufte sich dort etwas, aber das hatte er heute übersehen. Zu stark war er mit seinen Gedanken befasst gewesen.

Als er den Snack fertig gegessen hatte, setzte er sich erst einmal vor den Fernseher. Dort lief jedoch nichts, was ihn interessierte, und so ging er hinauf in sein Zimmer. Er verspürte den Drang, irgendetwas zu unternehmen. Doch was? Normalerweise war es ihm genug, ein bis zwei Mal die Woche etwas mit Freunden zu machen, und heute war erst Montag. Moe und Beth waren heute bei einem Cousin, und andere Freunde traf er meist nur zum Fortgehen.

Arthur tigerte wieder die Stiegen hinunter, ging wieder hinauf, fand nichts, was er machen konnte. Dann beschloss er kurzer Hand, eine Runde laufen zu gehen. Das hatte er schon ewig nicht mehr gemacht, und es würde diese Unruhe in ihm vielleicht beseitigen.

Er kramte in seinem Kleiderschrank nach seinen Sportklamotten, schlüpfte unten in seine Turnschuhe, und trat nach draußen. Sofort stellten sich die Härchen auf seinen Armen auf, denn er hatte nur ein kurzärmeliges Shirt an. Egal, dachte er sich, es wird schon noch wärmer werden.

Langsam joggte er los, darauf bedacht, nicht zu schnell loszulaufen. Er wollte immerhin die gesamte Strecke durchlaufen, und das würde er sonst nicht schaffen. Er passierte seinen Garten und lief auf das Feld hinter ihrem Haus. Dort beschleunigte er unbewusst das Tempo etwas, weil es sich einfach so gut anfühlte, die frische Luft im Gesicht zu spüren. Manchmal schloss er für einige Meter die Augen, dann hob er die Beine etwas höher, um nicht versehentlich über einen kleinen Erdhügel zu stolpern.

Als er den Waldrand erreichte, war ihm bereits gut warm. Sein Herz pochte schwer, aber gleichmäßig in seiner Brust und sein Atem ging etwas schneller. Aber seine Beine schmerzten noch nicht, also lief er in den Wald hinein und suchte sich einen Weg durch die Bäume hindurch.

Es dauerte nicht lange, und Arthur war völlig aus der Puste. Wie lange hatte er es geschafft, durchgehend zu laufen? Eine viertel Stunde? Vielleicht eine halbe? Zwar war es ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen, doch aus Erfahrung wusste er, dass dieses Gefühl täuschte. Widerwillig drosselte er das Tempo auf eine schnelle Schrittgeschwindigkeit, und atmete bewusst durch die Nase ein, und durch den Mund wieder aus. Dabei versuchte er, das Seitenstechen zu ignorieren, das sich in den letzten Minuten bemerkbar gemacht hatte. Zum Glück war er bereits wieder auf dem Rückweg und es würde laufend nicht mehr lange dauern, bis er zu Hause war. Er beschloss, dass die Verschnaufpause lange genug war und nahm das Tempo wieder auf.

Als er sich zu Hause in den Spiegel sah, war sein Gesicht völlig gerötet und glänzte auch ein wenig vom Schweiß. Arthurs Vater war inzwischen auch heimgekommen, denn er musterte ihn mit überraschtem Blick.

"Wow, du warst laufen? Was ist in dich gefahren?", witzelte er.

Arthur stützte sich am Türrahmen ab. "Hatte Lust", versuchte er, die Antwort so kurz wie möglich zu halten, da seine Atemzüge immer noch kein Reden zulassen wollten.

"Fleißig, fleißig. Wenn du das nächste Mal eine solche Eingebung hast, kannst du es mir ruhig sagen, dann würde ich auch gern mitlaufen!"

"Klar."

Arthurs Vater zögerte kurz, als ob er noch etwas sagen wollte. Doch als nichts mehr von ihm kam, drückte sich Arthur an ihm vorbei und verschwand oben ihm Bad. Sein Kopf fühlte sich zwar an, als würde er vor Hitze zerspringen, aber seine Finger, Nase und Ohren waren vom kalten Wind wie eingefroren und mussten dringend aufgetaut werden.

 

"Beth? Hallo, ich bin's, Arthur."

"Oh, hi!" Ihre Stimme klang erfreut und Arthurs Bauch zog sich unruhig zusammen. Wollte er das wirklich wagen?

"Kannst du etwas für dich behalten?", begann er zögerlich.

"Sowieso, worum geht's?"

"Wirklich. Moe darf nichts davon erfahren, irgendwann werde ich es ihm selber sagen."

Beths Stimme wurde ungeduldig. "Du kannst mir vertrauen Arthur, das weißt du."

Ja, da hatte sie Recht. Manchmal war sie wie eine beste Freundin für ihn. "Ok." Er atmete tief durch. "Kannst du mir bitte Maras Nummer schicken?"

"Kommt sofort." Schon hatte sie aufgelegt. Er ahnte, wie viel Zurückhaltung es sie hatte kosten müssen, keine Sätze wie 'Ich hab's ja gewusst!' oder 'hab ich's dir doch gesagt!' zu sagen. Und er war ihr wirklich dankbar dafür.

Wenige Sekunden später vibrierte sein Handy. Eine neue Nachricht. Er atmete noch einmal tief durch, dann klickte er auf Öffnen. Die Nachricht bestand nur aus elf Ziffern, doch er starrte sie an, als hing sein Leben davon ab. Immer wieder wanderten seine Augen über die Zahlen, bis er sie fast auswendig wusste. Dann rang er sich dazu durch, die Nummer einzuspeichern. Mara war jetzt ein Kontakt in seinem Adressbuch.

So weit, so gut. Doch was sollte er jetzt weiter machen? Sie anrufen? Eine SMS schicken? Hey, hab keinerlei Erinnerungen an die Party, aber kann dich einfach nicht vergessen. Hab jemanden darauf angesetzt, deine Nummer herauszufinden. xoxo Arthur. Bestimmt nicht. Aber was dann?

Ruckartig stand Arthur von seinem Bett auf und tigerte im Zimmer hin und her. Sein Blick schweifte über sein Zimmer, als suche er etwas, was ihn zu einer Entscheidung verhelfen konnte. Doch nichts brachte ihm eine Erleuchtung.

 

Eine Woche verging, und einige Male war Arthur kurz davor gewesen, Maras Nummer zu wählen, doch im letzten Moment hatte er sich dagegen entschieden. Verdammt. Vermutlich erinnerte sie sich nicht einmal mehr an ihn. Doch nun hatte er schon seinen Schatten übersprungen und Beth nach der Nummer gefragt, das sollte doch auch alles nicht für nichts gewesen sein.

Einen guten Aspekt hatte die Sache allerdings bereits - seit der Party hatte Arthur kein einziges Mal das Bedürfnis verspürt, in seinen Unterlagen zu kramen oder im Internet nach den Morden oder einem Haus in Sedemoid zu suchen. Es war als hätte sich seine ganze Energie von diesem Fall auf Mara konzentriert. Umso mehr Grund, sie anzurufen. Vielleicht würde der Kontakt zu ihr helfen, endgültig einen Schlussstrich über diese Obsession zu ziehen.

Nun starrte er bereits minutenlang auf sein Handy. Mara, stand dort in seiner Kontaktliste. Ein einziger Klick, und er würde hinwählen. Es kribbelte in seinen Fingern, doch sein Bauch zog sich alleine bei dem Gedanken schmerzhaft zusammen.

Das kann doch nicht so schwer sein. Ich mach das jetzt, redete er sich ein, und sein Daumen berührte den grünen Schriftzug 'Anrufen'.

Entgeistert starrte Arthur auf das Telefon in seinen Händen. Schnell blickte er sich um, ob ihn eh niemand beobachtete, doch er war wie so oft alleine auf dem einsamen Waldweg. Seine Augen schlossen sich, als er das Handy langsam zu seinem Ohr führte und den rhythmischen Pieptönen lauschte.

Piep.....piep......piep..... "Hallo?"

Mit einem Ruck riss Arthur die Augen auf. "M...", er räusperte sich, seine Kehle war wie ausgedörrt. "Mara?", versuchte er es ein zweites Mal.

"Ja, wer ist da?" Ihre Stimme war warm und freundlich. Arthurs Herz begann sofort, schneller zu schlagen.

"Hallo, hier ist Arthur. Von der Party."

Eine kurze Pause folgte und Arthur biss sich auf die Lippe. Seine andere Hand, die nichts hielt, ballte sich zur Faust. Die Spannung war unerträglich. Hatte sie ihn vergessen?

"Ach ja, Arthur, jetzt hab ich ein wenig überlegen müssen. Ist ja schon fast zwei Wochen her!" Maras Stimme klang ein bisschen misstrauisch. Aber Arthur stieß erleichtert den Atem aus, den er unbewusst angehalten hatte.

"Ja, tut mir leid." Er hatte absolut keine Ahnung, wie er jetzt weitermachen sollte. So weit hatte er nicht vorgedacht, dass sie sich an ihn erinnerte, war schon alles, was er sich erhofft hatte. "Ich wollte fragen, ob du vielleicht mal etwas unternehmen möchtest!"

Wieder schlossen sich seine Augen. Bitte sag ja, bitte sag ja, bitte sag ja.

"Willst du denn das wirklich? Ich bin ja schon wieder zu Hause, das wäre ein weiter Weg."

Oh Mist. Er hatte keine Ahnung, woher sie war. Das hatte sie ihm wohl in der Zeit erzählt, die ihm fehlte. Aber er wollte sich nichts anmerken lassen. "Kommst du nicht wieder einmal deine Cousine besuchen?" Die Verwandtschaft war so ziemlich das einzige, woran er sich etwas orientieren konnte.

"Nicht wirklich, nein." Maras Stimme klang bedauernd. "Aber woher hast du eigentlich meine Nummer?"

Obwohl Arthur mit der Frage gerechnet hatte, wand er sich im Inneren und zögerte ein bisschen mit der Antwort. "Eine Freundin deiner Cousine hat sie mir gegeben", meinte er dann schließlich.

Am anderen Ende der Leitung blieb es kurz still. Maras nächste Worte klangen allerdings überraschender Weise geschmeichelt, und nicht - wie Arthur es befürchtete hatte - angeekelt (?): "Du hast nach meiner Nummer gefragt? Das ist irgendwie süß von dir."

Ein Lächeln legte sich auf Arthurs Züge. "Ich musste an dich denken", gab er dann zu.

"Ich auch an dich." Maras Stimme klang leise, als ob sie sich nicht sicher war, ob sie die Worte wirklich gerade hatte aussprechen wollen oder nicht.

"Ich würde dich wirklich gerne wieder sehen", versuchte Arthur es erneut. "Können wir uns nicht irgendwo in der Mitte treffen? So unmöglich kann das doch nicht sein."

Mara überlegte kurz. "Ich schaue mal nach. Aber du hast Recht, irgendwie muss das zu schaffen sein."

Yes. Arthur stieß mit der Faust in die Luft. Das Gespräch lief so viel besser, als er es sich jemals hätte erträumen können.

"Super. Meldest du dich dann einfach, wenn du dich entschieden hast?"

"Ist gut." Eine kurze Pause folgte. Dann: "Ich hab mich wirklich über den Anruf gefreut."

Arthur grinste. "Ich freue mich wirklich auf ein Wiedersehen. Mach's gut, Mara!"

"Du auch." Und sie legte auf.

Arthur musste sich zusammenreißen, um nicht wie ein Blöder herumzuspringen. Eines konnte er nun wirklich nicht mehr leugnen: Mara hatte irgendetwas, das ihn anders machte. Sie war ein besonderes Mädchen, und Arthur konnte nur hoffen, dass sich dieser Eindruck bei dem Treffen bestätigen würde.

 

Als er wieder zu Hause ankam, entging auch seinem Vater die gute Laune nicht.

"Was ist denn dir passiert? So ein Grinsen hab ich auf deinem Gesicht ja schon Wochen nicht mehr gesehen!"

Arthur verdrehte die Augen und versuchte, die Mundwinkel nach unten zu ziehen, doch vergeblich. Sie hüpften immer wieder hinauf, es begann schon fast zu schmerzen in den Wangen.

"Ach, war nur ein guter Tag heute." Er zwinkerte seinem Vater zu, der jedoch fragend die Augenbraue hob.

"Nur ein guter Tag? Das muss ein monstermäßig super toller Tag gewesen sein, wenn man dich so ansieht!"

Arthur zuckte mit den Schultern. "Ja, so könnte man auch sagen." Er wollte schon hinauf gehen auf sein Zimmer, als er sich noch einmal umdrehte. "Ich hab jemand kennen gelernt", platzte es aus ihm heraus.

Sein Vater ging zum Tisch, zog einen Stuhl hervor und klopfte kurz auf die Lehne. Dann setzte er sich auf einen zweiten. Arthur seufzte. Dann folgte er jedoch der Aufforderung und setzte sich zu seinem Vater.

"Du hast jemanden kennen gelernt?", wiederholte dieser schließlich, als Arthur nichts mehr dazu sagte.

"Ja, auf dieser Party."

"Die Party, wo du am nächsten Tag fast nicht einmal mehr gerade stehen konntest, weil du so betrunken warst?" Ungläubig legte sein Vater die Stirn in Falten. Arthur zog unbewusst den Kopf ein. Es war also doch nicht so unbemerkt geblieben, wie er es sich erhofft hatte. Na zum Glück ging sein Vater locker damit um.

"Genau auf dieser Party."

Sein Vater nickte. "Und wieso erst jetzt der super tolle Tag?"

"Sie ist nicht von hier. Ich hab sie heute erst angerufen", verriet Arthur.

"Und?", grub sein Vater nach. "Wird was daraus?"

Arthur zuckte mit den Schultern, doch in seinen Wangen spürte er ein verräterisches Zucken. Wenn dieses Dauergrinsen nicht bald ein Ende hätte, würde er bald einen Muskelkater bekommen. "Ich weiß nicht, mal schauen. Vielleicht treffen wir uns, wir müssen erst herausfinden, wo es am besten wäre."

Im Blick seines Vaters erkannte er plötzlich ein seltsames Schimmern. Verwundert zog er die Augenbrauen zusammen. Sein Vater seufzte nur. "Wenn deine Mutter jetzt hier wäre", meinte er dann, und erlöste damit Arthurs Wangenmuskleln von ihrer anstrengenden Tätigkeit. Sein Grinsen verrutschte, doch ganz verschwinden wollte es dann doch nicht. Aber der Gedanke an seine Mutter schmerzte.

"Aber sie ist es nicht", meinte Arthur nüchtern und klopfte im Aufstehen seinem Vater auf die Schulter. Dieser griff schnell nach seinem Arm und hielt ihn fest.

"Sie wäre stolz auf dich."

Tapfer lächelte Arthur und entzog sich sanft dem Griff. Der Blick seines Vaters folgte ihm, bis er die Treppe hinauf gegangen und aus dem Sichtfeld verschwunden war.

 

Mara meldete sich noch am selben Tag. Sie hatte einen geeigneten Ort gefunden, den Arthur sogar mit dem Bus erreichen könnte. Drei Stunden Fahrtzeit, aber das machte ihm nichts aus. Sie verabredeten sich für den kommenden Samstag.

 

Drei Tage noch. Drei Tage, bis er sie wiedersehen würde. Bei dem Gedanken daran wurden Arthurs Hände ganz schwitzig. Irgendwann bemerkte auch Moe, dass etwas mit ihm nicht stimmte.

Ein Ellbogen traf Arthur in die Rippen. Als er sich verwundert umdrehte, blickte sein bester Freund ihn an. "Alter, was ist eigentlich los mit dir? Du bist heute so neben der Spur! Ich hab dich gerade fünf Mal etwas gefragt, und du zuckst nicht einmal mit einer Wimper!"

Auf Arthurs Gesicht breitete sich wider seines Willen ein Grinsen aus. Er wollte nicht, aber er konnte nichts dagegen unternehmen. Wie erwartet interpretierte Moe es natürlich falsch.

"Ernsthaft, das ist nicht witzig! Sag mir sofort, was los ist!"

Arthur presste die Lippen aufeinander und versuchte krampfhaft, die Mundwinkel nach unten zu ziehen. Erfolglos.

"Na gut", meinte er schließlich, "ich hab mich mit Mara verabredet."

Moe bekam große Augen. "Deine kleine Freundin von Marias Party? Nicht im Ernst? Wie bist du denn an die jetzt gekommen?" Dann grinste er selbstgefällig. "Hast du doch mit Beth geredet und dir die Nummer geben lassen, was?" Dann verzog sich sein Gesicht plötzlich, während er nachdachte. "Warte - Beth hat davon gewusst?" Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, Arthur zog es vor, ihn ausreden zu lassen. "Du hast meiner Schwester gesagt, dass du ein Date hast, aber mir, deinem besten Freund, nicht? Sag mal, geht's noch?" Er wedelte mit der flachen Hand vor seiner Stirn herum. "Du weißt schon, dass das absolut gegen den Bro-Code ist!"

"Ach, komm schon! Ich hab Beth außerdem nichts gesagt. Ich hab mir nur die Nummer geben lassen, das war alles. Hätte ja sein können, dass ich sie nicht anrufe."

Moe schnaubte, er war immer noch sauer. "Na klar."

Arthur seufzte und überlegte, wie er das wieder ins Reine bringen könnte. "Was hältst du davon - wir gehen jetzt dann nach dem Unterricht ins BAR XYZ und ich lade dich ein?"

Moe warf ihm einen kurzen Blick zu, abschätzend, ob er so leicht nachgeben sollte. "Auf alles, was ich will?"

"Du willst ein Bier, maximal zwei", fixierte Arthur.

Moe presste die Lippen aufeinander und funkelte seinen Freund an. Dann seufzte er tief und hielt ihm die Hand hin. "Okay. Du kannst dich echt glücklich schätzen mit einem Freund wie mir!"

 

Als sie die Bar betraten, steuerte Moe sofort in eine Ecke des Lokals, ganz am anderen Ende des Billardtisches. Arthur folgte ihm zögerlich.

"Warum gehst du denn hier herüber? Da ist ja gar nichts, was willst du denn hier?"

Moe warf immer wieder Blicke dorthin, wo sie normalerweise immer saßen. Als Arthur seinem Blick folgen wollte, stellte sich Moe kurzerhand in das Sichtfeld. "Ach, ich dachte mir, hier ist es ganz gemütlich. Da können wir super ein Bier trinken, und dann muss ich eh wieder los. Ähm, hab noch was zu tun heute."

Kurz verharrte Arthur noch in seiner Position, er war sich nicht sicher, ob Moe das ernst meinte oder nur spaßte. Aber nachdem dieser keine Anstalten machte, diese seltsame Begebenheit aufzuklären, zog Arthur misstrauisch einen Stuhl hervor und setzte sich. Moe atmete aus und tat es ihm gleich.

Die Bedienung kam sofort und die beiden bestellten je ein Maß Bier.

"Wie wär's, wenn du mir jetzt sagst, was das gerade war?", fing Arthur schließlich an.

"Gar nichts, hab ich ja schon gesagt."

Arthur spähte vorsichtig an Moe vorbei. "Und es hat nicht zufälliger Weise etwas damit zu tun, dass heute dort drüben Kelly und Alex sitzen?" Er stand auf, griff nach seinem Bier und trat ein paar Schritte weg. "Komm, lass uns doch rüber gehen! Kelly wird sich bestimmt freuen, dich wieder einmal zu sehen!" Er sah ihn herausfordernd an und konnte Moes inneren Konflikt beinahe spüren. Schließlich gab er nach.

"Na wenn du meinst. Ich hab ja absolut kein Problem damit, sie zu sehen. Aber rücksichtsvoll, wie ich bin, wollte ich ihr keine falschen Hoffnungen machen, weißt du. Ich glaube, sie hat das mit uns beiden auf der Party ziemlich ernst genommen. Da will ich jetzt nicht wieder ein Drama auslösen..."

Arthur reagierte nicht darauf, sondern steuerte zielstrebig auf die beiden Mädchen zu.

"Hi Kelly, hi Alex!", begrüßte er sie. "Wollt ihr vielleicht mit uns eine Runde Billard spielen?"

Kelly warf einen abschätzigen Blick hinter ihn. "Mit dir ja gerne, aber von deinem Freund da hinten hab ich ehrlich gesagt erst einmal genug. Für ungefähr die nächsten zehn Jahre." Sie wandte sich mit giftigen Blick an Moe. "Hat man dir wahrscheinlich noch nicht gesagt, dass man nach so einem Erlebnis eher auf Abstand gehen sollte?"

Arthur warf Moe seinen Hab-ich's-doch-gewusst-Blick zu. Dann wandte er sich wieder an Kelly. "Das hat er mir noch gar nicht erzählt, was ist denn leicht passiert?"

Die Braunhaarige verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich lässig mit der Hüfte gegen einen Tisch. Ihre Augen blitzten. "Das soll dir der Feigling lieber selbst erzählen. Mir ist die Laune aber in den letzten Minuten ziemlich vergangen." Sie drehte sich nach ihrer Freundin um. "Hast du was dagegen, wenn wir schon gehen? Ich will diesen Anblick nicht noch länger ertragen müssen." Sie sah aus, als würde sie sich tatsächlich gleich übergeben. Sicherheitshalber wich Arthur einen Schritt zurück.

"Das ist aber schade. Tut mir leid, dass wir euch gestört haben." Er machte den Weg frei, als Kelly auf ihn zu stolziert kam. Moe war nicht so schnell und kassierte einen Rempler, der ihn mit dem Becken gegen den nächsten Stuhl schlagen ließ. Ales folgte Kelly, schlängelte sich jedoch eleganter zwischen den beiden Freunden hindurch.

Als die beiden weg waren, schüttelte Moe den Kopf und zog die Schultern in die Höhe. "Also ich weiß echt nicht, was die gerade hatte. Da hat sie meine Abfuhr aber anscheinend noch schlechter aufgenommen, als ich das befürchtet habe! Mädchen... Das ist das Problem, wenn sie alle auf einen fliegen!"

Arthur seufzte genervt. "Jaja. Wollen wir jetzt wenigstens eine Runde spielen? Wenn ich gewinne, fängst du nie wieder davon an, dass du was mit Kelly an dem Abend hattest, das Thema ist vom Tisch. Okay?"

"Du fängst doch immer wieder damit an! Aber gut. Und wenn ich gewinne... fragst du Alex nach einem Date."

Arthur nickte. "In Ordnung."

Jeder griff nach seinem Stick, und sie begannen, die Kugeln in ihre Löcher zu versenken.

Am Ende war es dann Moe, der den entscheidenden Stoß machte. Als der Tisch leer war, stieß er heroisch die Faust in die Luft. "So geht das! Da kannst du dir noch eine Scheibe abschneiden!" Er grinste ihn an, und Arthur grinste zurück. Na wenigstens war zwischen ihnen beiden wieder alles in Ordnung. Moe benötigte einfach hin und wieder ein Erfolgserlebnis, und ein Date mit Alex war doch wirklich ein machbarer Einsatz gewesen.

Betont gequält seufzte Arthur auf. "Oh nein. Dann werde ich jetzt wohl wirklich mit Alex ausgehen müssen."

Moe lachte verschmitzt. "Das kannst du natürlich auch. Aber die Rede war nur von der Frage nach einem Date. Kannst sie danach natürlich auch abblitzen lassen. Hab ich zum Beispiel bei Kelly so gemacht."

Und schon bereute Arthur es, sich nicht mehr angestrengt zu haben.

 

"Arthur, hast du kurz Zeit?"

Arthur erstarrte in der Bewegung und drehte sich um. Sein Vater bedachte ihn mit einem sorgenvollen Blick.

"Ich wollte dich nur fragen, wie es dir so geht im Moment?"

Arthur hob fragend die Augenbrauen. Wohin sollte dieses Gespräch denn führen, wenn sein Vater so begann? Er ging ein paar Schritte auf ihn zu, damit sie nicht über eine gesamte Raumdistanz miteinander kommunizieren mussten. Er hatte so ein Gefühl, dass dies länger dauern könnte.

"Mir geht's gut", meinte er leichthin. "Wieso fragst du?"

"Ach, mir ist nur in letzter Zeit aufgefallen, dass du dich wieder anders verhältst." Er lächelte aufmunternd. "Also im positiven Sinne. Außerdem habe ich dich nicht mehr nach diesen Morden recherchieren gesehen oder gehört, also ...?“

Arthur nickte. "Ja, das hat irgendwie ganz plötzlich aufgehört."

Sein Vater atmete erleichtert aus und öffnete kurz die Arme, als wolle er ihn umarmen, zog sie dann jedoch wieder zurück. "Das freut mich. Tut mir leid, dass ich dich mit diesen Märchen belastet habe."

Arthur winkte ab. "Schon gut. Es war mir selbst ja auch nicht ganz geheuer, was da mit mir passiert ist. Aber jetzt scheint wieder alles normal zu sein..."

Eine Pause entstand, und Arthur beachtete das Gespräch schon als beendet, als sein Vater doch noch einmal das Wort ergriff. "Hast du dich eigentlich darüber erkundigt? Über die Jäger, meine ich."

Arthur nickte nur knapp. Wieso fing er jetzt doch wieder damit an? Hatte seine Veränderung dieses Thema nicht abgeschlossen?

"Aber wie du schon gesagt hast - es ist ein Märchen." Irgendwie war Arthur unwohl bei dieser Aussage. Also beschloss er, kurzerhand das Thema zu wechseln. "Ich hab übrigens am Samstag ein Date", verkündete er grinsend und hoffte, seinen Vater so von der ganzen Blutmond-Geschichte wegzubringen.

Das gelang ihm auch. "Oh, mit Mara?"

Etwas erstaunt darüber, dass sein Vater den Namen noch wusste, nickte er. "Genau. Aber wir werden uns etwas weiter weg von hier treffen, da werde ich den Zug oder Bus nehmen. Ich werde also voraussichtlich den ganzen Samstag unterwegs sein."

Nun hielt sich sein Vater nicht zurück, sondern ging einen Schritt auf ihn zu und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. "Sie muss ja etwas Besonderes sein, wenn du so einen langen Weg auf dich nimmst."

Arthur verdrehte die Augen. "Klar, Paps."

Dann drehte er sich um und verschwand nach oben in sein Zimmer.

 

Endlich war es so weit. Bereits am Morgen erwachte Arthur mit einem Lächeln im Gesicht. Außerdem viel zu bald, wie ein Blick auf den Wecker bezeugte. Er hatte noch etwas über drei Stunden, bis der erste Bus abfuhr. Arthur hatte sich im Internet schlau gemacht, er würde insgesamt wohl drei Mal umsteigen müssen. Aber mit der passenden Musik auf seinem iPod sah er in der langen Busreise kein Problem.

Voller Motivation sprang er beinahe aus dem Bett, und in der Dusche begann er, leise vor sich hin zu summen. Danach verbrachte er eine gefühlte Stunde vor seinem Kleiderschrank, nur um sich am Ende dann sowieso für ein einfaches weißes Printshirt und dunkelblaue Jeans zu entscheiden.

Seine Haare versetzte er mit ein paar Tropfen Gel, gerade so viel, dass die Frisur gut aussah, aber gleichzeitig auch nicht zu abgeschleckt wirkte. Das passierte ihm leider manchmal, wenn er zu viel Gel erwischte, aber heute schien das Glück auf seiner Seite zu sein.

Zum Frühstück zog er eine Pfanne heraus und schlug drei Eier hinein. Dazu schnitt er Wurst und Käse, und machte sich eine deftige Eierspeise. Gerade als er damit fertig war, kam sein Vater im Bademantel in die Küche.

"Wow, das riecht aber lecker! Bekomme ich davon auch etwas ab?"

Arthur putzte sich die letzten Bröckchen auf seinen Teller und deutete dann auf die leere Pfanne. "Die ist noch heiß, da kannst du dir gleich selbst was machen!"

Kopfschüttelnd sah sein Vater ihm zu, wie er sich an den Esstisch setzte und das Essen in sich hineinstopfte. Er kaute, ohne es wirklich zu schmecken, und sein Magen protestierte leicht. Arthur fühlte sich, als ob er gerade aus einer Achterbahn ausgestiegen wäre. Immer noch ein bisschen schwindelig, aber voller Adrenalin.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm schließlich, dass er sich bereits auf den Weg machen konnte. Die Busstation war etwa zehn Gehminuten von seinem Haus entfernt, und der Bus würde in einer knappen halben Stunde wegfahren. Aber ein bisschen ein Puffer war ja nie schlecht, befand Arthur und schlüpfte in einen schwarzen Mantel und seine Schuhe.

"Tschüss, Paps!", rief er ins Haus hinein.

"Viel Spaß!", kam es zurück, und Arthur ließ die Tür ins Schloss fallen.

Vergessen hatte er eh nichts, überlegte er noch kurz, und tastete nach der Geldbörse, dem iPod, dem Handy und seinem Schlüssel in der Jackentasche. Alles genau da, wo es hingehörte. Perfekt. Jetzt mussten nur mehr die Busse alle pünktlich kommen, und in guten dreieinhalb Stunden würde er Mara wiedersehen.

 

Die ersten beiden Umstiege klappten wie geplant. Beim dritten und letzten jedoch hatte der ankommende Bus ein bisschen Verspätung, und so verpasste Arthur beinahe den Anschlussbus. Der Fahrer war jedoch so nett und wartete, als er ihn zum Fahrzeug laufen sah.

"Danke!", schnaufte Arthur, als er einstieg. Er ließ sich gleich auf die erste Bank fallen und den Blick aus dem Fenster schweifen. Eine halbe Stunde noch. Das war nicht mehr lange. Sein Bauch drohte, das Frühstücksei wieder erscheinen zu lassen, doch Arthur kämpfte erfolgreich dagegen an. Immer wieder wischte er sich seine Hände möglichst unauffällig an dem Stoff der Bussitze ab, doch die Nervosität legte sich nicht. Wenn das jetzt schon so schlimm war, wie würde es dann erst sein, wenn er ihr gegenüber stand? Wie sollte er sie denn überhaupt begrüßen? Küsschen auf die Wange? Eine Umarmung? Nur die Hand zu reichen wäre vermutlich ziemlich komisch. Nur ein Hallo? Eine schwierige Entscheidung.

