Cover

Dunkler Schatten Schwingen

 

« Ich fühle mich kraftlos, ausgelaugt.

Wie ein zerschlagener Mensch. Ein kaputter Mensch.

Als würde nichts in meinem Körper mehr zusammenpassen. »

 

Aileen ist sechzehn, als sie zum Vergewaltigungsopfer ihres eigenen Vaters wird. Doch das Mädchen ist stark und will ihre Vergangenheit vergessen. Sie lässt sich von einem Psychologen überreden, einen Sommer in den USA zu verbringen und für einige Monate alles zurückzulassen. 

Auf einer Ranch in Montana lernt Aileen unter anderem Jerome und Luca kennen, und sie fühlt sich zu beiden hingezogen. Doch weder ihr Körper, noch ihre Seele haben vergessen, was ihr angetan wurde. Aileen ist zerrissen - soll sie sich auf die Liebe einlassen, selbst wenn es bedeuten könnte, dass nicht nur ihr Herz, sondern auch sie daran zerbrechen könnte? 

Prolog

 

Die Tür fällt ins Schloss. Stille. Dann ein langgezogenes Stöhnen.

„Is‘ wer“, hicks, „daheiimm??“

Schritte, die näher kommen. Zuerst schleifen sie über den Boden, dann über die Treppe nach oben. Immer höher, immer näher. Manchmal ist ein Hicksen zu hören. Er ist wieder betrunken.

Schließlich verharren die Schritte vor einer Tür. Der Tür zu meinem Zimmer. Es ist niemand zu Hause, Mum ist bei einer Freundin und mein kleiner Bruder übernachtet bei Freunden. Im Moment gibt es nur ihn und mich.

Langsam bewegt sich die Klinke nach unten. Ich kauere mich unter der Bettdecke zusammen, meine Augen weit aufgerissen. Die Unklarheit darüber, was diesmal passieren wird, lastet im ganzen Zimmer. Es fühlt sich an, als sei die Temperatur im Raum um mindestens zehn Grad gesunken, seit er das Haus betreten hat. Seit ich nicht mehr sicher bin.

Die Tür öffnet sich einen kleinen Spalt und es scheint mir, als komme ein kalter Luftzug mit herein, der mich frösteln lässt. Als würde sein Geist ihm vorauseilen, als sei dieser bereits im Zimmer, gehe langsam auf mich zu, hinter mich. Meine Gedanken eilen der Wirklichkeit voraus und ich kann bereits seinen stickigen, kalten Atem hinter mir fühlen, der in mein Genick bläst und eine dünne Eisschicht zurücklässt.

Verzweifelt rücke ich weiter nach hinten, bis mein Oberkörper an der Wand anstößt. Das Kissen hat sich hinter mir aufgebäumt, doch das spüre ich nicht. Panik hindert mich daran, meine Augen zu schließen und ist auch dafür verantwortlich, dass sich meine Hände in der Decke verkrampfen. Mein Atem kommt nur mehr stoßweise, als schließlich eine Hand in mein Zimmer greift. Ihr folgt ein Bein, seine Bewegung wird von einem grauenhaften Ächzen begleitet. Der düstere Oktobermond scheint schemenhaft durch das einzige Fenster meines Zimmers.

Mein Herz schlägt wie eine Trommel in meiner Brust, ein kalter Stich durchfährt meinen Körper, bis tief in mein Herz und lähmt dieses. Es stockt. Dann schlägt es rumpelnd weiter, doch die Kälte macht es ihm schwer.

Mit einem Quietschen, das mir durch Mark und Bein geht, schwingt die Tür schließlich ganz auf und dann steht er vor mir: dunkle, zerrissene Klamotten, ungebundene Schuhe, ein Bart, der schon Tage nicht rasiert wurde. Seine Gesicht wird im fahlen Mondlicht zu einer verzerrten Fratze, die Augen sind dunkel unterlaufen und der Gestank von Alkohol trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube. Mir wird ganz plötzlich schlecht und ich presse mir die Hand vor den Mund. Obwohl ich nicht will, dass er erkennt, wie ängstlich ich bin, sind meine Augen immer noch weit aufgerissen.

„Heey… Brauuchs‘ dich ja“ hicks „nich‘ so vor mir … vers – tecken!“

Sein Lallen ist kaum auszuhalten, es sagt mir wie jeden Abend, dass er sich nicht unter Kontrolle hat. Er weiß nicht, was er tut. Doch er wird irgendetwas machen. Und ich habe keine Ahnung, was. Es ist wieder die Ungewissheit, die mich einholt. Reflexartig werfe ich einen Blick zur Tür – sie wäre meine einzige Fluchtmöglichkeit, über das Fenster ist es zu hoch, da mein Zimmer im dritten Stock ist. Doch die Tür scheint unerreichbar zu sein. Erstens steht er davor und zweitens fühlt sich mein Körper noch zu kaputt an. Geschädigt, zerschlagen. Was auch kein Wunder ist, bei dem, was ich schon seit Wochen mitgemacht habe. Beinahe jeden Abend ist er gekommen, hat mich geschlagen. Verletzt und einsam am Boden zurückgelassen und dann weiter zu meiner Mum. Ihr ist dasselbe Schicksal zu Teil geworden wie mir. Doch sie liebt ihn zu sehr, als dass sie sich dagegen wehren würde. Und ich bin zu eingeschüchtert. Leider.

Komme mir dann immer vor wie ein kleiner Käfer, der von ihm auf den Rücken gedreht wird und dann zappelnd darauf wartet, dass er darauf steigt. Komme mir so klein vor. Kann nichts sagen. Kann mich nicht gegen ihn behaupten, wie auch? Ich bin stumm. Wie ein Fisch. Wenn er mich mit seinem Blick durchlöchert, ist es, als wäre ich zu keiner Reaktion mehr fähig. Wie ich es hasse, dass er eine solche Gewalt über mich hat.

Langsam streckt er seine Hände nach mir aus und mir entweicht ein verängstigtes Fiepen. Dieses Geräusch lässt kurz ein schauderhaftes Grinsen auf seiner Visage erscheinen. Mit einem Ruck reißt er mir die Decke vom Körper. Sofort zittert mein Körper wie Espenlaub in einer eisigen Windböe. Es ist, als würde die Angst, die sich langsam in meinem Körper ausbreitet, mir sämtliche Wärme aus meinen Gliedern ziehen.

Schnell verschränke ich die von Gänsehaut überzogenen Arme vor meiner Brust. Es wirkt wärmend und ich fühle mich zumindest ein bisschen sicherer. Doch mein restlicher Körper verrät meinen wirklichen Zustand - die Hände sind kalt und schweißnass, die Haare kleben an meiner Haut und aus meiner Kehle droht ein Schluchzen zu entweichen, als er meinen Knöchel packt und mich daran aus dem Bett zerrt. Selbst meine Reaktionen sind wie eingefroren, und so knallt mein Kopf hart auf den Boden. Ein wimmernder Schmerzensschrei entfährt mir, doch er übertönt es mit einem schaurigen Lachen. Seine Arme schwingen krampfartig vor und zurück, während er mit einem Bein nach mir tritt. Er trifft genau in den Bauch.

Vor Schmerz krümme ich mich zusammen, Tränen laufen über meine Wangen. Doch ich bleibe stumm. Das habe ich mir angewohnt, seit ich herausgefunden habe, dass meine Schmerzensschreie ihn mich nur noch länger peinigen lassen. Meine Augen haben sich wie von selbst geschlossen, ich werde die tägliche Tortur klaglos über mich ergehen lassen. Wie sollte ich mich auch zur Wehr setzen? Niemand würde mich hören, und gegen seine Größe und Kraft komme ich alleine nicht an. Ich wäre schneller zwar als er, doch ich würde es nicht einmal aus diesem Zimmer heraus schaffen. Es ist aussichtslos.

Und so liege ich still leidend am kalten Fußboden und warte auf das Ende, das irgendwann kommen muss.

Doch heute ist es anders. Ich weiß nicht, warum ich mir so sicher bin, doch ich spüre es. Etwas ist nicht so wie all die Tage zuvor. Und als er mit einer Hand mein Top wegreißt, weiß ich es: Heute wird er mich nicht nur schlagen. Heute wird es schlimmer. Viel schlimmer.

Ich werde benutzt werden. Beschmutzt. Zerstört.

 

 

 

November

 

Ich fühle mich … leer.

Wie ein anderer Mensch. Ein neuer Mensch.

Als würde mein altes Ich ausgelöscht worden sein. Ein neues geboren.

Ich habe mir immer gewünscht, neu geboren zu werden. Ohne die ganzen Fehler, die ich mein Leben lang – es waren zwar nur fünfzehneinhalb Jahre, aber Leben ist Leben – gemacht habe. Doch jetzt … ich weiß nicht. Es fühlt sich nicht so an, wie es sich anfühlen soll. Ich habe gedacht, ich würde mich gut fühlen. Fehlerlos. Als könnte ich einen Neuanfang wagen. Tja, das kann ich jetzt auch machen – neu anfangen. Doch wo müsste ich starten? Das ist eine Frage, an die ich nicht denken will. Es fühlt sich nicht so an, als sei das ein Anfang. Nein. Das ist etwas anderes. Es ist, als sei es ein Ende. Nicht nur ein Abschied, nein.

Es ist das Ende.

 


Dezember

Ich fühle mich schwerelos.

Wie eine Feder. Leicht und sorglos.

Als würden all meine Probleme vergessen sein. Als hätte ich nie welche gehabt.

Sterben soll schmerzlos sein, habe ich gehört. Ich will sterben. Ich will vergessen. Will keine Erinnerung mehr haben an das vorherige Leben. An die letzten paar Wochen. Die davor waren nicht so schlimm gewesen. Vor mein inneres Auge zaubern sich Momente, in denen ich glücklich war. Als ich mit Jared zusammengekommen war. Er mich zum ersten Mal geküsst hatte. Als er mir sagte, dass er mich liebt. Ich war glücklich gewesen.

Einst.

 

 

Januar

Ich fühle mich klein.

Wie jemand, der nichts bedeutet. Den niemand bemerkt.

Als würde sich keiner für mich interessieren. Als wäre ich Luft.

Einmal gab es Menschen, denen war ich nicht egal. Sie behandelten mich nicht wie Luft. Und einen davon liebte ich. Jared. Doch er war nicht für mich bestimmt gewesen. Als er wenige Monate vor mir sechzehn wurde, zog er weg. Mit seiner Familie. Ohne mich. Er verschwand aus meinem Leben, als hätte es ihn nie gegeben. Als wäre er nur eine Einbildung meiner Phantasie.

Und er hinterließ nur ein schmerzvolles Loch in meinem Herzen.

 


Februar

Ich fühle mich kraftlos, ausgelaugt.

Wie ein zerschlagener Mensch. Ein kaputter Mensch.

Als würde nichts in meinem Körper mehr zusammenpassen.

Warum das so ist, weiß ich, doch ich will es nicht wissen. Ich versuche, es zu vergessen. Will es auslöschen. Doch ich glaube, das kann ich nicht. Ich werde nicht vergessen. Das wird kein neues Leben werden, in dem ich von vorne beginnen kann. Ohne Erinnerung. Es ist nicht zu Ende. Ich werde weiterleben. Werde mit der Erinnerung leben. Werde lernen müssen, mit dem Schmerz umzugehen. Werde nicht sterben. Ich werde leben.

Aber will ich das überhaupt noch?

 

 

1 - Angst

 

Meine Hände zitterten, als ich den Kleiderschrank öffnete. Mein Rucksack lag auf meinem Bett, in ihn würde ich alles, was ich hineinbrachte, einpacken.

Es waren schon Wochen vergangen – inzwischen war März geworden – und in dieser Zeit hatte sich einiges verändert. Als ob es das Schicksal so gewollt hätte, verwickelte es ihn noch in derselben Nacht damals in einen Verkehrsunfall. Es ließ ihn am Leben, jedoch verbrachte er die letzten Monate im Krankenhaus. Kein einziges Mal hatte ich mich dazu überwinden können, ihn zu besuchen.

Meiner Mutter wegen hatte ich mich nicht umgebracht, obwohl ich einige Male wirklich kurz davor gewesen war. Doch ihr schien es gut zu tun, etwas Abstand von ihm zu haben, und ich wollte ihr keinen Grund geben, dieses Glück aufgrund eines anderen Schicksalsschlags einbüßen zu müssen. Dieses Glück fand nun auch alleine sein Ende, denn er würde morgen entlassen werden.

Ein hektischer Schluchzer verließ meine Kehle, als ich daran dachte. Verzweifelt griff ich nach allen möglichen Kleidungsstücken. T-Shirts, Jeans, Westen, Unterwäsche – alles, was ich in meine Hände bekam, wanderte in meinen Rucksack. Dabei warf ich ständig einen Blick zu meiner Zimmertür. Mein Herz pochte wie verrückt. Obwohl ich genau wusste, dass er noch nicht hier sein konnte, fürchtete ich ihn.

Wäre es wenige Monate früher gewesen, hätte ich mich nicht sorgen müssen. Er hätte tief geschlafen, da er am nächsten Morgen fit für die Arbeit sein müsste. Doch dann hatte alles begonnen. Mit dem Verlust seines Jobs.

Damals war er noch der gute, liebevolle Vater gewesen. Doch damals war vorbei.

Wieder warf ich einen hastigen Blick zur Tür. Niemand zu sehen. Ich beschloss, dass ich genug Kleidung gepackt hatte und lief ins Badezimmer, um meine Zahnbürste, ein kleines Handtuch, Duschgel und solche Dinge zu suchen. Was mir nicht sofort ins Auge stach, ließ ich da. Ich konnte es mir nicht leisten, unnötig Zeit mit der Suche von unwichtigen Sachen zu vergeuden.

Nachdem ich das Wichtigste beisammen hatte und sich dieses im Rucksack befand, schloss ich jenen und ergriff ihn.

Würden sie es verstehen? Würden sie sich den Grund zusammenreimen können, warum ich sie genau jetzt verließ? Weder meine Mutter, noch mein kleiner Bruder schienen damals etwas bemerkt zu haben. Sogar mir selbst war aufgefallen, wie sehr ich mich verändert hatte. Warum sahen sie es nicht? Sahen sie nicht den Schmerz, jedes Mal, wenn sie in meine Augen blickten? Sahen sie nicht die Verzweiflung, die mir ins Gesicht geschrieben stand? Sahen sie nicht, wie ich mich tagtäglich quälte? Sahen sie nicht, wie ich litt?

Doch nie würde es jemand erfahren. Niemand durfte es erfahren. Daher musste ich fliehen. Musste weg von hier. Sonst würde es wieder geschehen, irgendwann. Das spürte ich instinktiv.

Mit einer kurzen Handbewegung wischte ich mir alle Tränen, die sich unter meinen Lidern gesammelt hatten und herunter gelaufen waren, aus meinem Gesicht. Als ich mich gehetzt umsah, fiel mein Blick auf den Schreibtisch rechts neben der Tür. Einsam und verlassen, ich hatte ihn schon länger nicht mehr benutzt. Das würde ich jetzt ändern, meiner Mutter zuliebe. So leise wie nur möglich erhob ich mich und taumelte unter dem Schleier von Tränen, der mir erneut die Sicht raubte, auf den Tisch zu. Meine zitternden Hände fanden Zettel und Stift und begannen, zu schreiben.

 

Ich bin weg. Halte es nicht mehr aus. Sucht mich nicht, bitte.

Du kannst nichts dafür, Mama. Tut mir leid.

A.

 

Schnell hatte ich einige verwackelte Buchstaben zu Papier gebracht. Dass einige Tränen auf die sowieso schon kaum leserlichen Zeilen tropften, beachtete ich nicht. Nachdem ich meinen kurzen Abschiedsbrief beendet hatte, ließ ich den Stift lautlos auf das Papier fallen. Dann packte ich noch eine leichte Decke, die ich mir unter den Arm klemmte. Leise schlich ich in Richtung Tür, in der Hoffnung, niemanden aufzuwecken. Meinen kleinen Bruder, der im Nebenzimmer ruhig schlief, oder meine Mutter, die sich vielleicht wieder einmal in den Schlaf geweint hatte, wohl ahnend, was wieder auf sie zukommen würde.

Mit einem Schlag in einer warmen Herbstnacht hatte es begonnen. Einem einzigen. Und es waren so viele daraus geworden.

Nervlich fast am Ende stellte ich fest, dass wieder sämtliche Gefühle in mir hoch kamen, die ich schon so oft zurückgedrängt hatte.

Angst. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich vor etwas so sehr gefürchtet, als alleine vor dem Gedanken, dass es wieder geschehen könnte.

Abscheu. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein. Mein Körper begann zu frösteln. Es war schlimm, zu wissen, dass er seine Hände tagtäglich an mich gelegt hatte.

Aber noch schlimmer war die Tatsache, dass er in mir gewesen war. Ekel. Ich war immer schon ein Teil von ihm gewesen. Das war nicht so schlimm, auch, wenn ich mich nun dafür schämte. Doch nun war auch er ein Teil von mir. Ein Teil von ihm war in mir. Innerlich schüttelte ich mich bei dem Gedanken. Scham. Ich würde das kein zweites Mal durchhalten, nie. Die Scham war so groß, dass ich mich fühlte, als würde ich jeden Moment erneut im Erdboden versinken wollen. Wenn mich jemand Eingeweihter nur ansehen würde, konnte ich förmlich sehen, wie er nach den Flecken suchte. Flecken, die er hinterlassen hatte. Die mich kennzeichneten. Daher behielt ich es für mich.

Doch dann schlich sich noch ein Gefühl ein, das ich bei den letzten Malen immer sofort verdrängt hatte. Das nun umso stärker hervor kam. Zuerst war es nur ein Loch. Es fühlte sich leer an. Ich fühlte mich leer an. Als hätte meine Brust ein Loch, genau dort, wo mein Herz sein müsste. Hätte ich die Vorgeschichte ausblenden können, würde ich sagen, es war der Schmerz über eine nicht erwiderte Liebe. Aber das konnte doch nicht sein. Wie konnte eine Liebe nicht erwidert sein, wenn ich sie nicht einmal spürte? Was sollte bitte erwidert werden, wenn es nicht da war? Oder … war sie doch da, die Liebe? Liebe zu meinem … Vater? Nein, das konnte nicht sein! Wieder war es, als würde etwas Gallenartiges in mir aufkommen. Als würde der Ekel mich überwältigen wollen. Gezwungen schluckte ich sie hinunter, während ich langsam ein Bein vor das andere setzte.