Wie wohl der Ort war, den Mara ausgesucht hatte? Am Telefon hatte sie geklungen, als wäre sie schon einmal dort gewesen und als kenne sie sich dort aus. Hatte sie bereits etwas geplant? Oder erwartete sie von ihm, dass er spontan etwas sehen würde, oder sich womöglich erkundigt hatte, was man dort alles so unternehmen konnte? Sein erster Gedanke war natürlich, dass sie sich in irgendein Café setzen könnten und einfach quatschen, aber nach längerem Überlegen war das schon ein bisschen einfallslos. Das machte jeder, und Arthur wollte nicht wie jeder sein. Dass er sich hätte erkundigen können, war ihm leider erst jetzt im Bus eingefallen. In Gedanken schlug er dafür mit der Stirn gegen das Busfenster. Manchmal entgingen ihm die einfachsten Dinge. Aber es bestand ja immer noch die Chance, dass Mara etwas wusste.

 

Schließlich hielt der Bus an einer einsamen Haltestelle. Es war einfach nur eine kleine Stange, an der eine Platte mit der Bezeichnung der Haltestelle hing, und eine Überdachte Bank.

War das sicher richtig hier? Arthur warf noch einmal einen Blick auf die Handynotiz, die er sich zu Hause gemacht hatte. BUSHALTESTELLE HIER, ja, er sollte richtig sein. Mit einem mulmigen Gefühl stieg er die drei Stufen vom Bus hinunter auf die Straße. Hinter ihm schlossen die automatischen Türen, und der Bus fuhr wieder ab. Er war der einzige Passant, der hier ausgestiegen war.

Arthur ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen. Hinter der Haltestelle war ein Feld, das darauf wartete, im Frühjahr wieder bewirtschaftet zu werden. Auf der anderen Seite der Straße lag eine Wiese brach, deren Gräser kurz waren, aber nicht gemäht aussahen. Ein Ort war weit und breit nicht auszumachen. Hatte Mara ihn extra an einen so einsamen Ort bestellt?

Grübelnd warf er einen Blick auf den Fahrplan. Der nächste Bus zurück ging erst in etwas über einer Stunde. Na toll. Er konnte also nur hoffen, dass Mara auch wirklich erschien, und er nicht auf dieser Party etwas so Dummes getan hatte, dass sie ihn hier ins Nichts lockte.

Frustriert setzte er sich auf die Bank. Mit der Zeit wurden seine Finger und Zehen kalt, und Mara war immer noch nicht aufgetaucht. Er war schon davon überzeugt, dass dies alles ein mieser Scherz war, als er ein Motorengeräusch in der Ferne ausmachte, das näher zu kommen schien. Sein Herz begann bereits, schneller zu klopfen. Das musste sie sein. Er konnte es nicht mit seiner Vorstellung von ihr vereinbaren, dass sie ihn einfach so hier sitzen ließ.

Mit zittrigen Fingern fuhr er sich durch die Haare, zupfte an seiner Jacke herum, und blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Er hatte sich nicht getäuscht: wenige Sekunden später fuhr ein kleines, schwarzes Auto vor. Auf der Rückbank winkte Mara bereits heraus.

Als das Auto zu stehen kam, öffnete sich die Tür und sie stieg aus. In ihrem Gesicht lag ein entschuldigendes Lächeln. "Tut mir furchtbar leid, dass ich mich so verspätet habe, aber wir hatten zuhause noch einen kleinen Zwischenfall!"

Arthur ging auf sie zu und küsste sie auf beide Wangen. "Kein Problem, ich hab noch nicht so lange gewartet", versicherte er ihr, was ihr ein Kichern entlockte.

"Dein Bus ist vor über einer Stunde hier angekommen. Aber süß von dir, das zu sagen!" Sie warf einen Blick auf das wartende Auto hinter sich. "Eigentlich habe ich mir gedacht, wir könnten hier eine Runde spazieren gehen, wenn du magst." Dann wiegte sie jedoch den Kopf hin und her. "Aber dir wird wahrscheinlich ganz schön kalt sein, oder?"

Arthur zuckte mit den Schultern. "Ach was. Wenn du spazieren gehen willst, können wir das gerne machen!"

"Wie du willst", strahlte Mara und wandte sich kurz der Person im Auto zu. Das Fenster wurde heruntergekurbelt, und Arthur sah eine Frau, die genauso aussah wie Mara, nur etwa dreißig Jahre älter. Es musste ihre Mutter sein. "Wir bleiben hier! Danke für's Fahren, ich melde mich dann später!"

Ihre Mutter winkte Arthur kurz zu, was er schüchtern erwiderte. "Viel Spaß euch beiden!", rief sie aus dem Fenster, ehe sie den Motor wieder startete, das Auto wendete, und zurückfuhr.

"So, da wären wir also. Komm, ich weiß einen wunderschönen Weg!"

Als wäre es selbstverständlich, kam Mara auf ihn zu, hackte sich bei seinem Arm ein und zog ihn über die Straße. Dabei blickte sie nicht links oder rechts, sondern sie schien darauf zu vertrauen, dass auf dieser Straße am Tag vielleicht fünf Autos vorbeifuhren, und drei davon Busse waren.

Auf der anderen Seite gingen sie zunächst entlang der Straße, aber bereits nach wenigen Metern bogen sie auf einen schmalen Wiesenweg ab.

"Bist du öfters hier spazieren, oder wieso kennst du dich so gut aus?", wollte Arthur wissen. Es hatte ihn am Anfang überwältigt, Mara so nahe neben sich zu spüren, doch nach ein paar Minuten wagte er es, auch zu sprechen.

"Ich hab früher hier gewohnt. Meine Tante wohnt auch immer noch da, aber mein Dad hat einen anderen Job bekommen und daher sind wir von hier weggezogen." Ihre Stimme klang traurig und auch ihre Schritte wurden weniger schwungvoll, während sie das sagte.

Arthur zog sie noch ein bisschen näher an sich, falls das überhaupt möglich war. "Es ist wunderschön hier", versicherte er ihr. "Kommst du jetzt noch öfters hier her?"

"Wenn wir meine Tante besuchen, aber das ist meist nur ein bis zwei Mal im Jahr. Ansonsten eher selten."

"Na dann ist es ja gut, dass wir so weit auseinander wohnen und uns hier treffen konnten!"

Mara warf ihm einen dankbaren Blick zu. "Ja, das finde ich auch."

Einige Minuten vergingen, in denen keiner der beiden etwas sagte. Aber das Schweigen, das dadurch entstand, war keinesfalls unangenehm. Sie ließen beide die Natur auf sich wirken, sahen den Bäumen entgegen, denen sie immer näher kamen, und ließen den kalten Wind durch ihre Haare blasen. Mara trug ihre braunen Haare offen, und Strähnen davon wurden ihr immer wieder ins Gesicht geweht, die sie dann mit ihrer äußeren Hand entfernte. Arthur schielte immer wieder unauffällig auf sie hinab - sie hatte genau die perfekte Größe für ihn. Würde er den Arm um sie legen, würde wahrscheinlich ihre Schulter genau in seine Achsel passen.

"Du gefällst mir so übrigens viel besser", lächelte Mara ihn plötzlich an. Arthur erwiderte das Lächeln zwar, zog jedoch gleichzeitig die Stirn in Falten.

"Besser als wann?"

"Als auf der Party, wie ich gegangen bin. Weißt du das eigentlich noch?" Sie kicherte, und ihre Schritte hatten wieder zu ihrem alten Schwung zurückgefunden. "Du bist draußen vor der Haustür in der Wiese gelegen, ich glaube du warst stockbetrunken."

Arthur verzog das Gesicht. "Ja, da hab ich wohl ein bisschen zu viel erwischt an dem Abend...", gab er zu.

Mara lachte. "Das kannst du laut sagen. Deshalb hat es mich ja eigentlich auch gewundert, dass du mich angerufen hast." Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. "Die Jungs, die ich kenne, würden sich das wahrscheinlich nicht trauen."

Oh Gott, was hatte er gemacht? Es fiel Arthur zunehmend schwerer, so eng mit Mara zu gehen, wusste er doch eigentlich überhaupt nicht, welche Erinnerungen sie verband.

"Wieso denn nicht?", fragte er betont lässig. Vielleicht ließ sich irgendetwas aus ihr herausfinden, das er noch nicht wusste.

"Naja, zuerst diese wunderschöne Begegnung, danach hätte ich schon damit gerechnet. Aber später draußen, da warst du ein ganz anderer. Ich glaube, anderen wäre es wahrscheinlich peinlich gewesen, sich danach noch zu melden."

Na toll, das führte zu gar nichts. "Tja, ich bin eben nicht wie jeder andere", meinte er daher nur schlicht.

Mara grinste ihn an. "Nein, sieht nicht so aus."

Der Schatten der Bäume verschluckte ihre nächsten Schritte. Sie waren im Wald angelangt, und ein moosig-harziger Duft drang sofort in Arthurs Nase. Der Wind ließ die Blätter rascheln, und Mara entglitt ein Seufzen. "Ich liebe den Wald. Wo ich jetzt wohne, gibt es auch einen, aber den darf man ja leider nicht betreten."

"Wieso denn das nicht?", fragte Arthur leichthin.

Mara warf ihm einen verwirrten Blick zu. "Wegen der Morde. Bei deiner Reaktion auf der Party hab ich mir eigentlich gedacht, du bist darüber informiert!"

Es lief ihm kalt den Rücken hinunter. Mara wohnte neben einem Wald, in dem es Morde gab. Sie würde doch nicht ... "Das hab ich dann wohl verdrängt", murmelte er und musste sich zusammenreißen, sie nicht von sich zu stoßen. Das war jedoch auch gar nicht nötig, denn Mara löste sich von selbst von ihm. Ein großer Schritt brachte sie vor ihm zu stehen, und so standen sie sich gegenüber.

"Genauso wie jetzt. Genauso hast du reagiert, als ich dir gesagt habe, dass ich aus Sedemoid bin."

Jetzt war es raus. Es war offiziell. Mara war aus dem Ort, der Arthurs Leben im vergangenen Halbjahr weitgehend bestimmt hatte. Zufall?

Er versuchte, sich aus seiner Starre zu befreien und schüttelte den Kopf. "Tut mir leid."

Mara griff ihm sanft mit beiden Händen an seine Schultern und fuhr seine Oberarme hinauf und hinab. "Kennst du jemanden, der betroffen war?", meinte sie mitfühlend. "Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst. Ich sehe ja, dass dir dieses Thema nahe geht!", ruderte sie dann gleich wieder zurück.

Arthur seufzte. "Nein, das ist es nicht. Ich weiß auch nicht... tut mir leid."

Mara hob eine Hand und strich über seine Wange. Ihre Blicke kreuzten sich und ließen einander nicht mehr los. "Das muss dir nicht leid tun. Es ist wirklich schlimm, was da passiert. Verstehe ich, dass einen das aus der Bahn werfen kann."

Arthur war unfähig, etwas zu antworten. Er benötigte seine ganze Konzentration, sich nicht zu ihr hinunter zu beugen. Sie nicht an sich heran zu ziehen. Nicht seine Lippen auf ihre zu pressen. Welch unpassender Zeitpunkt, jemand küssen zu wollen, wenn man sich gerade über Morde unterhielt.

Einige Sekunden blieb es noch still, die Luft zwischen ihnen schien zu knistern. Dann zog Mara sich zurück. "Mir tut es leid, dass ich damit angefangen habe." Sie schlang die Arme um ihren Körper, als wäre ihr plötzlich eiskalt. Arthur trat näher zu ihr und legte einen Arm um sie. "Ach was, du kannst überhaupt nichts dafür. Lass uns einfach das Thema wechseln, in Ordnung?"

Mara legte sofort einen Arm um seine Körpermitte, und nickte.

"Erzähl mir etwas über dich, das sonst niemand weiß!", forderte sie ihn schließlich auf.

Arthur lachte. "Diese Dinge behalte ich aber meist bewusst für mich."

"Das weiß ich schon, aber gibt es wirklich nichts, das du vielleicht doch preisgeben könntest?" Mara grinste ihn verschmitzt an und Arthur seufzte.

"Na gut, lass mich überlegen... Hm. Ja, ich weiß was. Ich bin in den letzten Monaten oft, wenn ich alleine spazieren gegangen bin, zu dieser Wiese gegangen, auf dem ein kleines Pferd war. Manchmal bin ich nur am Zaun gestanden und habe ihm zugesehen, stundenlang, und bin dann wieder gegangen. Manchmal bin ich auch zu ihm rein, hab es gestreichelt und mit ihm geredet." Arthur fühlte, wie sich das Blut in seinem Gesicht ansammelte und ihn rot werden ließ. Er erwartete einen spöttischen Kommentar von Mara, aber die drückte sich nur noch enger an ihn.

"Das finde ich schön. Aber ich verstehe auch, dass du das normalerweise für dich behältst. Das ist deine persönliche Zeit, die du mit jemandem verbringst, das muss nicht jeder wissen. Danke, dass du mir das erzählt hast!"

Arthur war so verblüfft über ihre Worte, dass das, was er in den nächsten Sekunden tat, mehr aus Intuition geschah, und sein Verstand dabei ausgeschaltet war. Er blieb stehen, zog Mara vor sich, hielt ihren Kopf zwischen seinen Händen und berührte ihre Lippen mit den seinen. Ganz zart, als wären es Schmetterlingsflügel, doch selbst bei dieser sanften Berührung breitete sich Gänsehaut auf seinem ganzen Körper aus.

Im ersten Moment schien Mara überrascht, aber dann fühlte er ihr Lächeln an seinem Mund. Ihre Hände fanden ebenfalls den Weg zu seinem Gesicht und sie streichelte über seine Wange, als sich ihre Lippen wieder voneinander lösten. Ihre Augen hatten sich während dem Kuss geschlossen, genau wie die seinen. Doch nun blickten die beiden einander an, in den Blicken Erstaunen, Faszination, Verlangen.

Sie sprachen kein Wort, niemand wollte diesen Moment zerstören. Ihre Gesichter waren immer noch so nahe aneinander, das sie den Atem des jeweils anderen fühlen konnten. Die Welt um sie herum schien still zu stehen, der Wald war stumm, das einzige Geräusch war das ihrer pochenden Herzen. Maras Lippen waren gerötet, ebenso ihre Wangen. Ihre blauen Augen leuchteten, und Arthur wünschte sich, dieser Moment würde niemals enden.

Doch natürlich ging dieser Wunsch nicht in Erfüllung. Ein eisiger Windstoß fuhr zwischen die beiden, und Mara zog lachend ihren Kopf ein. Dann trat sie einen Schritt zurück, griff nach Arthurs Hand und begann, weg zu laufen. Die ersten paar Meter zog sie ihn noch mit sich mit, doch dann ließ sie ihn los. Sofort zog sich Arthurs Brust zusammen, als hätte er etwas unheimlich Wichtiges verloren. Seine Beine bewegten sich schneller, er lief ihr nach, folgte dem glockenhellen Lachen immer tiefer in den Wald hinein. Ihre Haare flatterten, die rote Jacke machte sie zu einem leichten Ziel. Zweige brachen knackend, als Arthur nicht darauf achtete, wohin er stieg. Einige Male kam er Mara so nahe, dass er sie fast greifen konnte, doch sie drehte sich und entwischte ihm wieder.

"Komm schon!", rief sie ihm zu. "Nur keine Müdigkeit vortäuschen!" Sie breitete die Arme aus und begann, sich zu drehen. Arthur war inzwischen langsamer geworden, sein Atem ging schneller. Mara hingegen schien immer noch fit zu sein. Inzwischen war ihre Bewegung eine Mischung aus hüpfen und laufen, währenddessen sie sich auch noch drehte.

"Mara, warte doch!" Arthur fiel wieder in ein schnelleres Tempo.

Als sie sah, dass er die Verfolgung wieder aufgenommen hatte, versteckte sie sich hinter einem Baum. Arthur kam leicht außer Atem davor zu stehen und griff nach ihrer Hand, die auf einer Seite leicht vorragte.

"Hab dich!"

Mara wirbelte hervor, griff nach seiner anderen Hand, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. "Gut gemacht!", meinte sie dann mit funkelnden Augen und Arthur wurde ganz warm.

"Komm, ich will dir was zeigen!" Sie ließ eine Hand wieder los, und zog ihn an der anderen mit. Theatralisch stöhnend folgte Arthur ihr, bis sie am Rande einer kleinen Lichtung zum Stehen kamen.

Sie standen nun nebeneinander, Mara klammerte sich mit beiden Armen an Arthurs Arm fest. "Schau", flüsterte sie mit großen Augen. Arthur wusste sofort, was sie meinte.

Die Lichtung war nicht sonderlich spektakulär, kurzes Gras bedeckte sie, doch in ihrer Mitte befand sich eine einzige Blume. Sie besaß eine große, weiße Blüte, die die Form von einem Teller hatte. Das alleine war es jedoch nicht, was sie so besonders machte. Irgendetwas an ihr passte nicht zum restlichen Bild, und nach einigen Sekunden kam Arthur auch darauf, was es war.

"Sie leuchtet im Schatten", hauchte er und ein Schauer rieselte über seinen Rücken. Es war mitten am Tag, und die Sonnenstrahlen erleuchteten die gesamte Lichtung. Aber vor dieser Blume schienen sie Halt zu machen. Ein Blick in den Himmel verriet Arthur, dass es auch keine Wolke oder Vogel oder Flugzeug war, das den Schatten warf. Es schien von der Blume selbst zu kommen.

"Es ist eine Mondblume", erklärte Mara ihm. "Ich habe die wo anders schon gesehen, aber normalerweise sind sie unter Tags geschlossen und öffnen sich in der Nacht. Dann sehen sie genauso aus wie diese hier jetzt."

Unwillkürlich trat Arthur einen Schritt zurück. Eine Mondblume. Fehlten nur noch ein paar Blutstropfen, und es wäre eine Blutmondblume.

Arthurs Kehle war wie eingetrocknet, er musste sich räuspern. "Lass uns hier verschwinden, bitte."

Mara warf ihm einen verunsicherten Blick zu. "Mein Gott, du bist ganz blass. Komm!"

Sie zog ihn wieder in den Wald hinein, er selbst trug nicht sehr viel zur Bewegung bei. Alles um ihn herum schien sich zu drehen. Seine Beine bewegten sich wie ferngesteuert, und als Mara anhielt, ließ er sich an dem Baum neben ihn hinuntergleiten. Er nahm den Kopf zwischen die Knie, um den Schwindel zu stoppen.

Mara hockte sich neben ihn und strich ihm wieder und wieder über den Rücken.

"Geht's dir wieder besser?", fragte sie schließlich, als er Minuten später wieder aufblickte.

Arthur nickte erschöpft. Er kam sich vor, als wäre sein ganzes Leben bis jetzt eine einzige Verfolgungsjagd gewesen. Er fühlte sich ausgezehrt, erschöpft und einsam. Mit geschlossenen Augen lehnte er sich an den Baum. Mara sah ihm hilflos dabei zu, nahm nur seine Hand und drückte sie. "Ich bin da."

Es dauerte eine Weile, bis sich Arthur wieder stabil genug fühlte, die Augen zu öffnen. "Tut mir wirklich leid, ich hab keine Ahnung, was da gerade passiert ist."

Mara schüttelte den Kopf. "Gar kein Problem. Wie fühlst du dich denn? Schon wieder ein bisschen besser? Dein Gesicht hat zum Glück schon wieder etwas Farbe, vorhin hast du ausgesehen wie eine Leiche..."

Arthur stützte sich am Baum ab, als er sich aufrichtete. Maras hilflosen Blick versuchte er zu ignorieren. Als er schließlich wieder halbwegs sicher auf seinen Beinen stand, lächelte er sie schief an. "Alles gut, danke."

"Bist du dir sicher?"

Er nickte. "Ja. Ich fühle mich nur noch ein bisschen schlapp, aber ich falle nicht gleich um oder so." Er legte den Kopf schief und musterte sie mit eindringlichem Blick. "Ehrlich, du kannst aufhören, mich so besorgt anzusehen."

"Na gut, wenn du meinst... Aber ich hab eine Idee: Was hältst du davon, wenn wir kurz bei meiner Tante vorbei schauen? Sie wohnt gleich am anderen Ende des Waldes, das ist sogar kürzer, als wenn wir denselben Weg wieder zurückgehen, den wir gekommen sind." Sie schaute ihn fragend an. "Ich weiß zwar nicht, ob sie zu Hause ist, aber ich kenne den Hintereingang. Wir könnten dort eine Tasse Tee trinken und uns etwas aufwärmen, was hältst du davon?"

Arthur nickte. Nach diesem Erlebnis war es vermutlich gar nicht einmal so schlecht, sich etwas zu entspannen. Und die Aussicht auf ein ganzes Haus alleine für ihn und Mara, zusammengekuschelt in ein paar Decken eingewickelt, schenkte ihm gleich wieder neue Energie. "Klar, lass uns losgehen!"

 

Es dauerte wirklich nicht lange, bis sie bei dem Haus von Maras Tante ankamen. Ein Holzzaun säumte den Garten ein, an der Hauswand wucherte Efeu hinauf bis in den Dachgiebel. Wie ein kleines Haus aus einem Märchen, dachte Arthur.

"Hübsch ist das hier!"

Mara lächelte. "Ich weiß. Früher, wie wir noch hier gewohnt haben, war ich sehr gerne hier bei meiner Tante. Viel lieber als zu Hause, wenn ich mich recht erinnere."

Sie griff nach einem Holztor im Zaun und öffnete es für Arthur. Hinter ihnen schloss sie es wieder. Auf einem schmal gepflasterten Weg gingen die beiden zwischen zwei Wiesenflecken auf die Haustüre zu. Mara klingelte dreimal kurz, doch nichts reagierte.

"Warte kurz hier", trug sie Arthur auf und verschwand hinter dem Haus. Bereits nach wenigen Sekunden stand sie wieder neben ihm, dieses Mal hatte sie einen Schlüssel in den Händen, mit dem sie die Türe aufsperrte. Diese schwang sofort nach innen auf und eröffnete ein lichtdurchflutetes Vorzimmer. Arthur trat ein und streifte sofort seine Schuhe ab. Den Mantel hängte er auf den dafür vorgesehenen Aufhängevorrichtung und Mara tat es ihm gleich. Dann schob sie sich in dem engen Raum an ihm vorbei und ging voraus in eine niedlich eingerichtete Küche. Kräuter standen auf der Fensterbank und räkelten sich in den warmen Sonnenstrahlen, auf dem Kühlschrank waren lauter kleine Post-Its mit Magneten befestigt und der Ziervorhang an den Fenstern schaute selbstgehäkelt aus.

"Was für einen Tee möchtest du denn gerne?", unterbrach Mara seine Beobachtungen und zog aus einem Fach eine riesige Holzkiste hervor, unter deren durchsichtigen Deckel er lauter verschiedene Teebeutel ausmachen konnte. Mara öffnete die Box und Arthur warf einen Blick hinein.

"Hm, da hat man ja die Qual der Wahl. Mir ist das aber eigentlich ganz egal, such du einen aus!"

Mara suchte die Reihen schnell ab, dann griff sie nach einem Beutel in der ganz rechten Reihe. "Schwarztee, mit etwas Milch?" Ohne auf eine Antwort zu warten ging sie zu dem Kühlschrank und holte ein Päckchen Milch hervor.

"Klar, wieso nicht." Arthur hatte diese Kombination zwar noch nie probiert, aber es gab ja bekanntlich für alles ein erstes Mal. Auch, wenn er sich Tee mit Milch nicht unbedingt sehr lecker vorstellte, aber wenn Mara es mochte, konnte es wohl nicht so schlimm sein.

"Setz dich ruhig schon mal ins Wohnzimmer, ich komm hier schon zu Recht!" Sie deutete durch eine offen gelassene Wand in das nächste Zimmer, in dem Arthur eine ausladende Couch in einem ausgebleichten roten Leder erspähte. Er ging hinüber und ließ sich in sie hineinfallen. Das Material gab sofort unter seinem Gewicht nach und Arthur hatte das Gefühl, das Sofa verschlang mindestens seinen halben Körper. Es war ungewohnt, aber nicht unbequem. Seufzend schloss Arthur seine Augen und lehnte sich zurück. Obwohl sie sehr schnell hier gewesen waren, hatte es Arthur unerwartet viel angestrengt und er war froh, sich nun etwas ausruhen zu können.

Wenige Minuten später kam Mara auch schon mit einer dampfenden Tasse Tee, sowie der Milch und zwei Tassen mit je einem Löffel darin.

"Hier, bitte sehr." Sie stellte alles auf das kleine Tischchen zwischen Couch und dem Kamin gegenüber, über dem ein großer Plasmafernseher hing, der so gar nicht zu der restlichen Einrichtung passen wollte.

Arthur bedankte sich, dann klopfte er auf den Platz neben sich und Mara ließ sich ebenfalls zu ihm in die Kissen fallen. Ohne größer darüber nachzudenken, legte Arthur den Arm um sie und als ob es selbstverständlich wäre, kuschelte sie sich an ihn. So blieben sie eine Zeit lang schweigend liegen, bis Mara sich wieder aufsetzte.

"Ich denke, der Tee ist jetzt genug gezogen", meinte sie und schenkte ihnen ein. "Wie viel Milch magst du denn gerne?"

Arthur setzte sich ebenfalls auf und beobachtete sie. "So ein bisschen."

"Gut so?" Mara ließ einen Schuss in die Tasse fließen, dann setzte sie sofort wieder ab.

"Ja, danke." Arthur griff nach dem Behältnis und verrührte das Getränk mit dem Löffel. Er schaute Mara zu, wie diese sich die Tasse bis ganz oben mit Milch anfüllte und sich der Tee hellbraun verfärbte. Nun war er aber schon gespannt, wie das schmecken würde. Sehr geschmackvoll sah es ja nicht unbedingt aus.

Er nahm die Tasse an das Kinn, legte beide Hände darum und genoss die Wärme. Währenddessen blies er auf die Flüssigkeit und kleine Wellen erschienen auf ihrer Oberfläche. Mara hatte bereits einige Schlucke gemacht und stellte den Tee wieder ab.

"Bei so viel Milch kann man es dann immer gleich trinken, da ist er nicht mehr so heiß."

Da hatte sie Recht. Arthur versuchte es trotzdem, ob auch sein Tee schon eine angenehme Temperatur hatte, und verbrannte sich dabei glatt die Oberlippe. Scharf zog er die Luft ein und stellte die Tasse auf den Tisch zurück.

"Das hast du klüger gemacht als ich. Meine ist noch viel zu heiß."

Mara kicherte. "Ja, ich hab‘s gesehen. Das hätte ich dir aber auch sagen können."

Arthur knuffte sie in die Seite. "Ich hab es mir ja eh gedacht."

Mara schüttelte grinsend den Kopf, dann warf sie einen Blick auf den Kamin. "Sollen wir ihn anmachen? Das geht bei dem ganz schnell!"

Sie stand auf, ging zu einem kleinen Schaltkasten neben dem Fernseher und drückte lange auf eine Taste. Wenige Sekunden später fing ein Feuer an zu brennen, und Arthur starrte es staunend an. "Wie hast du das denn jetzt gemacht?"

Mara griff nach einer Decke in einem Regal an der Wand. "Der funktioniert mit Gas, diese Holzscheite sind nur der Ästhetik wegen dort, die brennen eigentlich gar nicht." Sie setzte sich wieder neben Arthur und breitete die dünne Decke über ihre Beine aus.

"Sieht aber ziemlich echt aus." Gebannt starrte Arthur auf die Flammen.

"Ja, es tut der Romantik keinen Abschlag." Mara seufzte tief und legte ihren Kopf auf Arthurs Brust. Der rutschte ein wenig in die andere Richtung, um eine bequemere Position für sie beide zu finden. Schließlich lag er mit dem Rücken zur Sofalehne, hatte einen Arm um Maras Körpermitte geschlungen, die mit ihrem Rücken an seine Brust lag.

Dass er so bald mit einem Mädchen Löffelchen liegen würde, hätte Arthur sich vor wenigen Wochen niemals von sich gedacht. Aber nun war es so weit, und er wollte es absolut nicht missen.

 

Eine ganze Weile lagen sie still nebeneinander und schauten dem Feuer zu, dann räkelte sich Mara plötzlich.

"Weißt du, Arthur, du kannst mir gerne erzählen, was da draußen passiert ist." Sie drehte ihren Kopf so gut es ging zu ihm, um ihn anzusehen. "Natürlich nur, wenn du willst. Aber ich würde zuhören."

Arthur seufzte. "Ich weiß nicht recht... Es ist alles sehr seltsam." Er pausierte kurz, und auch Mara schwieg. Sie ließ ihm Zeit, weiterzusprechen. "Na gut." Arthur drückte sich sanft von ihr weg und setzte sich aufrecht hin. Sie tat es ihm gleich, kreuzte die Beine auf dem Sofa und setzte sich mit dem Gesicht in seine Richtung.

"Alles angefangen hat vor zirka einem halben Jahr. Ich sehe es noch vor mir - mein Vater hat Nachrichten geschaut im Fernsehen, und ich wollte gerade hinausgehen, als ich die Meldung gehört habe über den ersten Mord in Sedemoid. Mein Körper ist erstarrt, und ich habe gedacht, es wäre vom Schock." Er schüttelte den Kopf und vergrub diesen kurz in seinen Händen. "Aber das war's nicht. Am nächsten Tag war ein Artikel in der Zeitung. Ich weiß nicht mehr, was ich mir genau dabei gedacht habe, aber ich habe ihn ausgeschnitten und auf meinen Schreibtisch gelegt. Wie oft ich ihn gelesen habe, weiß ich nicht. Viele Male. Viel zu oft. Irgendetwas an ihm, an dem Mord, oder an ich weiß nicht was, faszinierte mich. Ich hatte das Gefühl, das es wichtig war, dass ich diesen Artikel so genau studierte.

Wenige Wochen später passierte dann der zweite Mord. In der Zwischenzeit hatte ich mir alle Aufnahmen, die ich über den ersten gefunden hatte, heruntergeladen und sogar einen Ordner dafür auf meinem Laptop gemacht." Er schüttelte den Kopf, wie dumm sich das anhören musste. Im Nachhinein erst sah er, wie ihn die ganze Sache mitgenommen hatte. "Die Mitteilungen über den zweiten Mord folgten natürlich in diesen Ordner. Und die der weiteren ebenfalls. Diese Verbrechen haben meine gesamte Energie gefordert, jede freie Minute verbrachte ich mit Recherche. Ich wusste aber nicht, was ich dann überhaupt noch recherchieren sollte, aber irgendetwas hielt mich trotzdem fest." Er machte eine Pause, ließ die Worte wirken. "Nach und nach habe ich mich dadurch natürlich auch von vielen Leuten distanziert. Am meisten wahrscheinlich von meinem Vater." Seine Augen schlossen sich und er ballte die Hände zu Fäusten. Wieso hatte er nicht erkannt, wie sehr ihn das verändert? Seine Beziehung zu seinem Vater war immer eine der wichtigsten überhaupt gewesen, wieso war sie ihm einfach so entglitten? "Mein bester Freund ist mir geblieben, ich habe es auch geschafft, immer noch an den Wochenenden fortzugehen. In der Schule hab ich mir leicht getan, und dann waren eh schon Ferien... Die anderen sind alle in den Urlaub gefahren, ich bin zu Hause geblieben...

Mein Vater hat nie etwas zu mir gesagt, obwohl es für ihn sicher schlimm gewesen sein muss. Bis kurz vor der Party, wo ich dich kennen gelernt habe." Er warf ihr ein Lächeln zu, dann konzentrierte er sich auf seine Finger, die sich in der Decke vergruben. "Er hat mir irgendwelche Märchen erzählt, von Blutmondgeborenen und Jägern und dass mein Großvater einer war und ich auch einer sein könnte." Mara runzelte die Stirn, unterbrach ihn jedoch nicht. Arthur verdrehte die Augen. "Ich hab natürlich gedacht, er ist verrückt. Oder mein Großvater konnte einfach ziemlich gut Geschichten erzählen. Was weiß ich. Aber mein Vater hat drauf bestanden, dass ich mich erkundige danach. Und das hab ich. Ich hab im Internet geschaut, und bin auf so eine Website gestoßen, wo ich mit jemandem Kontakt aufgenommen habe. Es ging dabei um Erfahrungsberichte von anderen, auf die das anscheinend auch zu traf. Naja, aber dann war die Party und da warst du." Er drehte den Kopf weg, wusste nicht genau, wie viel er sagen sollte, konnte oder wollte. "Wie soll ich sagen, ich musste von da an immer an dich denken." Den Teil, in dem er sich nicht mehr erinnern konnte, verschwieg er nach wie vor. "Eine Freundin hat dann erwähnt, dass sie deine Nummer hat, und ich habe sie mir geben lassen. Den Rest kennst du ja." Nun wagte er es doch und schaute in ihre Richtung. Auf ihrem Gesicht lag ein warmes Lächeln, und als sich ihre Blicke trafen, streckte sie ihre Hand nach ihm aus und legte sie auf seinen Unterarm.

Als er nicht mehr weiterredete, meldete sie sich wieder zu Wort. "Das klingt alles wirklich sehr außergewöhnlich. Aber Blutmondgeboren habe ich in meinem Leben noch nie gehört, magst du mir dieses Märchen vielleicht auch noch erzählen?"

Arthur verdrehte die Augen, aber gleichzeitig lief ihm ein Schauer über den Rücken. "Es geht darum, dass es Kreaturen gibt, die zu Blutmond geboren werden und dadurch spezielle Fähigkeiten erlangen. Meistens bringen sie allen, die mit ihnen zu tun haben, nur Ärger, Tod oder Verderben. Aber dann gibt es auch noch Jäger", auf Arthurs Armen breitete sich eine Gänsehaut aus, "deren Aufgabe es ist, die ihnen zugeteilten Blutmondgeborenen zu finden und zu erlösen. Wie sie das genau machen, weiß ich auch nicht, aber das wissen sie selber irgendwie. Auf jeden Fall sind die Monster dann von diesem Geburtsfluch befreit, und die Jäger haben ihre Lebensaufgabe sozusagen erfüllt. Ende der Geschichte."

Mara streichelte sanft über seinen Arm, als wollte sie die aufgestellten Härchen darauf wieder beruhigen. "Und dein Vater glaubte nun, dass in Sedemoid die Morde von Blutmondgeborenen verrichtet wurden, und deine Obsession damit ein Hinweis darauf sei, dass du da hin musst, um ihr Jäger zu sein?"

Arthur entzog ihr seinen Arm. So, wie sie das sagte, klang es noch viel schlimmer. Es klang einfach verrückt. "So ungefähr." Er wandte den Blick ab.

"Wieso hast du mich dann eigentlich wirklich angerufen? Du wusstest ja, dass ich aus Sedemoid war, hattest du nicht Angst?"

Arthur wand sich etwas. Nun musste er also mit der Wahrheit heraus rücken. "Ich wusste es nicht mehr", sagte er schlicht. Zu seinem großen Erstaunen nickte Mara bloß und fragte nicht nach.

"Daher warst du heute also so außer dir, als ich es noch einmal erwähnt habe. Und dann gleich die Mondblume... Wenn ich das gewusst hätte, das tut mir wirklich leid." Sie verzog das Gesicht und Arthur strich über die Falten, die sich dadurch gebildet hatten. Sie sollte nicht seinetwegen so fühlen.

"Aber du hast es nicht gewusst, du hättest nichts besser machen können. Ich hatte eine tolle Zeit mit dir heute!" Ihre Wange schmiegte sich nun in seine Handfläche. Ein Seufzer entglitt ihr. "Ich weiß. Und wie stehst du jetzt dazu, wo du weißt, woher ich bin?" Ihre Stimme war leise, fast ängstlich. Arthur schenkte ihr ein beschwichtigendes Lächeln, griff nach einer ihrer braunen Strähnen und zwirbelte sie um seine Finger. "Du meinst, wie ich zu dir stehe?" Sie legte den Kopf schief und blickte ihn von unten an, als ob sie mit einer Abweisung seinerseits rechnete. Arthur schüttelte den Kopf. "Wenn ich ehrlich bin, macht es mir ein wenig Angst. Aber was wäre schon das Leben, wenn alles so laufen würde, wie wir es uns wünschen? Ich bin hier, mit dir, es fühlt sich richtig an. Wäre diese Sache nicht, wäre es wahrscheinlich zu perfekt, um wahr sein zu können."

Arthur konnte richtig sehen, wie die Anspannung von Mara abfiel. Sie rutschte auf ihn zu und schlang einen Arm um seinen Nacken, mit der anderen Hand fuhr sie durch seine Haare. "Da bin ich aber beruhigt."

Ihre Blicke verfingen sich in einander, und Arthurs Herz pochte bereits in einem unregelmäßigen, viel zu schnellen Rhythmus. Ihr Gesicht näherte sich dem seinen und sie drückte ihre Lippen auf seine, warm und weich. Mit einem leisen Stöhnen gab sich Arthur dem Kuss hin, umschlang mit einem Arm ihre Körpermitte, und stütze sich mit dem anderen hinter ihr ab, als sie sich langsam zurückgleiten ließ. Aus Angst, er könnte zu schwer für sie sein, verlagerte er sein Gewicht auf seine Arme, während er sie weiter küsste. Ihre Hände wanderten seinen Rücken hinauf und hinunter, dann seine Brust, seinen Kopf. Sie strichen über sein Gesicht, als wollte sie sich jede Struktur darauf einprägen, um sie später detailgetreu nachzeichnen zu können.

Er machte langsam einen Arm frei, um mit der Hand über ihr Haar streichen zu können. Sein Daumen glitt federleicht über ihre Schläfe, ihre Wange, ihr Kinn. Als seine Hand plötzlich an ihre Halskuhle gewandert war, stoppte er sie dort. Wie weit durfte er wohl gehen? Jedem anderen Mädchen hätte er in dieser Situation wahrscheinlich bereits das Oberteil ausgezogen, doch Mara war anders. Also rang er sich dazu durch, die Hand wieder nach oben gleiten zu lassen und nahm sie wieder als Stütze für seinen Körper.

Maras Hand verweilte inzwischen bereits gefährlich lange an seinem hinteren Hosenbund, wagte sich jedoch nicht weiter hinunter. Stattdessen schob sie sich plötzlich unter sein Shirt, ihre Finger tanzten auf seinem Rücken, berührten seine Haut und schienen ihn zu verbrennen. Sein Kuss wurde abwesender, viel zu sehr konzentrierte er sich darauf, was sich auf seinem nackten Körper abspielte. Mara schien dies zu bemerken, denn sie zog ihre Hand langsam wieder zurück. Noch ein paar Mal küssten sie sich, dann legte sie beide Hände auf seine Brust. Er drückte sich von ihr weg und sah auf sie hinab. Ihre Augen blitzten, die Wangen waren gerötet und die Lippen viel dunkler als zuvor. Ebenso wie sein Atem ging auch der ihre viel schneller, und er verlangsamte sich erst, als Arthur seitlich von ihr herunterrutschte.

Anstatt irgendetwas zu sagen, presste Mara ihr Gesicht an seine Brust. Die Geste hatte beinahe etwas Verzweifeltes, und so streichelte Arthur ihr beruhigend über den Rücken. Es dauerte einige Minuten, dann zog sich Mara wieder zurück und warf ihm einen zerknirschten Blick zu. "Tut mir leid, aber ich weiß überhaupt nicht, wie ich mit solchen Situationen umgehen soll."

Arthur lächelte ihr aufmunternd zu, doch in seinen Augen stand ein Fragezeichen. Mara verdrehte die Augen und wandte den Blick ab. Sie setzte sich auf und zog die Knie an die Brust. "Ich hab's dir ja auf der Party schon gesagt - ich mach so etwas normalerweise nicht." Es klang, als wolle sie sich für irgendetwas rechtfertigen. Dennoch war ihre Stimme schüchtern.

Arthur schüttelte den Kopf. "Wenn du mit irgendetwas nicht einverstanden bist, oder wenn dir etwas zu viel wird, sag es einfach!" Er wusste nicht genau, ob sie darauf hinaus wollte, dass sie eventuell noch Jungfrau war, oder einfach nicht sofort mit fremden Kerlen herumknutschte, aber dass sie womöglich etwas machte, nur weil sie sich dazu gedrängt fühlte, wollte er wirklich nicht.

Mara nickte. "Ich nehm's mir vor." Dann seufzte sie. "Aber das ist halt auch nicht so einfach, wie es klingt. Du ke-", sie unterbrach sich selbst. "Ach, ist egal." Sie legte die Stirn auf ihre Knie und umschlang diese mit ihren Armen. Arthur legte einfach nur eine Hand auf ihren Rücken und ließ sie dort beinahe bewegungslos liegen. Er fühlte, wie ihr Brustkorb sich mit jedem Atemzug ausdehnte und wieder zusammenzog, er fühlte ganz leicht die einzelnen Wirbel und die Rippen, die von ihnen ausgingen.

Ein Blick aus dem Fenster ließ ihn aufseufzen. Er verstärkte den Druck seiner Hand und zog sie dann herunter. "Es ist schon fast dunkel draußen. Wie sieht denn der restliche Plan aus für heute?"

Maras Rücken streckte sich und sie stellte die Füße wieder auf den Boden. Dann schaute sie auf eine große Uhr an der Wand hinter ihnen. Arthur folgte ihrem Blick - es war bereits siebzehn Uhr. "Mein letzter Bus geht um dreiviertel sechs", murmelte er.

Mara kramte ihr Handy aus der Hosentasche. "Dann ruf ich mal meine Mama an, dass sie uns holen soll. Wir können dich bei der Bushaltestelle aussteigen lassen, dann geht sich das sicher zeitlich noch aus!"

Ungläubig schüttelte Arthur den Kopf. "Der Tag heute ist so schnell vergangen."

Mara stimmte ihm nickend zu. "Aber es war ein schöner Tag."

Arthur grinste. "Definitiv." Dann stand er auf und griff nach der Decke, um sie zusammen zu legen.

Mara hatte inzwischen bereits die Nummer ihrer Mutter gewählt und fragte diese nun, ob sie kommen könnte.

"Sie wird in etwa zwanzig Minuten hier sein", erklärte sie Arthur, nachdem sie aufgelegt hatte.

"Okay. Wie nutzen wir diese letzten Minuten denn am besten?"

Mara überlegte. "Hm. Hier sieht alles wieder aus wie zuvor, ich geh noch schnell unsere Teetassen abwaschen." Sie schnappte sich besagte Gefäße und verschwand in der Küche. Arthur stand zunächst etwas unschlüssig da, dann fiel sein Blick auf das Feuer und er beschloss, es auszumachen. Bereits Sekunden später musste er jedoch feststellen, dass das nicht so einfach war. Es gab einige Knöpfe auf diesem Bedienfeld, und Arthur wollte nicht das ganze Haus in die Luft sprengen. Also ließ er es bleiben und ging stattdessen zu Mara in die Küche.

"Das Feuer brennt noch, aber ich kann es leider nicht ausschalten", berichtete er. Sie war gerade dabei, die zweite Tasse abzutrocknen.

"Ich komme gleich, dann zeige ich es dir."

Arthur fühlte, wie sich Wärme in ihm ausbreitete. Er folgte Mara wieder zurück ins Wohnzimmer, wo sie ihm die richtige Taste zeigte. Sobald sie gedrückt war, waren die Flammen weg.

"Wie praktisch." Er ging einen Schritt näher an den Kamin und besah die Holzscheite darin. Obwohl es die ganze Zeit so ausgesehen hatte, als würden sie brennen, waren sie gerade einmal ein bisschen schwarz.

"Wollen wir nach draußen gehen?", fragte Mara. Arthur nickte und gemeinsam gingen sie in den Vorraum, wo sie sich in ihre Jacken warfen und die Schuhe anzogen.

Draußen erwartete sie ein kalter Wind. Mara schloss das Haus von außen ab und verschwand dann um die nächste Ecke, um den Schlüssel an seinem Platz zu deponieren.

"So...", begann sie, als sie Arthur wieder gegenüberstand.

"So...", antwortete er, ebenfalls sehr geistreich. Als ihm auffiel, dass sie beide Hände tief in den Jackentaschen vergraben hatte, musste er grinsen. Sie standen einander gegenüber wie ein Spiegelbild des jeweils anderen.

Mara seufzte. "Meine Mama müsste eigentlich jeden Moment hier sein."

Kaum hatte sie den Satz beendet, erschienen auch schon Scheinwerfer eines Autos auf der Zufahrtsstraße. Das Haus war weit und breit das einzige hier, und die Straße war eine Sackgasse, die nur hierher führte.

Gemeinsam setzten sie sich in Bewegung, und schlüpften in das mollig warme Auto.

"Mama, das ist Arthur; Arthur, das ist meine Mama", stellte Mara die beiden einander vor. Als die Frau sich umdrehte, sah Arthur sofort, von wem Mara die Augen geerbt hatte. "Danke, dass Sie mich mitnehmen!" Da sie im Auto saßen, unterließ er es, ihr die Hand zu reichen.

"Keine Ursache, ich hoffe, ihr hattet einen schönen Tag?" Arthur nickte artig, und sie fuhr fort: "Und sag bitte Katharina zu mir."

Wieder nickte er, und Mara meldete sich zu Wort. "Los, lass uns fahren, sonst verpasst er seinen Bus noch!"

Während der Fahrt tauschten sich Mutter und Tochter über belanglose Dinge aus, hin und wieder fiel eine Frage, die an Arthur gerichtet war, aber er hielt sich Großteils im Hintergrund. Als sie dann die Bushaltestelle erreicht hatten, stieg Mara noch mit aus. Ihre Verabschiedung war etwas komisch, sie umarmten sich seltsam gezwungen, aber Arthur wollte sie vor ihrer Mutter nicht küssen und wusste außerdem nicht, ob sie das denn überhaupt gewollt hätte.

"Danke für den wunderschönen Tag, Arthur."

Er drückte ihre Hand. "Ich hoffe, wir können das mal wiederholen." Sie schwiegen, keiner ließ jedoch die Hand des anderen los. Als Arthur in der Ferne einen Automotor hörte, setzte er noch nach: "Du bist ein tolles Mädchen, Mara."

Geschmeichelt lächelte sie, dann trat sie einen Schritt auf ihn zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. "Mach's gut."

"Bis bald!"

Ihre Hände trennten sich, Mara stieg in das Auto, und Arthur winkte ihnen hinterher. Mit einem Mal fühlte er sich unglaublich leer.

 

Am nächsten Tag ließ Arthur die Geschehnisse des Vortags noch einmal Revue passieren. Er konnte es immer noch nicht ganz fassen, dass zwischen Mara und den Morden mehr oder weniger eine Verbindung bestand. Als er ihr von den Blutmondgeborenen erzählt hatte, war sie ganz ruhig geblieben, hatte nicht eine Miene verzogen. Sollte er dem Ganzen vielleicht doch mehr Glauben schenken, als er es bisher getan hatte?

Gegen Mittag entschloss er sich, aufzustehen und setzte sich an den Computer. Er öffnete sein Postfach und suchte nach der Mail von Alice. Er würde ihr seine Situation schildern und schauen, was sie dazu sagte. Sobald sich das Antwortfeld geöffnet hatte, begann er zu tippen:

 

Hallo Alice!

Tut mir leid, dass ich so lange nichts von mir habe hören lassen, aber ich war beschäftigt. Mit einem Mädchen. Als ich sie kennen lernte, dachte ich, alles würde gut werden, denn mein Interesse für die Mordfälle sank rapide ab. Wir haben uns auf einer Party kennen gelernt, wo ich am nächsten Tag leider nicht mehr viel wusste, aber sie ging mir nicht aus dem Kopf. Also hab ich mir ihre Nummer besorgt, und gestern ist es nun endlich zu einem Treffen gekommen. Da hat sich herausgestellt, dass sie aus demselben Ort ist, wo auch die Morde passiert sind.

Natürlich kann das alles nur ein dummer Zufall sein, aber dafür erscheint es mir doch zu unwahrscheinlich.

Daher wollte ich dich fragen, ob es sein kann, dass das Schicksal oder was auch immer, Mara 'gesandt' hat, um mich nach Sedemoid zu bringen? Und wenn dem so ist, wie es dann weitergehen wird? Ich mag Mara wirklich, aber wenn sie nur ein Mittel zum Zweck ist... ich weiß nicht, wie ich dazu stehen soll.

Liebe Grüße,

Arthur

 

Er zögerte noch kurz, ehe er auf Senden klickte. In der Mail steckte mehr Wahrheit, als er sich vorgenommen hatte. Aber was soll's, dachte er sich. Sie kannte ihn sowieso nicht.

Nachdem die Mail gesendet war, lehnte Arthur sich in seinem Schreibtischsessel zurück und wippte ungeduldig mit dem Bein. Er wartete ein paar Sekunden, dann aber stand er auf. Es war äußerst unwahrscheinlich, dass Alice gerade ihre Mails checkte und gleich antworten würde.

Also ging er hinunter und machte sich eine Schale Müsli als Frühstück. Als er die Küche betrat, war dort bereits sein Vater.

"Ah, du bist also auch schon munter! War es so ermüdend gestern, dass du dich heute erst um", er warf einen Blick auf die Wanduhr neben dem Kühlschrank, "halb zwei hier blicken lässt?"

Obwohl Arthur nicht wollte, breitete sich bei dem Gedanken an den vergangenen Tag ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. "Wir hatten durchaus einen ereignisreichen Tag", verkündete er.

Sein Vater grinste. "Soso, und ist sie immer noch so toll wie du sie in Erinnerung hattest?"

Es gab selten Momente in Arthurs Leben, in denen er rot wurde. Aber bei dieser Frage fühlte er, wie plötzlich sein Gesicht heiß wurde und er konnte dem Blick seines Vaters nicht standhalten. Daher griff er schnell nach seinem Frühstück und ging damit in das Speisezimmer an den Tisch. "Mhm", murmelte er, bereits mit Müsli im Mund. Dann schluckte er. "Mara ist wirklich toll", fügte er dann noch hinzu, obwohl sein Gesicht vor lauter Hitze bereits zu pochen begann.

Sein Vater lachte nur leise, beließ es allerdings dabei.

"Ich werde wahrscheinlich von Donnerstag bis Samstag nicht da sein, ich habe einen Termin außerhalb. Du kommst zurecht?"

Arthur war froh über den Themenwechsel. "Klar, weißt du doch. Vielleicht lade ich Moe mal ein, dann stören wir dich nicht."

"Natürlich, aber versucht, euch nicht wieder so zu betrinken. Dein Alkoholpensum hast du für dieses Monat schon ganz gut ausgeschöpft. Ach, was sage ich, eigentlich für das restliche Jahr!"

Welches genaugenommen sowieso nurmehr aus knappen sechs Wochen bestand.

"Jaja, ich weiß. Das war eine Ausnahme."

"Will ich auch hoffen! Sonst muss ich womöglich meine erzieherischen Fähigkeiten hinterfragen, und das wollen wir ja beide nicht, stimmt's?"

Gespielt schockiert riss Arthur die Augen auf. "Oh nein, garantiert nicht!"

Er löffelte sein Müsli leer, dann ging er wieder nach oben. Sein Email-Ordner war immer noch geöffnet, er aktualisierte ihn. Und tatsächlich: eine neue Nachricht. Sie war von Alice.

Mit Herzklopfen öffnete Arthur sie.

 

Lieber Arthur!

So, wie du mir das schilderst, klingt das wirklich wie ein Eingriff des Schicksals.. Aber nur, weil es Mara zu dir geführt hat, heißt das ja noch nicht, dass das, was ihr habt oder fühlt, nicht echt ist! Allerdings würde ich wirklich Acht geben, wenn du dich nach wie vor entscheiden solltest, deiner Aufgabe nicht so folgen. Denn was das Schicksal geben kann, kann es genau so gut auch wieder nehmen. Ich will nicht den Teufel an die Wand malen, aber an deiner Stelle würde ich mich entscheiden, was du willst.

Ich wünsche dir nur das Beste und hoffe, du hältst mich weiterhin up to date!

Liebe Grüße,

Alice

 

Arthur schluckte heftig. Zwar hatte er mit so etwas in dieser Art gerechnet, aber es dann schwarz auf weiß zu lesen, war dann doch etwas anderes. Was sollte er denn bloß tun? Er konnte Mara nicht in dieses Schlamassel mit hinein ziehen. Denn wenn Alice Recht hatte und das Schicksal ihrer beiden Wege wieder trennen wollte, hatte es dafür viele Möglichkeiten. Und diese mussten wahrscheinlich nicht unbedingt immer gut sein.

Frustriert verschränkte er die Finger an seinem Hinterkopf. Alice hatte Recht. Er musste eine Entscheidung treffen. Aber welche?

Arthur stand auf, er konnte nicht mehr still sitzen. Unruhig tigerte er in seinem zimmer auf und ab. Er musste irgendwie herausfinden, was in Sedemoid war, das ihn anzog. Das hieß, er musste nach Sedemoid.

Jetzt blieb nur noch die Frage, für wie lange. Würden sich die Blutmondgeborenen, falls sie existierten, ihm gleich offenbaren? Musste er erst ein wenig warten, oder sie gar suchen?

Ansonsten wäre es ganz einfach - er könnte einen Besuch in Sedemoid mit einem Tag mit Mara verbinden. Damit würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Aber das setzte wieder voraus, dass er die Monster gleich fände.

Ach, was soll's, dachte er. Selbst, wenn seine Überlegungen falsch waren, ein Besuch bei Mara war generell eine gute Idee. Es war zwar ein weiter Weg, aber es drängte ja nichts. Wobei... wenn sein Vater weg war, würde er nicht mitbekommen, wenn er auch nicht hier wäre. Sein Vater war zwar in fast jeder Hinsicht ein toller Vater, aber eines ließ er nicht durchgehen: Schule schwänzen.

Wenn Arthur jedoch vier Tage in Sedemoid hätte, und nicht nur zwei am Wochenende, wären seine Chancen unwahrscheinlich viel größer, und außerdem würde sich die lange Fahrt dann auch auszahlen.

Mit einem Grinsen legte sich Arthur aufs Bett und ging in Gedanken noch einmal den ganzen Plan durch. Dann setzte er sich wieder auf und wählte Maras Nummer.

 

"Im Tiefkühlfach sind ein paar Pizzen, die kannst du dir warm machen. Und ich möchte nicht in ein Chaos nach Hause kommen, also falls Moe kommt, räumt bitte danach auch wieder auf!"

Sein Vater war bereits fertig zu gehen, in einer Hand lagen bereits seine Autoschlüssel.

"Klar, wie immer. Ich komm schon zu Recht."

"Sehr gut. Ich werde dann Samstagabend wieder zu Hause sein!" Er war schon fast weg, als Arthur ihm noch nachrief.

"Ach, und Paps? Ich werde vielleicht am Wochenende Mara besuchen. Also sogar ziemlich wahrscheinlich. Kann also sein, dass ich Samstag nicht da bin! Aber ich schreib dir, wenn ich es fix weiß!"

Sein Vater blieb kurz stehen, schien zu überlegen, ob er näher nachfragen sollte, aber ein Blick auf die Uhr ließ ihn sich dagegen entscheiden. Er hob also nur kurz die Hand und winkte Arthur zu. "Ist in Ordnung. Bis am Wochenende dann!"

"Tschüss!"

Die Tür fiel ins Schloss und in Arthurs Bauch breitete sich ein aufgeregtes Gefühl aus. Schnell sprang er vom Sessel auf, packte seine Müslischale, stellte sie in den Geschirrspüler und griff nach zwei Semmeln aus der Brotdose. Diese belegte er jeweils mit Schinken und Käse und gab sie in eine Jausenbox. Dann sauste er die Treppe hoch, holte dort seinen fertig gepackten Rucksack und stopfte unten den Proviant hinein. Eine Wasserflasche bildete den Abschluss, dann ging Arthur in Gedanken noch einmal kurz durch, ob er auch nichts vergessen hatte. Zahnbürste, Kleidung zum Wechseln, Geld, Jause. Sein Schlüssel war in der Manteltasche, ebenso sein Busausweis, mit dem er vergünstigt fahren konnte. Alles da.

Eilig schlüpfte er in seine Schuhe und den Mantel, drehte die letzten Lichter ab und verließ das Haus.

 

Puh, gerade noch rechtzeitig, dachte Arthur, als die automatischen Türen des Busses hinter ihm schlossen. Er war die letzten paar Meter gelaufen, ansonsten wäre ihm der Bus vor der Nase davon gefahren. Obwohl sein Vater relativ pünktlich weggefahren war, hatte Arthur anscheinend die Zeit etwas unterschätzt. Aber nun war sich alles ausgegangen, und er ließ sich auf einen Sitz weiter hinten in dem Gefährt fallen. Den Rucksack schmiss er auf den zweiten Sitz neben sich, dann holte er sein Handy und die Ohrstöpsel heraus und ließ sich von hartem Rock die Ohren zu dröhnen.

Eine kurze SMS an Moe, dass er die nächsten vier Tage weg sein würde, war schnell geschrieben. Sekunden später kam eine Antwort. Sein Freund fragte nach dem Grund.

Mara, antwortete Arthur kurz und bündig. Zurück kam nur mehr ein vielsagender Smiley, bei dem Arthur nur die Augen verdrehte und das Handy wieder wegsteckte.

Die ersten zwei Stunden vergingen relativ schnell, aber nach dem ersten Mal umsteigen hatte Arthur seine gesamte Playlist durch und so suchte er auf YouTube nach Nachschub, der ihn allerdings nicht wirklich zufriedenstellte. Schließlich nahm er die Stöpsel aus den Ohren und öffnete den Reisverschluss seines Rucksacks. Er entnahm eine Semmel, die er innerhalb von wenigen Minuten gegessen hatte. Mit ein wenig Wasser spülte er die letzten Reste hinunter, dann packte er alles wieder ein. Kurz überlegte er, ob er die zweite Semmel auch gleich essen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Er würde später auch noch Hunger haben, und im Moment war es nur der Appetit, der ihn glauben ließ, hungrig zu sein.

Seufzend lehnte sich Arthur zurück und ließ den Blick aus dem Fenster gleiten. Wiesen, Felder, eine kleine Ortschaft, wieder Felder, ein Wald, wieder eine Ortschaft; Arthurs Lider wurden immer träger. Eine Vibration seines Telefons riss ihn schließlich aus seinem Halbschlaf. Hektisch kramte er danach, und als sein Blick auf die Uhrzeit fiel, sah er sich gehetzt im Bus um, bis er am Anzeigebildschirm ganz vorne die nächste Station las. Er stieß lautstark Luft aus. Er hatte seine Ausstiegsstelle noch nicht verpasst. Aber er konnte sich schön langsam bereit machen, denn die übernächste war es.

Der nächste Bus war bereits der letzte, und hier verging die Zeit wieder schneller. Arthurs Gedanken hingen nur an Mara, ob sie gerade ebenfalls an ihn dachte, ob sie sich schon freute, oder ob er sich wohl zu vorschnell aufgedrängt hatte. Am Telefon war sie eher verhalten gewesen, er hatte nicht einschätzen können, ob sie ihn wirklich bei sich haben wollte, oder nicht.

Na und wenn nicht, würde er eben die gesamten vier Tage auf Monsterjagd gehen.

 

Es waren nun bereits sicher zwanzig Minuten vergangen, in denen sie nur an Feldern, Wiesen und Wäldern vorbeigefahren waren. Keine Menschenseele weit und breit. Und dann plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Ortstafelschild: Sedemoid.

Arthur spürte einen Energieschub, der durch seinen Körper spülte. Wie gebannt klebten seine Augen an dem Landschaftsbild, das sie passierten. Kleine Einfamilienhäuser nebeneinander, allerdings jedes individuell verschieden. Nette Gärten, hin und wieder saß eine Katze darin. Nahe dem Ortszentrum war dann auch ein Restaurant Zum goldenen Rössel, doch es schien an diesem Tag nicht bewirtschaftet zu sein, denn es brannte kein Licht.

Der Bus hielt neben der Kirche, an der Arthur dann empor blickte. Sie wirkte auf ihn eher plump, mit kleinen Fenstern, dicken Mauern, und war gefühlte tausend Jahre alt. Ein Wunder, dass der Eintritt noch nicht verboten war.