Doch plötzlich stockte ich, denn dann kam die Wut. Wut auf alles und jeden. Meine Hände verkrampften sich, Es war der Zorn, die in mir pulsierte wie flüssige Lava. Wie das Magma eines Vulkans, der gleich ausbrechen wollte. Meine Augen waren frei von Tränen, diese hatten sich verzogen. Die Lider waren zu Schlitzen verengt und meine Stirn legte sich in Zornesfalten.

Wie konnte er es wagen, mich einfach so zu benutzen?! Als wäre ich ein Spielzeug, ein Ding. Nicht ein lebender Mensch, seine Tochter!! Und wie konnte meine Mutter es zulassen, dass er es tat?! Wie konnte sie so tun, als würde sie ihn lieben?! Warum ließ sie sich nicht von ihm scheiden, warum trennte sie dieses … Problem nicht einfach von uns? Es wäre so einfach, man müsste nur ein Wort sagen… Und mit diesem Gedanken verpuffte die ganze Wut und wurde von einer gehörigen Portion Hilflosigkeit abgelöst. Meine Finger begannen zu zittern, hilfesuchend griff ich nach der Wand und stütze mich ab. Langsam tastete ich mich hinaus auf den Gang und von dort zur Treppe. Nur ein Wort sagen… Wenn das denn so leicht wäre. Gedanklich hatte ich es längst getan.

Doch… Ich schaffte es nicht. Keine Ahnung, warum das so war, aber es ging einfach nicht. Vielleicht war es die Angst, dass er es erfahren könnte. Dass mir niemand glauben würde, und er wütend würde. Oder es war einfach die Scham, die mich davon abhielt. Oder etwas ganz Anderes. Ich wusste es nicht.

Mir war momentan nur eins klar: Ich musste weg. Auch, wenn ich jedes Mal einen Kloß im Hals bekam bei dem Gedanken vielleicht für immer weg zu gehen, war mir dennoch klar, dass ich es tun musste. Weit weg, wo mich niemand finden würde. Das sollte nicht zu schwer werden, denn suchen würde mich ohnehin niemand. Meine sozialen Kontakte konnte ich auf einer Hand abzählen – meine Mutter, mein Bruder, und meine Freundin Mona. Kurz hatte ich überlegt, mich ihr anzuvertrauen. Aber dazu hatte ich mich in den letzten Wochen zu sehr abgeschottet, wir waren nicht mehr das, was wir früher einmal waren.

 

Endlich war ich im Erdgeschoss. Während ich meinen Weg nach draußen fortsetzte, versuchte ich, so gut es eben in dieser Finsternis ging, mir alles einzuprägen: den dunklen Esstisch aus Nussholz, die passenden Stühle dazu. Den weißen Perserteppich, der dem kleinen Zimmer selbst in der Nacht den letzten Schliff gab. Das rote Sofa, welches den Großteil des Wohnzimmers einnahm. Meter davor den großen Flachbildfernseher. Dazwischen ein kleiner Teetisch, wieder aus Nuss. Alles passte wunderbar zusammen. Rot, weiß, braun. Im ganzen Haus.

Wir waren nie arm gewesen, dafür hatte der letzte Job meines Vaters gesorgt. Bankdirektor der angesehensten Filiale der Stadt war er gewesen. Bis jemand mitbekommen hatte, dass er heimlich trank. Dann war er gefeuert worden. Und das Unheil hatte erst richtig begonnen. Mit der Zeit wurde das Geld weniger, da er jeden Abend viel versoff. Meine Mutter arbeitete halbtags, doch das war zu wenig. Früher oder später hätten wir das alles verkaufen müssen, alle Erinnerungen, all das Schöne.

Ich versuchte, mir einzureden, dass es also sowieso besser war, wenn ich jetzt verschwand. Dann würde ich das Alles nicht mehr mitbekommen.

Mit dieser Überzeugung atmete ich noch ein letztes Mal in diesem Haus meiner Kindheit aus und zog die braune Jacke sowie meine Converse an.

Mit einem Quietschen, das jedoch nicht laut genug war, jemanden zu wecken, öffnete ich die Haustür, blickte noch einmal sehnsüchtig zurück und verließ das Gebäude.

Die Beleuchtung draußen war spärlich, doch es reichte, dass die Häuser unheimliche Schatten auf die frisch asphaltierte Straße werfen konnten. Nur vereinzelt fand das Licht einer der wenigen Laternen den Weg auf den Asphalt und bestrahlte meine hastigen Schritte. Seltsam beobachtet kam ich mir dabei vor. Die schummrige Beleuchtung bewirkte, dass ich mich noch unsicherer fühlte. Gehetzt blickte ich mich um. Nichts. Aber da war doch ein Geräusch gewesen. Oder doch nicht? Meine Schritte wurden immer schneller und schneller, während ich mich alle fünf Sekunden umblickte.

Folgte er mir etwa? War er doch schon entlassen? Nein, bitte nicht!

Wieder begannen die Tränen zu fließen, ich konnte sie nicht unterdrücken. Wie ein Schleier legten sie sich über meine Wangen, meine Augen, mein ganzes Gesicht. Er vernebelten meine Sinne. Plötzlich vernahm ich ein leises hohes Geräusch, woraufhin ich erschrocken die Luft anhielt. Es verstummte. Hastig befahl ich meinen Beinen, sich noch schneller zu bewegen, als es wieder anfing. Ich ignorierte es, bis es immer weiter anschwoll. Als es sich schließlich in ein Schluchzen verwandelte, erkannte ich, dass das Geräusch von mir selbst kam und versuchte, es einzustellen. Mein Herzschlag beruhigte sich ein wenig und ich wurde kaum merklich langsamer, während meine Beine jedoch leicht versetzt auftraten. Der Rucksack, den ich vorhin noch eng umschlungen gehalten hatte, schlenkerte nun in Höhe meiner Beine herum und brachte mich fast zum Stolpern. Mein Weinen wurde immer lauter, während ich in die nächste Straße einbog, immer noch keine Ahnung, wo ich eigentlich hin wollte. Ich ließ mich von meinem Gefühl leiten, quasi immer der Nase nach. Ging dorthin, wo es mir gerade in den Sinn kam. Und versuchte, mich auf die Umgebung zu konzentrieren. Ich wollte nicht, dass mein Selbstmitleid mich wieder übermannte, dass die Schluchzer mich zum Stehen bleiben veranlassten und mich schüttelten oder dass Tränen meine Sicht verschleierten. Nein, das konnte ich gerade nicht brauchen, aber es würde geschehen, wenn ich weiterhin meine Gedanken denken ließ, was sie wollten. Also konzentrierte ich mich auf die düstere Straße.

Ich kam an einer alten Trafik vorbei, in der er vermutlich die Zigaretten bezogen hatte. Wieder tauchte sein Gesicht vor mir auf. Seine verzerrte Mimik, die hasserfüllten Augen, die … Stopp! Das war keine gute Ablenkung, stellte ich fest, und suchte die Straßenecken nach anderen Plätzen ab. Ich entdeckte einen Supermarkt, in dem ich mich einmal für einen Ferialjob beworben hatte. Allerdings war ich nicht genommen worden. Ich lief an der Bäckerei vorbei, die ich als Kind oft aufgesucht hatte. Die Besitzerin war stets so etwas wie eine zweite Mutter für mich gewesen, bis sie vor ein paar Jahren einem Autounfall zum Opfer gefallen war. Seit diesem Tag hatte ich die Backstube nicht mehr betreten.

Auch an meiner Volksschule lief ich vorbei, immer weiter aus der Stadt heraus. Ach, wie lange war das schon aus, dass ich hier das letzte Mal einen Vormittag verbracht hatte? Sechs Jahre, wie ich schnell im Kopf überschlug. Da war alles noch in Ordnung gewesen. Heile Welt. Keine Jungs, die einem das Leben schwer machten, keine oberflächlichen Freunde, kein trinkender Vater. Gerade war ich noch so etwas wie ein bisschen abgelenkt gewesen, doch der Gedanke an meinen Vater machte wieder alles kaputt. Die Schluchzer, die sich vorhin nahezu eingestellt hatten, krochen erneut meine Kehle hoch. Mein Körper wurde geschüttelt, meine Beine überkreuzten sich, wieder brachten sie mich fast zu Fall.

 

Während ich immer weiter von zu Hause weg lief, weg aus der Stadt, wo alles so vertraut und voller Erinnerung war, durchforstete ich meine Gedanken, wo ich denn eine Bleibe haben könnte. Allerdings kam mir keine Idee, und ich stolperte und fiel der ganzen Länge nach hin. Die Schuhspitze meines Converse war in einer Unebenheit der Straße hängen geblieben und hatte mich somit zu Fall gebracht.

"Scheiße!!"
Fluchend rappelte ich mich auf und besah den Schaden. Ich war über und über mit nassem Schmutz besudelt und meine Klamotten sahen schlimm aus. Wasser hatte meine gesamte dunkle Jeans und den unteren Teil der schwarzen Lederjacke durchnässt. Die Decke, die unter meinen Arm geklemmt war, hatte zum Glück nichts abbekommen. Auch der Rucksack sah besser aus als ich. Ein Seufzer schlich sich über meine Lippen. Das würde dauern, bis es trocken war und ich fühlte, wie ich zu frösteln begann. An Ersatzkleidung hatte ich leider nicht viel Auswahl im Gepäck.

Doch ich beschloss, weiterzulaufen. Es war immer noch Nacht – wenn auch eine kalte Märznacht - und die einzigen, die jetzt schon unterwegs waren, waren Besoffene. Und die konnten sich am nächsten Morgen sowieso an nichts mehr erinnern.

Immer weiter lief ich, weiter und weiter. Schließlich erreichte ich eine U-Bahn-Station ziemlich am Ende der Stadt.

Da werde ich eine Weile bleiben! Es ist weit genug weg von zu Hause, sodass ich vermutlich auf keinen treffen werde, der mich kennt. Außerdem wahrscheinlich nicht all zu kalt, freute ich mich bitter. Zwar war mir bewusst, dass es vermutlich laut werden würde, wenn ein Zug vorbeiraste, doch das war mir im Moment egal. Über die Tatsache, dass ich beklaut werden könnte, machte ich mir keine Gedanken. Jetzt war sowieso schon alles egal.

Fröstelnd verkreuzte ich meine Arme so gut es mit der Decke ging vor der Brust und zog die Schultern nach oben.

Meine Beine trugen mich vorbei an Gleisen, Ticketautomaten und geschlossenen Shops. Doch ich schüttelte gedankenverloren den Kopf. Alles wirkte so, als würden die Plätze am Tag von vielen Leuten passiert werden. Schlecht für mich, wenn ich dort die weitere Nacht verbringen würde. Es würde Aufsehen erregen, da sich hier eigentlich nie Bettler niederließen.

Also suchte ich einen abgelegenen Platz - der aber nahe den Schienen war - und breitete eine mitgenommene Decke aus. Dann stellte ich meinen Rucksack daneben, ließ mich auf den selbstgemachten Schlafplatz fallen und schlug den Rest der Decke über mich, um mich etwas zu wärmen. Weich war es zwar nicht besonders, aber ich hatte etwas, wo ich – zumindest für diese Nacht – bleiben konnte. Dann würde ich weiterziehen. Wusste noch nicht, wohin, aber es würde sich schon irgendwie ergeben. Mein Kopf sank wie von selbst in meine Hände und ich begann wieder, loszuschluchzen.

 

Anscheinend war ich eingeschlafen, denn als ich erwachte, konnte ich mich nur daran erinnern, geweint zu haben und mich dann niedergelegt zu haben - natürlich nicht, ohne mit dem Weinen aufgehört zu haben. Die Tränen waren unermüdlich aus meinen Augen geströmt.

Nun war ich wieder munter geworden, die Tränen waren versiegt. Und die Erinnerungen kamen wieder hoch. Nur in der Nacht blieben sie mir verwehrt, da ich quasi nie träumte. Nie war ich so glücklich über diese Tatsache gewesen, als in den letzten Nächten.

Plötzlich störten Stimmen meine Gedanken. Männliche Stimmen. Lallende Stimmen. Besoffene.

"Scheiße."
Dieses Mal war es kein Ausruf, sondern nur eine geflüsterte Feststellung. Was würden die mit mir machen, wenn sie mich finden würden? Doch diese Frage war sinnlos, denn da sah ich sie auch schon.

Sie waren zu fünft, als sie um die Ecke bogen. Drei von ihnen hatten noch die Bierflasche in der Hand, die anderen torkelten herum. Dreimal Braunhaarig, zweimal Blond, soviel konnte ich erkennen.

Die Angst breitete sich in mir wie Gift aus. Schnell. Tödlich.

 

"Hey, Süße!"

Der eine schaute mir direkt in meine Augen. Er musste doch die Angst in ihnen bemerken, musste doch sehen, dass ich, verängstigt wie eine Maus vor einer Katze, nur darauf hoffte, dass sie mich in Ruhe ließen.

"Willst du spielen?" Ein anderer, dieses Mal der Blonde am Rand, ohne Bier.

Verzweifelt schüttelte ich den Kopf und rückte weiter zurück an den Rand der Gleise. Ich wusste, dass meine Angst sie vermutlich noch mehr erregte, als wenn ich cool geblieben wäre, doch ich konnte sie nicht abstellen. Sie war in mir, wie mein Blut. Meine Gedanken, meine Seele. Bei meinem Vater war das etwas anderes gewesen. Seine Attacken hatte ich gekannt. Doch ihre waren mir neu. Panik stieg in mir auf, drohte, mich zu überwältigen. Ich konnte fühlen, wie mein Körper immer mehr zu zittern begann, diese Bewegung übertrug sich auch auf meine Zähne, welche hart aufeinandertrafen. Wieder und wieder.

Die anzüglichen Blicke der Jungen ließen etwas in mir aufsteigen, es übertraf sogar die Panik. Widerlichkeit. Ich fühlte mich plötzlich wieder fast genauso beschmutzt, wie an dem Tag, an dem er mich zurückgelassen hatte. Fühlte mich schutzlos, ausgeliefert. Es war, als hätte ich das alles schon einmal erlebt und müsste diese Qualen jetzt noch einmal erleben. Déjà-Vu! Normalerweise machten mir solche Ereignisse nichts aus, doch das war etwas anderes.

Meine Augen waren aufgerissen und ich verfolgte jede ihrer Bewegungen.

"Ach, komm schon!"

Wieder ein anderer. Er kam auf mich zu und nahm meinen Arm. Der Druck war fest, doch das schien ihm nicht bewusst zu sein. Hart riss er mich auf die Beine, während meiner Kehle ein Wimmern entkam. Der Blonde kam näher. Sein Atem schlug mir ins Gesicht, ich konnte den Alkohol wahrnehmen, und auch, dass er viel zu viel davon zu sich genommen hatte. Um diesem Gestank zu entkommen, drehte ich den Kopf zur Seite und atmete nur noch stoßweise. Mein Körper versteifte sich, als eine Hand meine Wange streichelte. Als ich mein Gesicht wegdrehen wollte, nahm er mein Kinn in die Hand und es fühlte sich an, als wollte er es zerquetschen.

"Nun komm schon, sträub dich nicht so."

"Das wird lustig!"

Wieder der Blonde.

Ein Druck löste sich, jedoch nicht der um meinen Arm.

Die Tränen begannen zu fließen. Warum geschah so etwas mir? Warum schon wieder?

"Ach komm. Jetzt weint sie!"

Die Stimme war spöttisch. Als wäre ich nur ein Ding. Kein Mensch mit Gefühlen.

Trotz der Tränen waren meine Augen immer noch weit geöffnet, als sollte mir ja nichts entgehen, was da mit mir geschah.

Der Junge nahm schnell seine Hände von mir, um dem Blonden eine überzuziehen. Dieser schlug jedoch zurück und die beiden gerieten etwas abseits, wo sie weiterhin auf sich einschlugen, was einem anderen ermöglichte, zu mir vor zu kommen.

Auch er packte mich gleich am Arm und versuchte, mich mit sich zu ziehen. Er legte eine seiner Arme um meine Taille und hielt mit der anderen Hand die meine fest, mit der ich mich gegen ihn wehren wollte.

Ein Ruck ging durch meinen Körper, die Erstarrung löste sich. Zum Glück fand ich nun auch meine Stimme wieder.

"Nein! Lass mich!"

Panik durchströmte meinen Körper. Ruckartig entriss ich ihm meinen Arm, ballte die Hand zur Faust und schlug sie ihm mitten ins Gesicht. Adrenalin schoss durch meine Adern, der Kick stieg mir zu Kopf und ich schwankte.

„Was zum…?!“

Mein Peiniger schien verarbeitet zu haben, was gerade geschehen war, und holte ebenfalls aus. Mit einem Schritt zurück wollte ich ausweichen, doch er traf mich seitlich am Kiefer. Die Wucht des Schlags beförderte mich zu Boden, wo er sofort auf mir war und mich immobilisierte.

Erneut versuchte ich, mich seinem Griff zu entziehen, doch dieses Mal ohne Erfolg. Wie eine Wahnsinnige schlug ich um mich, doch die einzige Reaktion, die ich erntete, war Gelächter. Ich war ihr kleines Spielzeug. Doch dieses Spielzeug hatte noch nicht aufgegeben.

Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit und ich bekam einen meiner Arme frei. Tapfer schlug ich auf meinen Peiniger ein, kreischte ihn an, kratzte ihn. Froh darüber, meine Nägel nicht wie eigentlich beschlossen geschnitten zu haben, holte ich aus und zog eine Kratzspur über sein linkes Auge. Sofort begann sie, sich rot zu verfärben. Zu verzweifelt, um mich darüber freuen zu können, packte ich ihn bei seinen Haaren und riss kräftig daran. Meine andere Hand hatte sich nun auch befreit, griff in seinen Schritt und quetschte so fest wie möglich. Ein ersticktes Ächzen kam aus seinem halboffenen Mund und er rollte langsam von mir herunter.