Suchend blickte Arthur sich um. Mara hatte gemeint, sie hätte bis ein Uhr am Nachmittag Unterricht, aber er könnte sie ja abholen. Die Schule wäre direkt neben der Kirche. Arthur musste diese allerdings erst halb umrunden, ehe er das große, gelbe Gebäude mit der Aufschrift Grund- und Mittelschule Sedemoid entdeckte. Es war ein vergleichsweise großes Gebäude, Arthur konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Ort so viele Schüler haben konnte.

Er näherte sich dem Haupteingang und blieb dann jedoch kurz davor stehen. Mara würde wahrscheinlich hier herauskommen, sobald sie fertig war.

Etwas unschlüssig warf Arthur einen Blick auf sein Handy. Zwölf Uhr Siebenundvierzig. Zehn Minuten also noch. Irgendwie kam er sich komisch vor, hier so herumzustehen. Aber er war auch der einzige, also würde sich niemand fragen, was dieser Fremde hier wollte. In einem Dorf wie diesem kannte sich ja gewiss jeder.

Arthur beschloss, sich an die Wand neben dem Haupteingang zu stellen, um dort auf Mara zu warten. So nahe am Gebäude würde er hoffentlich nicht so sehr auffallen, wie mitten auf dem kleinen Schulhof.

Endlich hörte er ein Läuten aus dem Inneren der Schule. Nun trat er doch ein paar Schritte vor, und nach wenigen Minuten verließen die ersten Schüler das Gebäude. Sie waren aus allen Altersgruppen: Schulanfänger von sechs bis zehn, aber auch andere in seinem Alter, und manche schätzte er sogar auf achtzehn oder neunzehn. Diese waren allerdings eindeutig in der Unterzahl.

Stirnrunzelnd dachte Arthur darüber nach, ob wohl heute Nachmittag generell schulfrei war, nachdem alle zur gleichen Zeit aus zu haben schienen, als Mara in seinem Blickfeld erschien. Als sie ihn sah, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Arthur ließ sich sofort davon anstecken.

"Hallo!" Mara blieb eine Armlänge von ihm entfernt stehen. Ihre Haare waren heute zusammengebunden, und eine rote Jacke betonte die blauen Augen ungemein.

Arthur ging einen Schritt auf sie zu und wartete kurz ihre Reaktion ab, ehe er sie auf die Wange küsste. Zwar war ihm bewusst, dass ihr das vielleicht vor ihren Schulkollegen unangenehm sein könnte, aber er wollte auch nicht wie eingefroren dastehen. "Hallo."

Nur ungern wandte er den Blick von ihr ab und betrachtete kurz die zwei Mädchen hinter Mara. Es schienen wohl ihre Freundinnen zu sein, denn sie grinsten sich vielsagend an, jede flankierte Mara an einer Seite. Die eine war blond, und die andere ebenfalls braunhaarig. Aber keine konnte mit Mara mithalten.

Diese drehte sich nun zu den beiden um und deutete kurz auf Arthur. "Das ist Arthur." Dann schaute sie kurz Arthur an, "Arthur, das sind Mary und Louise“, sie wedelte mit ihrer Hand zuerst Richtung der Blonden, dann zu der anderen.

Arthur nickte ihnen zu und bewahrte ein freundliches Lächeln, welches die zwei erwiderten. Das war es aber schon an Kommunikation zwischen ihnen, und Mara in ihrer Mitte war sichtlich unwohl. Sie drehte sich zu ihren Freundinnen, machte allerdings einen Schritt zur Seite in Arthurs Richtung. "Wir sehen uns dann morgen", murmelte sie und lächelte gezwungen. Ihre Hände steckten in den Jackentaschen und ihr Blick wanderte gen Himmel.

Mary zwinkerte ihr zu. "Na dann, viel Spaß euch beiden!"

Louise beließ es bei einem einfachen Tschüss, und die beiden machten sich auf und entfernten sich.

Arthur sah ihnen kurz nach, dann wandte er sich wieder Mara zu. Diese wirkte bereits viel gelöster als vorhin und in ihren Augen war bereits wieder das Funkeln zu sehen, das Arthur zuvor so vermisst hatte.

"Hast du Hunger? Ich hatte vor, mir zu Hause Nudeln zu machen, wenn du willst, mach ich für dich auch welche mit!", schlug sie vor.

"Klar, Nudeln klingt gut."

"Super!"

Sie waren inzwischen die letzten, die noch am Schulhof waren.

"Gehen eigentlich alle aus Sedemoid auf diese Schule?", begann Arthur schließlich ein bisschen Small Talk zu machen.

Ironisch zog Mara die Augenbraue in die Höhe. "Hast du bei deiner Fahrt hierher Zivilisation gefunden, die näher als eine halbe Stunde entfernt ist?" Sie seufzte. "Manche aus den höheren Klassen sind schon wo anders, aber die fahren dann meistens über eine Stunde."

"Und du willst aber hier bleiben?"

"Ich muss wohl... Meine Mom arbeitet ganztags, und jemand muss sich um meine kleine Schwester kümmern. Kathy ist momentan vier."

Arthur hörte den Missmut in ihrer Stimme. "Würdest du gerne wo anders hin gehen, wenn die Situation es anbieten würde?"

Maras Schultern hoben und senkten sich. "Wer weiß. Aber sie ist es nicht, also wieso groß an das Was-Wäre-Wenn denken. Ändern kann ich es sowieso nicht."

Sie waren nun bereits wieder auf Höhe der Kirche, und Mara schlug plötzlich eine Kurve nach links ein. "Komm, es ist nicht mehr weit."

"Ist denn Kathy jetzt auch zu Hause?"

Mara schüttelte den Kopf. "Nein, Dienstag und Donnerstag bleibt sie bis fünf in einer Ganztagsbetreuung."

Ihre Schritte wurden schneller, und Arthur hatte Mühe mitzuhalten. "Wieso nur diese zwei Tage?"

"Ach, frag mich nicht. Damit sie noch Familienanschluss hat, meinte meine Mom mal. Aber damit kann sie ja nur mich gemeint haben, sie ist ja selber nie da."

"Das tut mir leid."

Mara blieb ruckartig stehen und sah in zerknirscht an. "Ich plappere dich zu mit meinem ganzen Familiendrama, das wollte ich nicht."

Arthur schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. "Kein Problem, wirklich nicht."

Sie atmete auf. "Ich bin wirklich froh, dass du da bist." Mit diesen Worten ging sie wieder weiter und sperrte schließlich drei Häuser weiter die Haustüre auf. Das Haus sah von außen zwar relativ neu aus, allerdings war der kleine Vorgarten sehr karg wirkte eher ungepflegt. Als Arthur eintrat, stolperte er fast über etwas, das sich bei näherem Betrachten als Bauklotz entpuppte.

"Tut mir leid, das ist von Kathy. Ihre Sachen liegen hier überall herum, da kann man aufräumen, so viel man will." Mara hatte die Hände vor ihrem Körper ineinander verschlungen und stieg von einem Fuß auf den anderen. Ihr Gesicht zeigte nach unten und sie sah Arthur nicht in die Augen. Jetzt, wo sie alleine waren, trat er auf sie zu und legte die Arme um sie. Er vergrub sein Gesicht in ihren Haaren und spürte, wie langsam die Spannung von ihr abfiel. Schließlich seufzte sie und erwiderte die Umarmung.

Einige Minuten standen sie so da, ohne ein Wort zu sprechen, bis sich Mara löste. Sie wirkte nun wieder ein bisschen mehr wie sie selbst, was Arthur freute.

"Ich mach dann mal die Nudeln", kündigte sie an und ging durch eine Tür, hinter der sich wahrscheinlich die Küche verbarg. Arthur folgte ihr. "Wo kann ich denn helfen?"

Überrascht drehte Mara sich zu ihm um, hatte sich jedoch schnell wieder gefangen. Sie überlegte einen Moment und trug ihm dann auf, Wasser im Wasserkocher zu erhitzen. Sie selbst holte währenddessen zwei Töpfe aus einem Kasten, einen für die Nudeln, und einen für die Soße. Als Arthur das kochende Wasser schließlich in den höheren der beiden goss, stellte er erleichtert fest, dass alles sauber war.

Dieser Raum war aber generell ordentlicher als das Vorzimmer - in dem Spülbecken lagen lediglich zwei Teller, ein paar Messer und eine Tasse. Der Boden war frei von Spielzeug oder Dreck.

Als Soße kippte Mara den Inhalt eines Einmachglases in den Topf und so war das Mittagessen schnell zubereitet. Mara richtete zwei Teller an, und Arthur stellte zwei Gläser und einen Wasserkrug auf den kleinen Tisch neben dem Kühlschrank. Zwar hatte Mara angeboten, im Speisezimmer zu essen, aber Arthur machte es nicht aus, hier zu essen.

 

"Ich weiß, das ist vielleicht kein Thema, das man beim Essen besprechen sollte", begann Arthur, als er sein Teller geleert hatte. "Aber ich hab's dir am Telefon ja bereits angekündigt."

Mara nickte. "Du willst die Blutmondgeborenen suchen." Sie sprach es mit einer solchen Gelassenheit aus, dass Arthur sich fast normal vorkam. Aber eben nur fast.

"Genau. Unter tags ist ja noch nie etwas passiert, wenn ich mich richtig erinnere?" Er warf ihr einen fragenden Blick zu, und Mara nickte bestätigend. Daraufhin sprach er weiter. "Gut. Was hältst du dann davon, wenn wir heute einen kleinen Spaziergang in den Wald machen?" Er zwinkerte ihr zu und Mara kicherte.

"Ein kleiner Spaziergang also, und der romantische Höhepunkt führt uns wahrscheinlich zu der Lichtung, auf der die Leichen gefunden wurden?"

Arthur verdrehte die Augen. "Wenn du es so formulieren willst. Aber wäre das möglich? Ich will nicht, dass du dich dabei fürchtest oder so." Er zog die Stirn in Falten, doch Mara schüttelte den Kopf.

"Quatsch. Wie du schon gesagt hast, am Tag ist noch nie etwas passiert. Außerdem hat es bis jetzt ja nur junge Männer erwischt, also wärst eher du in Gefahr."

"Aber ich bin ja ein Jäger." In Arthurs Stimme schwang bitterer Sarkasmus mit.

Mara griff nach den beiden Tellern und erhob sich. Arthur nahm den Rest vom Tisch mit und sie trugen alles in die Küche.

"Na dann, nichts wie los!", meinte Mara enthusiastisch.

Sie zogen sich wieder ihre Außenkleidung an und verließen das Haus. Draußen mussten sie nur wenige Minuten gehen, ehe sie das letzte Haus hinter sich gelassen hatten und auf den Wald zusteuerten. Auf Arthurs Armen breitete sich eine Gänsehaut aus. Seine Schritte wurden immer schneller, doch das bemerkte er erst, als Mara nach seiner Hand griff und ihn zurück hielt.

"Wir kommen schon noch hin, du musst nicht so laufen", witzelte sie.

Arthur war unfähig zu antworten. Er fühlte, wie jede Faser seines Körpers vom Wald angezogen wurde. Unsicher warf er Mara einen Seitenblick zu. "Spürst du das auch?", wisperte er, als könnte sie jemand belauschen.

Mara runzelte die Stirn. "Was meinst du?"

"Der Wald, es ist als würde er nach mir rufen."

In Maras Augen breitete sich Furcht aus, doch sie straffte sich und griff sogar nach Arthurs Hand. "Dann halte ich dich fest, dass er dich nicht wegnehmen kann."

Arthur klammerte sich an der ihm dargebotenen Hand fest, als hinge sein Leben davon ab. Je näher sie dem Wald kamen, desto stärker wurde der Sog. Ein Wind kam auf und blies ihnen in den Rücken. Schon bald waren sie so nahe, dass sie die Blätter rauschen hören konnten. Die Sonne wurde von Wolken bedeckt, als sie den Weg zwischen den ersten Bäumen betraten. Obwohl er noch nie dagewesen war, benötigte Arthur keine Führung von Mara. Zielstrebig verließ er den schmalen Weg und suchte sich seinen eigenen zwischen den Baumstämmen hindurch. Mara blieb stets nahe bei ihm, ihr Griff war mindestens so fest wie der seine.

Schließlich erreichten sie eine Lichtung. Abrupt blieb Arthur an ihrem Rand stehen, Mara stolperte fast in ihn hinein. Sie drängte sich eng an ihn, doch Arthur ließ das völlig kalt. Was zählte, war dieser Platz hier. Die Sonne war immer noch nicht wieder hinter den Wolken hervorgekommen, doch die Lichtung schien zu strahlen. Lauter Mondblumen bedeckten ihren Boden, doch diese hier waren nicht nur weiß, sondern überall benetzt mit roten Tropfen. Es sah so aus, als hätte der Mörder beim Töten der Opfer jeweils Blut großflächig verspritzt, das sich nun in die Blüten der Blumen eingebrannt hatte.

Arthurs Atem war langsam und gleichmäßig. All die Anspannung fiel plötzlich von ihm ab, und es machte sich ein warmes Gefühl der Geborgenheit in ihm breit. Seine Hand rutschte aus Maras feuchtem Griff und er ging ein paar Schritte in die Lichtung hinein. Maras verängstigtes Fiepen hinter ihm nahm er nicht wahr.

Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er sich langsam bückte und sanft über die Blumen strich. Als er danach seine Finger betrachtete, sah er das Blut, das an ihnen klebte. Als er davon kostete, schmeckte es metallisch und hinterließ einen bittersüßen Nachgeschmack. Ein plötzlicher Energiestoß ließ ihn taumeln. In seinen Adern pulsierte Adrenalin. Er fühlte sich, als könnte er jeden besiegen, der es mit ihm aufnehmen wollte. Die Welt gehörte ihm. Er durfte dieses Gefühl nie wieder verlieren.

Als Arthur den Blick hob, stand er noch einige Sekunden im Schatten. Doch dann brach die Sonne hinter den Wolken hervor und eine unendliche Müdigkeit breitete sich in Arthur aus. Er sackte in sich zusammen und das letzte, was er fühlte, war die nasse Berührung der Blütenblätter an seinem Gesicht.

 

Als er wieder zu sich kam, setzte er sich blinzelnd auf und blickte sich um. Er war immer noch im Wald auf der Lichtung, und es wurde bereits dunkel. Angst durchströmte ihn. Es war nicht ratsam, zu dieser Zeit hier zu sein.

Mara, schoss es ihm durch den Kopf und er rappelte sich auf. Mara war mit ihm hierhergekommen. Sie musste irgendwo sein. Suchend blickte er sich um, doch er konnte außer sich selbst keine andere Menschenseele entdecken. Angeekelt blickte er auf die Mondblumen am Boden. Sie hatten sich geschlossen und wirkten nun wie kleine, weiße Stöpsel auf den kurzen Stängeln. Der Platz hatte deutlich seine Atmosphäre verloren, die Arthur zuvor so verändert hatte.

Wo war Mara? Was war geschehen, während er weggetreten war? Schnell war er am Rand der Lichtung angekommen, dort, wo er das Mädchen zuletzt gesehen hatte. Doch der Platz war leer. Mara war wie vom Erdboden verschluckt.

War sie womöglich schon zurückgegangen? Aber wieso sollte sie ihn alleine zurücklassen. Vielleicht hatte sie Hilfe holen wollen. Arthur zog sein Handy heraus. Alle vier Balken waren dunkel, der Empfang hier war unerwartet gut. Wenn sie jemanden holen hätte wollen, hätte sie also auch einen Anruf tätigen können.

Oder war ihr vielleicht etwas zugestoßen? Arthurs Brust zog sich zusammen. Es wäre seine Schuld. Definitiv. Ohne ihn wäre Mara nie freiwillig in diesen Wald gegangen.

"Mara!", rief er. Einige Vögel flatterten aus dem Baum neben ihm in den nächtlichen Himmel. Ansonsten blieb es still. Arthur blickte gehetzt um sich. War es eine gute Idee, hier so laut auf sich aufmerksam zu machen? Wenn Mara wirklich etwas zugestoßen war, war es doch möglich, dass seine Rufe von jemand anderem gehört wurden.

Arthur begann zu laufen. Zweige brachen unter seinen Schritten, die Bäume rauschten an ihm vorbei. Er hatte kein Ziel vor Augen, keine Orientierung mehr. Er hoffte nur, dass er instinktiv die richtige Richtung eingeschlagen hatte. Immer wieder stolperte er, weil er entweder in ein Loch gestiegen war oder einen am Boden liegenden Ast übersehen hatte. Sein Atem ging immer schneller, das Herz pochte in seiner Brust. Der Himmel hatte sich nun bereits so stark verdunkelt, dass er immer weniger sah, wohin er eigentlich lief. Obwohl er sich erhitzt fühlte, wurden seine Finger, Ohren und die Nase in der Kälte taub. Ein Wind kam auf und peitschte ihm ins Gesicht, drückte Tränen aus seinen Augen, die wie kleine Klingen über seine Wangen liefen. Arthur keuchte auf, als er erneut strauchelte und hielt sich an einem Baumstamm fest. Die Rinde ritzte seine Handflächen auf, doch Arthur fühlte keinen Schmerz. So schnell es sein Körper erlaubte, war er wieder auf den Beinen und lief kopflos weiter.

Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, doch endlich lichtete sich der Wald vor ihm. Ein erleichtertes Schluchzen drang aus Arthurs Kehle hervor, als er aus der Finsternis auf die Wiese vor dem Wald stolperte. Doch er nahm sich keine Zeit zu verschnaufen, er musste weg hier, er musste zurück ins Dorf und nachsehen, ob Mara bei ihr zuhause war.

Seine Beine wurden immer schwerer, und als er schließlich schemenhaft einige Häuser erahnen konnte, verlangsamte er sein Tempo. Sein Atem rasselte, und er zitterte am ganzen Körper. Immer wieder blickte er sich gehetzt um, um sich zu vergewissern, dass ihm niemand gefolgt war.

Endlich erreichte er den Ortsrand. Die Kirchturmuhr schlug gerade zehn Mal. Wie lange hatte er auf dieser Lichtung gelegen? Wie lange war er zuvor darauf gestanden und sich voll und ganz dem Sog hingegeben, den sie auf ihn ausgeübt hatte? Es waren mindestens sieben Stunden vergangen, seit er mit Mara das Haus verlassen hatte.

Er ließ den Kirchenplatz hinter sich und bog in die Seitengasse ein, in der Mara wohnte. In manchen der Häuser brannte noch Licht, doch ansonsten wirkte der Ort wie ausgestorben. Niemand war auf den Straßen, und aus den Häusern drang kein Geräusch. Obwohl es keinerlei Straßenbeleuchtung gab, konnte Arthur gut sehen. Ein Blick in den Himmel verriet den Grund dafür: es war beinahe Vollmond.

Als er Maras Haus erreicht hatte, atmete er tief durch. Er hoffte, dass er nicht allzu schrecklich aussah. Falls ihre Mutter ihm öffnete, wollte er nicht, dass sie ihm vor Schreck die Tür vor der Nase wieder zu schlug. Aber ändern konnte er eh nichts mehr. Er fuhr sich nervös durch die kurzen Haare, dann betätigte er die Klingel. Einmal. Zweimal. Plötzlich erhellte sich ein Fenster und Arthur straffte seinen Rücken. Ungeduldig wartete er, bis er einen Schlüssel hörte, der sich im Schloss drehte. Sekunden später wurde die Tür einige Zentimeter weit geöffnet. Die Kette innen war noch eingehängt und verhinderte, dass er die Tür noch weiter geöffnet wurde.

Endlich erschien auch ein Gesicht in dem so entstandenen Spalt neben dem Türrahmen. Es war Mara. Eine Welle der Erleichterung durchflutete Arthurs Körper. Doch dann bemerkte er ihre Augen, die rot und geschwollen waren. Als Mara ihn erkannte, verdüsterte sich ihr Gesichtsausdruck. Stumm sah sie ihn abwartend an.

"Mara, ich hab mir Sorgen um dich gemacht", begann er stammelnd. "Du warst nicht mehr da, als ich zu mir gekommen bin. Ich dachte, dir ist was passiert!" Er machte einen Schritt auf sie zu und streckte die Hand nach ihr aus, woraufhin sie den Türspalt reflexartig verkleinerte. Verunsichert ließ er den Arm wieder sinken. "Geht es dir gut?"

Ihre Stimme war belegt und heiser, als sie antwortete. "Du hättest dich dort sehen sollen. Es tut mir leid, aber ich kann das nicht mehr." Mit diesen Worten ließ sie die Tür ins Schloss fallen, und ließ Arthur wie ein Häufchen Elend davor zurück.

 

Eine Weile stand Arthur einfach nur so da, ohne wirklich zu realisieren, was da gerade passiert war. Als die Erkenntnis langsam zu ihm durchdrang, trat er auf die Tür zu und hämmerte dagegen.

"Mara! Mara, mach auf!" Mit Schrecken sah er, dass er eine Blutspur an der Tür hinterließ, und er besah seine Hände: dass die Handflächen von seiner Flucht aus dem Wald aufgerissen waren, hatte er verdrängt.

Und ich bin mir vorhin damit auch noch durch die Haare gefahren!, schoss es ihm durch den Kopf und er konnte sich gerade noch davon abhalten, sich mit der flachen Hand auf die Stirn zu schlagen. Er musste jetzt schon aussehen wie ein Irrer, Blutverschmiert, zerkratzt und zerschunden. Kein Wunder, dass Mara ihn nicht einlassen wollte.

Er trat einen Schritt zurück und blickte sich um. Keine Menschenseele weit und breit. Wohin sollte er gehen? Mara reagierte nicht mehr, und er wollte nicht Sturm läuten und damit womöglich ihre kleine Schwester oder die hart arbeitende Mutter aufwecken. Aber irgendwo musste er sich waschen. Er wurde sich seinen Umständen immer bewusster. Sein Nacken klebte vom Schweiß, sein Gesicht brannte, wahrscheinlich hatten ihn im Wald viele Zweige schlimm zugerichtet. Seine Glieder schmerzten, und sein Kopf dröhnte.

Er versuchte es noch einmal, und klopfte wieder auf dieselbe Stelle. Wenn schon einmal Blut dort war, war es ja nun auch schon egal. "Mara! Lass mich bitte rein!"

Doch keine Reaktion.

Verdammte Scheiße! Er holte mit dem Bein aus und trat in die Luft. Ihm war zum Heulen zumute. Was war es eigentlich gewesen, dass die letzten Stunden so schief laufen hatte lassen? Wann hatte Mara beschlossen, ihm nicht mehr zu trauen? War es bereits am Weg zum Wald gewesen, als er ihr von seiner Hingezogenheit erzählte? Oder später, als er ohne sie den richtigen Weg fand? War es erst auf der Lichtung passiert, als er so von ihrer Schönheit überwältigt gewesen war? Oder erst vorhin, als er blutverschmiert um Einlass gebeten hatte?

Es war zum Verzweifeln. Aber irgendwo musste er hin. Arthur warf noch einen letzten Blick durch ein Fenster neben der Haustüre, doch nachdem es finster war, konnte er nichts erkennen. Er trat durch den kleinen Garten hinaus auf die Straße, und schlenderte langsam zurück in Richtung Kirche. Dann kam ihm eine Idee: Dieser Ort wirkte so alt, vielleicht gab es hier noch irgendwo einen Brunnen, an dem er sich waschen konnte. Wo würde der dann am wahrscheinlichsten stehen? Irgendwo in der Mitte des Ortes, wo ihn jeder gut erreichen konnte.

Mit frischer Energie beschleunigte Arthur seine Schritte etwas, doch er war immer noch quälend langsam unterwegs. Jede Bewegung schmerzte, doch er versuchte es zu unterdrücken.

Endlich war er am Kirchenplatz angelangt, doch einen Brunnen konnte er nicht erkennen. Er umrundete das Gebäude einmal, doch nirgends war etwas, das ihm helfen könnte.

"Verdammt!" Arthur ballte die Hände zu Fäusten, öffnete diese jedoch sofort wieder, da ein stechender Schmerz seine Gliedmaßen empor fuhr. Er fühlte sich so alleine wie schon lange nicht mehr. Seine Augen begannen zu brennen, doch er blinzelte die aufsteigenden Tränen weg. Nicht heulen. So weit war es auch noch nicht. Irgendeine Möglichkeit musste es noch geben.

Instinktiv beschloss er, einfach den Ort noch ein wenig abzugehen. Vielleicht würde er ja irgendwo auf frei zugängliches Wasser stoßen, oder auch auf einen Platz, wo er die Nacht verbringen konnte. Es war zwar nicht eiskalt draußen, aber wenn er stundenlang unbeweglich irgendwo am Boden liegen würde, wäre das wahrscheinlich auch keine so gute Idee. Er startete in eine Richtung, in der er zuvor noch nie gewesen war. Doch es sah nicht viel anders aus als bei Mara. Die Häuser waren ebenfalls alle finster, die Gassen dazwischen schmal, und nirgendwo auch nur die kleinste Möglichkeit, sich auszuruhen oder zu waschen.

Arthur wollte schon fast aufgeben, als sich das Ende der Straße lichtete. Mit letzter Kraft strauchelte er darauf zu, was sich als Koppel erwies. Eine eingezäunte Wiese und einem Eck ein hölzerner Unterstand. Arthur war so erschöpft, dass es ihm egal war, wem das gehörte oder was ihn darin erwarten würde. Er zwängte sich durch zwei Sprossen durch und kam der Hütte immer näher. Dort angekommen bemerkte er erfreut, dass alles großzügig mit Stroh ausgestreut war, und ohne sich noch einmal umzusehen, legte er sich in eine Ecke und schlief sofort ein.

 

Als er erwachte, fühlte er sich wie nach der durchzechtesten Nacht seines Lebens. Stöhnend richtete er sich auf. Er spürte jeden Strohhalm, der sich irgendwo in seinen Körper bohrte. Seine Handflächen waren blutverkrustet, und schimmerten rötlich in der morgendlichen Sonne. Arthur gähnte kräftig, dann erhob er sich ächzend. Abstützen konnte er sich nirgends, dazu schmerzte alles zu sehr.

Ein suchender Blick bezeugte, dass er alleine war in dem Unterstand. Er trat mit einem Bein nach dem Strohhaufen, der sich neben seiner Schlafmulde gebildet hatte, und schüttete diese damit zu. So wenig Spuren wie möglich hinterlassen, war die Devise.

Blinzelnd trat er hinaus, die Sonne stand bereits in ihrer ganzen Pracht am wolkenlosen Himmel und blendete ihn. Zu seiner Überraschung ließ sie seinen Blick jedoch zu einer Stelle auf der Koppel wandern, die er in der Nacht nicht wahrgenommen hatte: ein riesiger, schwarzer Bottich. Aus so einem hatte das Pferde bei ihm zu Hause immer getrunken. Vielleicht hatte er Glück, und es war Wasser darin.

So schnell es seine Beine erlaubten, ging er darauf zu. Und tatsächlich: der Wasserspiegel war zwar bereits in der halben Höhe des Behälters, aber es war immerhin Wasser darin. Ein glückseliges Lächeln breitete sich auf Arthurs Gesicht aus, welches sofort wieder verschwand, als er die erste Hand eintauchte. Es war eiskalt und die Berührung damit schmerzte höllisch. Sofort zog Arthur den Arm wieder zurück, atmete tief durch und versuchte es erneut. Nun, da er darauf gefasst war, war es nicht mehr so schlimm. Sanft begann er, den Schorf von seinen Händen zu lösen. Immer wieder zog er seine Hände zurück und pustete darauf, um sie zu wärmen. Nach einer gefühlten Ewigkeit war der Großteil des Blutes entfernt und er konnte einzelne Risse erkennen. Es waren zum Glück mehr Aufschürfungen, und keine Schnitte, wie er befürchtet hatte, es würde also schnell heilen.

Nun musste er sich aber noch zumindest das Gesicht waschen. Arthur kniff die Augen fest zusammen und biss die Zähne zusammen, dann klatschte er sich eine Ladung ins Gesicht. Sofort überzog eine Gänsehaut seinen gesamten Körper und er begann zu bibbern, als sich einzelne Wassertropfen in seinen Nacken verirrten und dort den Rücken hinunterliefen, soweit es das T-Shirt zuließ.

Noch einmal tauchte er seine Hände in den Trog und benässte sein Gesicht, rubbelte mit den unversehrten Fingerkuppen auf seiner Stirn und den Wangen, und hoffte, dass der größte Dreck verschwinden würde. Als er mit der Prozedur fertig war, schüttelte er den Kopf, sodass die Wassertropfen nur so in alle Richtungen wegspritzten. Seine Wirbelsäule knackste protestierend und er stöhnte auf.

Dann wischte er sich seine Hände an der Hose ab und griff nach seinem Handy. Der Akkustand war bereits gefährlich niedrig, und die Uhr zeigte ihm, dass es mitten am Vormittag war. Mara war also wahrscheinlich gerade in der Schule. Bei ihr zu Hause dürfte eigentlich niemand sein. Ihre Mutter war wahrscheinlich arbeiten und Kathy im Kindergarten.

Etwas unschlüssig überlegte Arthur, was er nun wohl am besten machen sollte. Sein Rucksack war noch bei Mara, er musste also auf jeden Fall noch einmal dorthin zurück. Außerdem wollte er es noch einmal versuchen, mit Mara zu sprechen. Vielleicht war das in der Nacht einfach eine Schockreaktion gewesen, und man könnte nun schon viel besser darüber reden.

Mara hatte aber auf jeden Fall noch Schule, er hatte also noch ein paar Stunden, die er füllen musste. Und danach? Wenn Mara auf ihrer Meinung blieb und ihm die Unterkunft verwehrte? Sollte er nach Hause fahren? Noch hier bleiben? Eigentlich hatte er ja nach den Blutmondgeborenen suchen wollen... Aber ob das unter diesen Umständen noch so eine gute Idee war, wusste er selbst nicht mehr so wirklich.

Seufzend beschloss er schließlich, in Richtung Schule zu gehen und dort irgendwo einen versteckten Platz zu finden, wo er zwar Mara sehen konnte, sobald sie auftauchen würde, aber er selbst möglichst unentdeckt blieb.

Seine Beine fühlten sich immer noch an, als wären sie aus Zement. Es fiel Arthur unglaublich schwer, sie über einen längeren Zeitraum kontinuierlich zu bewegen. Doch schließlich hatte er es geschafft - er stand am Rand des Schulhofes. Nun musste er nur noch einen passenden Platz finden. Suchend blickte er sich um. Es war eigentlich alles ziemlich offen hier. Ein einziger Baum stand neben der Schule, aber ansonsten gab es nichts, was sich auch nur annähernd als Versteck anbot. In Arthurs Körper begann es zu brodeln. Das konnte doch nicht so schwierig sein! Wieso konnte hier nicht einfach irgendwo eine verdammte Hecke sein, hinter die er sich setzen konnte!

Tief durchatmend brachte er sich wieder zur Besinnung. Wenn sich hier nichts anbot, musste er einfach weitersuchen.

Er schlug den Weg ein, den Mara nach der Schule zu ihr nach Hause gehen würde. Zwar konnte er sich an nichts erinnern, das geeignet war für seinen Zweck, aber er hatte ja sonst nichts zu tun. Und sein Körper würde das wohl aushalten müssen. Es gibt wirklich Schlimmeres, versuchte er sich einzureden.

Wie erwartet legte er den gesamten Weg zurück, ohne auf etwas zu stoßen. Seufzend lehnte er sich gegen den Zaun, der das Grundstück umgab. Dann würde er also einfach hier auf sie warten. War auch eine Möglichkeit. Er konnte nur hoffen, dass Mara die erste ihrer Familie war, die nach Hause kommen würde.

 

Dieses Mal hatte er Glück: es war etwa halb zwei, als eine Person auf ihn zukam und in einem sicheren Abstand vor ihm stehen blieb.

"Was willst du hier?" Maras Stimme war beinahe tonlos. Als Arthur den Kopf hob, blickte er in funkelnde Augen. Dieses Mal war es allerdings anders - es war die Angst und auch Wut, die Arthur aus ihnen lesen konnte.

"Mara, es tut mir leid. Was auch immer gestern passiert ist, es tut mir wahnsinnig leid!" Unwillkürlich trat er einen Schritt auf sie zu, doch sie zuckte sofort zurück. Ein dumpfer Schmerz machte sich in Arthurs Brust breit.

"Was kann ich denn tun, um das wieder gut zu machen?" Flehend blickte er sie an, doch ihre Miene war nach wie vor verschlossen. Eine ihrer Hände hatte sich in ihre Jacke gekrallt, die andere war steif in Richtung Boden gedrückt.

"Nichts." Sie hob das Kinn, als ob sie damit größer erscheinen würde.

Arthur schloss die Augen. "Mara, bitte."

Als er sie wieder öffnete, schüttelte sie den Kopf. In ihren Augen flackerte nun Unsicherheit und Schmerz, und der Anblick nahm Arthur fast die Luft. "Ich kann nicht." Mit diesen Worten schob sie sich an ihm vorbei, ohne ihn jedoch zu berühren, und lief beinahe auf die Haustür zu. Ihre Finger zitterten, als sie den Schlüssel herausfischte. Arthur trat hinter sie, ließ jedoch einen Sicherheitsabstand.

"Das war nicht ich, das da draußen! Bitte, du musst mir glauben! Irgendetwas ist passiert, ich weiß es ja selbst nicht!" Verzweifelt rang er nach Worten, aber Mara blickte sich noch nicht einmal um.

"Ich will, dass du gehst, Arthur. Bitte." Ihre Stimme klang fest, und als sie ins Haus trat, griff sie nach etwas und stellte es ihm heraus. Den Blick hielt sie jedoch stets gesenkt. Sobald der Rucksack den Boden berührte, zog sie ihre Hand zurück und schloss die Tür. Arthur konnte hören, wie sie im Inneren zusperrte.

 

Na toll, was nun? Vorsichtig, um seine Handflächen zu schonen, hob Arthur seinen Rucksack auf und hängte ihn sich um eine Schulter. Dann ging er langsam zurück zur Straße, drehte sich allerdings alle paar Meter um, in der Hoffnung, Mara würde ihre Meinung doch noch ändern.

Wohin sollte er denn jetzt gehen? Er könnte nach Hause fahren. Es war Freitagnachmittag, er würde noch alle Busse erwischen und am späten Abend heimkommen. Sein Vater war noch nicht zu Hause, der würde nichts mitbekommen.

Doch das, was dort im Wald geschehen war, ließ ihn nicht los. Es musste doch eine Erklärung geben, warum er sich so seltsam verhalten hatte. Irgendetwas war dort mit ihm passiert, und Arthur wollte wissen, was. Er würde also noch da bleiben und zumindest versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen.

Gut, diese Entscheidung war also gefällt. Inzwischen hatte Arthur den Kirchenplatz erreicht und blieb stehen. Die nächste Frage hatte sich also offenbart - wenn er hier bliebe, bräuchte er einen Platz, wo er in der Nacht schlafen konnte. Bei Mara ging das ja nicht mehr. Aber sonst? Er kannte niemanden, daher blieb eigentlich nur der Unterstand auf dieser Koppel übrig. Wie lange hatte er denn eigentlich vor, zu bleiben? Arthur kramte in seinem Gedächtnis. Der Mond war in der letzten Nacht schon ziemlich voll gewesen, es konnte also gut sein, dass in der heutigen, oder spätestens der morgigen Nacht Vollmond wäre. Und welch besseren Zeitpunkt konnte es denn geben, um etwas Mystischem auf den Grund zu gehen.

Arthur seufzte einmal tief, dann trat er seinen Weg an und begab sich zu der Koppel zurück, wo er seinen Rucksack gleich in den Unterstand stellte, an einen Platz, wo man von außen nicht sofort hinsah. Immerhin wollte er nicht sofort alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sollte jemand von der Straße einen Blick darauf werfen.

Etwas unschlüssig entschied er sich dann, ein kurzes Nickerchen im Stroh zu machen. Er war immer noch ziemlich müde von den gestrigen Vorkommnissen. Gähnend ließ er sich zu Boden gleiten, streckte sich einmal und schob sich dann das Material so zu Recht, dass er halbwegs bequem darauf zu liegen kam. Seinen Rucksack benutzte er dabei als Kopfkissen. Es dauerte nicht lange und er war eingedöst.

 

Blinzelnd wachte er auf. Er streckte sich und warf einen Blick aus der offenen Seite des Unterstands. Die Sonne war bereits untergegangen, es musste also auf jeden Fall schon gegen sieben Uhr sein. Seufzend setzte Arthur sich im Stroh auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Er tastete nach seinem Handy, und sah mit Schrecken, dass er nur mehr wenige Prozent Akku hatte. Doch die Uhr bestätigte seine Vermutung: Zwanzig Uhr Siebenunddreißig. Sollte er sich bereits auf den Weg machen? Wollte er das wirklich durchziehen? Schon alleine bei dem Gedanken, wieder alleine in den finstern Wald zu gehen, zog sich eine Gänsehaut über Arthurs Arme und ein Schauer lief seinen Rücken hinunter. Dennoch erhob er sich von seinem Schlafplatz, zog den Reißverschluss seiner Jacke bis ganz nach oben zu und steckte die Hände in die Taschen.

Sobald er einen Schritt nach draußen gesetzt hatte, blies der Wind an seinem Hals vorbei und Arthur zog die Schultern in die Höhe. Die ersten Schritte waren noch zögerlich, da seine Gliederschmerzen immer noch nicht ganz verschwunden waren, aber je weiter er ging, desto schneller und entschlossener wurde er.

Schon bald hatte er die letzten Häuser hinter sich gelassen und rund um ihn war nur die reine Natur. Arthur hob den Blick und schaute in den Himmel: Der Mond war ziemlich voll, doch er war sich nicht sicher, ob es bereits Vollmond war oder nicht. Auf jeden Fall war es relativ hell draußen, und das Gras der Wiese schimmerte silbergrün im Mondschein. Der Wind bewegte die einzelnen Halme und brauste um Arthurs Ohren, die dieser schon fast nicht mehr spürte.

Unbeeindruckt stapfte Arthur immer weiter Richtung Wald, bis er diesen schließlich erreichte. Ein Kauz stieß einen lauten Ruf aus und stieß sich von einem Ast ab. Arthur blieb vorerst auf dem gut ersichtlichen Weg, er wollte nicht riskieren, sich zu verlaufen. Zwar war seine Orientierung am Donnerstag perfekt gewesen, aber eben auch nur beim Hingehen. Doch von dem Zug, den er damals gespürt hatte, war nun nichts wahrzunehmen. Seltsam.

Immer weiter drang Arthur in den Wald vor, bis er schließlich stehen blieb und sich gegen einen Baumstamm lehnte. An das leise Knacksen, das immer wieder zu hören war, hatte er sich bereits gewöhnt. Wahrscheinlich kam es einfach nur von Tieren, die jetzt in der Nacht den Wald für sich entdeckten.

Obwohl er auf keiner Lichtung stand, bahnte sich das Mondlicht seinen Weg zwischen den Bäumen hindurch auf den Boden. Beim näheren Umsehen ließ es Arthur Spinnenweben erkennen, und die schroffe Borke gewisser Bäume. Arthur sah das Laub am Boden, das sich zwar in Hell und Dunkel unterscheiden ließ und viele Fassetten dazwischen, aber doch glänzte alles in demselben matten Silber.

Arthur wartete, und wartete. Er wünschte sich fast, dass ihn dieses Gefühl wieder packte und ihm zeigte, wo er hin müsste. Nur so im Wald herumzustehen, war auf Dauer irgendwie zäh. Aber was erwartete er denn zu finden? Wollte er wirklich auf den Mörder stoßen? Sein Vater hatte ihm zwar erzählt, dass die Jäger eine gewisse Immunität gegenüber der Blutmondgeborenen aufwiesen, aber falls sich die Theorie doch als falsch erweisen und sich hier wirklich eine Mördergruppe herumtreiben sollte, war Arthur nicht sehr sicher hier.

Je länger er darüber nachdachte, desto mulmiger wurde ihm zumute. Bei jedem Knacksen zuckte er zusammen, jeder Windstoß zog ihm erneut eine Gänsehaut auf. Immer fester presste Arthur sich gegen den Baumstamm hinter ihm, sein Atem ging immer schneller, obwohl er sich bemühte, ihn leise zu halten.

Knacks. Arthurs Blick schnellte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Doch seine Augen konnten nichts erkennen.

Knacks. Dieses Mal kam es aus der anderen Richtung. Arthurs Finger klammerten sich an die Rinde, es war ihm egal, ob er die Wunden vom Vortag wieder aufriss oder nicht.

Plötzlich segelte ein Blatt direkt vor seinem Gesicht zu Boden. Arthur zog scharf die Luft ein, doch dann schalt er sich für seine Paranoia. Das half jedoch nicht wirklich etwas, denn ein Rascheln ließ ihn gleich darauf wieder zusammenfahren.

Das konnte ja so nicht weitergehen. Irgendetwas musste sich ändern. Er konnte nicht die gesamte Nacht hier gegen den Baumstamm gepresst verbringen. Seine Zähne fingen nun auch schon zu zittern an und schlugen geräuschvoll aufeinander. Wie auch immer er sich verhielt, wenn jemand in der Nähe war, würde er ihn bestimmt detektieren. Dann wäre eigentlich die Wahrscheinlichkeit, getötet zu werden, auch nicht sehr viel größer, wenn er langsam wieder den Rückweg antreten würde. Zumindest versuchte er sich das einzureden.

Die Realität war nicht ganz so einfach - sobald er seinen Rücken vom Stamm löste, fühlte er sich, als würden tausend Augen von hinten auf ihn starren oder hunderte von Gewehren auf ihn gerichtet sein. Sofort versteckte er sich hinter dem nächsten Baum und ließ seine weit aufgerissenen Augen die Umgebung absuchen. Viele Bäume, am Boden Zweige, dort lief etwas am Boden, vielleicht eine Maus.

Alles ist gut, es ist nur ein ganz normaler Wald bei Nacht. Alles ist gut. Arthur versuchte, auf sein Unterbewusstsein einzureden und atmete ein paar Mal tief durch.

Dann plötzlich raschelte es über ihm, und ein Schwarz Vögel stieg in die Lüfte auf. Mit einem erstickten Schrei kauerte sich Arthur auf den Boden, die Arme schützend über dem Kopf haltend. Sobald er sich jedoch bewusst wurde, dass keine Gefahr nahte, richtete er sich wieder auf.

Er musste hier heraus. Das hatte absolut keinen Zweck. Er musste nur hier irgendwie herauskommen, ohne dabei völlig den Verstand zu verlieren.

Arthur ballte die Hände zu Fäusten und presste die Augen zusammen. Er würde jetzt bis drei zählen, und dann loslaufen. Es war die einzige Methode, denn von Baumstamm zu Baumstamm zu schleichen würde ihn nicht bis zum Morgengrauen zurückkommen lassen.

Eins... zwei... drei! Er riss die Augen auf und sprintete los. Sein gesamter Körper war unter Hochspannung, und die Bäume flogen nur so an ihm vorbei. Hin und wieder duckte er sich, um einem tieferen Ast auszuweichen, und alle seine Sinne schienen wie auf Hochglanz. Er hörte das Rauschen der Blätter über ihm, das Knacksen der Zweige unter ihm. Er roch das Harz, das Moos, die kalte Luft. Der Wind strich über seine Wangen, fuhr unter seine Jacke, ließ ihn erschaudern. Der Weg war schmal, aber erkennbar. Immer schneller bewegte Arthur seine Beine, immer schneller ließ er die Strecke hinter sich. Er rannte und rannte, schließlich streifte dann doch ein Zweig seine Haare, doch er verletzte sich nicht.

Nach einer Zeit ging sein Atem schneller, innerlich fühlte Arthur sich wie ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch war. Sein Kopf pochte, das Herz schlug in seinem Hals. Immer wieder bildete er sich ein, Schritte hinter sich zu hören, was seinen Körper erzittern ließ. Obwohl der Wind hier zwischen den Bäumen nicht sonderlich heftig war, hatte Arthur Tränen in den Augen, die er durch schnelles Blinzeln wegmachen zu versuchte. Doch je länger er lief, und je weiter die Strecke war, umso schlimmer wurde es. Er rannte seit einer gefühlten Ewigkeit, und das Gefühl des Verfolgtwerdens saß ihm dicht im Nacken. Die Tränen verschleierten seine Sicht, seine Schritte wurden unsicherer, er strauchelte einige Male.

Immer weiter, immer weiter. Es konnte nicht mehr weit sein. Er war doch auch nicht so lange in den Wald hineingegangen, das Ende musste doch einmal kommen! Stoßartig atmete Arthur die heiße Luft durch den Mund aus, bis er schließlich Seitenstechen bekam. Mit schmerzverzogenem Gesicht hielt er sich die eine Seite, während er immer weiter lief.

Dann, endlich, lichtete sich der Wald etwas. Mit letzter Kraft legte Arthur noch einmal an Tempo zu, er wollte einfach nur aus diesem Wald heraus. Die letzten Bäume kamen immer näher, und in Arthur drängte sich bereits ein erleichtertes Schluchzen an die Oberfläche. Die letzten paar Meter stolperte Arthur mehr, als dass er rannte, doch was er an dem vermeintlichen Waldende sah, ließ ihn erstarren: Er befand sich auf der Lichtung mit den vielen Mondblumen.

 

Arthurs Brust bewegte sich so schnell auf und ab, dass er Angst hatte, er würde gleich hyperventilieren. Seine Beine versagten ihm jeden weiteren Dienst und brachen unter seinem Gewicht zusammen. Der Boden empfing ihn hart und nun konnte Arthur die Tränen nicht mehr zurückhalten. Unaufhörlich strömten sie über sein Gesicht, er schlang die Arme um seinen Oberkörper und wiegte sich vor und zurück. Immer vor und zurück, in der Hoffnung, dass er sich besser fühlen würde. Doch die geschlossenen Mondblumen leuchteten aus ihrem Inneren heraus, als war etwas in ihnen, das jederzeit ausbrechen wollte. Wimmernd rutschte Arthur immer weiter zurück, bis er plötzlich mit dem Rücken an etwas stieß. Er zuckte zurück und drehte sich angsterfüllt um, doch es war nur ein Baum, nichts weiter.

Verzweifelt presste er sich an ihn, als würde er ihm Halt geben, Rückendeckung, Schutz. Wovor er sich schützen musste, wusste er nicht, aber irgendetwas war in diesem Wald, das nicht normal war. Dieser Wald beherbergte ein Monster. Ob es jetzt Blutmondgeborene waren, normale Raubtiere wie Wölfe, eine Mörderbande oder einfach nur die Finsternis, die Arthur das Grauen lehrte, war diesem relativ egal. Er war zu Tode erschöpft von seinem Lauf, Angstschweiß stand ihm auf der Stirn und in seinem Nacken, und der sanfte Wind ließ ihn erzittern.

Sein Herz pochte schmerzhaft in seiner Brust und Arthur würde sich nicht wundern, wenn es plötzlich den Dienst aufgeben würde und verstummte. So viel Blut, das es durch seinen Körper pumpte, konnte auf Dauer auch nicht gesund sein. Irgendwo würde es zu einem Stau kommen und Arthur würde an einem Herzinfarkt sterben. Es gab so viele Dinge, die ihn hier auf dieser Lichtung töten könnten.

Das Laub raschelte über ihm, doch Arthur war nun bereits zu müde, um darauf zu reagieren. Seine Lider wurden immer schwerer, doch er hielt sie krampfhaft offen. Er musste die Umgebung im Blick behalten, er musste der Gefahr ins Auge sehen, wenn sie ihm auflauerte. Würde er diesen Wald jemals wieder verlassen? Ein Schluchzer bahnte sich seinen Weg durch seine Kehle hervor. Wieso war er hier gelandet? Wieso auf dieser Gottverdammten Lichtung? Er war nie vom Weg abgewichen, er hätte auf der Wiese herauskommen müssen. Er war doch aufmerksam gewesen, als er in den Wald vorgedrungen war, und nirgends war eine Abzweigung gewesen, an der er sich hätte verirren können.

Doch irgendwie musste es passiert sein. Die Lichtung hatte wieder nach ihm gerufen, und es gab nichts, wirklich nichts, was Arthur dagegen hätte machen können.

 

Es kam ihm vor wie Stunden, die er unter dem Baum kauernd verbrachte. Seine Kehle war trocken von den Geräuschen, die er von sich gegeben hatte, und die Tränen schon lange versiegt. Eine dumpfe Leere hatte Besitz von ihm genommen, er fühlte sich erbärmlich. Was hatte ihn dazu getrieben, mitten in der Nacht in diesen verfluchten Wald zu gehen?

Sollte diese Nacht jemals enden, würde er sofort den Heimweg antreten, nahm er sich vor.

Als schließlich die ersten Sonnenstrahlen den Boden der Lichtung erreichten, stieß Arthur einen Seufzer der Erleichterung aus. Es war vorbei. Die grauenvollste Nacht seines Lebens war vorbei.

Langsam streckte er seine Glieder aus, vorsichtig, er fühlte sich steif wie ein Brett. Einige Gelenke knacksten empört, als er aufstand, und ihm wurde kurz schwindelig. Vorsichtig stützte er sich am Baumstamm ab, und während er sich umdrehte, meinte er eine Bewegung auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung wahrzunehmen. Er führte seinen Blick dorthin, doch als er die Stelle näher betrachtete, war nichts Außergewöhnliches mehr an ihr. Nur die Zweige wippten etwas stärker als die in ihrer Umgebung, was Arthurs Vermutung bestätigte. Es war jemand hier gewesen. Ein Schauer lief über Arthurs Rücken, und er wandte sich schnell wieder in die Richtung, in die es zum Dorf ging. Wie lange war er wohl beobachtet worden? Wer war es gewesen, der sich dort versteckt gehalten hatte? Hatte es etwas mit der Lichtung zu tun, oder mit den Blutmondgeborenen? War es möglicherweise sogar ein Mörder gewesen?

Arthur griff sich an den Kopf, als dieser pochend zu schmerzen begann. Das einzige, was im Moment zählte, war der Weg aus diesem unheimlichen Ort hinaus. Bei Tag gestaltete sich das auch erheblich einfacher als wenige Stunden zuvor - Arthur störte sich nicht mehr an jedem Knacksen, da er ein Kaninchen dahinter vermutete. Er konnte ruhig gehen, ohne sich ständig umsehen zu wollen, weil er Blicke in seinem Nacken spürte. Sein Herzschlag hatte sich zwar noch nicht ganz beruhigt, aber sein Atem ging wieder relativ normal.

Endlich hatte er es geschafft. Der Wald lichtete sich, und dieses Mal bangte Arthur bis zum Schluss, bis er tatsächlich seine Füße zwischen die Gräser stellte, bis sein Blick frei über die offene Landschaft gleiten konnte. Er war draußen, er hatte den Wald hinter sich gelassen.

Eine Welle der Euphorie durchströmte ihn und ließ ihn mit neuer Energie vorwärts gehen. Kein einziges Mal drehte er sich um.

 

Zufrieden stellte er fest, dass sich auf der Koppel noch alles so befand, wie er es zurückgelassen hatte. Sein Rucksack war noch da, und auch sein Schlafplatz war unverändert. Arthur wollte sich schon nach seinen Sachen bücken und das Stroh aufwerfen, um die Spuren zu verwischen, als die ganze Anspannung vollständig von ihm abfiel und ihn eine alles überwältigende Müdigkeit einholte. Er hatte die gesamte Nacht kein Auge zugetan, war ständig auf Hochspannung gewesen, kein Wunder, dass sie ihn nun einholte.

Nur ganz kurz... ein bisschen ausruhen, beschloss Arthur und ließ sich mit einem Seufzer ins Stroh gleiten. Er störte sich schon lange nicht mehr an den piekenden Enden, sondern freute sich viel mehr, dass er überhaupt einen Platz hatte. Was Mara wohl gerade machte? Ob sie schon munter war?

Mit Gedanken an sie fiel er schließlich in einen unruhigen Schlaf.

 

Der Mond steht tief am Himmel. Er ist eine riesige, milchig weiße Scheibe, die alles in einem ungesunden Licht erleuchtet. Mara steht auf einer Wiese, sie lacht, tanzt und streicht über die Blumen, die ihre Köpfe in ihre Richtung recken. Sie trägt ein kurzes rotes Sommerkleid, welches mit der Bewegung mitschwingt. Es ist wunderschön, ihr zuzusehen.

Plötzlich schiebt sich eine zweite Person in das Bild, es ist ein Junge. Seine braunen Haare sind wuschelig und er zerzaust sie noch mehr, als er sich mit einer Hand durchfährt, während er auf Mara zugeht. Er sagt nichts, schlingt einfach einen Arm um ihre Taille und presst sie an seinen Körper. Sie schmiegt sich ihm an wie flüssiges Gold, doch ihre Augen haben ihren Glanz verloren.

Der Junge streicht über ihre Haare, ihr Gesicht, ihren Körper. Er beugt sich weiter zu ihr hin, streift mit seinen Lippen die ihren. Mara ist wie Wachs in seinen Händen.

Die Blumen beginnen, zu leuchten. Ihre bunten Blütenblätter werden heller, sie strahlen beinahe schon, und als die erste Geblendetheit nachlässt, ist die ganze Wiese voller Mondblumen. Es ist Nacht, doch sie sind geöffnet. Ihre Köpfe sind alle in Richtung des Paares auf der Wiese gestreckt. Doch dieses scheint davon unberührt. Maras Augen sind inzwischen geschlossen, der Junge streift ihr Kleid vom Körper, berührt diesen.

Der Himmel verdunkelt sich, und das Paar gleitet zu Boden. Die Mondblumen wachsen, sie werden immer größer, sie wuchern und wuchern und wandern unaufhörlich zu den beiden in ihrer Mitte. Schließlich sind ihre Stängel groß genug, dass sie sich über die Liebenden legen können. Sie werden immer dichter, und erneut beginnen sie zu strahlen. Eine unglaubliche Helligkeit lässt keinen Blick auf die Szene zu, und als sie abschwillt, ziehen sich die Blumen zurück. Bis sie auf ihrem ursprünglichen Platz angekommen sind, haben sie ihre bunte Farbe wieder angenommen.

Doch in ihrer Mitte der Platz ist leer. Das Pärchen ist verschwunden, doch an ihrer Stelle haben alle Blumen rote Blätter.

 

Schweißgebadet schreckte Arthur aus dem Schlaf. Sein Atem ging unregelmäßig, seine Kehle ist trocken. Taumelnd stand er auf und wankte zu der Tränke hinaus. Er taucht sofort seinen gesamten Kopf in das eiskalte Wasser. Seine Erinnerungen an den Traum waren nur noch schleierhaft. Er sah Mara, er sah sie mit jemandem, aber er wusste nicht, mit wem. Und er spürte Angst, er spürte Tod. Er musste sich die Gedanken wegwaschen.

Obwohl er schon beinahe keine Luft mehr bekam, ließ er den Kopf tief im Wasser hängen. Seine Augen waren fest zusammengepresst und seine Haut fühlte sich an wie mit tausend kleinen Nadeln gestochen. Ruckartig zog er sich schließlich wieder zurück, das Wasser spritzte herum. Eiskalt lief es ihm über den Hals, den Nacken, durchnässte sein Shirt. Doch Arthur spürte es beinahe nicht. Zu sehr war er auf seine Gedanken konzentriert, auf seinen Traum. Was zur Hölle war das Gewesen?

Er schüttelte den Kopf noch einmal, sodass die Tropfen nur so flogen. Dann schloss er die Augen und atmete einige Male tief durch. Sein Herzschlag beruhigte sich.

Als er die Augen wieder öffnete, versuchte er sich auf die Umgebung und seine Situation zu konzentrieren. Er war in Sedemoid, er war bei Mara gewesen, Mara, wie in seinem Traum ... falsch. Daran nicht denken. Er war in den Wald gegangen, er war verfolgt worden, hatte sich verlaufen- Fest biss Arthur seine Zähne aufeinander. Gab es denn kein Thema, an das er denken konnte, ohne verrückt zu werden?

Noch einmal. Zuhause hatte er seinen besten Freund, Moe, und seine Schwester Beth. Beth, die ihm Maras Nummer gegeben hatte- Mist. Aber der Traum rückte immer weiter in die Ferne. Gut.

Nun erst wurde Arthur sich bewusst, dass die Sonne schon den Horizont berührte. Hatte er den gesamten Tag durchgeschlafen? Er fühlte sich nicht so. Aber wahrscheinlich hatte ihn dieser Traum einfach so ausgezehrt. Egal, es wurde Zeit, dass er hier wegkam.

Der Akku seines Handys war bereits leer, doch Arthur schätzte es auf etwa fünf Uhr am Nachmittag. Es würden gewiss noch Busse fahren, es war Samstag, er musste nach Hause. Nach Hause - Mist, er hatte seinem Vater nicht mehr mitgeteilt, dass er gefahren war. Er würde es sich wahrscheinlich denken können, aber trotzdem fühlte Arthur sich schlecht bei dem Gedanken.

Er ging zurück in den Unterstand, warf das Stroh auf, und schnappte sich seinen Rucksack. Als er diesen geschultert hatte und die Koppel verließ, fühlte er sich gleich viel besser. Dieses Wochenende war ein totaler Reinfall gewesen. Ob er noch einmal bei Mara vorbeischauen sollte? Nach kurzem Überlegen entschied er sich dafür. Was hatte er denn schon zu verlieren?

Er schlug den Weg zum Kirchenplatz ein, und dann in Maras Straße. Vor ihrem Haus blieb er noch einmal stehen. War das wirklich eine gute Idee? Ja, ist es, sagte er sich und überwand sich, durch den Garten zur Haustüre zu gehen. Zögerlich streckte er die Hand aus und drückte auf die Klingel.

Lange geschah nichts, und Arthur wollte schon fast wieder gehen, als sich plötzlich doch ein Schlüssel im Schloss drehte. Abwartend trat er einen Schritt zurück, und die Tür öffnete sich. Es war tatsächlich Mara, und sie sah so aus, wie er sich fühlte. Ringe unter den Augen, blass wie eine Leiche, und die Haare waren zerzaust. Sie trug nichts als einen Bademantel, den sie sich um die Taille lose zugebunden hatte. Doch es schien ihr nicht einmal aufzufallen.

Sie zuckte nicht einmal mit einer Wimper, als sie Arthur sah. Dieser zog fragend die Stirn in Falten. "Mara?"

Da, endlich. Eine Regung durchlief ihren Körper, doch sie ließ Maras Augen wässrig werden. Sofort ließ Arthur seinen Rucksack zu Boden gleiten und trat einen Schritt auf sie zu. Zu spät bemerkte er, dass dies wahrscheinlich nicht die beste Idee gewesen war, doch als sie nicht zurückwich, nahm er sie sanft in den Arm. "Mara, hey, alles ist gut."

Stocksteif verharrte sie in der Umarmung, ließ sich von ihm über den Rücken streichen. Ob seine aufmunternden Worte bei ihr ankamen, vermochte er nicht zu sagen. Schließlich löste er sich wieder von ihr und sah ihr prüfend in die Augen.

"Was ist denn los?"

Stumm schüttelte sie den Kopf, dann wischte sie sich eilig eine Träne aus dem Augenwinkel, die ansonsten über ihre Wange geflossen wäre. Arthurs Brust zog sich zusammen. Was war hier nur geschehen?

"Rede mit mir. Bitte!" Arthur griff nach ihren Schultern und rüttelte sie leicht, doch Mara schüttelte ihn ab. Sie öffnete den Mund, als ob sie etwas sagen wollte, doch es kam kein Laut heraus. Ihre Augen schlossen sich gequält und sie schüttelte erneut den Kopf. Ihre Arme schlangen sich um ihren Körper, als wollte sie sich zusammenhalten. Arthur hielt diesen Anblick nicht aus. Er trat auf sie zu, und drückte sie sanft, aber bestimmt, in den Vorraum des Hauses. Mara ließ ihn gewähren, und auch, als er schließlich eingetreten war, wehrte sie ihn nicht ab.

Er schloss die Haustür hinter ihm und führte Mara in das Wohnzimmer auf die Couch. Dort legte er sie nieder, bettete ihren Kopf auf Kissen, und wickelte sie in eine Decke ein.

"Ich mach dir einen heißen Tee", ließ er sie wissen, bevor er aus dem Zimmer in die Küche verschwand. Mara blieb stumm.