Schnell krabbelte ich weg und richtete mich auf, doch da war einer der anderen. Mein Körper begann zu zittern unter der Anstrengung, doch ich war noch nicht gewillt, aufzugeben.

Meine Augen verengten sich zu Schlitzen und ich ging auf ihn los. Ihn beeindruckte das jedoch nur wenig, und er schlug mühelos zurück. Ein Schlag landete auf meiner Schläfe und mir wurde kurzzeitig schwarz vor Augen. Mit einem Seufzen gestand ich mir ein, dass ich nun am Ende meiner Kräfte war und als er mich am Arm packte und festhielt, gab allen Widerstand auf. Doch ihm hatte es anscheinend gefallen, mich leiden zu sehen.

Wieder und wieder trafen mich seine Schläge. Ich konnte nichts dagegen machen.

Nun kamen auch die anderen wieder und halfen ihm.

Von überall kamen Schläge auf mich zu. Manche trafen mich, manchmal trafen sie sich gegenseitig. Der Druck um meinen Arm war verschwunden, doch ich konnte sowieso nicht fliehen, da sie mich eingekesselt hatten. Auf drei Seiten Jungs, auf der vierten Seite die Gleise. Ich überlegte noch, ob ich den Sprung hinunter wagen sollte, und zu fliehen versuchen sollte, da traf mich etwas Hartes am Schädel. Ich vermutete, dass es ein Glas war.

Es zersplitterte an meinem Kopf und Teile schnitten über mein Gesicht.

Ich brach zusammen. Meine Arme und Beine verweigerten ihren Dienst, unglücklich und verzweifelt musste ich über mich ergehen lassen, wie sie mich immer mehr zu einem kleinen Häufchen Nichts zerschlugen.

Langsam und warm lief Blut meine Wange hinunter, über sämtliche Beulen und Schnitte.

Doch ich fühlte nichts mehr. Gar nichts. Keinen Schmerz, keine Scham.

Vollkommen ruhig lag ich auf dem kalten Asphalt, doch auch die Kälte konnte mir nichts mehr anhaben. Ich fühlte sie nicht. War taub. Keine Gefühle drangen von dem Schmerzzentrum in mein Bewusstsein. Ich nahm nichts mehr wahr. Gar nichts mehr. Nur ein leises Summen war in meinem Kopf, ansonsten blieb alles still. Ich begrüßte diese Ruhe, sie war angenehm. War sie es, die vorhersagte, dass ich sterben würde? Nun, es würde mir nichts ausmachen. Nichts hielt mich mehr hier, auf dieser Welt.

Meine Augen hatten sich langsam geschlossen und ich atmete ganz langsam und regelmäßig ein und aus. Sehr langsam. Vermutlich konnte man meinen Atem nicht mehr hören, selbst wenn man sich anstrengte.

Ich hatte nur noch einen Wunsch: zu sterben.

Und doch hoffte ein Teil in mir, die Jungen würden gehen und mich würde jemand finden und ins Krankenhaus bringen.

Doch wie erwartet hoffte dieser Teil vorerst vergeblich.

Ein Junge - ich hatte die Augen immer noch geschlossen, also erkannte ich nicht, um wen es sich handelte - zog mir meinen Pulli über den Kopf und riss mir meinen BH vom Körper. Da setzte mein Verstand zum Teil wieder ein. Das wollte ich nicht. Klar, all die Dinge zuvor auch nicht, aber was jetzt geschah, war mir noch mehr zuwider.

Kurze Erinnerungsstücke schoben sich in meine Gedanken. Genau dasselbe war mir damals … Nein. Daran durfte ich nicht denken. Das hatte ich mit mir selbst vereinbart. Die Erinnerung daran würde mich innerlich auffressen. Langsam, aber sicher. Wie eine Krankheit, Krebs oder Aids. Man wusste, sie war da, doch konnte sich nicht gegen sie zur Wehr setzen.

 

Warum musste das mir passieren?

Warum?

Ich hatte nichts Falsches getan, oder?

Verzweifelt versuchte ich, wieder zu Sinnen zu kommen und die fremden Hände von meinem Körper zu zerren, doch es war vergeblich. Es gelang mir nicht einmal, meine Arme einen Zentimeter zu heben, so erschöpft war ich.

Ich versuchte, einzuschlafen. Oder bewusstlos zu werden. Irgendetwas, damit ich das, was jetzt geschehen würde, nicht mitbekam. Doch ich kam nicht umher daran denken, was die Jungen mit mir machen würden.

Einer von ihnen hatte anscheinend noch nicht begriffen, dass der nächste Schritt 'Vergewaltigung' sein würde, und schlug weiterhin mit der Bierflasche auf mich ein. Nun, da die Taubheit etwas weggeblasen wurde, bekam ich auch das wieder mit. Es war, als würde mein Schamgefühl alles andere übersteigen, und mir verhelfen, wieder normal zu denken, versuchen, zu reagieren. Langsam klärten sich meine Gedanken. Ich wollte das nicht wahrhaben. Nein… Ich… nicht. Zwar dachte ich nur in unzusammenhängenden Wortfetzen, doch verstand mein Gehirn sich darauf, diese richtig zu deuten und an die betreffenden Körperstellen weiterzuleiten.

So versuchte eine meiner Hände – erneut vergeblich – die Hand des Jungen von meiner Brust zu verdrängen. Doch diese hielt daran fest und der Druck verstärkte sich sogar noch.

Ein leidendes Stöhnen schlich sich über meine Lippen. Zwar war es leise, doch sie hörten es.

„Na, gefällt es dir doch?“

„Ich wusste es! Na, komm schon!“

„Genau, mach mal was.“

Ihre lallenden Stimmen waren fast nicht zu ertragen. Wohl dachten sie, mein Körper erfreute sich an ihren Berührungen, doch da lagen sie sehr falsch.

Immer noch versuchte ich verzweifelt, mich gegen ihre außer Kontrolle geratenen Hände zur Wehr zu setzen, doch sie waren übermächtig. Ich schaffte es kaum, die meinen soweit zu bringen, dass sie die ihren berührten, ich war einfach zu schwach.

 

Gerade, als sich eine Hand über meinen Bauch nach unten vortastete, traf mich das Glas erneut an der Schläfe. Der Splitter, der darin gesteckt hatte, wurde weiter in mich hinein geschoben, und in meinem Kopf explodierte etwas. Das letzte, was ich sah, waren lauter kleine Sterne, dann verlor ich das Bewusstsein, mir wurde schwarz vor Augen. Und ich war froh darüber.

 

2 - Erwachen

Piep…piep…piep…piep…

Mein Kopf brummte und alle meine Glieder fühlten sich taub an. Kurz versuchte ich, die Augen zu öffnen, doch meine Lider verweigerten mir den Dienst. Erschöpft gab ich es auf. Ein Seufzer entfuhr mir, als das lästige Geräusch in meinem Kopf endlich leiser wurde.

„Sie kommt zu sich!“, flüsterte eine helle Stimme neben mir. Mit wem sprach sie? War noch jemand im Raum? Ach, egal. Was machte das für einen Unterschied. Ich lag hier – wo auch immer hier war – und ich lebte. Ich war glücklich. Moment. Warum sollte ich nicht leben? Warum machte es mich glücklich zu wissen, dass ich lebte? Und warum fühlte sich alles so komisch an, als wäre ich unter Wasser?

Geräusche drangen nur gedämpft zu mir und Bewegungen waren schier unmöglich. Mein Körper fühlte sich leblos an, vor allem meinem Kopf schien es nicht allzu gut zu gehen. Was war geschehen? Krampfhaft versuchte ich, mich zu erinnern, doch in traf nur auf gähnende Leere. Ich strengte mich an, per Gedanke Botschaften an mein Gehirn zu leiten, um ein paar Fragen beantwortet zu bekommen, doch nie kam eine Antwort.

Was war passiert?

Wo war ich?

Wer war noch da?

Und … wer war ich überhaupt?

Oh mein Gott. Sollte man nicht zumindest letzteres immer wissen? Ja, eigentlich schon. Aber warum wusste ich es dann nicht?! Verdammt, es musste doch einen Grund für all das geben! Panik kam in mir hoch, wäre ich nicht so kraftlos, hätten meine Augen weit offen gestanden. Es war das Unbekannte – ich hatte mich bis jetzt immer daran erinnern können, wer ich war und was sonst so los war. Doch jetzt … nichts. Alles weg. Warum?

Scheiße, es musste doch einen Weg geben, zu all den Informationen zu kommen! Das konnte doch nicht sein, dass plötzlich alles ausgelöscht war! Ich konnte nicht einfach im Alter von … scheiße, nichts. Egal, ich konnte doch nicht in meinem Alter einfach so von vorne beginnen! Das ging doch nicht, ich brauchte eine Vergangenheit. Oder zumindest einen Namen, ein Alter, eine Adresse. Brauchte Menschen, die ich kannte, an die ich mich erinnern konnte.

Würde das jetzt immer so sein? Würde mein Leben von dieser Ungewissheit bestimmt werden? Bitte nicht… Das konnte doch nicht sein.

Die Verzweiflung brachte mich schließlich ans Ende meiner momentanen Kräfte und ich fiel erneut in einen tiefen Schlaf.

 

Piep…piep…piep…piep…

Dieses Mal war das Erwachen nicht so gemütlich wie zuletzt. Ein Schmerz zuckte durch meinen Kopf, lähmte meine Gedanken. Als er nachließ, versuchte ich zaghaft, ein paar Finger zu bewegen. Es klappte. Meine Hand fühlte einen weichen Stoff, darunter etwas Härteres. Ein Bett? Möglich. Wieder tauchte die Frage auf. Wo war ich? Und als hätte der Schlaf einige meiner Erinnerungen wachgerüttelt, kam es mir in den Sinn: Ich musste mich in einem Krankenhaus befinden! Von dem Gefühl beseelt, das zu wissen, sehnte ich mich nach weiteren Erfolgserlebnissen. Nein, dieses Mal keine Erinnerungsversuche mehr. Davor hatte ich zu sehr Angst. Nicht davor, worauf ich stoßen würde, nein, vielmehr davor, dass ich auf nichts käme.

Also befahl ich mir, die Lider zu öffnen, und diesmal gelang es mir. Wenn auch ganz langsam und nicht ohne Anstrengung. Doch nach kurzem Abmühen hatte ich es geschafft. Ein Schleier verdeckte meine Sicht und ich konnte nur schemenhaft einige weiße Umrisse erkennen. Doch bei jedem Blinzeln wurde alles klarer: Ich befand mich augenscheinlich in einem Einzelzimmer, mein Bett war mittelgroß und einige Stäbe an den Bettkanten verhinderten, dass ich hinausfiel. An meinen Händen klebten Schläuche, und auch in meiner Nase schien einer zu stecken. Ich war bis unter die Achseln zugedeckt, die Hände ruhten daneben auf dem Bett. Schräg über mir auf der anderen Seite des Raums war ein großer Fernsehapparat befestigt. Darunter standen Stühle, doch sie waren leer. Um nicht darüber nachdenken zu müssen, wer nicht alles darauf wartete, dass ich aufwachen könnte, ließ ich meinen Blick weiterwandern.

An der rechten Seite des Zimmers befand sich ein Schrank aus hellem Holz – vielleicht Kiefer oder Ahorn. Neben ihm sah ich eine riesige Tür aus Milchglas. Hinter ihr konnte ich mehrere Silhouetten ausmachen, welche sich angeregt miteinander unterhielten. Allerdings drang kein Wort zu mir durch. Es würden doch nicht … ? Nein, es konnten nicht die Typen sein, die mich … so verletzt hatten. Das konnte nicht sein. Mein Atem wurde schneller, auch, wenn ich mir vermutlich nur etwas einbildete. Doch diese Einbildung schien so real, so echt. Da klickte plötzlich etwas in meinem Kopf – Typen, die mich verletzt hatten. Das war eine Erinnerung! Es funktionierte! Sollte ich den Moment ausnützen? Nein, lieber nicht. Zu groß war die Angst, auf etwas Schlimmes zu stoßen.  Ich brauchte etwas, um mich abzulenken. Wie spät war es eigentlich? Gab es hier irgendwo eine Uhr? Ich versuchte, meinen Kopf in eine Richtung zu drehen, in der ich ein Nachtkästchen mit Digitaluhr darauf vermutete, doch der Schmerz, der daraufhin einsetzte, ließ mich schnell stoppen. Aber es war schon zu spät. Wie bei einer Kettenreaktion schoss ein Stich durch mich und alles brannte. Muskeln zogen sich ruckartig zusammen und entspannten sich sogleich auch wieder. Mein Körper wurde von einem Krampf geschüttelt. Es war, als hätte man ihn an eine Elektroschockmaschine angeschlossen. Ich zuckte unter dem Schmerz, der mich erneut in eine Art Ohnmacht fallen ließ.

 

Piep…piep…piep…piep…

Als ich zum dritten Mal erwachte, hörte ich ein leises Stimmengewirr. Es schien von verschiedenen Personen zu stammen, welche im selben Raum waren wie ich. In meinem Krankenzimmer. Das hieß, sie warteten vermutlich darauf, dass ich erwachte. Ob sie mitbekommen hatten, dass ich schon zuvor wach gewesen war? Vielleicht. Die Krankenschwestern müssten es eigentlich bemerkt haben.

„Ich denke, sie ist aufgewacht!“

Oh ja, richtig gedacht. Das war ich allerdings. Und das schon zum dritten Mal!

„Aileen Valera?“

Und mit einem Schlag war alles wieder da. Alle Erinnerungen, die mir die letzten paar Minuten, Stunden oder Tage verwehrt geblieben waren, durchfluteten mich nun ohne Rücksicht auf meine Gefühle. Alles schwappte über mich hinweg, von meinen unbeschwerten Kindesjahren, von meiner ersten großen Liebe Jared, seinem Verschwinden, bis hin zur Vergewaltigung durch ihn – ich erlaubte es mir nicht, seinen Namen oder Ähnliches zu nennen – und der Überfall an den Bahngleisen. Alles war wieder da. Mein Name, meine Verwandten, Freunde, Heimat. Ich konnte mich erinnern. Doch jetzt, wo alles so heftig über mich herein brach, wünschte ich mir, mein Körper hätte sich mehr Zeit gelassen und meine Vergangenheit langsam Stück für Stück freigegeben. Nicht alles auf einmal.

Der Erinnerungssturm stürzte mich in ein Gefühlschaos. Emotionen, so stark und so zahlreich wie nie zuvor, stürmten unbarmherzig auf mich ein. Sogar ein wenig Freude darüber, dass alles wieder da war. Dass ich nicht ohne Erinnerung geblieben war. Ein Mensch ohne Erinnerung – was war das schon? Jeder hatte Erinnerungen, sie machten einen zu dem, was man war. Auch wenn man sich manchmal wünschte, sie nicht zu besitzen. Diese Dinge nicht getan oder erlebt zu haben. Wie es bei mir im Moment der Fall war. Das war eines der weiteren Gefühle, die Verzweiflung. Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Ich saß hier in diesem Krankenhaus fest, vermutlich war meine Mutter da. Sie würde mich zu sich nach Hause holen, und wahrscheinlich war er inzwischen auch wieder da. Klar, wo sollte er sonst auch sein?

Angst überflutete mich. Wie sollte ich ihm jemals wieder gegenübertreten können? Das würde ich nicht noch einmal verkraften, ich war nicht mehr so stark. Früher hatte ich jeden Tag wieder neue Kräfte getankt von Dingen, die mir gut getan hatten – Freunde, Hobbies. Hatte ich Zeit mit diesen Sachen verbracht, ließen sie meist für kurze Zeit den Schmerz über die Probleme zu Hause abschwellen und gaben mir Kraft. Doch auch diese Quellen waren mit der Zeit versiegt, indem ich mich von ihnen abgekapselt hatte.

„Aileen? Kannst du mich hören?“

Ja, wollte ich sagen, doch ich schaffte es nicht. Mein Körper war außerhalb des von mir zu kontrollierenden Bereichs und es schien, als läge es nicht in meiner Macht, über ihn zu bestimmen. Das machten momentan meine Gefühle.

Hoffnungslosigkeit. Wie sollte ich diesen Schmerz je überwinden können? Wie sollte ich diesen Schritt in ein normales Leben zurück schaffen? War ich stark genug? Ich bezweifelte diese Tatsache. Wenn ich nicht einmal meinen Lippen befehlen konnte, sich zu bewegen, wie konnte ich dann ein normales Leben führen, nach solchen Erlebnissen? Sie hatten mich zerstört. Hatten nicht viel zurück gelassen von dem Mädchen, das ich einmal gewesen war.

„Hey, Aily. Bitte, tu etwas, wenn du mich hörst!“

Die verzweifelte Stimme meiner Mutter. Ich muss meine Finger bewegen, ich muss einfach… Sie konnte nichts dafür, dass ihr so großer Schmerz zugefügt worden war. Womit hatte sie das verdient? Genug, dass ihr Mann sie schlug, aber dass dann auch noch ihre Tochter ihr solche Sorgen bereiten musste? Ich wollte das nicht, Mama. Ich kann doch auch nichts dafür…

Durch Aufbringung aller Kraft, die ich besaß, schaffte ich es schließlich, meine Hand wenige Zentimeter zu heben. Und sie sahen es.

„Aileen!“

Ein Schluchzen.

Mama, nicht. Ich wollte ihr sagen, dass es mir eigentlich gut ging. Dass sie sich nicht um mich sorgen musste. Dass sie sich um sich selber kümmern sollte, vor allem jetzt, wo er wieder zurück war.

„Sie können ruhig mit ihr sprechen. Auch, wenn Sie vielleicht denken, dass es sie noch überfordern könnte. Reden sie mit ihr, es wird ihr nur gut tun!“, forderte die Krankenschwester meine Mutter auf.

Nach einiger Verzögerung begann Mum tatsächlich leise zu sprechen. Allerdings nicht mit mir.