Das Wasser brauchte ein bisschen, bis es kochte, dann goss Arthur es in eine große Kanne und hängte einen Teebeutel hinein. Dann griff er nach einer Tasse und brachte alles zu Mara hinüber. Er stellte es sorgsam auf den Tisch und setzte sich neben Maras Kopf ebenfalls auf das Sofa. Vorsichtig streichelte er über ihren Rücken, doch er zog die Hand sofort wieder zurück, als sie plötzlich zusammenzuckte.

Minutenlang verharrten beide einfach so in dieser Position, bis Mara sich plötzlich aufrichtete. Arthur reagierte sofort, beugte sich nach der Teekanne und schenkte ihr ein. Dann hielt er ihr die Tasse hin, die sie dankbar annahm. Sie nippte nur kurz daran, verzog kurz das Gesicht, als sie sich verbrannte, und stellte die Tasse dann wieder auf den Tisch.

Dann, endlich, sah sie ihn richtig an. "Danke."

Ein Lächeln breitete sich auf Arthurs Gesicht aus. "Keine Ursache."

Sie unterbrach den Sichtkontakt, als sie die Augen schloss. "Es tut mir leid", murmelte sie. Dann blickte sie ihn wieder an. "Aber ich hatte solche Angst."

Beschwichtigend schüttelte Arthur den Kopf. "Ich verstehe dich schon. Das muss echt krank ausgesehen haben..."

Mara verzog den Mund, es sollte wohl so etwas wie ein Lächeln sein. "Ich mag dich echt gern, Arthur. Und ich kenne niemanden, den ich gerade lieber hier bei mir hätte im Moment, als dich. Aber was da passiert ist... Das kann ich nicht einfach ignorieren." Sie räusperte sich, ihre Stimme brach kurz. Gequält wandte sie den Blick ab. "Das musst du verstehen."

Langsam nickte Arthur. Seine Mundwinkel waren nach unten gerutscht, während er Mara zuhörte. Es kam also doch wieder aufs Gleiche hinaus. Sie wollte nach wie vor nichts mit ihm zu tun haben.

Aber er nickte. "Ich verstehe, dass das Zeit braucht, verarbeitet zu werden. Ich weiß ja selbst nicht einmal, was ich davon halten soll." Er machte eine kurze Pause, wusste nicht so Recht, wie er das so biegen konnte, dass vielleicht doch nicht alles zu Ende war. "Gibt es eine Möglichkeit, dass wir etwas Gras darüber wachsen lassen, und es dann noch einmal miteinander versuchen können?" Beherzt griff er nach ihrer Hand und drückte sie. Es kostete ihn viel Mut und einiges an Überwindung, die nächsten Worte zu formulieren. "Ich hab noch nie jemanden kennengelernt, bei dem ich mich so gefühlt habe, wie mit dir. Das zwischen uns ist etwas Besonderes. Ich will es nicht verlieren." Verlieren, was er im Grunde genommen nie hatte.

Mara erwiderte den Händedruck und ihr Blick war weich. "Ich weiß es nicht. Nur Zeit alleine kann das sagen, denke ich. Und davon brauche ich jetzt erst einmal viel..."

Arthur nickte. "In Ordnung. Nimm dir so viel, wie es benötigt. Ich werde auf dich warten." Er beugte sich zu ihr hin und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann stand er auf. "Ich werde dann mal nach Hause fahren. Melde dich, wann auch immer du willst. Auch, wenn du mal nur jemanden zum Reden brauchst."

Mara griff nach der Teetasse und nahm noch einen Schluck. Dann stand sie ebenfalls langsam auf. "Danke, vielleicht komme ich mal darauf zurück."

Gemeinsam gingen sie zur Tür und verabschiedeten sich dort. Als Arthur alleine draußen stand, fiel ihm ein, dass er immer noch nicht wusste, warum sie anfangs so außer sich gewesen war.

 

Das Gespräch mit Mara hatte seine Lebensgeister wieder erweckt. Ein Grinsen lag auf seinem Gesicht, als er sich den Rucksack um eine Schulter hängte. Gemütlich schlenderte er aus dem Garten zurück Richtung Kirchenplatz, wo er den nächsten Bus erwischen wollte. Auswendig wusste er nicht, wann dieser fahren würde, aber dort hing bestimmt ein Fahrplan.

So war es auch. Arthur studierte den Zettel hinter der verschmierten Glasscheibe und stellte fest, dass er noch fast eine dreiviertel Stunde warten musste. Seufzend setzte er sich auf die Bank in der kleinen Bushütte und lehnte sich ein wenig zurück. Er war fast alleine, nur zwei andere Menschen waren in seiner Sichtweite unterwegs. Eine Frau, deren Kopf von einem monströsen Hut beinahe verschluckt wurde, eilte zur Kirche und betrat diese. Zur gleichen Zeit huschte eine Katze einige Meter vor Arthur vorbei, blieb kurz stehen, beobachtete ihn und rannte dann weiter. Arthur seufzte. Was sollte er denn vierzig Minuten hier machen? Sein Handy war tot, ansonsten hatte er nichts da, womit er sich beschäftigen hätte können. Musik wäre jetzt toll, aber sein iPod lag ebenfalls zu Hause, er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Telefon ausfallen würde.

Aber ändern konnte er es nun eh nicht mehr. Ungeduldig warf er alle paar Minuten einen Blick auf die große Kirchturmuhr. Sie schlug ein paar Mal, was bedeutete, dass es nun halb sieben war. Noch eine knappe halbe Stunde. Arthur schlug ein Bein über das andere, wechselte dann mit dem anderen, und stellte schließlich wieder beide auf den Boden. Dann stand er kurz auf, setzte sich wieder nieder, aber es blieb unbequem.

Die Dame von vorhin war immer noch in der Kirche, obwohl um diese Zeit bestimmt kein Gottesdienst mehr war. Aber wer wusste, vielleicht war sie beichten und musste so viele Sünden bekennen, dass sie nun schon die ganze Zeit ihre Ave Marias und Vater unsers runter betete.

Arthur seufzte tief. Geduld war nicht seine Stärke. Eine Bewegung links von ihm zog sofort seine Aufmerksamkeit auf sich. Arthur drehte den Kopf und sah einen dunkel gekleideten Jungen, er dürfte etwa sein Alter haben. Auch er ging auf die Kirche zu, aber betrat sie nicht sondern trat seinen Weg in eine andere Richtung fort. Arthur wollte schon fast den Blick abwenden, als sich der Junge kurz umdrehte und eine der wenigen Straßenlaternen sein Gesicht erleuchtete. Arthurs Atem stockte. Er kannte diese Person. Aber woher? Die Gänsehaut, die sich schon wieder auf seinen Armen ausbreitete, verhieß nichts Gutes.

Der Junge hatte sich bereits wieder abgewandt und die Richtung eingeschlagen, die zu Arthurs Schlafplatz führte. Ob er dort in der Nähe wohnte? Wahrscheinlich. Es sei denn, er hatte ein anderes Ziel. Ohne es wirklich zu registrieren, war Arthur aufgestanden und folgte dem Jungen mit einem sicheren Abstand. Er wusste nun, woher er ihn kannte. Er war in seinem Traum vorgekommen. An dessen Handlung konnte er sich nach wie vor nicht erinnern, aber das Gefühl war wieder zurück. Irgendwie spürte Arthur, dass er dem Fremden folgen musste.

Dieser führte ihn wirklich zuerst zur Koppel, aber daran vorbei auf einen Weg, der hinaus aus dem Ort führte. Allerdings war das keine Straße, sondern ein Wiesenweg. Arthur hatte schon eine dunkle Vorahnung, wohin er führen würde. Ein Blick in den Himmel zeigte ihm, dass diese Nacht Vollmond war, was Arthurs Vermutung noch bestärkte. Und er hatte Recht: Bereits wenige Minuten später sah er schon den Waldrand in der Ferne. In immer gleichem Tempo bewegte sich der Junge darauf zu. Er wurde nie langsamer, schneller, blieb nicht stehen, sah sich nicht um. Fast wie ferngesteuert, dachte Arthur sich. Fast wie er selbst vor einigen Tagen. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, aber als er daran dachte, umzudrehen, spürte er den Sog auch. Von da an wusste er, dass er nicht mehr umkehren konnte. Er würde mit dem Jungen in den Wald gehen, und was ihn dort erwarten würde, wollte er sich gar nicht ausmalen.

Kurze Zeit später hatten sie die ersten Bäume erreicht und wurden von ihrem Schatten verschluckt. Der Abstand zwischen Arthur und dem Fremden hatte sich merklich verkleinert, aber der andere schien ihn nicht zu bemerken. Arthur versuchte, im Wald möglichst keine Geräusche zu machen, aber das war beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. Immer wieder trat er auf einen Zweig, der laut knacksend brach. Doch der vor ihm drehte sich kein einziges Mal um.

Arthurs Herz fing an, schneller zu pochen, als der Junge den Weg verließ und scheinbar wahllos zwischen den Bäumen hindurchging. Doch Arthur wusste, dass er ein Ziel hatte, auch, wenn er es selbst nicht einmal wusste. Er selbst hatte bereits eine Vermutung, die sich mit jedem Schritt verstärkte. Auch seine Atmung wurde immer schneller, immer flacher. Nun war er dem Jungen bereits auf ein paar Meter Abstand auf den Fersen, doch er machte sich keine Sorgen mehr, dass dieser ihn bemerken könnte. Schließlich sah er, wie sich der Wald vor ihnen erhellte.

Der Junge betrat die Lichtung, ohne zu zögern. Arthur selbst blieb an ihrem Rand stehen, versteckt hinter einem Baum, und spähte vorsichtig dahinter hervor. Mit einem Schaudern bemerkte er, dass alle Mondblumen vollständig offen waren. Ein schwaches Leuchten ging von ihnen aus, und sie schienen sich in einer Brise zu bewegen, obwohl es vollkommen windstill war. Der Fremde war in der Mitte der Lichtung stehen geblieben, und hatte das Gesicht zu der anderen Seite der Lichtung gewandt, als ob er auf jemanden warten würde. Regungslos verharrte Arthur hinter seinem Baum, seine Finger klammerten sich an die Rinde. Dann, nach gefühlten Stunden, bewegte sich plötzlich etwas auf der gegenüberliegenden Seite. Ein Windstoß fuhr durch die Bäume, ließ Äste und Blätter erzittern, und Arthur meinte, ein Schnauben zu hören. Plötzlich zogen Nebelschwaden auf und nahmen den gesamten Boden der Lichtung ein. Wie Fesseln schlangen sie sich um die Beine des Jungen, doch dieser schien sich dessen nicht einmal bewusst zu sein. Angsterfüllt trat Arthur einen Schritt zurück hinter den nächsten Baum, und zuckte zusammen, als er dabei einen Zweig zerbrach. Zu seiner Erleichterung blieb der Nebel jedoch auf der Lichtung. Auf der anderen Seite jedoch ging er in den Wald hinein, dort war er bald so dicht, dass Arthur die Bäume nicht mehr erkennen konnte und die Lichtung keine sichtbare Begrenzung mehr hatte.

Der Mond stand nun bereits sehr hoch am Himmel und ließ die Nebelschwaden glitzern. Plötzlich teilten sie sich, und Arthur hielt ehrfürchtig den Atem an. Ein prächtiger Schimmel trat aus dem scheinbar undurchdringlichen Teppich hervor, aus seinen Nüstern trat heiße Luft, als er laut schnaubte. Arthur konnte die Muskeln unter der Haut spielen sehen, als das Pferd dort drüben herumtänzelte.

Der Junge in der Mitte streckte nun die Hand nach dem Tier aus. Die Geste hatte etwas Sehnsüchtiges, Verlangendes. Auch Arthur fühlte einen Sog, einen Willen, unbedingt diesem Lebewesen nahe sein zu wollen. Doch mit aller Kraft hielt er sich hinter dem Baum versteckt.

Der andere hatte sich nicht so gut unter Kontrolle: Schritt für Schritt legte er zurück, immer näher kam er dem Weißen. Dieser riss plötzlich den Schädel in die Höhe und Arthur erkannte ein Blitzen in seinen Augen. Er fühlte sich wie gelähmt, jede seiner Muskelfasern schien bis zum Zerreißen gespannt. Das Tier stieß einen schrillen Laut aus. Dann schlug es plötzlich alle vier Hufe in den Boden und preschte auf den Jungen zu. Dieser war stehen geblieben, sein Oberkörper beugte sich sogar leicht zurück, als würde ihm jetzt die Gefahr bewusst werden, in der er sich befand. Doch der Sog war immer noch zu stark - seine Beine blieben mit dem Boden verwurzelt.

Nur mehr wenige Meter trennten ihn von dem Pferd, als dieses die Zähne bleckte, welche im Mondlicht in genau demselben Ton leuchteten wie die Mondblumen. Was als nächstes geschah, erlebte Arthur wie in Zeitraffer. Das weiße Untier biss auf den Jungen ein, riss ihn an der Schulter zu Boden. Ein schmerzerfüllter Schrei fuhr Arthur durch Mark und Bein, und er wollte nicht aufhören. Im selben Moment ertönten weitere Hufschläge, als würde ein Donnergrollen auf Arthur zukommen. Drei weitere Pferde zeichneten sich aus dem Nebel heraus, auch sie stürmten auf die Mitte der Lichtung zu. Zu viert standen sie rund um ihr Opfer, sie zerfleischten es, Blut spritzte auf ihre samtenen Felle. Plötzlich riss der Schrei gurgelnd ab. Nun war nur mehr das leise Reißen von Stoff und Fleisch zu hören. Arthur spürte den Angstschweiß, der sich auf seinem Körper absetzte, doch er war nach wie vor unfähig, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen.

Schon bald war der Kopf des Schimmels rot gefärbt, die anderen waren zu dunkel, um eine Verfärbung zu bemerken.

Der Nebel lichtete sich schließlich, und die Monster ließen langsam von ihrem Opfer ab. Mit leicht gesenkten Häuptern standen sie dann daneben, und die Szene wirkte auf eine bizarre Art und Weise friedlich. Wären nicht das viele Blut und die Leiche am Boden.

Plötzlich fuhr ein Ruck durch Arthurs Körper, und er bemerkte, dass er wieder volle Kontrolle über ihn hatte. Probeweise zuckte er mit dem kleinen Finger, und dieser folgte seinem Befehl. Arthurs Herz raste, die Tiere durften ihn hier nicht entdecken, sonst war er der Nächste. Hektisch blickte er sich um, doch er wusste nicht, wie er sich unbemerkt entfernen könnte. Er würde wohl hier verharren müssen, bis sie verschwunden waren. Arthur schluckte trocken. Jetzt, wo er die Gefahr kannte und ihr quasi Aug in Aug gegenüber stand, fühlte er sich dennoch nicht besser als die Tage zuvor, als er es sich zur eingebildet hatte. Wobei das auch seine schlimmsten Vorstellungen übertraf. Pferde, die eigentlich friedliche Tiere waren, Fluchttiere - töteten hier Menschen.

Eine Erkenntnis drang plötzlich an Arthurs Gedankenstrom. Er war so gefesselt gewesen von diesem Schauspiel, dass er den naheliegendsten Gedanken verdrängt hatte. Diese Pferde waren Blutmondgeboren. Es musste so sein. Warum sonst wäre er hier?

Dieses Wissen beruhigte Arthur, leise stieß er die aufgestaute Luft aus. Er musste nun klar denken. Was sollte er jetzt tun? Die Tiere hielten nun anscheinend ein kleines Verdauungsschläfchen, aber wenn er ihr Jäger war, musste er sich ihnen erkenntlich machen. Würde er versuchen, wegzulaufen, würde sich vermutlich irgendein anderer Weg ergeben, um ihn zu ihnen zu führen.

Also atmete er noch einmal tief durch und trat dann einen Schritt zur Seite. Es war nun kein Hindernis mehr zwischen ihm und den vieren. Wenn sie den Kopf drehten, würden sie ihn sofort bemerken. Doch sie taten es nicht.

Minutenlang blieb Arthur unschlüssig stehen, bis er einen weiteren Schritt nach vorne wagte. In seinen Adern strömte Adrenalin, sein Körper wusste nicht, wie er mit einer solchen Situation umgehen sollte. Sollte er sich fürchten, sollte er sich sicher fühlen? Immerhin war er als Jäger immun, oder nicht? Es gab keinen anderen Grund als dieses Märchen, warum diese Pferde diese Eigenschaften zeigten.

Eine Bewegung riss Arthur aus seinen Gedanken. Eines der Tiere hatte ihn bemerkt, denn es fixierte ihn mit seinem Blick. Arthur war wie gebannt. Sein Geist leerte sich, und er starrte nur auf das Pferd, das sich nun langsam auf ihn zubewegte. Sein Körper war nicht mehr der seine, denn seine Beine machten einen Schritt nach dem anderen nach vorne, ohne Arthurs Willen.

Schließlich stand er Aug in Aug mit dem Monster, es trennten sie nur Zentimeter. Arthur konnte den heißen Atem des Tieres in seinem Gesicht spüren, er jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Sein Körper zitterte, als das Pferd um ihn herumging, sein Maul an ihm rieb und ihn anschnaubte. Er war wieder erstarrt. Auch die anderen hatten ihn nun bemerkt und kamen auf ihn zu. Nun erkannte Arthur auch ihre eigentlichen Fellfarben: das, dass ihn zuerst bemerkt hatte, war rötlich wie die untergehende Sonne, ein anderes war braun und das dritte schwarz wie Kohlenstaub. Sie alle umtänzelten ihn nun, und Arthurs Arm streckte sich aus, um ihre seidigen Felle zu berühren.

Die Tiere bewegten sich so, dass sie ihn in die Mitte der Lichtung drängten. Arthur war nun wieder Führer seines Körpers, doch er fügte sich dem Willen der Tiere. Als sie in der Mitte angekommen waren, pressen plötzlich alle vier Pferde ihren Kopf gegen Arthur. Ein Ruck ging durch dessen Körper, und plötzlich war er frei.

Körperlos flog er durch die Luft, die Windböen spielten mit ihm als wäre er eine Feder und als er seinen Geist nach unten richtete, blickte er auf die Szene hinab. Doch dieser Moment war nur von kurzer Dauer, denn er gelangte in einen heftigen Strudel, Bilder rasten vor seinem geistigen Auge vorbei, er hörte Geräusche, die er noch nie wahrgenommen hatte und spürte Dinge, die nicht dazu passten.

Der Himmel war rot wie Blut. Eine helle Scheibe, ein Blitz. Donnergrollen, dann Stille. Kalte Tropfen auf seiner Haut, dann Hitze, unendliche Hitze. Finsternis, wieder ein Donner, doch es blieb finster. Eisige Kälte kroch seinen Nacken hinauf, pflanzte sich unter seine Haut und klammerte sich um sein Herz. Er war blind, um ihn herum war niemals endende Dunkelheit.

Hass, Wut, Einsamkeit. Eine Woge der Gefühle durchspülte ihn, dass er glaubte, er müsste daran zerbrechen. Sein Geist wurde herumgewirbelt wie ein Blatt in der tobenden See, er hatte keine Anhaltspunkte, nur diese Angst, die an ihm nagte und ihn aushöhlte. Innen war er gefroren, von außen näherte sich wieder die Hitze. Dann etwas Warmes, Dickflüssiges in seinem Gesicht. Es drang in seinen Mund, schmeckte bittersüß. Verlangen, heißer Hunger pochte in ihm, bekriegte sich mit dem Eis, das sein Innerstes besiedelte. Schließlich nahm die Hitze Überhand, und sein ganzer Körper tauchte ab in die sanften Wogen der süßen Flüssigkeit. Hin und wieder drohte er, daraus aufzutauchen, doch kurz davor wurde er wieder hinunter gezogen. Ruhe, Friede. Nichts konnte ihm etwas anhaben.

Immer länger trieb er in diesem gleichbleibenden Saft, immer weniger fühlte er. Die Süße verschwand, die Wärme mit ihr. Leere, Leere überall. Er war nur mehr ein einziges großes Loch, ein Nichts.

Langsam trieb er wieder zurück an die Oberfläche, durchbrach sie. Schmerzen, Hitze, Eiseskälte. Alles fuhr ihm zugleich in die Glieder, schlug auf ihn ein, als wollten sie ihn vernichten. Wie gerne hätte er sich ihm hingegeben, hätte sich mitnehmen lassen, zurück ins Nichts. Doch es gab kein Zurück.

Alles pochte, schmerzte, stach, dröhnte. Hin und wieder meinte er, die Süße schmecken zu können, doch schnell wurde sie von Bitterkeit verdrängt. Die Kälte kam zurück, und die Finsternis. Sie hielt ihn gefangen, zerrte an ihm, doch er konnte nicht loslassen.

Schließlich spuckte sie ihn aus, und langsam trudelte er zurück in seinen Körper auf der Lichtung.

 

Nach Luft ringend taumelte Arthur zurück. Die Pferde waren weggetreten, ließen ihm mehr Platz. Was war das gerade geschehen? Vor seinen Augen tanzten noch Sterne, sein Herz raste und er musste sich vorneüber beugen und auf den Oberschenkeln abstützen, sonst wäre er wahrscheinlich umgefallen.

Minutenlange blieb er in dieser Position, während er sich den Blicken der Tiere immer bewusster wurde. Schließlich richtete er sich wieder auf.

"Was zum Teufel wollt ihr?" Er gestikulierte mit den Händen in ihre Richtung, machte kräftige Schritte auf sie zu, doch die Monster wichen nur kurz einen Schritt zurück, um diesen dann wieder auf ihn zuzumachen.

"Verschwindet! Das ist alles nicht wahr!" Arthur war voller Zorn, Wut, Angst. Er brüllte auf die Tiere ein, doch diese schien das nicht zu stören. Als er das bemerkte, blieb er zitternd stehen. Seine Arme hingen schlaff neben seinem Körper hinab, und die Tränen strömten ungehindert über seine Wangen. Wieso musste das ihm passieren? Was sollte er denn jetzt machen?

Plötzlich schnaubte eines der Pferde, das Schwarze. Es trat auf ihn zu und Arthur hätte schwören können, dass es ihn mit einem warnenden Blick bedachte. Er riss die Augen auf, doch er wich nicht zurück. Wieder spürte er diesen Bann, der von dem Tier ausging und dem er sich nicht entziehen konnte.

Als der Rappe sich dann blitzartig umwandte, duckte sich Arthur instinktiv. Doch nichts geschah, die anderen drei wendeten sich ebenfalls ab und gemeinsam verließen sie die Lichtung. Arthur blieb zurück, wenige Meter neben ihm lag noch die Leiche des toten Jungen. Die ersten Sonnenstrahlen ließen das Blut schimmern, und Arthur wandte den Blick ab. Nun, da er alleine war, fühlte er in sich hinein. Irgendetwas fehlte, ein Teil von ihm war fort, das spürte er. Aber etwas seltsames, Unbekanntes, Wildes wütete in dieser Leere.

Arthur ballte die Hände zu Fäusten, sodass die Adern hervortraten. Er durfte nicht in Selbstmitleid versinken, er musste stark bleiben. Er würde diese Lichtung verlassen, alles hinter sich lassen, nach Hause fahren und dieses Wochenende vergessen.

Sobald er den Gedanken fertig gedacht hatte, brach er keuchend zusammen. Ein heißer Schmerz durchzuckte seinen Körper, als hätte er einen seltsamen Anfall. Sein Herz stockte, und ihm brach überall der Schweiß aus. Arthur wand sich am Boden, ihm wurde schwarz vor Augen. Beinahe hoffte er schon, er würde in Ohnmacht fallen, nur um diesem Schmerz zu entgehen, doch nichts änderte sich an seinem Zustand. Sein Magen verkrampfte sich, es war ein Gefühl als würde ihn eine Säure von innen zerfressen, und ihm gleichzeitig jemand bei lebendigem Leibe alle Organe entreißen.

Obwohl es beinahe unmöglich war, fasste er einige konkrete Gedanken. Es musste etwas mit diesem neuen Teil zu tun haben, der nun ein Teil von ihm war. Es musste etwas mit diesem extrakörperlichen Erlebnis zu tun haben, es musste mit den Pferden zusammenhängen. Sie kontrollierten ihn, wurde ihm bitter bewusst. Er war ihn Jäger, sie konnten ihn nicht mehr gehen lassen.

Arthur nahm all seinen Mut und seine Kraft zusammen und dachte: Ich werde bleiben. Mit einem Schlag setzte der Schmerz aus. Alle Muskeln entspannten sich, nur noch sein Atem raste und der Herzschlag holperte von der Anstrengung. Arthur schloss die Augen und blieb erschöpft liegen. Na toll, seine Vermutung war also richtig gewesen. Es gab kein Zurück mehr.

 

Die Busfahrt lief reibungslos. Zufälligerweise war genau dann ein Bus gekommen, als Arthur an der Bushaltestelle ankam. Auch die Wartezeiten dazwischen kamen ihm nicht so schlimm vor. Arthur nutzte die Zeit, um seinen Gedanken nachzuhängen.

Er war nun offiziell ein Jäger, und er hatte seine Blutmondgeborenen gefunden. Doch was nun? Lag es nun tatsächlich in seinen Händen, diese Monster zu stoppen?

Nein, schaltete er sich. Er musste sie nicht stoppen, er musste sie erlösen. Arthur war zu dem Schluss gekommen, dass diese seltsame Erfahrung auf der Lichtung Erinnerungen der Tiere gewesen waren, mit denen sie ihn an sich gebunden hatten. Oder so Ähnlich auf jeden Fall. Arthur konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, ständig damit leben zu müssen. Er hatte nur einen kurzen Ausschnitt davon miterlebt, doch um nichts in der Welt würde er sich das freiwillig wieder antun. Selbst die guten Teile, als alles um ihn süß und warm gewesen war, ließen ihn erzittern, sobald er daran dachte.

Er musste herausfinden, was er tun konnte. Er würde Alice um Rat bitten, und seinen Vater einweihen, beschloss er. Dieser hatte ihn schließlich auf die Idee gebracht, und wenn er den Pferden helfen wollte, würde er das nicht von einer fünfstündigen Entfernung aus machen können. Bei dem Gedanken an einen möglichen Umzug stellten sich ihm alle Haare auf. Er wollte nicht weg von zu Hause. Er wollte nicht weg von seinen Freunden. Er wollte keinen Neuanfang. Aber er musste diesen Schritt wagen, dem war er sich sicher.

 

Zuhause angekommen wurde er von seinem Vater empfangen. Dieser saß auf dem Küchentisch und sprang sofort auf, als er Arthur bemerkte.

"Himmel, ich hab mir Sorgen gemacht! Wieso gehst du nicht an dein Handy? Du hast gesagt, du meldest dich, wenn du zu Mara fährst!"

Arthur öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber kein Wort kam heraus. Hilflos stand er vor seinem Vater, dessen Blick ihn verblüfft und dann mitleidig musterte. Schließlich trat er auf ihn zu und tat etwas, was schon lange nicht mehr passiert war: Er zog Arthur an seine Brust und umarmte ihn ganz fest. Dieser konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten, obwohl er mit allem, was er hatte, dagegen ankämpfte. Was war er denn für ein Weichei, er konnte nicht einfach so zu heulen beginnen!

Dennoch ließ er sich kurz halten, dann löste er sich. Schnell wischte er sich über das Gesicht, um die verräterischen Spuren zu verwischen.

"Was ist denn passiert? Du bist ganz zerkratzt überall", stellte sein Vater fest.

Arthur schluckte und ging dann ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa. Sein Vater folgte ihm.

"Du hattest Recht", begann Arthur. "Großvater hatte Recht. Das Märchen hatte Recht." Er schüttelte den Kopf, schloss die Augen und wartete darauf, dass sein Vater ihm widersprach, um ihn zu beruhigen. Doch dieser schwieg. Also begann Arthur, zu erzählen: "Ich bin wie angekündigt Mara besuchen gefahren. Sie wohnt in Sedemoid."

Sein Vater brauchte ein paar Sekunden, bis er begriff. Er hob die Augenbrauen und wartete, dass Arthur weitererzählte.

"Ich hab zuvor auch mit einer aus dem Internet geschrieben, wegen der Blutmondgeborenen und so. Die meinte, dass es natürlich sein kann, dass quasi das Schicksal Mara geschickt hat, um mich nach Sedemoid zu bringen." Seine Stimme war bitter und rau, er räusperte sich. "Ich wollte mir sicher sein, dass diese Theorie entweder stimmt, oder man sie verwerfen kann. Also bin ich zu Mara gefahren, und bin in den Wald gegangen."

Furcht war in den Augen seines Vaters zu sehen, und auch Wut. "Du weißt schon, wie gefährlich das war. Du hättest getötet werden können!"

Arthur zuckte zusammen. "Ich weiß." Seine Stimme war nur ein Flüstern, und der Blick seines Vaters wurde wieder weicher.

"Aber ich musste es versuchen. Zuerst bin ich also am Tag mit Mara in den Wald gegangen." Er machte eine kurze Pause, überlegte, wie viel er erzählen sollte. An diesem Tag hatte er sich vor sich selber geekelt, er wollte dieses Erlebnis eigentlich nicht teilen. "Wir haben niemanden gesehen. Also bin ich in der Nacht noch einmal alleine hinein gegangen." Wieder traf ihn ein harter Blick, doch dieses Mal ließ er sich nicht einschüchtern und sprach mit trockener Stimme weiter. "Es war ein bisschen unheimlich, aber das ist ja jeder Wald in der Nacht", versuchte er die Stimmung etwas aufzulockern, bevor er die Erlebnisse der letzten Nacht erzählte.

"Und dann?", fragte sein Vater schließlich, als die Pause zu lange wurde.

Arthur schluckte schwer. "Ich wollte gestern eigentlich schon nach Hause kommen, und die Sache auf sich beruhen lassen. Aber dann habe am Nachmittag noch mit Mara etwas gemacht, die Zeit ist verflogen, und es war wieder Nacht. Ich bin einem fremden Jungen in den Wald gefolgt." Seine Haare stellten sich auf, als er daran dachte und sein Herz begann erneut, wild zu pochen. "Es war wie in einem Sog, ich konnte nicht anders. Im Wald sind wir dann auf eine Lichtung gekommen, und dort ist es passiert." Er schloss die Augen, wollte nicht sehen, wie sein Vater ihn anblickte bei seinem Geständnis. "Vier Pferde waren es. Sie haben ihn in Stücke gerissen. Mir haben sie nichts getan. Zuerst." Er erschauderte und zog den Kopf zwischen die Schultern, als könnte er sich nachträglich davor schützen. "Dann sind sie auf mich zugekommen, und etwas ist passiert. Ich weiß nicht, ich war plötzlich nicht mehr in meinem Körper, sondern bin durch ihre Erinnerungen gereist." Er zupfte mit den Fingern nervös an seiner Hose. Ihm war bewusst, wie krank das alles klingen musste. Doch sein Vater unterbrach ihn nicht.

"Dann sind sie verschwunden, und ich hab mir vorgenommen, den Wald, Sedemoid, das alles zu verlassen und es zu vergessen."

"Aber sie ließen dich nicht."

Erstaunt hob Arthur den Kopf. Woher... ? "Nein", flüsterte er.

Sein Vater seufzte und schien plötzlich um zehn Jahre gealtert. "Die Geschichte deines Großvaters war ähnlich. Wenn du mit ihnen verbunden bist, kannst du nicht mehr weg. Sie werden dich nicht in Ruhe lassen, bis sie bekommen, was sie wollen."

Arthur ließ den Kopf in seine Hände sinken und raufte sich die Haare. Dann stand er auf und tigerte im Raum auf und ab. Ruckartig blieb er dann vor seinem Vater stehen und blickte ihn verzweifelt an. "Aber was soll ich denn jetzt machen? Ich hab keine Ahnung, was die von mir wollen!"

Sein Vater zuckte mit den Schultern, er sah so hilflos aus wie Arthur sich fühlte. "Du wirst es herausfinden. Was auch immer es ist, ich bin mir sicher, du wirst es schaffen."

"Hat Großvater dazu nichts gesagt?"

Sein Vater schüttelte den Kopf. "Er hat es versucht, aber ging nicht. Wahrscheinlich ebenfalls die Kontrolle der Blutmondgeborenen. Den Hauptteil müsst ihr Jäger anscheinend alleine durchstehen." Er verzog den Mund zu einem miserablen Lächeln. "Aber wenn ich dir sonst irgendwie helfen kann, lass es mich wissen. Ich bin für dich da, Arthur."

"Ich weiß. Danke, Paps."

 

Die nächsten Tage erschienen Arthur fast unreal. Alles war wie immer, was nach diesen Vorkommnissen überhaupt nicht mehr gewohnt schien. Die Leute in seiner Klasse ätzten herum, Moe war Moe, seine Lehrer beschwerten sich über nicht gemachte Hausaufgaben, und er selbst war meistens zu sehr in Gedanken versunken, um irgendetwas mitzubekommen.

"Huhu, Arthur?!" Gerade fuchtelte wieder jemand mit der Hand vor seinem Gesicht herum.

"Der ist in den letzten Tagen schon so, das kannste vergessen." Arthur riss es aus seiner Starre.

"Hm, ja, 'tschuldigung, was?" Sein Mittagsessen stand unberührt neben ihm, er saß neben Moe in der Cafeteria und es war Beth, die nach seiner Aufmerksamkeit verlangte.

"Ich hab gefragt, wie es denn mit der vom der Party läuft. Mira, oder?"

Ein Stich durchfuhr Arthurs Brust. "Mara", presste er hervor. Dann räusperte er sich und versuchte, Beth in die Augen zu sehen. "Wir haben uns ein paar Mal getroffen, ja."

Beth nickte ganz langsam, als hätte sie es mit einem Bekloppten zu tun. "Und weiter?" Sie betonte jede einzelne Silbe.

Arthur zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Was erwartest du denn? Dass wir zusammenziehen, Haus bauen und Kinder bekommen?"

Moe neben ihm schüttelte den Kopf. "Sag ich doch."

Beth stöhnte dagegen auf. "Ach Arthur, was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen? So kenne ich dich ja gar nicht!"

Arthur verdrehte die Augen und stand auf. Sein Tablett nahm er unangerührt mit. "Ist ja nicht dein Problem, oder?" Mit diesen Worten wand er sich ab und ließ Beth mit offen stehendem Mund zurück. Moe sprang auf und folgte ihm.

Sobald sie aus dem Raum waren packte er Arthur am Kragen seines Pullis. "Ernsthaft, Mann! Das gibt's doch nicht, was geht mit dir denn ab?"

Arthur griff nach Moes Handgelenken und zog ihn von ihm weg. "Lass mich einfach, okay?"

Er riss sich los und ging schnellen Schrittes hinaus aus dem Schulgebäude. Zwar hätte er noch zwei Stunden Kunst, aber das war ihm im Moment egal. Er musste weg hier. Weg von den Menschen, die eigentlich seine besten Freunde waren. Aber was sollte er machen, er konnte darüber nicht mit ihnen sprechen. Er hasste es, nicht mit ihnen darüber reden zu können, aber das würden sie ihm niemals glauben.

 

Zuhause ließ er die Tür laut ins Schloss fallen. Beinahe hoffte er schon, sein Vater würde ihn ermahnen, aber dieser war ja nicht daheim.

Arthur schmiss seine Schulsachen im Wohnzimmer auf den Boden und lief die Treppe hinauf in sein Zimmer. Dort setzte er sich an den Laptop. Er hatte in den letzten paar Tagen immer mit Alice hin und hergeschrieben, die ihm dringendst riet, nach Sedemoid zu ziehen. Natürlich hatte er auch schon daran gedacht, aber er wollte nicht hier weg. An seinen Vater musste er auch denken, ein Umzug war nicht immer etwas, was man einfach so machen konnte.

Als er seine Mails checkte, war wieder eine neue Nachricht von Alice angekommen.

 

Lieber Arthur,

lass mich dir noch einen letzten Tipp geben: Du hattest mir doch erzählt, dass die Blutmondgeborenen dich sofort Schmerzen fühlen ließen, als du dich im Geiste für etwas für sie Falsches entscheiden wolltest. Im Moment wirkt es auf mich so, als wärst du zwiegespalten, also du weißt nicht, ob du bleiben oder deinen Vater zu einem Umzug überreden sollst. Ich würde nun also an deiner Stelle versuchen, dich dazu zu entscheiden, zu bleiben. Aber es muss ein wirklicher Entschluss sein, ein glaubhafter, einer, den du wirklich durchziehen möchtest. Nur so kann es funktionieren.

Denn wenn es nicht im Sinne der Blutmondgeborenen ist, dann werden sie es dich wissen lassen, dass diese Entscheidung falsch ist. Natürlich könnte man darüber diskutieren, ob ihre 'Reichweite' so groß ist. Aber wäre sie das nicht, hätten sie dich niemals gehen lassen. Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert!

Halt mich am Laufenden,

Alice

 

Arthur las das Mail noch ein zweites Mal und schloss dann den Browser. Alice war nicht dumm, auf diese Idee hätte er von selber auch schon kommen können. Aber wie wollte er sich glaubhaft selbst davon überzeugen, dass er bleiben wollte?

Wobei - so schwierig konnte das auch wieder nicht sein. Er ging im Kopf eine Pro-und-Kontra-Liste durch, allerdings betrafen die Pros alle Dinge, die beim Hierbleiben gut waren, und die Kontras alles, was in Sedemoid schlechter werden würde.

Bei Pro wäre dann auf jeden Fall einmal das bereits errichtete Leben - anders müsste er noch einmal von ganz von vorne anfangen, das wollte er eigentlich nicht wirklich.

Ein weiteres Pro waren seine Freunde hier. Bei einem Umzug würden sie sich nur mehr ganz selten sehen. Auch, wenn ihre Stimmung momentan seinetwegen etwas frostig war, konnte er sich ein Leben ohne sie nur schwer vorstellen.

Ein Kontra wäre, dass in Sedemoid auch Mara war, die in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten oder gar Jahren von ihm Abstand halten wollte. In einem Minidorf war dies nicht so einfach als mit fünf Autostunden zwischen ihnen.

Noch ein Punkt gegen einen Umzug war natürlich sein Vater. Zwar konnte Arthur sich ausmalen, dass er es irgendwie schaffen würde, auch in Sedemoid seinem Beruf nachzugehen, aber es wäre allemal ein großer Aufwand.

Gut, das musste eigentlich auch reichen. Es war also ein ganz klarer Fall - hier zu bleiben war toll, und ein Umzug kam nicht wirklich in Frage.

Arthur dachte noch einmal fest an seinen Entschluss: Ich bleibe also hier. Dann horchte er in sich hinein. Spürte er etwas? Schmerzen? Keine akuten. Vielleicht bauten sie es dieses Mal langsamer auf? Aber auch nach fünf Minuten war noch nichts passiert. Arthur fühlte sich immer selbstbewusster, er hatte also eine Entscheidung getroffen, und sie war anscheinend gut angenommen worden.

Erleichtert atmete er aus, doch ihm kamen sogleich wieder Zweifel. Wie sollte er denn bitte von hier aus die Monster befreien?

Ein Geräusch unten im Haus lenkte seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung. Sein Vater schien gerade nach Hause gekommen zu sein, und es wurde daher Zeit für das Abendessen. Arthur verließ sein Zimmer und lief die Treppe nach unten.

"Hallo, Paps!", begrüßte er seinen Vater.

"Hallo, Arthur. Du wirkst aber ... glücklich heute", stellte dieser mit einer vor Überraschung in Falten gelegten Stirn fest.

Arthur grinste breit. "Ja, das kann man wohl so sagen. Ich hab gerade etwas ausprobiert, und bin-" Mit einem Schlag änderte sich seine Mimik. Ein plötzlicher Schmerz ließ ihn nach Luft schnappen. Er krümmte sich zusammen und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Sein Vater war sofort bei ihm und hielt ihn an den Schultern fest, dass er nicht zu Boden stürzte.

"Arthur, hey, was ist los?"

Arthurs Gedanken setzten aus. Es war wieder jener Schmerz, den er Tage zuvor auf der Lichtung verspürt hatte. Sie waren wohl mit etwas nicht ganz einverstanden.

Verdammt, ich ziehe um!, jaulte er in Gedanken und sofort ließen sie von ihm ab.

Keuchend vor Anstrengung ließ Arthur sich auf den nächstbesten Sessel fallen und sein Vater stand entgeistert neben ihm. Sorgenvoll schaute er ihn an, hatte jedoch seine Hände schon von ihm genommen.

"Wir müssen umziehen", verkündete Arthur schließlich mit erstickter Stimme.

Sein Vater atmete tief aus und setzte sich gegenüber von Arthur ebenfalls auf einen Stuhl. "War das gerade so etwas, waren sie das?" Arthur konnte die Angst in seiner Stimme hören und nickte schwach.

"Ja. Ich wollte dir eben erzählen, dass ich hier bleiben will. Eigentlich dachte ich, ich hätte es vorhin oben in meinem Zimmer schon beschlossen, aber anscheinend doch nicht." Er drehte sich Richtung Tisch, stützte sich mit den Ellbogen darauf ab und legte den Kopf in seine Hände. Eine kurze Stille entstand, in der sein Vater betroffen schwieg.

Arthur hob den Blick. "Ich will hier nicht weg, Paps. Ich will nicht zu ihnen."

Die Augen seines Vaters zuckten kurz zu ihm, dann wieder weg. Er konnte seinem Blick nicht stand halten. "Es tut mir so leid, Arthur. Aber wie ich gesagt habe - ich werde dich unterstützen, wo ich nur kann. Und wenn wir umziehen müssen, dann werden wir das auch machen. Es muss ja nicht für immer sein!" Dann stand er auf, klopfte Arthur kurz auf die Schulter und verschwand dann in die Küche. "Ich mach uns eine Pizza zum Abendessen, passt das für dich?"

 

Eine Woche später war es bereits so weit: Das Haus, das Arthur vor Wochen im Internet gesehen hatte, stand immer noch zum Verkauf. Es war sogar relativ preiswert, und so kauften sie es auf einen kleinen Kredit. Arthurs Vater tätigte einige Telefonate, die Arthur in der Sedemoider Schule anmeldeten und ihm selber ermöglichten, dort zu arbeiten.

Arthur erzählte seinen Freunden nur das Nötigste, einzig Moe sagte er, dass es auch wegen Mara sei. Ansonsten wäre dieser ihm ewig böse gewesen, aber für ein Mädchen... Er fand es verrückt, aber hatte ein kleines bisschen Verständnis.

Arthur hob gerade die letzte Kiste in den Umzugswagen, dann wischte er sich die Handflächen an seiner Hose ab und setze sich ins Auto. Sein Vater stieg auf der Fahrerseite ebenfalls ein.

"Na dann, auf in ein neues Abenteuer!" Er versuchte, euphorisch zu klingen, aber Arthur fühlte sich hundsmieserabel. Er wollte nicht weg, er wollte nicht nach Sedemoid, er wollte nichts mit diesen Monstern zu tun haben, und er wollte nicht jeden Tag in Maras Nähe sein müssen. Ihr hatte er noch nicht Bescheid gesagt, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich irgendwo über den Weg laufen würden. Wenn sie es nicht sowieso schon wusste, immerhin hatte vielleicht schon jemand erzählt, dass sie das Haus gekauft hatten. So etwas verbreitete sich ja teilweise wie ein Lauffeuer, noch dazu in einem Dorf, das den letzten Zuwanderer wahrscheinlich vor über zehn Jahren hatte.

In den fünf Stunden Autofahrt schwiegen die beiden die meiste Zeit. Arthur hatte sein Handy an den Radio angesteckt und sie hörten Musik, und hin und wieder warf sein Vater ihm besorgte Blicke zu, aber ansonsten kommunizierten sie wenig.

 

Endlich bogen sie in die Hauptstraße von Sedemoid ein. Arthur hatte auf Google Maps nachgeschaut, wo sich das Haus genau befand. So wusste er, dass sie noch auf die andere Seite des Ortes mussten, und dort dann ziemlich am Rand würde es sein.

Langsam lenkte sein Vater den Wagen durch die schmalen Straßen, die absolut nicht ausgelegt waren für Fahrzeuge, die länger als zehn Meter waren. Irgendwie schafften sie es aber trotzdem, unbeschadet anzukommen.

Als Arthur ausstieg, streckte er sich zuerst einmal. Die lange Autofahrt hatten sie ohne Pausen zurückgelegt, und waren dementsprechend verspannt und ermüdet. Sein Vater machte sich bereits am Hinterteil des Vehikels mit den Umzugskartons zu schaffen, während Arthur auf das Gebäude zuging. Letzte Woche war er hier nie vorbeigekommen, es war auch ein bisschen abseits hier. Das Haus war Teil einer kleinen Reihensiedlung, es gab noch etwa drei bis fünf weitere Häuser auf jeder Seite, die in etwa gleich aussahen. Jedes verfügte über denselben langweilig grauen Anstrich, die hölzerne Haustüre, das graue Garagentor, von dem der Lack bereits überall abblätterte. Die Garten unterschieden sich ein wenig voneinander: In einem blühte ein Rosenbaum, in einem anderen war ein Gemüsegarten angelegt. Manche setzten auf Rasen, und in ihrem Garten hatte das Unkraut überhandgenommen. Über den Gartenzaun schlängelte sich Efeu, und Arthur musste das Tor, das in den Garten führte, erst von einer dicken Ranke befreien, ehe er es öffnen konnte.

"Paps, wo ist denn der Schlüssel?" Er drehte sich um und ging zurück zum Auto. Dort fischte sein Vater den Schlüsselbund aus seiner Jackentasche und reichte ihn Arthur. Dieser bedankte sich und ging zur Haustür, um diese aufzuschließen. Dort bemerkte er allerdings, dass diese sowieso offen gestanden hatte. Leicht verwundert zog er sie auf. Kalte, abgestandene Luft schlug ihm entgegen, und er öffnete die Tür sofort, soweit es nur ging. Dann trat er einen Schritt hinein und sah sich um. Er befand sich in einem kleinen Vorraum, der genug Raum für etwa fünf Paar Schuhe und drei Jacken bot. Seufzend ging Arthur weiter in einen schmalen Gang, von dem aus einige Türen in weitere Zimmer führten. Er öffnete die erste und betrat ein leeres Zimmer. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne, und ein Fenster bog Aussicht auf den wuchernden Garten. Arthur ging wieder zurück und spähte in den nächsten Raum. Das dürfte die Küche sein, denn es befanden sich viele Anschlüsse an einer Wand. Gegenüber war eine Aussparung in der Mauer, ohne Tür jedoch, die in das nächste Zimmer führte. Das würde dann wahrscheinlich das Speisezimmer sein, dieses konnte man von dem Gang aus nicht betreten.

Arthur musste also wieder zurück gehen, um den nächsten Raum besichtigen zu können. Es war ein Eckzimmer mit zwei Fenstern, die hinter das Haus und neben es zeigten. Mit passender Einrichtung gäbe das wahrscheinlich gar kein so schlechtes Schlafzimmer ab.

Der nächste Raum war größer und ebenfalls ein Eckzimmer, allerdings zeigte eines der Fenster auf die Straße hinaus. Das letzte Zimmer, das wieder neben dem Vorraum lag, war das Bad. Dieses war bereits fertig installiert, sogar eine Badewanne war darin zu finden, aber bei näherer Betrachtung zog Arthur angewidert den Kopf zurück. Die Abflüsse waren bräunlich verfärbt, auch die Fliesen am Boden hatten nicht mehr viel von dem ursprünglichen Weiß. Den Duschvorhang wagte Arthur nicht einmal anzugreifen, und als er vorsichtig den Wasserhahn aufdrehte, war das Wasser braun.

Arthur presste die Lippen zusammen und schloss die Augen, dann atmete er tief durch. Es war nur vorübergehend. Nur, bis er diese verdammten Pferde befreit hatte.

 

Als er wieder nach draußen trat, ließ er die frische Luft durch seine Lungen strömen. Dann ging er zu seinem Vater, der bereits alle Kartons aus dem Auto geladen hatte.

"Die würde ich noch hier lassen. Das Haus gehört vorher dringend ausgelüftet, und auch putzen würde ich, bevor wir da irgendetwas hineinstellen!"

Sein Vater runzelte die Stirn. "So schlimm?"

Arthur nickte knapp und der Vater seufzte. "Na dann, an die Arbeit!" Er bückte sich nach einem Karton, öffnete ihn kurz und hob ihn dann hoch. "Ich hab hier schon Putzzeug, geh du mal alle Fenster aufmachen, und dann nehmen wir uns ein Zimmer nach dem anderen vor!"

Seufzend ergab sich Arthur seinem Schicksal. Es war bereits am Nachmittag, es würde ewig dauern, bis sie alles durchgeputzt hatten. "Lass uns vielleicht mit dem großen Zimmer in der Ecke vorne anfangen, da können wir dann dort alle Sachen reintragen und heute dort schlafen", schlug er vor und zeigte seinem Vater den Weg. Dieser warf einen Blick auf die Glühbirne, sagte aber nichts.

 

Es dauerte nicht einmal zwei Stunden, da war das Zimmer frisch geputzt und die Sachen hineingetragen. Am Boden befanden sich zwei Matratzen, die sie mitgenommen hatten. Arthur ließ sich auf eine davon fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. "Ich bin hundemüde. Machen wir doch morgen weiter!"

"Leg dich du ruhig schon hin, ich werde mir noch die Küche anschauen. Die soll ja schließlich auch so bald wie möglich einsatzfähig sein, übermorgen wird die Küche geliefert."

"Hmmm", murmelte Arthur nur mehr, kuschelte sich in seine Decke und war auch schon eingeschlafen.

 

Der Mond steht hoch am Himmel. Etwas klirrt, ein metallisches Geräusch. Rot, alles ist rot. Schwarz, weiß, braun, aber so viel rot. Muskeln spielen, der Mondschein bricht sich darauf. Die Mähne weht im Wind, zerzaust die Strähnen. Ein dumpfes Pochen. Hammerschläge, Donnergrollen. So rot.

Eine Hand, so weich, so warm. So rot. Weit in der Ferne, aber doch so nah. So vertraut, so rot. Brennendes Verlangen, sanftes Schmetterlingsflattern, eine innige Verschmelzung. Ein Blitz schlägt ein, etwas zerberstet. Splitter überall.

Die Hand so fern. So bleich, so kalt. Sie berührt das Rot. Eine rote Hand. Immer näher, durch den Mondschein, die Sonne. Zärtliche Berührung, sie entzieht sich. Sehnsucht, alles wird kalt. Eine zweite Hand, hellrot. Fordernd, tanzend. Ein Streicheln über das rote Fell.

Heißes Schnauben, Schweiß. Donnergrollen, alles verschwimmt im Nebel. Rotschwarzbraunweiß ist die Nacht. Pferde, Leiber, dazwischen Mädchen. Sie berühren die Pferde, verschmelzen mit ihnen. Hitze, Kälte, Blut.

Am Himmel die Sterne rot. Sie bluten, sie leiden, sie fallen. Striemen durchziehen die Nacht, schmerzerfüllte Schreie, soviel rot. Hinter den Pferden Mädchen, sie tanzen, verschmelzen. Macht, so erdrückend, die Finsternis so schmerzvoll. Keine warme Hand des Trostes, kein rot mehr. Nur Macht.

Leere, Freiheit, Luft. So viel Luft. Eiskalte Luft, sie reißt alles auf, durchdringend unaufhaltsam. Zu viel Luft, keine Luft. Blütenweiß, alles rein. Kein Rot, aber schwarz. Tiefe Dunkelheit, unauslöschlich. Der Fall, so weit, so bitterkalt.

 

Arthur schreckte hoch. Gehetzt blickt er sich um, bis sein Blick auf seinen Vater fällt, der neben ihm schlief und regelmäßig ein und ausatmete. Arthur schloss die Augen und ließ sich wieder zurück auf die Matratze fallen. Er war in Sedemoid, es war nur ein Traum. Ein verdammt komischer Traum, aber er war in Sicherheit. Die Finsternis hatte ihn nicht verschluckt, nirgends war Blut, und von den Pferden auch noch keine Spur.

Die erste Nacht und ich werde schon verrückt hier, spukte ihm durch den Kopf. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinem Körper aus, und er zog sich die Decke hoch bis zum Kinn. Seine Finger waren eiskalt, auch die Temperatur im Raum war ziemlich niedrig. Es wurde dringend Zeit, dass sein Vater die Sache mit der Heizung klärte.

Sobald Arthur die Augen schloss, sah er wieder diese Hand vor sich. Sofort riss er die Augen wieder auf. War es zu viel verlangt, einfach nur schlafen zu wollen? Ohne irgendwelche Träume, die einen immer wieder weckten, und einem graue Haare wachsen ließen?

Frustriert biss Arthur die Zähne zusammen, bis seine Wangen schmerzten. Seine Kiefer malten, als wollte er den Traum damit zerdrücken. Bevor er die Augen wieder schloss, dachte er bewusst noch einmal an den Traum. Vielleicht machte es das ja besser. Doch mit offenen Augen waren die Bilder nur in seiner Vorstellung, bei geschlossenen schienen sie ein Teil von ihm zu sein.

Arthur zog sich die Decke noch weiter nach oben, als ein Schatten vor seinem Fenster vorbei flog. Wahrscheinlich nur eine Fledermaus, versuchte er sich zu beruhigen. Doch das Herz schlug ihm bis zum Hals. Unruhig wälzte er sich hin und her, Schweiß brach aus allen seinen Poren, doch die Decke blieb oben.

Als es draußen wieder kaum merklich heller wurde, holte Arthur die Erschöpfung ein und er fiel wieder in einen oberflächlichen Schlaf.

 

Am nächsten Tag war Arthur hundemüde, aber sie schafften es trotzdem, alle Räume zu putzen und die Kisten dorthin zu stellen, wo sie später mal ausgepackt werden würden. Arthur hatte sich das andere Eckzimmer ausgesucht, und sein Vater würde das beziehen, in dem sie diese erste Nacht verbracht hatten. Ihre Betten bestanden momentan nur aus einer Matratze, aber ein richtiges Bettgestell würde irgendwann in den nächsten Wochen folgen. Nachdem ihr Umzug so schnell von Statten gegangen war, hatten sie sich nicht mit solchen Kleinigkeiten aufgehalten.

 

Dann war auch schon Montag, was bedeutete, dass Arthur zur Schule musste. Neue Schule, neue Leute, und Mara. Na toll.

Bereits am Morgen hatte er ein mulmiges Gefühl im Magen. Das letzte Mal, dass er sich neue Freunde hatte suchen müssen, war in der Volksschule gewesen. In allen Schulstufen darüber waren stets Mitschüler gewesen, die er schon gekannt hatte. Das hier war allerdings ein kompletter Neueinstieg, noch dazu mitten im Schuljahr.

Sein Vater hatte ihm auf einem Campingherd sogar Ham and Eggs gemacht, aber Arthur brachte beim besten Willen kein Stück hinunter. Er wollte einfach nur, dass dieser Tag bereits vorüber war.

"Wird schon nicht so schlimm werden!" Sein Vater warf ihm einen mitleidigen Blick zu, und Arthur verdrehte die Augen.

"Ja, klar."

"Bestimmt. Alle werden sich um dich reißen, das kommt nicht oft vor, dass hier Neue ankommen, schätze ich."

"Genau, ich bin quasi Frischfleisch. An mir können sie alle ihre Streiche wieder aufleben lassen, auf die ihre Freunde schon lange nicht mehr hineinfallen." Arthur kratzte sich am Nacken, dann stand er auf und griff nach seiner Schultasche. Er hatte eine Cola, einen Stift und einen Block eingepackt, das würde für den ersten Tag reichen müssen.

"Ich pack's dann mal. Tschüss, Paps!"

Sein Vater hob zum Abschied kurz die Hand, dann schob er sich kopfschüttelnd eine Gabel von Arthurs Frühstück in den Mund.

 

Es war nicht weit bis zur Schule, Arthur war etwa zehn Minuten unterwegs. Währenddessen sah er auch ein paar andere Schüler, und er fragte sich, ob er wohl mit einem von ihnen gleich in derselben Klasse sitzen würde.

Am Schulhof hatten sich bereits alle Freunde gefunden, kleine Grüppchen schwatzten miteinander, einzelne Schüler bewegten sich in das Gebäude, andere warteten davor noch auf jemanden. Arthur hielt den Blick starr zu Boden gerichtet und schob sich an ihnen vorbei. Drinnen hielt er dann Ausschau nach dem Sekretariat. Dort sollte er sich melden, war ihm gesagt worden. Doch nun war er bereits vor das erste Hindernis gestellt: Es gab einen rechten, und einen linken Gang. Und absolut keine Beschreibung, was er dort finden würde.

Kurz überlegte Arthur, dann entschied er sich für den linken. Suchend wanderte sein Blick über die Täfelchen neben den Türen. 1. Klasse, 5. Klasse, 4. Klasse, Kopierzimmer, und endlich am Ende des Ganges das Sekretariat. Arthur blieb davor stehen, atmete tief durch und klopfte dann an.

"Herein", hörte er es leise hinter der Tür. Er öffnete diese langsam und betrat den Raum. Es war ein mittelgroßes Zimmer, dessen Zentrum ein vollgestopfter Schreibtisch war. Ordnung schien hier ein Fremdwort zu sein. Auch am Boden stapelten sich Papiere, einige Schubladen der Aktenschränke, die den Schreibtisch beiderseits flankierten, standen offen.

"Guten Morgen", begann Arthur, und die Person am Schreibtisch sah jetzt erst auf. Es war eine Frau, sie war schon etwas älter und ihr Blick wirkte gehetzt.

"Ich bin Arthur Stone, mein Vater hat letzte Woche-", stellte er sich vor, doch die Frau unterbrach ihn.

"Ah, jaja, Arthur, genau. Du bist in der fünften Klasse, richtig?" Sie tippte auf ihrem Computer herum und schließlich machte sich der Drucker hinter ihr lautstark bemerkbar. Daraufhin drehte sie sich um, griff nach dem Zettel und reichte ihn Arthur.

"Hier dein Stundenplan. Der Unterricht beginnt um zwanzig vor Acht, also würde ich mich beeilen." Sie warf einen missbilligenden Blick auf die Wanduhr schräg über ihr, und Arthur tat es ihr gleich. Es war fünf nach halb acht.

Nickend nahm Arthur den Plan entgegen. "Vielen Dank. Auf Wiedersehen!" So schnell er konnte, verschwand er aus dem Sekretariat. Was für ein toller Einstieg. Diese Frau war ja wirklich extrem begeistert gewesen, ihn hier zu haben.

Schnell schluckte Arthur seine Enttäuschung hinunter und schaute sich den Stundenplan genauer an. Heute war Montag, in der ersten Stunde war Deutsch bei Professor Lettner eingetragen. Im Klassenzimmer der fünften Klasse.

Sehr gut, da war er doch vorhin schon vorbeigekommen. Wenige Schritte führten ihn zu besagtem Raum und er trat vorsichtig ein. In drei Reihen standen je vier Tische, und viele davon schienen schon besetzt. Schüler hatten sich um einige davon gruppiert, auf anderen lagen bereits Hefte oder Bücher und zeigten somit, dass dort ebenfalls kein Platz mehr war.

Da Arthur immer noch am Eingang der Klasse stand, zog er nun erste Blicke auf sich. Eine Mädchengruppe begann zu tuscheln, die Jungs blieben weiterhin ihrem Gesprächsthema treu. Schließlich kam eine Blondine auf ihn zu und blieb vor ihm stehen.

"Hey, wer bist denn du?" Sie verzog die Lippen zu einem fast spöttischen Grinsen.

Arthur schluckte. "Ich bin Arthur, bin gerade erst am Wochenende mit meinem Vater hierher gezogen." Er deutete mit dem Daumen aus der Klasse. "Im Sekretariat hat man mir gesagt, dass ich in eure Klasse komme." Dann vergrub er beide Hände in seinen Hosentaschen, hielt jedoch dem Blick des Mädchens stand.

Dieses nickte. "Arthur also." Dann zuckte sie mit den Schultern. "Naja, wir werden schon noch sehen, ob du zu uns passt. Du kannst dich neben Paul setzen, hinten links." Sie deutete auf den Tisch neben einer großen Zimmerpflanze, auf dem ganz alleine ein Junge saß und etwas in ein Heft kritzelte.

"Ich bin übrigens Mel", stellte sie sich schließlich dann doch noch vor, als Arthur schon an ihr vorbeigehen wollte. Er kommentierte es mit einem kurzen Lächeln, dann bahnte er sich seinen Weg zurück zu Paul.