„Ähm … könnten Sie mich vielleicht kurz mit ihr alleine lassen? Ich … würde gerne alleine mit ihr sprechen.“

„Natürlich, aber sollte es Komplikationen geben, drücken Sie bitte diesen Knopf.“

Wahrscheinlich wies sie gerade auf einen roten Notfallknopf, der sich neben meinem Bett befinden müsste.

Ich hatte die Augen noch geschlossen, die Schwärze hielt mich gefangen. Es war, als würde sie mich einsperren, mir die Details von diesem Gespräch zwischen meiner Mutter und der Krankenschwester vorenthalten. Sie behinderte meine Wahrnehmung, hielt mich gefangen. Es war unangenehm, ließ die Angst langsam wieder hervorkommen. Die Angst, dass mir etwas entgehen könnte, da ich ja nichts sah. Theoretisch könnte sich jeder an mich heranschleichen und mir etwas Schlimmes zufügen.

Mein Atem beschleunigte sich. Du bildest dir das nur ein, alles ist gut. Keiner will dir wehtun. Eine Stimme in meinem Kopf redete ruhig auf mich ein. Doch gleich mischte sich eine weitere darunter. Es war eine, die ich hasste. Wer weiß, wer weiß. Vielleicht lauert hinter deinen geschlossenen Augen ja … Das Geräusch eines zurückgeschobenen Stuhles unterbrach die wilden Spekulationen meiner Gedanken. Dann bewegten sich Schritte in Richtung Tür, welche dann geöffnet und wieder geschlossen wurde.

„Aily, Liebes.“

Etwas verunsichert griff meine Mutter nach meiner Hand und drückte sie. Langsam atmete ich aus. Es war nur meine Mutter. Kein Monster, das mich umbringen wollte.

„Es tut mir so leid!“ Ihre Hand vibrierte, als ein Schluchzer ihren kleinen Körper schüttelte. „Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe. Was habe ich nur getan, dass du dich so unwohl gefühlt und gedacht hast, wegzulaufen wäre eine gute Idee?“ Ihre Hand ließ die meine los, und ich hörte ein Schnäuzen. „Du wolltest doch weglaufen, nicht? Wir haben deinen Rucksack gefunden…“ Sie machte eine kurze Pause, gedankenverloren. Ich wollte gar nicht daran denken, von wem und unter welchen Umständen ich gefunden worden war.

„Es tut mir so leid, Aily, so leid, hörst du? Wieso hast du mir denn nichts gesagt? Ich hätte dir doch helfen wollen. Du bist doch mein Baby, wie konnte das nur passieren?“ Ich wollte sie so gerne stoppen und ihr sagen, dass es nicht ihre Schuld war, doch ich konnte nicht. Also redete und redete sie, bis ich schließlich wieder einschlief.

 

Das Öffnen meiner Zimmertür weckte mich. Dieses Mal war es vermutlich auch wirklich nur ein Schlaf, das Erwachen aus dem Koma fühlte sich anderes an. Da war ich dann erschöpft und nicht ausgeruht, wie jetzt.

Jemand betrat mein Zimmer, stürmte quasi herein. Die Schritte trippelten schnell auf dem Boden, jedoch wurde dieses Geräusch beinahe von etwas anderem übertönt. Es war ein eher leises Quietschen und Rattern, wie das der Wagen, die die Pflegerinnen immer vor sich her schoben. Vermutlich war es auch wirklich eine Krankenschwester, die mein Zimmer betrat.

Ich hörte, wie Holz über den Krankenhausboden geschoben wurde. Es war nahe, wahrscheinlich hatte jemand neben meinem Bett gesessen und war nun aufgestanden.

 „Ich werde Ihrer Tochter jetzt etwas Blut abnehmen, da wir zur Sicherheit einige Tests durchführen werden, um herauszufinden, ob sie bleibende Schäden von dem Koma davon getragen hat. Doktor Miller wird Ihnen später mehr dazu erklären. Machen Sie sich nur keine Sorgen, bisher scheint es Aileen den Umständen entsprechend gut zu gehen.“

Es war also wirklich meine Mutter, die noch im Raum war.

Leise kam der Wagen näher, ich hörte, wie das Rattern sich weiterbewegte, ein bisschen lauter wurde und schließlich links neben meinem Bett hielt. Blutabnehmen. Das bedeutete Armabbinden und Spritze. Etwas, das ich überhaupt nicht leiden konnte. Während die Krankenschwester meinen Arm nahm und ihn über dem Armgelenk abband, ließ ich noch die Augen geschlossen. Auch, als sich plötzlich eine Nadel in meine Ellenbeuge bohrte, machte ich sie noch nicht auf. Konzentrierte mich ganz auf den Einstich. Zwar hatten immer wieder verschiedenste Leute gesagt, ich sollte an etwas anderes denken, aber das funktionierte bei mir nicht. Dann kam alles zu überraschend, zu schnell.

Die Sekunden kamen mir vor wie Minuten, doch schließlich war es vorbei. Die Nadel wurde aus meiner Haut entfernt, und ein kleines Pflaster auf die Einstichstelle geklebt. Erleichtert atmete ich tief durch und öffnete die Augen.

Die Krankenschwester packte ein Glasröhrchen mit rotem Inhalt in ihren Wagen, was mich erneut dazu veranlasste, die Augen zu schließen. Blut. Ein Anblick, der zwar erträglich war, wenn es sein musste, allerdings vermied ich ihn lieber.

Als ich hörte, wie sich das Quietschen und Rattern des Wagens, sowie die eiligen Schritte der Schwester entfernten, hob ich zaghaft die Lider und blickte in Richtung Tür, welche soeben geschlossen wurde. Gut, sie war weg. Mit dem Blut. Und ich war wieder alleine mit meiner Mutter. Langsam drehte ich mich zu ihr um. 

Doch es war ein Schock für mich, in ihr Gesicht zu sehen. Ihrer Wangenknochen waren eingefallen, unter ihren Augen befanden sich dunkle Ringe und man sah eindeutig, dass sie geweint hatte. Ich wollte sprechen, reden, meine Mum trösten und sie so viel fragen. Doch schon beim Versuch, meinen Mund zu öffnen und einen Ton hervorzubringen, scheiterte ich kläglich und verzog mein Gesicht vor Schmerzen.

„Aily, Schätzchen! Ist schon gut… lass dir Zeit!“ Zögernd griff sie nach meiner Hand, in der ein Venflon steckte und streichelte sie zaghaft. „Das kriegen wir schon wieder hin, es wird alles wieder gut…“

Sie murmelte die letzten Worte so leise, dass ich nicht wusste, ob sie noch an mich gerichtet waren oder vielmehr dazu dienten, sich selbst aufzumuntern.

Doch ich machte mir auch keine Gedanken mehr darüber. Der Schlaf, den ich zuvor genossen hatte und der durch die hereinkommende Schwester gestört worden war, schien doch nicht so ergiebig gewesen zu sein, wie ich gehofft hatte. Ich spürte, wie sich die Müdigkeit erneut wie ein Schleier um mich legte, mich beinahe ganz übermannte. Doch ich wollte das noch nicht zulassen. Ich wollte nicht schon wieder wegdämmern. Es war ein komisches Gefühl, in dieser Phase zwischen Schlaf und Wachzustand gefangen zu sein und weder in dem einen, noch im andern Zustand länger verweilen zu können. Ist es ein Mittel, das sie mir eingeflößt haben? Eines, das mir die Schmerzen nimmt, mich dafür aber … so schläfrig stimmt? Oder ist es … vielleicht doch etwas … anderes?

Meine Gedanken wurden immer schleppender, bis mich die Müdigkeit doch übermannte und ein weiteres Mal in die Tiefe zog.

 

Ich gehe durch einen langen Tunnel und am Ende sehe ich Licht. Nicht den Strahl einer Taschenlampe, sondern echtes Tageslicht. Der Boden dort ist grün und voller bunter Blumen. Schmetterlinge fliegen von Blüte zu Blüte, während ich immer weiter durch den Tunnel auf diesen Ausgang zugehe. Schließlich bin ich dort angelangt. Die Strahlen der Sonne wärmen mich. Sommer. Ein weißes, knielanges Kleid bedeckt meinen Körper und ich drehe mich pausenlos im Kreis. Dann liege ich plötzlich am Boden und kugle mich herum wie ein kleines Kind. Der Untergrund, auf dem ich liege, ist weich und natürlich. Es fühlt sich an wie Moos. Über mir wirft ein Baum seinen Schatten auf mich. Kühlt mich.

Und überall ist Lachen. Mein Lachen. Es tönt in den Tunnel, der neben mir ist, hinein und hallt von einer Wand zur anderen. Er umfängt mich wie ein Schleier, belebt mich. Ich fühle mich, als wären mir Flügel gewachsen. Als trüge mein Lachen mich weit in die Luft. Ich schwebe über der ganzen schönen Landschaft und kann alles sehen: das kleine, dunkelgrüne Plätzchen Moos, auf dem ich gerade noch gelegen habe; die ebenfalls dunkle Tanne, die daneben thront. Hellgrüne Gräser, zwischen denen sich immer wieder einzelne Stängel von Blumen den Weg nach oben bahnen. Ihre Blüten weisen alle Farben auf, die man sich nur vorstellen kann. Es gibt sie in rot, orange, gelb, blau, türkis, gold; ja, alle Farben sind vertreten. Und es sieht nicht unrealistisch aus, eher wie ein Bild, das von einem berühmten Maler geschaffen wurde. Dieser Anblick fasziniert mich.

Obwohl ich schon weit oben in der Luft bin, habe ich keine Angst. Denn mein Lachen schützt mich. Es hält mich fest, lässt mich nicht los. Langsam schwebe ich nun wieder zurück. Ich lande sanft auf den Boden und seufze tief. Es ist so wunderschön hier. Und ich bin glücklich.

 

Dieses Mal weckten mich Stimmen. Da ich noch etwas schläfrig war, musste ich mich konzentrieren, um sie einigermaßen hören zu können. Dann waren sie zwar relativ gut verständlich, doch sie schienen durch irgendetwas gedämpft zu werden. Als fände dieses Gespräch nicht in meinem Zimmer statt, sondern weiter weg. Vielleicht vor meiner Zimmertür, das würde auch die Dämpfung erklären. Ich strengte mich an und lauschte den Stimmen, welche von meiner Mutter und einer anderen Person – vielleicht einer Krankenschwester, dem Inhalt nach – stammten.

 „Frau Valera, Sie müssen ihrer Tochter sagen, dass sie vergewaltigt wurde. Vielleicht ahnt sie es schon, das könnte gut möglich sein. Sie hat immerhin Blessuren im Intimbereich, da könnte es durchaus sein, dass sie von selbst darauf gekommen ist. Allerdings sprechen, wie schon gesagt, alle Anzeichen dafür, dass sie bereits vor der Vergewaltigung ohnmächtig wurde. Daher ist es nicht sicher, dass sie es weiß. Ich weiß, sie ist noch schwach, doch wenn Sie es ihr jetzt nicht sagen, wann dann?“

Die Stimme hatte recht, ich hatte tatsächlich schon daran gedacht, dass es wieder passiert sein könnte. Mein Körper hatte ähnliche Anzeichen aufgewiesen wie damals, ich hatte die Wunden an den Innenseiten meiner Oberschenkel bemerkt, den Schmerz im Intimbereich. Doch ich hatte es nicht wahrhaben wollen. Vor Schreck öffnete ich die Augen und sperrte sie weit auf. Es jetzt zu erfahren, dass die Zeichen doch das bedeuteten, was ich unbewusst schon geahnt hatte, war, als würde sich eine eiserne Kralle um meinen Brustkorb legen und ihn langsam zusammendrücken. Mir blieb für einen Augenblick die Luft weg und ich japste danach wie ein Fisch, dem man das Wasser genommen hatte. Angst und Panik schossen durch meinen Körper, doch schon bald wurden sie vom Ekel verdrängt. Diese widerlichen Typen hatten sich an mir vergriffen. Ich hatte ihre Spuren an meinem Körper. Das konnte nicht wahr sein. Das durfte nicht wahr sein!

Meine Hände waren inzwischen zu meinen Oberschenkeln gerutscht, tasteten über die inzwischen schon fast verheilten Schrammen. Ich dachte daran, wie sie mir wohl zugefügt worden waren. Nein, das durfte ich nicht. In mir breitete sich eine Übelkeit aus, ich fühlte mich beschmutzt. Die Galle stieg in mir hoch, doch ich würgte sie hinunter. Um mich wenigstens ein bisschen abzulenken, konzentrierte ich mich wieder auf das Gespräch.

 „Sie haben ja Recht… Aber ich kann es ihr nicht sagen! Nicht, dass ich es nicht wollte. Sie sollte es ja wissen. Aber … ich kann nicht.“

„Atmen Sie tief durch, Frau Valera. Überdenken Sie alles noch einmal in Ruhe. Wenn Sie dann immer noch der Meinung sind, sie seien nicht in der Lage, Aileen die Hiobsbotschaft zu überbringen, kann ich Ihnen das abnehmen.“

„Vielen Dank. Damit wäre mir sehr geholfen.“

Ich konnte förmlich die Erleichterung meiner Mutter hören. Sah sie vor mir, wie sie ausatmete, wie der Druck von ihr wich.

Das war also momentan ihr größtes Problem? Dass sie es mir nicht sagen konnte?! Wenn sie wüsste, das mir dasselbe durch ihren Mann auch schon widerfahren war! Sie hatte bestimmt gewusst, dass er nicht nur sie schlug. Das mit der Vergewaltigung hatte sie nicht mitbekommen, dem war ich mir ziemlich sicher. Aber es konnte ihr nicht entgangen sein, dass er mich geschlagen hatte. Und doch war sie immer nur tatenlos geblieben, hatte nichts unternommen, um ihn zu stoppen. Sie hatte sich ja nicht einmal selbst gegen ihn gewehrt!

In mir stiegen erneut negative Gefühle hoch. Abscheu, Wut. Wie konnte sie uns das nur antun? Wohin hatte mich das gebracht, dass sie still gewartet hatte, bis es vorbei war?! Beinahe den Tod hatte es mich gekostet! Diese Typen hätten weiß Gott was noch mit mir machen können! Mich auf die Schienen legen, mitnehmen, aufschneiden, was weiß ich. Als mir das klar wurde, als ich mir bewusst wurde, wie nahe ich dem Tod gewesen war, lief es mir kalt den Rücken hinunter. Es war, als würde der Tod erneut seine Fühler nach mir ausstrecken, um mich zu sich in sein Reich zu holen. Nur war dieses Gefühl nicht eines, das gerade erst aufgetaucht war, vielmehr war es eine Erinnerung. Und diese Erinnerung ließ mich schaudern.

Die Tür zu meinem Zimmer wurde geöffnet, was meine Erinnerungen zum Glück stoppen ließ. Ich atmete tief durch, schließlich wollte ich nicht vollkommen aufgelöst erblickt werden. Nicht einmal von einer Krankenschwester, die das vermutlich von mir erwarten würde.

 „Gut. Ich werde jetzt hineingehen und nach Aileen sehen. Sie können gerne mitkommen, vielleicht wacht sie wieder auf.“

Die Schritte kamen näher, während ich überlegte, ob ich so tun sollte, als hätte ich die Unterhaltung nicht mitbekommen. Ich entschied mich dagegen und ließ die Augen geöffnet.

 „Aily, Schatz, du bist munter!“

Ein Lächeln auf dem Gesicht meiner Mutter. Nicht so auf meinem.

„Wie geht es dir?“

Wie es mir ging? Ich wurde zusammengeschlagen und vergewaltigt; und hatte dies erst soeben erfahren. Ich würde mal sagen, bester Zustand.

Ich entschied mich dazu, vorerst nichts zu sagen. Erstens war ich viel zu geschockt, um überhaupt ein Wort herauszubringen. Auch, wenn man es mir hoffentlich äußerlich nicht ansah, innerlich tobte ein Sturm der Gefühle. Verwirrung, Angst und Panik, vermischt mit Ekel, Abscheu und Wut. Vielleicht blitzte etwas durch meine Augen, denn meine Mutter senkte betroffen den Blick und schwieg betreten.

Bevor Mum weiterreden konnte, mischte sich die Krankenschwester ein.

„Aileen, wie fühlen Sie sich?“ Sie warf einen Blick auf den Monitor neben mir. „Wissen Sie, wer Sie sind? Können Sie sich erinnern?“

Ich haderte kurz, wie ich antworten sollte, dann entschließ ich mich zu einem einfachen „Ja“.  Ahnte sie, dass ich wirklich alles wusste? Sollte ich es ihr sagen? Doch wie? Mein Mund blieb verschlossen, nicht ein weiteres Wort wollte ihm entrinnen. Schließlich startete meine Mutter doch wieder einen Versuch, es mir beizubringen.

„Aileen… Weißt du… Also, vermutlich weißt du es noch nicht, aber…“

Hilfesuchend sah sie sich zur Krankenschwester um, doch als ich leise versuchte, mich zu räuspern, wandte sie sich sofort wieder mir zu. Ich nickte, in der Hoffnung, sie würde es verstehen. Und das tat sie. Zuerst konnte ich die Erschrockenheit darüber, dass ich es wusste, ihrem Blick entnehmen, dann wurde diese von Mitleid abgelöst.

 „Aily, Schatz, es … tut mir so … leid.“

Die Worte kamen nur stammelnd aus ihrem Mund. Die Tatsache, dass ich es wusste, schien sie etwas aus der Bahn geworfen zu haben. Auch die Krankenschwester sah mich erstaunt, wenn auch etwas misstrauisch an. Vielleicht zweifelte sie an meiner Geste, und um sicher zu gehen, dass ich auch wirklich nichts vergaß, wiederholte sie meine Gedanken noch einmal. Doch das Gespräch lenkte mich zumindest ein wenig von dem Gefühlschaos in meinem Inneren ab. Und darüber war ich nur froh.

„Sie wurden vergewaltigt, das wissen Sie. Also können Sie sich daran erinnern, was genau am 11. März geschehen ist?“

Konnte ich mich erinnern? Ja, Großteils. Bis zu dem Teil, an dem ich bewusstlos geworden war.

Leicht wiegte ich den Kopf und versuchte, eine Antwort hervorzupressen, was mir auch relativ gut gelang.

„Ja … Davor … Großteils …“ Ich räusperte mich, um meine Stimme zu klären.

Auch die Schwester nickte ein wenig.

 „Gut. Da sie jetzt wissen, was im Gröberen mit Ihnen geschehen ist, werden wir Ihnen die Details ersparen. Das wird Ihnen helfen, besser darüber hinwegzukommen.“

Darüber hinwegzukommen… Beim letzten Mal hatte es etwas geholfen, es zu verdrängen. Was natürlich schwer gewesen war, nachdem ich jeden Tag erneut in der Umgebung des Geschehens verbrachte und die Erinnerungen mich doch nicht ganz losließen. Schließlich war ich geflohen, doch das hatte mir mehr Pech als Glück beschert. Noch einmal würde ich das vermutlich nicht machen.

Plötzlich schoss ein Gedanke durch meinen Kopf. Sie hatten mir noch gar nicht gesagt, wie lange ich eigentlich weg gewesen war.

„Wie lange habe ich eigentlich im Koma gelegen?“

Bei dieser Frage klang meine Stimme zwar immer noch angeschlagen, aber immerhin brachte ich sie ohne größere Pausen dazwischen heraus.

Wieder warfen sich meine Mutter und die Krankenschwester einen Blick zu, fragend, ob ich bereit dazu wäre. Ich kann damit leben, dass ich vergewaltigt wurde, also könnt ihr es mir ruhig sagen!

„Wir haben heute den 14. April. Du warst einen Monat und drei Tage im Koma.“

Einen Monat. 14. April. Vermutlich sollte ich geschockt sein, doch ich war zu sehr damit beschäftigt, alle Gefühle zu unterbinden, also fühlte ich auch jetzt nicht besonders viel. Moment… 14. April? Stockend dachte ich noch einmal scharf nach. Ich hatte eine Vorahnung, und diese bestätigte sich in meinem nächsten Gedankengang. Ich hatte tatsächlich während meines Geburtstages im Koma gelegen. Ich war nun siebzehn, ohne Feier. War das jetzt positiv oder negativ? In mir stritten zwei Seiten, wobei die zweite schon nach wenigen Augenblicken gewann.

Die erste meinte, es wäre negativ. Geburtstag, Geschenke. Feiern. Jeder freut sich normalerweise, an deinem Geburtstag machen es dir Recht. Doch die zweite Seite war da anderer Meinung, und dieser war ich auch. Feiern wollte ich eigentlich sowieso nicht. Ich wäre nicht in der Stimmung dazu gewesen. Es wird besser sein, dass ich ihn verpasst habe. Und mit diesem Argument konnte ich auch besser leben, brauchte mir nicht ständig zu sagen, wie schade es war, dass ich einen Geburtstag verpasst hatte.

Meine Gedanken wanderten langsam weiter. Ich hatte nun schon einen Monat im Krankenhaus verbracht. Körperlich müsste eigentlich das Gröbste geheilt sein. Und Seelisch … tja. Da würden sie mich hier vermutlich sowieso nicht behandeln können.

Ich nickte. „Okay.“ Das brachte mir einige misstrauische Blicke ein, aber sie beließen es dabei. Dann wechselte meine Mum das Thema.

„Könnten Sie uns vielleicht kurz entschuldigen? Ich würde gerne noch etwas mit Aileen alleine besprechen“, wandte sie sich an die Krankenschwester, die daraufhin auch verschwand.

Als sie weiter sprach, sah mir Mum nicht in die Augen.

„Weißt du, seit du fort bist, ist einiges geschehen. Nicht nur Gutes.“

Sie machte eine bedeutungsvolle Pause, in der ich mir alles Mögliche ausmalte. War etwas mit ihr oder Sam, meinem Bruder, geschehen? Bitte, lieber Gott, nein. Lass ihm nichts zugestoßen sein. Nicht ihm… Er war noch so jung, hatte sein ganzes Leben noch vor sich! Sam, nicht Sam…

Doch ich blieb stumm, ließ sie weiterreden.

„Es geht um deinen Vater… Weißt du, er … er … ach, Aileen, ich weiß doch nicht, wie ich es dir sagen soll!“

Sie begann zu schluchzen. Doch das war momentan meine geringste Sorge. Was war mit meinem Vater? Normalerweise sollte man ja keinem Menschen etwas Böses wünschen, doch ich hatte allen Grund dazu. Hatte er sie wieder geschlagen und sich dabei die Hand gebrochen? Geschah ihm Recht. Hatte ihn ein Auto überfahren? Auch gut. Schließlich bekam jeder einmal die Rechnung für seine Taten. Und in seinem Fall hoffte ich, dass diese Rechnung hoch sein würde.

 „Aber ich versuche es. Aileen. Dein Vater ist tot.“

Sie schnäuzte sich geräuschvoll in ein Taschentuch, ich konnte förmlich hören, wie ihr kleiner Körper von Schluchzern geschüttelt wurde.

Ich war verwirrt. In mir herrschte völliges Chaos. Am stärksten vertreten war die Genugtuung. Er hatte wirklich bekommen, was ihm zustand. Hoffentlich war sein Tod langsam und qualvoll gewesen. Erstickungstod, Verblutung. Er verweilte nicht mehr in dieser Welt. In meinem Gehirn malte ich mir die grausamsten Dinge aus. Stellte mir vor, wie er vor mir lag, vollkommen hilflos, und ich stand daneben. Hatte gesiegt. War stark. Was für ein Gefühl.

Doch dann war da auch noch Mitleid. Nicht mit ihm. Nein. Er hatte mein Mitleid nicht verdient. Nie. Und wenn er vor mir kriechen würde und bitten und betteln, ich würde ihn anspucken. Nein, es war Mitleid für meine Mutter. Auch, wenn er sie tagtäglich geschlagen hatte, sie liebte ihn dennoch. Ich verstand nicht, warum, aber das war vermutlich einer der Fälle, in denen man – wie der Priester in der Kirche herunterleierte - sagen könnte, sie würde ihn nie verlassen, weder in Glück noch im Unglück, in Freud oder Leid.  Wobei in ihrem Falle die negativen Dinge eindeutig überwogen.

Sie hatte nicht gewusst, was er mit mir getan hatte. Hätte sie es gewusst, hätte es an ihren Gefühlen für ihn vermutlich auch nichts geändert. Dann bekäme sie jetzt keine Anteilnahme von mir. Doch sie wusste es nicht, und so stellte sich das ‚Was wäre, wenn …?‘ gar nicht und ich bemitleidete sie.

Doch er war weg. Würde nie wieder kommen. Ich brauchte mich nicht zu fürchten, dass er plötzlich wieder da stehen könnte, in meinem Zimmer und … Ich verbot es mir, weiter zu denken. Es wäre sinnlos, würde die Panik nur wieder hervorrufen. Und das konnte ich im Moment gar nicht gebrauchen.

Doch die Angst war da – vor allem mit einem Gefühl, das ich im Bezug zu ihm schon lange nicht mehr gefühlt hatte. Trauer. Zwar war sie nur ganz mild und wenig vorhanden, doch sie war da. Ok, er war mein Vater gewesen, der nicht immer solche Ausbrüche gehabt hatte. Einst war er auch – vor langer Zeit – so etwas wie ein guter Vater gewesen. Doch diese Erinnerungen warn vernebelt, überdeckt von den schlimmeren. Und obwohl ich diese Trauer für den Mann, der er früher gewesen war verstand, rann es mir kalt den Rücken hinunter, als ich mir vorstellte, dass vielleicht ein klitzeklitzekleiner Teil dieser Trauer auch für ihn war.

Innerlich versuchte ich, diesen Gedanken abzuschütteln. Dachte an die guten Seiten seines Todes, die ja eindeutig überwogen. Dachte daran, dass nun die ganzen Peinigungen durch ihn vorbei sein würden. Dass ich sicher nach Hause zurückkehren konnte. Aber Aileen. Alles daheim wird dich an ihn erinnern! Das schaffst du nie! Wieder war die Stimme in meinem Kopf, die mich für schwach hielt. Doch Gott sei Dank tauchte auch sofort die andere auf, welche mich wieder ermutigte. Du bist stark, Aileen. Du kannst es schaffen!

Ja, das hoffte ich auch.

Mit einem bemüht neutralen Gesichtsausdruck musterte ich meine Mum und bemühte mich um eine möglichst klare, ausdruckslose Stimme bei meiner nächsten Frage.

„Und wie lange werde ich noch hier bleiben müssen?“

3 - Veränderung

 

„Fräulein Valera, alle Ärzte sind sich einig, dass wir Sie jetzt gehen lassen können. Vorausgesetzt, Sie fühlen sich dazu bereit.“

Die hellblau gekleidete Krankenschwester lächelte mich aufmunternd an. Ich saß auf meinem Krankenbett, meine Füße erreichten gerade nicht den Boden und ich stützte mich leicht mit meinen beiden Handflächen auf der Bettkante ab. Meine mausbraunen Haare waren unordentlich hochgesteckt und ich trug eine luftige Bluse.

„Aileen, hören Sie mir zu. Wir konnten Ihren Körper heilen. Aber es ist einiges vorgefallen, das Sie so schnell nicht vergessen werden können. Ich will nur das Beste für Sie, deshalb glauben Sie mir bitte. Eine Therapie wäre wirklich sinnvoll.“

Wieder traf mich ihr freundliches Lachen und reflexartig lächelte ich zurück. Doch ihre Worte erreichten mich nicht. Sie gingen durch mich hindurch wie heiße Luft. Sollen doch alle machen, was sie wollen. Mich zwingt niemand zu etwas, das ich nicht will. Nie mehr!

„Kann ich gehen?“

Es brauchte einige Sekunden, doch schließlich nickte die Schwester. Allerdings lag ein besorgter Ausdruck in ihrem Gesicht und sie wandte sich an meine Mutter, welche ebenfalls etwas hilflos neben mir stand.

„Frau Valera, mit Ihnen würde ich bitte auch noch einmal gerne sprechen. Unter vier Augen, wenn es möglich ist.“

„Natürlich, gerne.“

Die Tür wurde geöffnet und die Krankenschwester sowie meine etwas verwirrte Mutter ließen mich alleine.

 

Wenige Minuten später kamen sie wieder herein, und sofort machte sich ein schlechtes Gefühl in mir breit. Als meine Mutter zu reden begann, wurde mein Verdacht auch schon bestätigt.

„Aily, du kommst alleine nicht mit einem solchen Trauma klar. Lass dir helfen!“

Auch die Krankenschwester unterstützte ihre Worte eifrig.

„Sie haben nichts zu verlieren und wir haben Erfahrung mit solchen Fällen. Leider gibt es viele Jugendliche, denen es ähnlich ergangen ist. Wir haben einen guten Draht zu diversen Psychologen und Therapeuten. Versuchen Sie es!“

Starr blickte ich sie an.

„Wir werden sehen.“

Meine Stimme war halblaut und ich versuchte, ein wenig freundlicher zu schauen. Dann ließ ich mich vorsichtig von dem Bett auf den Boden gleiten. An das Schwächegefühl, das sich in meinen Muskeln breit machte, hatte ich mich bereits gewohnt. Obwohl mir erklärt worden war, dass dies nach einem längeren Koma normal sei, war es mir dennoch suspekt, meinen Körper nicht komplett unter Kontrolle zu haben. Eine kleine Kopfbewegung meinerseits forderte meine Mutter auf, mit mir nach draußen zu gehen.

Ich genoss es, die frische Luft einzuatmen und die vielen blühenden Sträucher zu sehen. Doch was ich am meisten gefiel, war die Freiheit. Jetzt war ich nicht mehr an dieses unangenehm weiche Krankenbett gefesselt und endlich wieder eigenständiger.

Während der ganzen Fahrt nach Hause sprach ich kein einziges Wort mit Mum. Es war viel Zeit vergangen und ich ertrug es einfach nicht. In mir war etwas zerbrochen und so sehr ich auch versuchte, es mir auszureden, es würde nie mehr so sein wie früher.

Ich wollte nicht behaupten, dass mein Leben perfekt gewesen war, vermutlich traf es nicht einmal die Beschreibung gut. Aber jetzt war es abscheulich und ich hatte das Gefühl, als sei ich in meinen Körper gefesselt.

Ich biss mir auf die Lippe, um die Tränen zurückzuhalten, die hinter meinen Augen brannten wie Feuer.

 

Als wir zu Hause angekommen waren, stoppte meine Mutter das Auto, stellte den Motor ab, machte jedoch keine Anzeichen, auszusteigen.

„Aileen, ich will mit dir reden.“

Shit. Gute Gespräche fingen meist anders an.

Sie drehte sich zu mir und blickte mich mit einem besorgten Ausdruck an. Allerdings konnte sie den Augenkontakt nicht sehr lange halten.

„Ich habe mit der Krankenschwester gesprochen. Sie meinte, du hast viel durchgemacht und es wäre wirklich das Beste für dich und auch alle anderen Beteiligten, wenn du dich an einen Therapeuten wenden würdest. Ganz in unserer Nähe, in Wels, ist einer, der mit solchen … Situationen häufig zu tun hat. Du würdest also bei ihm in besten Händen sein.“ Sie griff nach meiner Hand. „Ich kann dich nicht dazu zwingen, aber ich denke, wir machen einfach einen Termin aus, und du kannst dir das alles einmal ansehen und dann entscheiden, ob du das willst oder nicht.“

Ihre Miene war so verständnisvoll, wie eine Mutter eben verständnisvoll schauen konnte. Sie versuchte mich zu überzeugen, doch ich wusste genau, dass sie keine Ahnung hatte, was gerade in mir vorging.

„Mum, du weißt nicht, wie es mir geht. Ich denke nicht, dass ein Psychologe eine gute Idee wäre.“

Langsam entzog ich ihr meine Hand und machte Anstalten, auszusteigen.

„Aily, bleib noch kurz sitzen.“ Sie seufzte und es schien, als müsse sie selbst mit sich ringen. Als würde in ihrem Inneren gerade ein Kampf stattfinden. Bevor sie weitersprach, drehte sie den Kopf und sah mir diesmal wirklich in die Augen. „Wie ich dir ja bereits gesagt habe, ist dein Vater tot. Und du hast das Recht darauf, zu erfahren, wie er gestorben ist. Auch, wenn es noch so schlimm ist.“ Kurz schloss sie die Augen, als würde sie etwas verarbeiten müssen. Sie gab mir gar keine Zeit zu antworten, ob ich es überhaupt wissen wollte, sondern fuhr fort: „Du hast vielleicht mitbekommen, dass dein Vater manchmal ein bisschen zu viel getrunken hat.“ Manchmal. Ein bisschen. Zu viel. Ach, darauf wäre ich ja noch gar nicht gekommen. „Letzte Woche war es wieder so. Er ist nach Hause gekommen, und hat sich vor den Fernseher im Wohnzimmer gelegt. Wo er eingeschlafen ist.“ Ihre Stimme war kurz gebrochen, und sie räusperte sich, ehe sie weitersprach. „In der Nacht, während er geschlafen hat … hat er erbrochen. Und ist daran erstickt.“ Ein lautstarker Schluchzer entwich ihr und ihre Augen schlossen sich vor Qual. Sie musste diesen Typen wirklich geliebt haben. Da schlug er sie monatelang jeden Abend, und sie trauerte, wenn er starb. Mum, wollte ich sagen. Du trauerst nicht ihm hinterher, wie er zuletzt war. Du trauerst den Erinnerungen hinterher, du liebst die Erinnerung, nicht ihn. Aber ich sagte es nicht. Ich legte nur meine Hand tröstend auf ihren Arm und murmelte, dass es mir leid tat.

So blieben wir für einige Minuten sitzen, ehe ich mich löste und ins Haus ging.

 

Dort lief ich schnurstracks in mein Zimmer und es traf mich wie ein Blitz, alles zu sehen. Es war so unverändert und alle Erinnerungen drängten sich in mein Bewusstsein. Jede einzelne Szene.

Ich sah mich, wie ich angsterstarrt in meinem Bett kauerte, sah, wie er auf mich zuging. Sah, wie mir die Tränen die Wangen hinunter strömten und fühlte erneut, wie die Angst von mir Besitz ergriff. Sie kroch schnell, Zentimeter für Zentimeter meinen Körper hinauf und nahm mir den Atem. Ich musste mich am Türrahmen abstützen, da meine Beine sonst unter mir nachgegeben hätten. Meine Augen waren weit aufgerissen, als würde ich es tatsächlich vor mir sehen. Ihn, wie er ungepflegt vor mir stand. Obwohl ich mich gerade so im Zimmer befand, dass ich ihn quasi von hinten hätte sehen müssen, war vor meinem inneren Auge ein Bild seines Gesichts. Wie er mich angestarrt hatte. Die rot umrandeten Augen, wie bei einem Kampfhund. Wie sie an meinem Körper auf- und abgewandert waren, wie er mich gemustert hatte. Ich spürte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten und sich in meinem Hals ein Kloß bildete.

Alles roch noch wie damals. Zumindest kam es mir so vor. Ich konnte den beißenden Alkoholgestank wahrnehmen, seine verschwitzte Kleidung und sogar meine Angst. Das war genug.

So schnell ich konnte, stürzte ich ins Badezimmer und übergab mich. Es erschien mir strikt unmöglich, dass ich jemals wieder in mein altes Leben zurückfinden würde. Schon bei dem Gedanken daran, wieder in die Schule zu gehen, bekam ich Gänsehaut. Wie würden mich die anderen behandeln? Würde man mir etwas ansehen? Würden sie wissen, was mir geschehen war? Und wenn nicht, würden sie Fragen stellen?

Um mich etwas anderem als diesen quälenden Gedanken zuzuwenden, stieg ich unter die Dusche und ließ so lange heißes Wasser über meinen Körper laufen, bis ich überall rot war und meine Haut zu brennen begann. Trotzdem zitterte ich.

 

Es war ein komisches Gefühl, als ich mich zum ersten Mal seit Monaten wieder mit Mona traf. Sie war dünner geworden und trug ihre Haare nun auch kürzer.

„Hey.“ Ihre Stimme war leise, als sie zur Tür hereinkam und mich begrüßte. Ich nickte ihr bloß zu.

Gemeinsam gingen wir in die Küche, wo wir uns an den Tisch setzten und uns erst mal eine Weile anschwiegen. Ich hatte mit einer Szene wie dieser gerechnet, immerhin hatten wir bereits nach meiner Vergewaltigung durch ihn begonnen, uns auseinanderzuleben. Im Krankenhaus hatte sie mich nicht besucht, aber das hatte niemand, außer meiner Mum. Warum sie sich nun wohl gemeldet hatte? Aus Mitleid? Schnell schluckte ich den Klos an Hilflosigkeit hinunter, der sich in meinem Hals gesammelt hatte. Ich musste das Beste aus der Situation machen. Mein Leben musste weitergehen.

„Wie geht es dir?“, brach sie schließlich die Stille. Gequält verzog ich die Mundwinkel. Genau das hatte ich gehofft, das nicht passieren würde. Ich erhob mich und öffnete eine Lade. „Willst du etwas Schokolade?“

Ein mitleidiger Blick traf mich, doch sie nickte. Das gab uns Gelegenheit, wieder eine Weile schweigend an unserer Süßigkeit zu kauen.

Dann fing Mona wieder an. Wie es jetzt weitergehen würde. Ich zuckte nur mit den Schultern und wandte den Blick ab.

Was mich wunderte, war, dass sie nicht fragte, was genau geschehen war. Normalerweise wollte sie immer alles wissen. Warum nicht jetzt auch? Wie konnte es sein, dass wir die letzten Jahre beste Freundinnen gewesen waren, und jetzt die Situation so angespannt war? Das konnte doch nicht normal sein! Früher hätte ich ihr alles erzählt, was mir passiert war, warum machte ich es also jetzt nicht genauso? Immerhin war sie immer noch meine beste Freundin, ich konnte ihr vertrauen. Hatte die Vergewaltigung mich so verändert? Schließlich hatte ich Mona auch von der ersten nichts erzählt. Niemand ahnte, was damals geschehen war. Das war mein wichtigstes Geheimnis und würde es auch immer bleiben.

Wie konnte ich je wieder normal zur Schule gehen, wenn es sogar mit Mona schon so … komisch war? Das würde ich nicht schaffen. Nie! Selbst, wenn nur bekannt war, dass ich einen Unfall hatte, nach dem ich im Koma gelegen hatte und niemand wusste, was wirklich passiert war.

Nach einiger Zeit räusperte ich mich schließlich. „Gibt es bei dir irgendetwas Neues?“

Sie seufzte und ließ den Blick abschweifen. „Nein. Nicht wirklich.“ Und das war bereits das Ende unserer Konversation. Ich hatte es wirklich geschafft, mit meiner besten Freundin beinahe zwei Stunden zu unterhalten, ohne wirklich etwas zu sagen. Toll.

Also hatte sich auch für sie etwas geändert zwischen uns. Ich hätte heulen können. Was ich dann später auch tat. Als sie wieder nach Hause ging, sperrte ich mich im Badezimmer ein und weinte bis spät in die Nacht hinein. Alles war so anders.

 

Wieder waren zwei Wochen vergangen. Mit Mona hatte ich hin und wieder gesimst. Ich hatte das Gefühl, wir versuchten beide, in unsere Beziehung zu investieren, doch es kam nichts so wirklich ins Rollen. Auch hatte ich mich weiterhin strikt geweigert, die Schule zu besuchen. Inzwischen hatte ich etwa zwei Monate versäumt. Doch schließlich setzte meine Mutter einen Schlussstrich.

„Aily. Ab nächstem Montag gehst du wieder hin. Du kannst dich nicht ewig davor drücken, irgendwann wirst du dich dem allen stellen müssen!“

In ihrem Blick lag eine Mischung aus Mitgefühl und Entschiedenheit und sie tätschelte leicht meinen Arm. Vermutlich wollte sie so ihre Worte herunterspielen, doch so etwas half bei mir nichts – die Aussage ging mir trotzdem durch Mark und Bein. Bis jetzt hatte ich mich immer irgendwie herausreden können, doch an dieser Bestimmtheit, mit der meine Mutter gerade ihre Worte herausbrachte, erkannte ich, dass dieses Mal keine Ausrede helfen würde. Daher senkte ich ergeben den Kopf und schwieg.

„Kopf hoch, Aily, du schaffst das! Es wird nicht sehr viel anders sein als zuvor!“

Fast immer, wenn meine Mutter in den letzten Wochen versucht hatte, mich aufzuheitern, war es danebengegangen. So auch jetzt. Ihre Worte ließen mich kalt und innerlich versuchte ich, mich darauf einzustellen, was kommen könnte. Wenn schon Mona so abweisend zu mir war, was war dann mit den anderen? Und meine Mutter dachte, sie könnte mir gut zureden?! Ich fühlte, wie Wut langsam in mir hochstieg. Wer war sie eigentlich, dass sie meinte, mir vorschreiben zu können, in die Schule zu gehen? Die allgemeine Schulpflicht hatte ich schon lange hinter mich gebracht, ich müsste gar nicht mehr hingehen.

Mein Herzschlag beschleunigte sich, als würde er den Zorn nur noch schneller durch meine Venen pumpen wollen.

Wie konnte sie es wagen, mir zu erzählen, dass es nicht sehr viel anders werden würde als zuvor? Wer hatte das durchgemacht? Sie oder ich? Mühsam schloss ich die Augen und verbarg meine geballten Fäuste hinter meinem Rücken. Sie konnte nichts dafür. Stoßweise atmete ich aus. Sie kann nichts dafür. Noch ein paar Mal atmete ich tief durch, dann öffnete ich die Augen. Meine Mutter sah mich ängstlich an, sagte jedoch kein Wort. Ihre Mimik war erschrocken, die Augen geweitet und diese Hilflosigkeit lag in ihnen, die mich an den Ausdruck eines angefahrenen Rehs erinnerten. Als hätte sie tatsächlich Angst vor mir. Oder um mich. Und sie wusste augenscheinlich nicht, was sie tun sollte. Als läge diese gesamte Verantwortung auf ihren Schultern und sie hätte eben begriffen, dass es schlimmer um mich stand, als sie es erwartet hätte.

Ich konnte es mir nicht verkneifen, sie böse anzufunkeln und stürmte dann die Treppe hinauf in mein Zimmer. Knallte die Tür hinter mir zu und drehte die Musik auf. Es würde mir helfen, mich wieder zu beruhigen.

Beethovens fünfte Symphonie ertönte aus den Lautsprechern und brachte meinen Herzschlag tatsächlich wieder auf normale Ebene herunter. Ich fühlte, wie sich mein ganzer Körper langsam entspannte und sich auch meine Fäuste entkrampften. Die Augen, die ich sofort nach dem Einschalten der Musik geschlossen hatte, öffneten sich nun auch wieder langsam und ich atmete in einem tiefen Seufzer aus.

Es war Freitag, also hatte ich noch zwei Tage und zwei Nächte, um mich darauf vorzubereiten, was wohl Montag alles passieren könnte. Doch als ich dann tatsächlich am ersten Tag der Woche wieder zur Schule ging, war irgendwie dennoch alles ganz anders als erwartet.

 

Zum ersten Mal seit Monaten stand ich wieder davor. Hoch und imposant warf sie einen Schatten über den Schulhof, welchen ich gerade betreten hatte. Angst kroch in mir hoch und drohte, meine Bewegungen zu lähmen, bis ich schließlich stehen blieb. Würden sie Fragen stellen? Fragen, wo ich denn gewesen war. Was passiert war. Wie es mir ging. Ich hoffte, nicht.

Was würden sie sagen? Würden sie mich abstoßen? Würde meine Fünfergruppe mich wieder aufnehmen? Oder wäre ich ein Fremder für sie, zu dem ich in diesem Jahr sowieso schon fast geworden war? Das könnte ich mir gut vorstellen, in dieser Gemeinschaft. Gequält schloss ich die Augen; zwar wollte ich die Ruhe und die Einsamkeit, doch ein kleiner Teil in meinem Inneren wollte dennoch die alte Vertrautheit und Oberflächlichkeit wieder zurück, die zuvor stets geherrscht hatte.

Ich atmete noch einmal kräftig ein und aus, dann wagte ich es, weiterzugehen. In meine Klasse.

Als ich sie betreten hatte, musste ich mich mit ganzen Kräften gegen meinen inneren Instinkt wehren, der mich dazu bringen wollte, zu flüchten. Unwillkürlich war ich in der Tür stehen geblieben und die Schüler, die es mitbekommen hatten, starrten mich an. Sogar Tina und Nea, zwei unserer Clique, streiften mich mit ihren Blicken, um sie dann sofort zu senken und sich umzudrehen.

Schnell schaute ich zu Boden und begab mich lautlos an meinen Platz, der zum Glück noch nicht besetzt war. Von überall konnte ich die Blicke spüren, die mir meine Mitschüler zuwarfen, und es kostete mich einige Überwindung, nicht sofort aufzustehen und weinend aus der Klasse zu laufen. Warum fühlte ich mich so abgestoßen? Zwar war ich früher auch nicht ganz oben gewesen, was die Beliebtheit anging, aber für das Mittelfeld hatte es stets noch gereicht, wir waren akzeptiert gewesen. Tina, Nea, Mona und Miriam waren es vermutlich immer noch – aber ich gehörte nicht mehr zu ihnen. Warum ließ ich mich jetzt so abstoßen? Wollte ich das so? In mir zog sich etwas zusammen. Doch ich schaffte es, mich zusammenzureißen, und so ertönte nach mir ewig vorkommenden Minuten endlich die Glocke. Erste Stunde. Soweit ich wusste, hatten wir Deutsch. Das konnte nicht allzu schlimm werden, versuchte ich mir einzureden. Deutsch war mir immer schon leicht gefallen, also würde ich keine Probleme haben, jetzt wieder Anschluss zu bekommen.

Doch so sehr ich mich auch bemühte, konnte ich mich nicht auf den Unterricht konzentrieren. In den letzten Wochen hatte sich so vieles geändert. Ich saß nun alleine auf diesem Tisch, Mona hatte sich zu einer anderen Freundin an den Tisch begeben. Es war, als würde ich nicht mehr hier herein passen. Als wäre ich nie Teil dieser Gemeinschaft gewesen, die mich nun so befremdlich musterte.

Kaum war die Stunde um, machte ich mich so klein wie möglich, um den Fragen der anderen zu entgehen. Doch – wie sich dann herausstellte – vollkommen umsonst. Niemand begab sich auch nur in meine Nähe. Als ich kurz unter meinen Haaren, die ich zuvor als Schutz so weit wie möglich vor mein Gesicht fallen gelassen hatte, hervorlugte, sah ich, dass sich die anderen gruppenweise an ein paar Tischen versammelt hatten. Nur wenige saßen zu zweit oder alleine herum. Und einer von ihnen blickte mir gerade direkt in die Augen – Theo. Früher – hatte mir Mona erzählt – war er anscheinend einmal in mich verliebt gewesen. Resigniert senkte ich den Kopf.

Obwohl es mir so lieber war, fragte ich mich, warum wohl niemand mit mir sprechen wollte. Ich war ewig nicht hier gewesen, sie mussten doch neugierig sein! Oder hatten sich bereits Gerüchte darüber verbreitet, was passiert war? Hielten sie deshalb so viel Abstand? Wussten sie es?

Ein Schauer lief meinen Rücken hinunter, ich fühlte mich so schmutzig. Minderwertig. Verachtet. Das hässliche Entlein war eine Prinzessin im Gegensatz zu mir.

Als es wieder läutete, atmete ich erleichtert auf. Die anderen begaben sich langsam aber sicher alle auf ihre Plätze, manche warfen mir mitleidige Blicke zu.

Die nächsten Stunden und Pausen verliefen ähnlich. Meine Konzentration war fast auf den Nullpunkt gesunken, da die heimliche Beobachtung anderer Schüler, die mich möglicherweise ansehen könnten, schon meine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. In den Pausen saß ich unbeweglich und mit gesenktem Haupt auf meinem Platz.

Die Zeit schien einfach nicht vergehen zu wollen. Als es zur letzten Pause läutete, blieb ich einfach so sitzen. Ich senkte meinen Kopf nur ein bisschen, da die Anzahl der Blicke meiner Mitschüler mit jeder Pause weniger geworden waren, sodass ich mich nun schon ein bisschen sicherer fühlte. Plötzlich sah ich aus dem Augenwinkel, wie Mona aufstand und auf mich zuging. Dieser Anblick war wie Wasser für eine kleine Hoffnungsknospe, die nun in mir langsam aufblühte. Ich drehte meinen Kopf und sah meine Freundin an. Als sie das merkte, blieb sie stehen, einige Meter vor meinem Tisch. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder, wie ein Fisch. Dann senkte sie beschämt den Blick, drehte sich um und ging zurück. Mein Herz machte einen Rumpler, das Hoffnungspflänzchen verdorrte und Enttäuschung machte sich in mir breit. Ich konnte spüren, wie sich Tränen in meinen Augen ansammelten. Schnell drehte ich mich wieder in Richtung Tafel und senkte den Kopf. Meine Haare fielen vor mein Gesicht und schirmten mich von dem anderen ab. Endlich läutete es zur letzten Stunde.

Nach Schulende flüchtete ich buchstäblich aus dem Klassenraum. Zuhause angekommen, stürmte ich auf mein Zimmer, schloss mich ein und begann, stumm zu weinen.

Falls ich mir gedacht hatte, die nächsten Schultage oder  Schulwochen würden besser werden, hatte ich mich geirrt. Jeder Tag verlief fast ebenso schrecklich wie der vorhergegangene. Und jeder Schultag endete damit, dass ich weinend im Bett hockte.

 

„Aily, so können wir nicht weitermachen. Ich weiß, dass du Zeit brauchst, aber seit dem Vorfall sind jetzt beinahe drei Monate vergangen. Schatz, ich sehe, dass du es nicht ohne fremde Hilfe überwinden kannst. “

Mum hatte Tränen in den Augen. Ich blickte zu Boden.

„Ich hab einen Termin bei diesem Psychologen vereinbart. Und ich will, dass wir da morgen gemeinsam hinfahren.“

Die Begeisterung, die sie vermutlich in ihre Stimme hatte bringen wollte, konnte ich nicht erkennen.

Ich hätte heulen können. Wieder einmal. In letzter Zeit kam es auch öfter vor, dass ich dazu laut Musik hörte. Allerdings mit Ohrstöpsel, da sich sonst die Nachbarn und auch meine Mutter aufregten. Doch als ich mich nun umdrehte und gehen wollte, hielt mich meine Mutter am Ärmel fest.

„Schatz. Bitte. Versuch es wenigstens.“

Ihre Miene war besorgt, als sie mich bittend ansah. Mit ihrem Hundeblick, den sie fast nie benützte. Und wenn sie es tat, war es ihr wirklich, wirklich wichtig. Dennoch.

„Nein. Du verstehst das nicht!“ Ich verschränkte meine Hände vor der Brust, Mum stützte sie an ihrer Hüfte ab.

„Aileen. Ich meine es nur gut mit dir!“

„Du weißt ja nicht einmal, was mir gut tut!“ Meine Stimme wurde lauter und Wut kam in mir auf.

„Fang jetzt nicht zu schreien an, bitte.“

Ich funkelte sie an, blieb aber stumm.

Sie seufzte. „Schatz, ein Versuch! Du brauchst das!“

Jetzt war meine Sicherung durchgebrannt. „Ich brauche das? Ich brauche das?!“ Meine Arme lösten sich und halfen mir, meine Worte mit Gesten zu unterstreichen. „Was weißt du schon davon, was ich brauche! Du hast ja keine Ahnung! Tu nur so, als wärst du die gute Mutter. Glaubst du das wirklich? Denkst du wirklich, du weißt, was in mir vor geht?!“ Tränen sammelten sich in meinen Augen, ich blinzelte sie schnell weg. Nun schrie ich tatsächlich. „Du hast überhaupt keine Ahnung von nichts!! Was bildest du dir eigentlich ein, mir vorschreiben zu können, was ich tun muss? Ich will nicht zu so einem Psychologen! Der kann mir nicht helfen, niemand kann das! Und du schon gar nicht!“ Meine Hände hatten sich nun zu Fäusten geballt und zitterten neben meiner Hüfte.

Mums Gesichtsfarbe hatte sich während meiner Rede von normal zu weiß und nun zu rot verfärbt. „Nicht in diesem Ton, Aileen! Ich bin deine Mutter, was fällt dir ein, so mit mir zu reden? Vielleicht weiß ich nicht, wie du dich gerade fühlst, aber ich weiß, dass es sicher nicht besser werden wird, wenn du nichts änderst!“ Sie atmete tief durch und sprach dann mit normallauter Stimme weiter. „Du wirst zu diesem Psychologen gehen. Ob du jetzt willst oder nicht. Ich bestehe darauf.“

Hilflosigkeit presste die Tränen aus meinen Augen. „Das kannst du nicht mit mir machen!“

„Und ob ich das kann.“ All die vorherige Anstrengung war nun aus ihrem Gesicht gewichen, sie sah müde und erschöpft aus.

„Nein, ... du …“ Mir fiel nichts mehr ein. Wütend holte ich tief Luft, drehte mich um und rauschte aus dem Zimmer.

Was fiel ihr eigentlich ein? Klar war sie meine Mutter, aber ich war schon siebzehn, ich konnte selbst entscheiden, was ich wollte und was nicht! Scheiße!

Ich musste mich ablenken, ich wollte jetzt weder über meine seltenkluge Mutter, noch über den Psychotypen nachdenken und wie er mein Leben verändern wollte. Irgendwie war mir aber gerade gar nicht mehr nach Zimmer und laut Musik hören, irgendetwas drängte mich hinaus in die Natur.

Inzwischen war es Juni geworden, daher war es relativ warm draußen. Ich legte mich in unsere Hängematte und schloss die Augen. Als Entspannungsversuch atmete ich einige Male tief durch. Die frische Sommerluft strömte in und aus meinen Lungen und nach und nach fiel die ganze Anspannung von mir ab. Hach! Das hätte ich schon viel eher machen sollen. Ich konnte wahrhaftig spüren, wie die Sorgen langsam von mir abfielen. Es roch nach frischem Gras und Grillkohle. Plötzlich hatte ich fürchterlich Lust darauf, mit Mona und den anderen um ein gemütliches Lagerfeuer zu sitzen und über Jungs zu lachen. Ich schloss meine Augen und dachte an früher. Überraschenderweise war ich gar nicht traurig deswegen. Für einen kurzen Moment nur hatte ich das Gefühl, als würde ich nur an einen Traum denken. Völlig unbedeutend. Ohne Wert.

Die Sonne brannte auf meine nackten Arme und Beine. Ich hatte schon immer recht empfindliche Haut gehabt, ein Sonnenbrand war eigentlich schon vorprogrammiert. Langsam begann ich zu schwitzen und mein T-Shirt klebte an meiner Haut. Ich zögerte kurz, doch ich konnte mich nicht ausziehen. Nicht, dass ich es nicht wollte, aber es ging nicht. Sobald ich mir das Shirt über den Kopf gestreift hatte, fühlte ich mich nackt. Nackt, verletzlich, hilflos und schmutzig. Als mein Blick kurz meinen Bauch streifte, wandte ich ihn schnell ab. Es war eine reflexartige Handlung, doch irgendwie verspürte ich eine seltsame Abneigung, als ich meine bloße Haut sah. Ich schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken loszuwerden. Schnell zog ich mir mein Oberteil wieder an und schlang die Arme um meinen Körper. Schließlich legte ich mich ins trockene Gras und schlief den ganzen Nachmittag über.

 

*

 

Das Zimmer war lichtdurchflutet. Eines der fünf Fenster war gekippt und die frische Sommerluft strömte herein. Sie gab mir ein gutes Gefühl, welches allerdings wieder etwas zunichte gemacht wurde, als ich den Doktor ansah. Dr. Carls war ein hochgewachsener Mann Anfang dreißig und trug einen dünnen dunklen Kapuzenpullover. Er wirkte eigentlich ganz sympathisch und wenn er lächelte, sah man seine schiefen Eckzähne. Ich saß ihm gegenüber auf einem harten Holzstuhl und sah mich um. Überall hingen Fotos, gemalte Bilder und Zertifikate. Der Raum war beige gestrichen und Dr. Carls saß auf einem pinken Gymnastikball.

„Fräulein Valera!“, begrüßte er mich enthusiastisch. „Ich bin Dr. Michael Carls.“

Er stand auf und hielt mir eine seiner großen Hände entgegen.

Seine Finger waren lang und knochig. Ich war mir sicher, dass er Klavierspielen konnte. Vorsichtig nahm ich seine Hand - ich hatte Angst, seine Finger könnten brechen - und drückte sie leicht.

„Würde es Ihnen behagen, wenn wir uns duzen könnten?“

Er lachte über sich selbst, als hätte er gerade einen wahnsinnig tollen Witz erzählt. Ich nickte. Dr. Carls roch nach frischen Kaffeebohnen.

„Vertrauen ist der wichtigste Grundsatz bei meiner Arbeit. Wenn meine Patienten mir vertrauen, so ist das Zusammenspiel mit ihnen einfach. Ich kann ihnen helfen und sie haben keine Probleme mit mir. Verstehst du das, Aileen?“

Seine Miene war so ernst, dass ich Angst hatte, etwas Falsches zu sagen. Das Schlimme war, dass ich mir eingestehen musste, dass ich kein Wort von dem verstand, was er sagte.

Wieder nickte ich. Michael Carls kratzte sich im Nacken. Seine Mundwinkel verkrampften sich kurz, bevor er aufstand und langsam durch den Raum ging. Er hatte kein Ziel, tigerte einfach nur herum. Ich sah ihn verwirrt an.

„Warum bist du hier?“, fragte er und drehte sich in einer schnellen Bewegung zum Fenster, um es zu öffnen.

Langsam zuckte ich mit den Schultern, woraufhin der Doktor sich vor mich hockte.

„Es muss einen Grund geben, Aileen. Du kommst doch nicht einfach so her!“

Vielleicht versuchte er, vertrauensvoll auszusehen, als er mich mit seinen blauen Augen anblickte. Seufzend verdrehte ich die Augen. Das hier war sinnlos. Doch nun war die einschüchternde Ernsthaftigkeit von zuvor verflogen, und ebenso die damit verbundene Angst, etwas Falsches zu sagen.

„Weil meine Mum sagt, dass ich alleine nicht klar komme.“ Meine Stimme klang gelangweilt und stur.

Alles in mir sträubte sich gegen diese Besprechung. Wieso musste ich zu einem Psychologen gehen?! Es würde mir sowieso nichts bringen! Doch obwohl ich es nicht zugeben wollte, war ich auch ein bisschen gespannt, wozu sich die ganze Sache entwickeln würde.

„Hat deine Mutter Recht mit dem, was sie sagt?“

Er setzte sich wieder auf seinen Gymnastikball. Der Ball federte leicht und innerlich dachte ich daran, dass Carls im Inneren bestimmt so verweichlicht war wie dieser Ball unter ihm.

 „Kann schon sein.“

Meine Stimme war leise, als ich das zugab.

Ich fragte mich, ob Dr. Carls verheiratet war oder ob er zu der Gruppe von Männern gehörte, die verzweifelt nach der Richtigen suchten und noch bei ihren Eltern wohnten. Dieser Gedanke ließ mich kurz grinsen. Doch der Doktor tat, als hätte er es nicht bemerkt.

„Ich denke mal, das heißt Ja.“

Interessant, du denkst also.

Er kramte in seinen Unterlagen und zog einen kleinen Zettel heraus, machte sich Notizen und legte ihn wieder bei Seite.

„Was schreiben Sie da auf?“, fragte ich misstrauisch. Hatte er etwa vor, mich genau zu beobachten und wie das Verhalten eines Tieres zu analysieren? Er durfte mit mir nicht machen, was er wollte. Und vor allem wollte ich nicht, dass er nach unserem Gespräch alles haargenau meiner Mama erzählte.

Carls streckte mir den Zettel entgegen und ich nahm ihn.

„Bitte sag Du zu mir. Versuch, mir zu vertrauen, Aileen. Ich denke, ich weiß, was gut für dich ist.“

Auf dem Zettel standen fünf Worte. Ich hatte Probleme, die Schrift zu lesen.

Vielleicht schlechtes Verhältnis mit Mutter.

„Stimmt es wenigsten, was ich aufgeschrieben habe?“

Seine Stimme klang sanft.

Ich legte die Stirn in Falten. „Nein.“

Dr. Carls nickte langsam, so, als würde er versuchen, etwas Schwieriges endlich zu verstehen, und nahm mir den Zettel wieder aus der Hand.

„Sehen wir uns nächste Woche wieder?“

Die Frage überraschte mich. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass der Termin mit Dr. Carls viel länger dauern und die Hölle werden würde. Doch es war gar nicht so schlimm gewesen.

„Vielleicht.“

Dann verließ ich den Raum, ohne mich zu verabschieden.

Ich hatte Angst, dass Carls irgendeine dumme Meldung lassen würde. Dass es mir doch bestimmt bei ihm gefallen hatte oder so. Er folgte mir und sah mich noch, als ich gerade um die Ecke des langen Korridors ging. Als ich mir sicher war, dass mich weder meine Mutter, die während des Gesprächs vor der Türe gewartet hatte, noch Carls sehen konnten, setzte ich mich auf den Boden. Ich versuchte zu hören, was die beiden noch miteinander redeten.

„Wie ist es gelaufen?“, fragte meine Mutter unsicher. „War sie eh nicht unfreundlich? In letzter Zeit ist sie öfters ein wenig aufgebracht, wissen Sie?“

Hysterie und Besorgnis lagen in der Stimme meiner Mutter. Dr. Carls Antwort überraschte mich.

„Ich denke, dass das eine Sache zwischen mir und Aileen ist.“ Seine Stimme war kühl und geschäftsmäßig. „Nächste Woche um dieselbe Zeit hätte ich wieder einen Termin frei.“

Nachdem meine Mutter nichts mehr sagte, ging er wieder in sein Zimmer und ich hörte nichts mehr von ihm. Aus irgendeinem Grund war ich mir sicher, dass er verheiratet war.

 

Die Heimfahrt mit meiner Mutter verlief schweigend. Zumindest meinerseits. Mum versuchte, aus mir herauszuquetschen, wie denn das Gespräch so gelaufen war. Doch wie zuvor der Doktor meinte ich nur, dass das meine Sache war und verlor danach kein Wort mehr darüber. Nach einer guten Viertelstunde gab meine Mutter das Gespräch ebenfalls auf und drehte das Radio auf volle Lautstärke. Ein eindeutiges Zeichen, dass sie sauer war. Na und?! Konnte ihr ja egal sein…

 

Wenige Tage später war ich gerade dabei, den Abwasch zu erledigen. Das heiße Wasser hatte bereits meine Hände aufgeweicht und sie glichen nun geschrumpelten Pilzen, während ich den letzten Teller säuberte. Der Geruch des Spülmittels vermischt mit dem der Speisereste war kaum noch zu ertragen, als ich bemerkte, dass meine Mutter sich wenige Meter hinter mich gestellt hatte und mir zusah. Okay…?! Was soll das denn jetzt? Als hätte sie meine innere Frage gehört, begann sie, leise zu sprechen. Fast so, als wäre ich ein scheues Tier, das jederzeit geschreckt davon springen könnte. Wobei sie – wenn ich ganz ehrlich war – ja gar nicht so Unrecht hatte.

„Aileen.“

Oh Gott. Wenn sie mich mit meinem Taufnamen ansprach, konnte das eigentlich nichts Gutes bedeuten. Unbehagen machte sich in mir breit und ich zog unwillkürlich den Kopf ein wenig ein.

„Also, ich wollte dir sagen, dass ich denke, dass dein Gespräch mit Dr. Carls dir wirklich geholfen zu haben scheint.“

Fast ängstlich sah sie mich an, als ob sie befürchtete, dass ich es abstritt. Was ich auch tat, indem ich ein lautes Schnauben vernehmen ließ.

„Nein, wirklich. Du wirkst auf mich schon offener, als du es vor dem Besuch warst. Das ist nichts Schlechtes, Aily.“

Aily. Innerlich atmete ich auf. Jetzt kam nichts ganz so Wichtiges mehr. Oder gar nichts mehr. Ich behielt Recht mit Letzterem. Kurz sah meine Mutter mich noch sorgenvoll an, dann ließ sie mich mit dem Geschirr wieder alleine. Juhu.

 

Als ich mit dem Abwasch, Abtrocknen und Wegräumen fertig war, seufzte ich, ging hinauf und ließ mir ein heißes Bad ein. Das brauchte ich einfach gerade. Die Worte meiner Mutter hatten mich irgendwie nachdenklich gestimmt.

Langsam ließ ich mich in die aufgefüllte Badewanne gleiten. Zuvor hatte ich etwas Badeschaum hineingeschüttet, welcher nun auf der Wasseroberfläche wunderschön zu glitzern begann. Ich konnte förmlich fühlen, wie sich meine Muskeln zu entspannen begannen. Dann kamen mir wieder die Worte meiner Mum in den Sinn. Ich denke, dass dein Gespräch mit Dr. Carls dir wirklich geholfen zu haben scheint. Du wirkst auf mich schon offener. Das ist nichts Schlechtes, Aily. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr kam ich zu dem Schluss, dass sie falsch lag. Ich hatte mich nicht verändert. Das Geschirr zu spülen – Wow, Meisterleistung. Ich hatte mich einmal nicht, als ich von der Schule nach Hause gekommen war, sofort in mein Zimmer gesperrt, um zu weinen – sicher auf den Psychologen zurückzuführen. Garantiert.

Sanft schäumte ich mich ein, ließ danach eiskaltes Wasser über meinen Kopf rieseln und stieg dann – nach einer geschätzten Stunde – wieder aus der Wanne. In letzter Zeit kam es öfters vor, dass ich so lange brauchte, und meistens war meine Haut danach rot von der Schrubberei. Obwohl es schon Monate her war, hatte ich immer noch das Gefühl, als müsste ich etwas wegwaschen. Ich war beschmutzt, und es ging nicht weg.

Das Bad hatte mich erfrischt, aber auch ermüdet. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass ich mich eigentlich schon in mein Zimmer begeben könnte. Es war einundzwanzig Uhr, also würde ich noch ein bisschen lesen und dann in Ruhe schlafen.

Und übermorgen würde mein nächster Termin bei Dr. Carls sein. Was gemischte Gefühle bei mir hervor rief.

 

„Es freut mich, dass du wieder gekommen bist. Das ist ein großer Schritt.“

Dr. Carls hatte dieses Mal eine schmale, schwarze Lesebrille auf. Über ihr glänzte der Schweiß auf seiner Stirn. Er trug nur ein kurzärmliches Hemd, das grau-blau gestreift war.

„Hallo.“ Meine Begrüßung fiel knapp aus. Er reichte mir seine Hand und setzte sich auf den Gymnastikball. Ich nahm wieder auf einem Stuhl Platz.

„Ich habe an zwei Dinge gedacht, die wir heute besprechen könnten. Entweder, wir reden darüber, wie es dir mit dem Vorfall geht, wie du damit umgehst; oder wir können auch deine Beziehung zu deiner Mutter erörtern. Was ist dir lieber?“

Trotzig sah ich ihn an und verschränkte die Arme vor meiner Brust. Meine Beine waren über einander geschlagen. „Wie wäre es mit Tor Nummer drei?“

„Aileen.“ Der Doktor seufzte und stützte seine Unterarme auf seinen Knien ab, als er seinen Oberkörper in meine Richtung bewegte. „Ich weiß, dass du das hier nicht willst. Ich weiß, dass du dich fragst, wie ich dir denn helfen könnte, immerhin habe ich noch nie etwas Vergleichbares mitmachen müssen.“ Er machte eine Pause. „Und wenn es dir hilft, könnte ich auch einige Leute auftreiben, die durch genau dasselbe wie du gehen mussten, und du könntest mit ihnen darüber reden. Aber seien wir uns einmal ehrlich – du würdest dich ihnen genauso verschließen wie mir.“ Er richtete sich wieder auf. „Deine Mutter sorgt sich um dich, Aileen.“

Ich atmete aus. „Ja, aber –„

„Sie hat nicht dasselbe durchgemacht, ich weiß“, Carls nickte verständnisvoll. „Aber sie liebt dich, auch, wenn du es vielleicht nicht so siehst.“

Resigniert schloss ich die Augen. Irgendwann würde er schon zu reden aufhören.

„Darf ich dir einen Vorschlag machen, Aileen?“ Er wartete. „Aileen?“

Ich verwehrte ihm die Antwort.

Er seufzte. „Bist du sicher, dass es das ist, was du willst? Nicht mit mir zu sprechen wird dir nichts bringen, und das weißt du. Du bist doch nicht dumm.“ Wieder schien er auf eine Antwort zu hoffen. „Sieh mich doch wenigstens ein letztes Mal an, damit ich dir meinen Vorschlag erklären kann! Bitte, Aileen.“

Betont genervt stieß ich aufgestaute Luft aus und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Der Dok lächelte. „Na bitte. Nun zu meinem Vorschlag.“ Wieder stoppte er, als um die Spannung zu erhöhen. „Es geht hier um dich. Nicht um deine Mutter, nicht um mich, sondern um dich. Du bist nicht hier, um deiner Mutter einen Gefallen zu tun, oder mir, sondern einzig, damit ich dir helfen kann. Daher habe ich eine Idee – denn wie du vielleicht schon mitbekommen hast, sind unsere Sitzungen sinnlos, wenn ich hier einen Monolog führe und du offensichtlich nicht mit mir kommunizieren willst. Das ist auch nachvollziehbar, da du ja nicht denkst, dass das hier etwas bringen wird. Also meine Idee: Du lässt dich auf fünf weitere Sitzungen mit mir ein, in denen du so tust, als ob dich das Ganze hier interessieren würde. Du versuchst, mit mir gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten und gehst dieses Projekt mit offener und positiver Einstellung  an. Bist du nach diesen fünf Sitzungen immer noch der Meinung, es sei reine Zeitverschwendung, lassen wir es, du musst mich nie wieder sehen und ich rede mit deiner Mutter, dass sie dich nicht mehr mit solchen Sachen bedrängen soll. Es ist alles in deiner Hand danach, du kannst wieder versuchen, ganz alleine damit klarzukommen.“ Dr. Carls machte eine Pause und schluckte. „Was sagst du dazu?“

Ich verdrehte die Augen. Dann dachte ich nach. Fünf Sitzungen, und danach nie wieder. So viel war das nicht, da wäre ich sogar vor den Sommerferien noch fertig.

„Ok. Deal. Aber wirklich nur fünf!“

Lächelnd hielt er mir die Hand hin, und ich schlug ein. „Deal.“

 

Nach drei weiteren Sitzungen versuchte ich mir immer noch einzureden, dass es sinnlos war, mit Doktor Carls zu sprechen. Doch ich musste mir eingestehen, dass sein Vorschlag half. Durch meine oberflächlich positive Einstellung veränderte ich mich auch innerlich. Ich hatte mit ihm nun bereits alle meine Kontakte zu meiner Mum und engeren Freunden durchbesprochen und ihm auch beim letzten Mal Teile meines Seelenlebens ausgeschüttet, womit ich wirklich nicht gerechnet hatte. Ich schien Vertrauen zu dem Doktor zu fassen, ob ich es wollte oder nicht. Allerdings war ich noch nicht so weit, irgendwem von meinen Freunden davon zu erzählen. Nicht einmal Mona, obwohl sie sich in der Schule wieder zu mir gesetzt hatte und versuchte, mich ein bisschen zu integrieren – vermutlich aus Mitleid, aber immerhin.

 

Beethovens dritte Symphone begann, auf meinem Handy zu spielen.

“Hallo?”

“Oh, hi, Aily!” Es war Mona. „Ich wollte fragen, ob du morgen nach der Schule schon etwas vor hast? Wir könnten gemeinsam zu Starbucks gehen und danach ins Freibad, was sagst du?“ Ihre Stimme klang ein wenig angestrengt, als ob der ganze Enthusiasmus nur gespielt wäre.

„Hi, Mona! Morgen sagst du? Ähm, lass mich überlegen..“ Morgen war das vorletzte Treffen mit meinem Psychologen. Ich brauchte eine Ausrede. „Du, morgen geht leider ganz schlecht. Meine Mum will dass ich ihr wo helfe, tut mir echt leid!“

Ich konnte hören, wie sich Monas Stimmung schlagartig verschlechterte. „Och, das ist echt schade. Kannst du das nicht verschieben? Ich würde so gerne gehen!“ Sie klang direkt enttäuscht und ich hasste es, absagen zu müssen. Das wäre eine Möglichkeit gewesen, mein Projekt Neues Leben für Aileen etwas ins Laufen zu bringen.

„Nein, tut mir wirklich leid, aber meine Mum wird sonst wieder stinksauer!“

„Okay.. Na dann, vielleicht ein anderes Mal. Aber dann wirklich!“

„Klar! Wir sehen uns dann morgen in der Schule, bye.“

„Bis morgen!“

Seufzend legte ich auf. Zwei Sitzungen noch, dann hörte die Lügerei auf.

 

„Hallo, Aileen.“ Der Doktor nickte mir zu.

„Hi.“

Der Deckenventilator über mir bewegte die aufgestaute Luft im Raum. Es war Mitte Juli, Donnerstag. Morgen würde endlich der letzte Schultag sein. Dem stand ich mit gemischten Gefühlen gegenüber – natürlich freute ich mich auf die Ferien, andererseits hatte ich nun keine Ahnung, wie ich mir die Zeit vertreiben sollte. Hoffentlich würde ich nicht wieder in meinem Elend versinken.

„Wie geht es dir?“

Dr. Carls Stimme war wie immer sanft und interessiert. Von der ständigen Hitze, die jetzt so drückend war, hatte ich Kopfschmerzen.

„Ich bin ein bisschen wetterempfindlich. Aber im Großen und Ganzen gut.“

Carls musterte mich kritisch. Er sagte nichts, drehte sich auf seinem Ball herum und nahm eine kleine Schachtel aus dem Schrank hinter ihm. Dann stand er auf und holte ein Glas Wasser vom Wasserspender. Nach wenigen Sekunden saß er wieder auf seinem Platz und reichte mir ein Aspirin und den Plastikbecher mit Wasser.

„Eigentlich wollte ich wissen, wie es dir seelisch geht. Das, was du durchmachst, ist nicht leicht.“

Sein Gesichtsausdruck war fast anerkennend. Dankbar schluckte ich das Aspirin und trank das Wasser in einem Zug aus.

„Ich weiß nicht. Im Moment bin ich irgendwie an einem Punkt angelangt, an dem es nicht mehr besser wird.“

Carls nickte und atmete tief durch.

„Vielleicht überrumple ich dich jetzt damit, aber mir ist letzte Nacht etwas eingefallen.“

Er machte keine Anstalten, weiter zu reden. Vielleicht wollte er testen, ob ich interessiert war. Ich strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Ja…?“

„Mein Cousin hat eine kleine Farm in den Staaten. Wyoming. Er hat auch Psychologie studiert, das Studium dann aber abgebrochen. Ich habe mich mit ihm in Verbindung gesetzt“, er brach kurz ab und suchte nach den richtigen Worten.

Eine Farm in den USA? Ich wusste nicht, was das mit mir zu tun hatte.

„Weißt du, Aileen, ich denke, dein Problem ist es, dass du zu lange am gleichen Ort warst. Alles erinnert dich an deine Vergangenheit, und die ist nicht so berauschend. Du solltest mal raus. Alles vergessen.“

Ich war verwirrt. Was sollte ich von so einem Vorschlag halten? Dieser Mann kannte mich seit wenigen Wochen und glaubte ernsthaft zu wissen, welche Probleme ich hatte.

„Es ist Sommer. Du hast keine Schule“, erklärte er, als hätte ich noch nicht verstanden, worauf er hinaus wollte.

„Ich mach das nicht!“

Meine Stimme überschlug sich fast. Carls hingegen lächelte ein wenig. Es wirkte so, als würde er von mir denken, dass ich verrückt wäre. Komplett kaputt im Kopf. So, als würde meine Meinung und mein Wille nicht zählen, weil ich unzurechnungsfähig wäre. Das war das Schlimme an der Sache. Der Doktor tat so, als würde alles schon feststehen. Es wurde einfach über meinen Kopf hinweg entschieden, obwohl es mein Leben war. Meins.

„Ich mach das nicht! Nein, verdammt noch mal! Du kannst mich nicht zwingen!“

Ich sprang auf und spürte, wie mein Puls schneller ging. Mir wurde ganz schwindelig.

„Hey, ganz ruhig, Aileen.“

Auch er stand auf und drückte mich vorsichtig wieder in den Stuhl. Dann holte er mir noch einen Becher Wasser.

„Ich zwinge dich doch zu nichts. Das wäre nur ein Vorschlag. Meiner Meinung nach wäre das sehr gut für dich. Wenn du mit deiner Mutter ohnehin nicht so gut klar kommst. Verstehst du, einfach raus aus dem ganzen Schlamassel hier!“

Der Wasserbecher vor mir war halb leer. Warum ich mich vor diesem Vorschlag so sträubte, wusste ich selbst nicht so genau. Eine Farm in den Staaten, schönes Wetter und so. Ich wäre bestimmt auch in guten Händen. Immerhin hat dieser Typ Psychologie studiert. Wenn auch nur kurz.

„Du stellst mich vor vollendete Tatsachen!“, schimpfte ich aufgebracht.

Er atmete einmal hörbar aus und machte sich wieder Notizen. Dieses Mal fragte ich ihn nicht, was er über mich schreib, obwohl es mich neugierig machte. Carls nahm ein paar zusammengeheftete Zettel vom Tisch, steckte sie in ein großes Kuvert, schrieb meinen Namen darauf und reichte sie mir.

„Bitte sieh dir das zu Hause in Ruhe an. Ich kann dich zu nichts zwingen, aber sei bitte ein wenig offen für meine Ideen.“ Nachdem er kurz den Deckenventilator begutachtete, als wäre er das Interessanteste, was er jemals gesehen hätte, wandte er sich wieder mir zu.

„So, jetzt wechseln wir erst mal das Thema“, meinte er.

Dieser Mann verstand etwas von seiner Arbeit. Aber trotzdem war ich immer noch misstrauisch.

„Ich will dich besser kennen lernen. Es fällt mir schwer, die ganze Sache aus deiner Sicht zu sehen, wenn ich dich nicht kenne. Zwar hatten wir bis jetzt schon einige Sitzungen, doch meiner Meinung nach sind wir immer noch in der Aufwärm-Phase. Wärst du bereit, auf ein paar Fragen ehrlich zu antworten?“

„Kommt darauf an, welche“, meinte ich und seufzte.

 

 

Das Kuvert lag auf meinem Schreibtisch und ich knipste die Nachttischlampe an. Es war 23:57 Uhr. Auf Zehenspitzen schlich ich zum Tisch, öffnete hastig das Kuvert und hielt einen dicken Stapel A4 Blätter in der Hand. In der linken Ecke waren sie zusammengeheftet.

Bitte sei offen für meine Ideen, stand auf einem leuchtend gelben Post-it, das auf der ersten Seite klebte.

„Idiot“, huschte es durch meinen Kopf und ich verdrehte grinsend meine Augen.

Idyllisches Landschaft, herzliche Gastgeber, Ruhe und Zeit. Im schönen Wyoming liegt die kleine Farm, die von Mr. Piers und seiner Familie bewirtschaftet wird. Auf großen Wiesenflächen, die sich rund um das alte Bauernhaus befinden, grasen Schafe, Rinder und Pferde.

Meine Augenlider wurden immer schwerer und ich erinnerte mich daran, dass ich es ja eigentlich gar nicht wissen wollte. Wieso sollte ich weg? Das würde nur alles noch komplizierter machen. Also beschloss ich, wieder weiterzuschlafen und mich nicht auf diese Zettel zu konzentrieren. Schnell huschte ich wieder zurück in mein Bett.

Sofort fiel ich in einen unruhigen Schlaf und wurde mehrmals durch die ständig wiederkommenden Albträume wach. Eigentlich war es immer derselbe, doch die Wirkung war immer genauso schlimm wie beim ersten Mal. Man könnte meinen, mit der Zeit würde ich mich daran gewöhnen, doch dem war nicht wo. Ich erlebte den Albtraum wieder und wieder, und jedes Mal wachte ich schweißnass und schwer atmend auf. Ich hatte Angst, wieder einzuschlafen und den Albtraum ein weiteres Mal zu erleben. Dennoch holte er mich immer wieder ein.

 

Rund um mich ist Wasser. Es ist angenehm, wie es meine Hüfte umschmeichelt. Ich genieße es, hindurchzuwaten, mag die Wärme, die das Nass mir gibt. Zwar ist kein Land zu sehen, nur der ewige Ozean, doch das macht mir nichts aus. Ich denke nicht daran.

Die Sonne scheint warm und hell vom Himmel, ein weißer Vogel fliegt über ihn hinweg. Wenn ein Vogel zu sehen ist, kommt bestimmt auch gleich das Land. Ich weiß nicht, ob ich darüber enttäuscht oder glücklich sein soll.

Einerseits gibt die Sicht von Land mir Sicherheit. Doch andererseits liebe ich es, hier so alleine zu sein. So abgetrennt von allem anderen. Weit weg von allem, was mir schaden kann.

Der Vogel kehrt wieder.  Ich bin mir sicher, dass es der ist, der vorhin über meinem Kopf seine Kreise zog. Warum, ist mir nicht klar; ich weiß es einfach. Doch dieses Mal ist er schwarz. Schwärzer als die dunkelste Nacht. Als sei der Vogel durch Kohlestaub geflogen, als sei Pech über ihm ausgeschüttet und er dann von der Sonne verkohlt worden. War der Vogel vorhin ein Zeichen des Friedens, so wirkt dieser schwarze Vogel auf mich wie eine düstere Vorahnung. Was er voraussagt, weiß ich aber nicht.

Ich versuche, es zu ignorieren und will mich weiterhin auf die willkommene Einsamkeit konzentrieren. Doch als ich an mir herunterblicke, sehe ich in ebenfalls schwarzes Wasser. Es ist, als habe man den Ozean mit Tinte geflutet. Als habe man den nächtlichen Horizont und das Wasser getauscht.

Wie kleine Ameisen beginnt die Panik, an mir heraufzuklettern. Langsam aber unermüdlich steigt sie von seinen Beinen in den Oberkörper, nimmt den Brustkorb in Beschlag, erschwert das Atmen. Sie lässt mich verängstigt die Augen aufreißen, nimmt mir die Ruhe und die Geborgenheit, die mich eben noch umfangen hat. Bringt die Ungewissheit mit sich. Bringt eine dunkle Vorahnung.

Plötzlich schlägt auch der Himmel um. Was eben noch wunderschön hellblau gewesen ist, verfärbt sich nun in einen dunklen Rotton, vermischt mit einigen schwarzen Schattierungen. Hätte ein Maler dieses Bild erschaffen, wäre es Millionen wert gewesen.

Den rotschwarzen Himmel, die blauschwarze See. Und allem voran der tiefschwarze Vogel.

Das Gemälde hätte Verzweiflung, Hass, Angst und Panik wiedergespiegelt. Doch in diesem Fall vereinigen sich diese Gefühle nicht in diesem Bild, sondern in mir.

Ich versuche verzweifelt, aus dem dunkelblauen Meer herauszukommen, bin auf der Suche nach Land, das mich erlösen würde. Die Angst durchströmt meinen Körper, lässt meine Bewegungen langsam einfrieren, nimmt mir meine Freiheit. Panik ist dafür verantwortlich, dass ich meine Augen aufreiße, am ganzen Leib schlottere, da es mir vorkommt, als habe die Temperatur rund um mich plötzlich um mindestens zehn Grad abgenommen.

Auch das Wasser, das plötzlich zähflüssiger zu sein scheint, hemmt meine Bewegungen, lässt mich nur schwerfällig vorankommen. Es ist, als geschehe alles, was ich tat, in Zeitlupe. Und alles rund um mich läuft mir währenddessen davon. Habe ich zuvor gemeint, eine Andeutung von Land zu sehen, ist diese längst weitergezogen. Habe ich zuvor gemeint, ich würde aus dem Wasser gestiegen sein, bevor die Dunkelheit, die sich wie ein Nebel um alles legt, mir die Sicht nimmt, so ist diese alles verschluckende Schwärze schneller da, als ich einen Augenaufschlag getan habe.

Es scheint aussichtslos. Als würde ich ständig weiterhetzen, ohne jedoch von der Stelle zu kommen. Wie Sisyophos einst auf seinem Berg. Oder Tantalos, der trotz aller Anstrengung weder das Wasser zum Trinken, noch die Trauben zum Essen erreicht hat.

Genauso fühle ich mich. Als würden all meine Bemühungen sinnlos sein. Als würde das alles nie enden. Es scheint mir, als ob ich gefangen sei in dieser mysteriösen Schwärze, in der doch Farben sind, aus der es kein Entrinnen gibt. Kein Funke Licht ist zu sehen, und dennoch ist es nicht ganz dunkel. Der dunkle Himmel schimmert leicht rot, das Meer bläulich. Doch genau das ist es, was mir solche Angst einflößt. Wie kann etwas schimmern, gar funkeln, wenn von nirgendwo Licht darauf geworfen wird? Wie kann ich Farben sehen, wenn doch die Schwärze wie giftiger Rauch um mich liegt? Ist das einer dieser Fälle, in dem der Mensch alles fürchtet, was er nicht kennt?

Obwohl ich mir bewusst bin, dass ich nie das Ende des Wassers erreichen werde, kämpfe ich mich weiter hindurch. Ein Funke Hoffnung, ein Funke Lebenswille sagt mir, dass ich es versuchen soll. Dass es sowieso nicht mehr schlimmer werden kann.

Doch dieser Funke irrt. Es kann noch schlimmer werden, und das wird mir bewusst, als sich der Himmel zu bewegen scheint. Das dunkelste Schwarz schiebt sich zu einem Oval zusammen, aus dem jedoch noch einige runde Flecken Rot durchschimmern. Nach außen hin scheint das Schwarz in einzelnen Strängen zu flattern, alles verformt sich, bis es schließlich ein Bild ergibt. Ein Bild, das mich erzittern, mich in meiner Bewegung erstarren lässt. Das Bild eines Kopfes, einer Person.

Das kurze, tiefschwarze Haar fließt um sein etwas helleres Gesicht. Rote Löcher dienten als Augen, ebenso als Mund. Um diesen sind viele kleine tiefschwarze Punkte angeordnet, der Bart.

Und als das Gesicht auf mich herunter blickt, erkenne ich es.

Er wirkt wie der Gott dieser düsteren Welt, in der die Schwärze Überhand gewonnen hat. Ein Gott, der sämtliche dunklen Farben in diese Welt gezogen und hier geballt hat. Er ist der König dieses Reich des Todes, als er hasserfüllt auf mich hinunter sieht.

Er, der mich so oft gequält hat. Er, der mich leiden ließ. Er, wegen dem mein Leben in Trümmern liegt. Er ist es, der auf mich herabblickt und hämisch lacht.

4 - Weg

 

Mein Zeugnis fiel mäßig aus. Ich hatte keine fünf, das war gut. Es hätte zwar besser sein können, aber was erwarteten die schon von mir? Oder eher, was erwartete ich selbst von mir? Seit mein Leben zerstört wurde, kannte ich mich nicht mehr. Ich hatte mich verändert, und es gab niemanden, der es nicht mitbekommen hatte. Ja, Mona hatte versucht, mich wieder in die Klasse zu integrieren, doch es war ihr nicht gelungen. Wir beide waren uns wieder näher gekommen, doch mit Nea, Tina und Mirjam hatte ich nur wenige Worte gewechselt. Jetzt war zwar Sommer, aber nächsten Herbst hatte ich noch ein Jahr bis zum Abschluss. Es waren nur wenige Wochen gewesen, die ich als ‚neue‘ Aileen dieses Schuljahr in dieser Klasse verbracht hatte, aber es hatte gereicht.

Der Sommer hatte neun Wochen – was sollte ich ihn ihnen schon machen? Darüber wollte ich mir keine Gedanken machen. Also war ich zu einem Entschluss gekommen: Ich ließ das wenige Leben, das noch in mir war, einfach machen, wozu es Lust hatte. Aber ich selbst – zumindest so, wie ich früher war – war nicht mehr da. Es gab keinen Willen mehr und keine Kraft.

 

„So fühlst du dich?“

Dr. Carls schaute mir direkt in die Augen. Vielleicht versuchte er, etwas zu finden. Irgendetwas. Ein Lebenszeichen oder Freude. Ich vermutete, dass seine Suche erfolglos blieb. Gerade eben hatte ich ihm geschildert, was ich in den Nächten zuvor versucht hatte, in Worte zu fassen.

„So in etwa. Ich bin einfach nur noch ein lebloses Wrack, das in seinem Körper festsitzt und sich selbst nicht kennt.“

Es war das erste Mal, dass ich es ihm so deutlich sagte. Beim letzten Gefühlgespräch hatte ich es in schöne Worte verpackt, heruntergespielt. Doch heute hatte ich das Bedürfnis gehabt, es ihm zu sagen. Ich wusste selbst nicht, was mich dazu bewegt hatte. Auf jeden Fall war ich es satt, bis zu Ende meines Lebens dahinzuvegetieren und auf ein Wunder zu warten, das nie kommen würde.

„Weißt du was, Aileen? Ich bin wirklich froh, dass du mir das gesagt hast. Vielleicht kann ich dir jetzt helfen. Aber es schockiert mich, dass du so denkst. Du tust so, als wärst du selbst nichts mehr wert und dir ist alles gleichgültig.“

Hoffentlich war das eine rhetorische Aussage, denn ich hätte keine Antwort gewusst. 

Die nächste halbe Stunde besprachen wir, welche Gründe es geben könnte, dass ich mich so fühlte. Wir kamen darauf, dass es vermutlich hauptsächlich