Uff. Erste Hürde geschafft. Er ließ sich auf den Sessel fallen und schob die Tasche unter den Tisch. Dann wandte er sich an seinen neuen Sitznachbarn.

"Mel hat gesagt, ich kann hier sitzen." Er nickte ihm zu. "Ich bin Arthur."

Von Paul kamen nur ein nervöser Blick und ein Brummen. Langsam wandte Arthur seinen Oberkörper wieder Richtung Tafel. Dann war er hier wohl neben dem Klassenloser gelandet. Wunderbar.

Sobald es klingelte, betrat ein Mann das Klassenzimmer. Die Schüler erhoben sich. "Guten Morgen", grüßten sie den Professor monoton. Dieser nickte starr. "Setzen."

Laut wurden die Sessel nach vorne gezogen und alle nahmen wieder ihre Plätze ein. Der Professor ließ seinen Blick über die Klasse schweifen, und blieb schließlich bei Arthur hängen.

"Ein unbekanntes Gesicht. Wen haben wir denn da?" Sein eindringlicher Blick ließ Arthurs Hände zu schwitzen beginnen. Unauffällig wischte er sie an seiner Hose ab, ehe er sich räusperte.

"Ähm, ja, ich bin Arthur Stone, ein neuer Schüler", gab er Auskunft.

Der Professor funkelte ihn an. "Ähm, ja, ich bin Arthur Stone", äffte er ihn nach. Dann wurde seine Stimme wieder kräftiger. "Hat man dir nicht beigebracht, dich richtig vorzustellen? Aufstehen und nach vorne kommen, wird's bald!"

Inzwischen schwitzten auch viele andere von Arthurs Körperteilen, und er hoffte inständig, dass man ihm seine Nervosität nicht ansah. Wie sollte er das jetzt am besten lösen? Cool bleiben. Immer cool bleiben.

So lässig wie möglich ging er nach vorne und drehte sich zu seinen neuen Mitschülern um. "Ich heiße Arthur, bin gerade erst hier nach Sedemoid gezogen und fünfzehn Jahre alt." Er schaute den Prof abwartend an. Dieser deutete ihm an, noch weiterzuerzählen. "Ich wohne jetzt hier mit meinem Vater. Geschwister hab ich keine, und meine Mutter ist tot. In meiner Freizeit spiele ich gerne Billard." So, das musste reichen. Ohne auf eine Bestätigung der Lehrkraft zu warten, machte er sich auf den Weg zurück zu seinem Tisch. Dort erst erwiderte er den Blick von Herrn Lettner. Dieser war zwar immer noch fest, aber Arthur spürte, dass er für heute mit ihm fertig war. Ein kleiner Stein fiel ihm vom Herzen.

 

Der Unterricht war ziemlich langweilig. Der Professor erzählte ihnen irgendetwas über Goethes Werke, so richtig aufmerksam war Arthur nicht. Die Stunde zog sich scheinbar ewig, bis die Glocke ihn schließlich erlöste und erleichtert aufatmen ließ. Laut Stundenplan folgte nun eine fünfminütige Pause, und danach waren zwei Stunden Musik angesagt. Na das konnte was werden.

Alle anderen standen auf von ihren Plätzen, gingen entweder hinaus, oder zu ihren Freunden quatschen. Plötzlich bewegte sich eine ganze Mädchengruppe - mit Mel in ihrem Zentrum - auf ihn zu. Eine kleine Schwarzhaarige sprach ihn als erste an: "Du wohnst hier also mit deinem Dad. Wieso seid ihr denn hierher gezogen?" Sie klimperte mit den vollgekleisterten Wimpern, und Arthur unterdrückte ein genervtes Augenverdrehen. Die Mädchen in seiner alten Klasse hatten wenigstes gewusst, wie viel Make up okay war. Das war hier anscheinend noch nicht angekommen. Doch vor dieser Frage hatte er sich bereits am meisten gefürchtet. Was wollte er sagen?

"Mein Vater wollte raus aus der Stadt." Betont genervt verdrehte er die Augen. "Keine Ahnung, wie wir genau hier gelandet sind."

Die Kleine kicherte und ihre Freundin meldete sich zu Wort: "Du wirst dich bestimmt bald einleben hier! Ich bin übrigens Amelie." Sie schenkte ihm ein Lächeln, das Arthur gerne erwiderte. Amelie hatte mausbraune Haare und wirkte viel natürlicher als ihre Freundin. "Das hoffe ich auch", antwortete er ihr.

Als hätte jemand etwas gesagt, traten die beiden plötzlich auseinander und Mel trat näher. "Am Donnerstag gehen einige von uns in das One Eye nach der Schule. Wenn du willst, kannst du mitkommen!"

Arthur hob fragend die Augenbrauen hoch. "One Eye?"

Amelie klärte ihn auf: "Das mehr oder wenige einzige Lokal hier, das für unsere Altersgruppe ganz annehmbar ist."

"Ich bin dabei!" Die Mädchen wollten ihn anscheinend kennen lernen - das gefiel ihm schon besser als der mürrische Deutschlehrer.

Mel zwinkerte ihm zu, dann drehte sie sich um und die anderen folgten ihrem Beispiel nur eine Sekunde später. Etwas ungläubig schüttelte Arthur den Kopf. Mädchen waren manchmal doch schon ziemlich seltsam, da würde er wohl nie ganz durchblicken.

Plötzlich sah er im Augenwinkel eine weitere Person, die sich ihm näherte. Es war der Junge, der auf dem Tisch schräg vor ihm saß.

"Lass dich von denen nicht um den Finger wickeln, die sind grauenvoll!", flüsterte er Arthur verschwörerisch zu. Dann hielt er ihm die Faust hin. "Ich bin Max."

Arthur ließ seinen Blick von Max' Gesicht zu der dargebotenen Faust und wieder zurück wandern. Das war ja inzwischen so was von out, aber er wollte mal nicht so sein. "Danke für den Tipp, Mann!" Ihre Knöchel trafen aufeinander und beide zogen die Hände wieder zurück. In dem Moment klingelte es auch schon zur zweiten Stunde. Max deutete mit dem Kinn noch ein abschließendes Nicken an, dann ging er wieder zurück an seinen Platz.

Arthur lehnte sich zufrieden auf seinem Sessel zurück. Max schien auch ganz okay zu sein, mit dem sollte er sich vielleicht noch einmal unterhalten und schauen, ob Potential für eine Freundschaft vorhanden war.

 

Die Musikstunden waren wie erwartet eher langweilig. Zuerst sangen sie alle ein bisschen - oder besser gesagt, die Professorin sang und spielte mit der Gitarre, und von den Schülern waren nur zwei motiviert oder mutig genug, sie zu unterstützen. Der Rest tuschelte mit ihren Nachbarn, bis es der Lehrerin zu bunt wurde und sie aufhörte. Danach trug sie ihnen etwas über zeitgenössische Musik vor.

Die zwei Stunden wurden ohne Pause durchgezogen, dafür hörte sie ein bisschen früher auf. Arthurs Magen knurrte schon, nun machte es sich bemerkbar, dass er nicht gefrühstückt hatte.

"Gibt es hier eine Cafeteria, oder irgendwas, wo man was zu essen kaufen kann?", fragte er Max in der Pause.

Dieser nickte bestätigend. "Klar, ich wollte sowieso auch gerade gehen, ich zeig's dir."

"Super danke!"

Max ging vor und Arthur folgte ihm. Sie verließen das Klassenzimmer und gingen in den anderen Flügel, an dessen Ende ein kleiner Verkaufsstand war. Es war wirklich nur ein Mann hinter einem Tisch, der ein paar Brötchen verkaufte. Arthur zog eine Augenbraue hoch, was Max zu bemerken schien.

"Bist wohl was Größeres gewöhnt."

Arthur nannte dem Mann seine Bestellung - eine Schinken-Käse-Semmel. Dann wandte er sich an Max. "Naja, in meiner alten Schule hatten wir eine große Cafeteria, das ist ja was anderes."

Max schüttelte grinsend den Kopf. "So was wirst du bei uns nicht finden. Hier haben die meisten Schüler ihre Jause von zuhause mit."

Er kaufte sich einen Donut und gemeinsam schlenderten sie wieder zurück.

"Das heißt, ihr esst nie warm zu Mittag?" Arthur warf Max einen ungläubigen Blick zu. Immer nur eine Semmel stellte er sich nicht sehr ergiebig vor.

Max winkte ab. "Hast du den Stundenplan schon mal genau angeschaut? Wir haben dieses Jahr nur zwei Mal die Woche am Nachmittag noch Unterricht, sonst geht es maximal bis eins. Da kann man dann eh heim was Warmes essen, wenn man will."

Arthur runzelte die Stirn. Das war ihm wirklich noch nicht aufgefallen. Zuhause hatte er heuer vier Mal bis mindestens drei Uhr am Nachmittag Schule gehabt, das war hier ja dann richtig locker.

"Und du wohnst schon immer hier?", versuchte er, das Gespräch in Gang zu halten.

Max verdrehte die Augen. "Bin sozusagen ein Urgestein. Meine Eltern wurden schon hier geboren, und meine Großeltern ebenfalls. Aber so geht es den meisten hier."

Arthur schüttelte ungläubig den Kopf. Klar, dass gleich alle auf ihn zugekommen waren und ihn angesprochen hatten. Dass es wirklich so schlimm war, hätte er sich nicht gedacht. "Wow", meinte er zu Max, "meine Eltern sind beide aus unterschiedlichen Städten, und kurz vor meiner Geburt sind sie zusammengezogen - wieder in eine für sie beide neue Stadt."

"Aber du wirst sehen, wie bald du dich hier einlebst. Am Anfang wird es wahrscheinlich noch ein bisschen komisch für dich sein, wenn einen alle kennen, aber mit der Zeit gibt sich das."

Arthur wollte gerade etwas erwidern, als ihm plötzlich ein Gesicht zwischen den vielen anderen auffiel. Es war Mara, die geradewegs auf sie zukam.

Arthur starrte sie an, doch ihr Blick war neben ihn in die Ferne gerichtet. Sie ging an ihm vorbei, scheinbar ohne ihn auch nur zu bemerken. Ein Stich bohrte sich in Arthurs Brust. Max sah seinen Blick und pfiff leise. "Na da hast du dir ja die Richtige ausgesucht. Mara mag zwar eine Schönheit sein, aber vergiss es, Kumpel. Die lässt niemanden ran." Er boxte ihm spielerisch gegen die Schulter, und löste somit Arthurs Starre. Wenn der wüsste, dachte er sich. Dann lachte er, doch es war nur oberflächlich. "Wie schade."

"Aber es gibt schon noch einige andere heiße Mädels hier, bei denen du eine Chance haben könntest."

Arthur verdrehte die Augen. Max erinnerte ihn ein wenig an Moe. Wie der wohl ohne ihn zu Recht kam?

"Das hast du leicht schon alles ausgekundschaftet, nehme ich an?", feixte er zurück.

Max zuckte scheinheilig mit den Schultern. "Irgendjemand muss ja anfangen!"

Sie hatten nun das Klassenzimmer wieder erreicht, und Arthur nahm auf seinem Platz angekommen sofort den Stundenplan heraus. Max hatte Recht gehabt - nur am Dienstag und Donnerstag hatten sie bis vier, montags bis Mittag, und Mittwoch sowie Freitag bis ein Uhr. Sehr angenehm.

In den nächsten zwei Stunden würde er Geschichte und Mathematik haben. Arthur freute sich schon, wenn das vorüber war. Er wollte am späten Nachmittag unbedingt wieder in den Wald und nachschauen, ob sich ihm die Pferde auch näherten, wenn nicht Vollmond war.

 

Geschichte war überraschend interessant. Sie hatten eine Frau als Lehrerin, die selber schon so alt aussah, als hätte sie alles, was sie erzählte, bereits selbst erlebt. Die Stunde verging jedenfalls wie im Flug, und mit Mathematik hatte Arthur sowieso noch nie Probleme gehabt.

Nach der Schule warf er ein Tschüss in Max' Richtung, dann verließ er schnell das Schulgebäude. Obwohl er versuchte, den Blick gesenkt zu halten, ertappte er sich dabei, aus den Augenwinkeln nach Mara Ausschau zu halten. Und das, obwohl sie ihn zuvor so ignoriert hatte. Aber es war vergeudete Mühe, denn sie schien noch Unterricht zu haben.

Zu Hause stand ein großer LKW vor dem Garten, und sein Vater war gerade dabei, mit zwei anderen Männern Dinge auszuladen und ins Haus zu tragen.

"Ah, Arthur, sehr gut!", begrüßte sein Vater ihn. "Die Küche ist gerade gekommen! Wenn du mithilfst, schaffen wir es vielleicht sogar bis zum Abendessen!" Er trug gerade mit einem der anderen eine große Kiste hinein, und Arthur konnte nur rätseln, ob es sich dabei um einen Herd, den Kühlschrank oder nur eine Theke handelte.

Ergeben seufzte er, warf im Haus seine Schultasche in sein Zimmer und ging hinaus. Bereits nach wenigen Minuten war ihm so warm geworden, dass er sich seine Jacke auszog und die Ärmel hochkrempelte. Auch die anderen wischten sich bereits die Schweißperlen von der Stirn.

Als alles ins Haus gebracht war, unterschrieb sein Vater etwas und die Männer fuhren wieder weg.

"So, nun müsste nur mehr der Installateur pünktlich sein, dann steht einem warmen, selbstgekochten Abendessen nichts mehr im Weg!" Die Augen seines Vaters glitzerten. Arthur verstand nicht, wieso er Architekt war, wo er Dinge konstruieren und zeichnen musste, wenn ihm solche Dinge so viel Spaß machten. Er packte gerne mit an, und nun war er ganz in seinem Element.

"Nur ein paar Lebensmittel vielleicht", erwiderte er sarkastisch, grinste jedoch dabei.

Sein Vater verdrehte gespielt genervt die Augen. "Du Schwarzseher!" Sein Gesichtsausdruck wurde wieder ernster, als die beiden hineingingen und die Haustüre zumachten. Nun, da die körperliche Arbeit vorbei war, wurde es langsam kalt.

"Wie war denn der erste Schultag?"

Arthur zuckte ausweichend mit den Schultern. "Ganz okay. Ein paar haben mich eingeladen, am Donnerstag nachmittags was zu unternehmen."

Sein Vater strahlte, und Arthur warf ihm einen genervten Blick zu. Manchmal kam es ihm so vor, als hätte sein Vater mehr Mütterliches an sich, als viele andere Mütter. Er sorgte sich viel zu schnell, und freute sich sofort, wenn Arthur etwas schaffte oder es ihm nur gut ging. Kurz gesagt, er war ein liebevoller Vater.

"Das ist doch ein super Einstieg! Hast du Mara mal gesehen? Die geht doch auch hier zur Schule, oder nicht?"

Arthur nickte steif. "Ja, kurz am Gang. Aber nur auf Entfernung." Dabei beließ er es, und sein Vater war auch klug genug, nicht weiter nachzubohren.

Ein Klingeln beendete das Gespräch endgültig. Es war der Installateur, der sich um etwa eineinhalb Stunden verspätet hatte.

Trotzdem schaffte er es irgendwie, schon am frühen Abend fertig zu werden. Arthur kaufte währenddessen ein paar Dinge ein, und so schafften sie es wirklich, sich danach eine Pfanne Eierspeise zu machen.

Unter all der Arbeit hatte Arthur ganz vergessen, was der eigentliche Plan für den Tag gewesen war. Jetzt noch in den Wald zu gehen, erschien ihm keine so gute Idee. Immerhin musste er morgen wieder zur Schule, und wie er diese Nächte kannte, würde er im Wald zu nicht sehr viel Schlaf kommen.

Seufzend ging er ins Badezimmer, putzte sich die Zähne, und stellte sich unter die Dusche. Das heiße Wasser ermüdete ihn derart, dass er danach wie ein Stein ins Bett fiel und sofort einschlief.

 

Am Dienstag sah er Mara in einer Pause erneut. Dieses Mal ergriff Arthur allerdings die Initiative und ging auf sie zu.

"Mara, hey!"

Schwungvoll drehte sie sich zu ihm um, musterte ihn, schluckte und schloss kurz die Augen.

"Arthur. Du bist es also wirklich."

Ein ungutes Gefühl machte sich in Arthurs Magengegend breit. Das war nicht gerade die Begrüßung, die er sich erhofft hatte, aber er konnte es ihr auch nicht verübeln.

"Dann hab ich mich gestern also nicht getäuscht... Darf ich fragen, was um Himmels Willen du hier machst?" Ihre Augen funkelten. Dann blickte sie sich kurz um, als wollte sie sich vergewissern, dass sie niemand wichtiges beobachtete.

Arthur versuchte sich an einem entschuldigenden Gesichtsausdruck. "Was auf der Lichtung passiert ist, war anscheinend nicht ohne Grund", begann er zu erklären, dann senkte er die Stimme. "Ich hab meine Blutmondgeborenen gefunden, und sie lassen mich nicht los."

Maras Gesicht wurde bleich, und sie trat einen kleinen Schritt zurück. "Es tut mir wirklich leid, Arthur, aber bitte halte Abstand zu mir."

Wieder der altbekannte Schmerz. Ergeben nickte Arthur. Er fühlte sich wie ein nasser, getretener Hund. "Ist gut." Die Worte waren nur mehr ein Flüstern, aber Mara hatte sich sowieso schon abgewandt, also waren die Worte um sonst gewesen.

Plötzlich schlug ihm eine Hand von hinten auf die Schulter. Arthur wirbelte herum. Es war Max, der ihn breit angrinste.

"Hast wieder nicht auf mich gehört, was? Ich hab dir doch gesagt, dass du es bei ihr nicht einmal versuchen brauchst!"

Arthur verkniff sich ein genervtes Aufstöhnen. Dann stimmte er ihm einfach zu. "Ja, hast ja recht gehabt."

"Aber schau", Max drängte ihn in eine andere Richtung, bis eine kleine Blondine in Sicht kam. Er deutete auf sie. "Nicht ganz so hübsch, nicht ganz so klug, aber auch eine nette Partie." Er verpasste Arthur einen Stoß in die Rippen mit seinem Ellbogen. "Da kannst du's mal versuchen!"

Nun konnte sich Arthur einen Seufzer nicht verkneifen und rollte mit den Augen. "Ich werde es mir merken."

 

Als er an diesem Tag zu Hause ankam, war es bereits am Finster werden. Arthur warf einen Blick auf die Uhr. Sechzehn Uhr dreißig. Es war zwar erst früher Abend, der Tag konnte noch genutzt werden, aber in spätestens einer Stunde würde er die Hand nicht mehr vor den Augen sehen können.

Ach, was soll's, dachte Arthur.

"Paps, haben wir wo eine Taschenlampe?"

Sein Vater steckte den Kopf aus der Küche. "Wo willst du leicht hin?" Sein Blick war alarmiert.

"In den Wald."

Nun kam er ganz aus dem Raum und trat vor Arthur. "Soll ich dich begleiten?" Seine Stimme war voller Sorge.

Arthur winkte ab. "Ich weiß nicht, wie sie auf dich reagieren würden. Mir passiert ja nichts. Also?"

Bedauernd schüttelte sein Vater den Kopf. "Taschenlampe haben wir keine. Aber nimm doch dein Handy!"

Arthur zuckte mit den Schultern. "Werd' ich wohl müssen." Er schlüpfte wieder in seine Schuhe, die er sich vor wenigen Minuten erst ausgezogen hatte. "Ich weiß nicht genau, wann ich wieder kommen werde. Mach dir keine Sorgen."

Mit diesen Worten war er auch schon aus der Tür und stapfte Richtung Wald.

 

Im Wald war es finster. Dennoch sah Arthur noch genug, um sich einen Weg zwischen den Bäumen zu finden, und nicht die ganze Zeit herabhängende Zweige ins Gesicht zu bekommen. Er duckte sich unter ihnen durch, hielt sie sich mit den Händen fern, und bewegte sich langsam vor. Einen direkten Plan hatte er nicht, aber sein erstes Ziel war auf jeden Fall die Lichtung. Das war ihr Ort, wenn sie ihn sehen wollten, würden sie da sein.

Der Boden war weich und gab an vielen Stellen unter seinem Gewicht ein wenig nach, sodass Arthur manchmal in ein kleines Loch stolperte. Ihm passierte jedoch nichts, und so kämpfte er sich durch den immer dunkler werdenden Wald vor.

Plötzlich sah er, wie zwischen den Bäumen Licht hindurch drang. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck, aber einem zwickenden Gefühl in der Magengegend ging er darauf zu. Kurz darauf betrat er die Lichtung. Dort streifte er sich erst einmal alles von seinem Körper ab, was auf der Reise hierher daran hängen geblieben war. Teile von Zweigen, Reisig, Blätter. Dann sah er sich suchend um. Die Lichtung war leer, die Mondblumen geschlossen und auch Geräusche konnte er keine seltsamen erkennen. Ein Knacksen hier, ein Rascheln dort, aber da wusste er ja bereits, dass das von vielen Tieren des Waldes ausgelöst werden konnte.

Unschlüssig blieb Arthur stehen. "Hallo...?", fragte er dann halblaut. Keine Antwort.

Seufzend ließ sich Arthur zu Boden gleiten und setzte sich in die Mitte der Lichtung. So verharrte er einige Minuten, dann legte er sich flach auf den Rücken und starrte in den Nachthimmel. Tausende von Sternen leuchteten auf ihn herab, und der Mond befand sich zwischen ihnen. Er war in dieser Nacht nur eine etwas dickere Sichel. Der nächste Vollmond würde erst in über einer Woche sein, erinnerte sich Arthur. Und wenn sie nur bei Vollmond hierher kamen? Dann wartete er hier ganz umsonst.

Arthur richtete sich wieder auf und stützte sich mit den Händen hinter sich ab. Er kratzte sich kurz an der Nase, dann entschied er, weiter in den Wald vorzudringen. Vielleicht fand er sie doch irgendwo, vielleicht hatten sie ein besonderes Versteck, in dem sie sich an allen Nicht-Vollmond-Nächten aufhielten.

Sobald er die Lichtung verließ, umfing ihn die Dunkelheit. Arthur sah absolut nichts mehr, daher griff er in seine Hosentasche und zog sein Handy hervor. Er schaltete die Taschenlampe darauf ein und bahnte sich sorgsam einen Weg durch die Bäume hindurch.

Das funktionierte wenige Minuten, dann vibrierte das Telefon plötzlich und das Licht ging aus. Arthur blieb stehen und schaute auf das Display. Nur mehr fünf Prozent Akku, somit auch kein Licht mehr. Na toll. Seufzend steckte er das unsinnige Ding wieder ein.

Dann tastete er sich langsam von Stamm zu Stamm voran. Seine Finger berührten eine kräftige Rinde, dann schwenkten sie in der Luft, bis sich schließlich etwas Feuchtes, Leichtes auf sie legte. Reflexartig zog Arthur den Arm zurück und schüttelte sich. Doch er ging einen Schritt weiter, was ein Fehler war. Das Spinnennetz überzog nun sein ganzes Gesicht und Arthur begann, wild herum zu hüpfen. Er hielt die Luft an, presste die Augen fest zusammen und wischte sich mit den Fingern wieder und wieder über das Gesicht. Schließlich fühlte es sich etwas besser an und er öffnete die Augen wieder. Doch seine Wimpern waren ebenfalls verklebt und seine Augen begannen zu tränen.

Der Schrei eines Raubvogels ließ ihn plötzlich mitten in der Bewegung erstarren. Ein Luftzug ließ eine Gänsehaut auf seinem Nacken zurück.

Arthur kümmerte sich nicht mehr um die Spinnenhaut, das meiste hatte er abbekommen. Nun zog er den Kopf zwischen die Schultern, duckte sich ein wenig und drückte sich an den nächsten Baum. Wieder hörte er den Schrei. Wieso machte ihm das solche Angst? Es war doch nur irgendeine Eule oder ein Kauz, nichts, wovor man sich fürchten müsste!

Er atmete einmal tief durch. Ein weiteres Mal. Und ein drittes Mal. Dann ließ er seine Schultern wieder nach unten fallen und schüttelte sich sanft durch, um die Anspannung zu lösen. Kurz blieb er noch stehen und wartete auf einen weiteren Schrei. Doch als keiner mehr ertönte, stutzte er. Aus welcher Richtung war er denn jetzt gekommen? Durch seinen Tanz mit dem Spinnennetz hatte er vollkommen die Orientierung verloren.

Mist. Mist, mist, mist!, schimpfte sich Arthur. Wohin sollte er denn jetzt gehen? Probehalber wandte er sich zuerst in die eine, dann in eine andere Richtung und versuchte, tief in sich hinein zu hören. Wo war sein Instinkt geblieben, in diesem Wald immer den richtigen Weg zu finden? Wenn dieser ihn schon nicht nach Hause führte, dann wenigstens zu den Pferden!

Im Endeffekt wusste Arthur nicht, ob es nur Einbildung gewesen war, aber er entschied sich für einen Weg nach links. Er hoffte, somit wieder weiter zur Lichtung zurück zu gelangen. Wieso war er eigentlich weiter gegangen? Er hatte genau gewusst, dass er nichts sehen würde! Verdammte Intuition.

Nun klatschten ihm die Zweige nur so ins Gesicht. Da er sie ja nicht sehen konnte, konnte er sie auch nicht weghalten oder ihnen ausweichen. Arthur fühlte, wie seine Haut immer mehr zerkratze und stöhnte auf, als sich etwas in sein Augenlid bohrte. Sofort blieb er stehen und drückte eine Hand darauf, die andere hielt er gerade ausgestreckt, um so eine Situation zu vermeiden.

Gefühlte Stunden irrte er so im Wald herum. Es war ihm schon zu Gedanken gekommen, sich einfach niederzulegen und hier zu schlafen, aber er musste morgen pünktlich zur Schule und außerdem würde es doch ziemlich kalt werden. Gerade, als er an seine warme, weiche Matratze dachte, lichtete sich der Wald wieder ein bisschen. Ein Hochgefühl breitete sich in Arthur aus und er nahm die Hand vom Auge, um dem Licht entgegen zu blinzeln. Wie ein Süchtiger taumelte er darauf zu, streckte die Arme danach aus und hatte ein glückseliges Lächeln im Gesicht kleben.

Als er schließlich dort ankam, stellte er jedoch fest, dass er hier auch noch nie gewesen war. Der Wald war noch lange nicht zu Ende. Eine Lichtung war es zwar, aber nicht die von zuvor. Diese war viel kleiner, und als Arthur genau schaute, konnte er eine Hütte oder so an ihrem Rand zwischen ein paar Bäumen erkennen. Unsicher tappte er darauf zu, blickte sich jedoch immer wieder um, ob jemand anderes auch hier war. Doch er konnte niemanden erkennen.

Endlich stand er direkt an dem Gebäude. Es war nichts besonderes, eine einfache Holzhütte mit einem flachen Dach. Nicht einmal Fenster hatte es, wie Arthur feststellte, als er es umrundete. Vor der Tür blieb er schließlich stehen und starrte sie an, als ob sie sich dadurch von selbst öffnen würde. Das hier gehörte ihm nicht, er sollte eigentlich nicht in fremde Hütten eindringen.

Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, schloss sich seine Hand um den Türknauf und zog kräftig daran. Holz knirschte, und modrige Luft schlug ihm entgegen. Arthur wandte das Gesicht ab und begann zu husten. Als der erste Reiz vorübergegangen war, wagte er einen Schritt ins Innere. Die Tür hatte er so weit geöffnet wie möglich, und schwaches Mondlicht erreichte Teile des Häuschens. Arthurs Augen waren bereits an die Dunkelheit gewöhnt, und so erkannte er schnell die wichtigsten Grundrisse.

Es war nur ein einziger Raum. Ein paar Schritte nach dem Eingang trennte eine Wand den Raum bis etwa zu seiner Mitte ab. Arthur wusste nicht genau, ob es an der Leere des Raumes lag, oder ob er wirklich so groß war, wie er auf ihn wirkte. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus. Er schlang die Arme um sich und ging einen Schritt weiter, um hinter die Abtrennung sehen zu können.

Der Anblick ließ ihn jedoch wieder kurz zurückweichen und er blickte sich erneut um. Immer noch war er alleine. Gut. Langsam wagte er sich näher heran, bis seine Finger über den Rand eines riesigen, steinernen Behälters fuhren. Es wirkte wie ein riesiger steinerner Trog, in dessen Hohlraum wahrscheinlich ein bis zwei Pferde Platz hätten. An dem Ursch war etwas befestigt: Ketten aus mächtigen Eisengliedern. Ehrfürchtig ließ Arthur seine Finger darüberstreichen, umfasste sie und wollte sie aufheben, doch sie waren zu schwer. Es waren vier Stück, und als Arthur ihren Verlauf verfolgte, schätzte er jede Kette auf etwa vier bis fünf Meter. An ihren Enden waren Karabiner befestigt, als ob man damit etwas oder jemanden befestigen wollte. Ein kalter Schauer lief über Arthurs Rücken. Was war das hier für ein Ort? Wer baute so etwas? Wofür brauchte man so starke Ketten? War das noch aus der Zeit, in der man glaubte, Drachen jagen zu müssen?

Arthur spürte, wie ihm plötzlich der Schweiß ausbrach. Er musste hier raus. Ganz dringend. Die Fensterlosigkeit drang mit einem Mal zu ihm durch. Wenn die Tür irgendwie zufallen würde, wäre er hier gefangen. In einer Hütte ohne Fenster, einsam, und niemand würde ihn je finden.

Ruckartig drehte er den Ketten den Rücken zu und Adrenalin durchflutete seinen Körper. Mit einem Satz war er bei der Tür, schnell trat er durch diese hindurch und drückte sie hinter sich zu. Den Rücken lehnte er an die Wand hinter sich, sein Herz raste in seiner Brust und der Atem ging viel zu schnell. Doch seine Gedanken arbeiteten bereits wieder auf Hochtouren. Er hatte diesen Platz hier bestimmt nicht aus Zufall gefunden. Das war alles Teil des Plans. Eines Plans, den er selbst noch nicht einmal ansatzweise durchschaut hatte.

Impressum

Bildmaterialien: Pferd: Vikarus; Bearbeitung: klexxx
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2015

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /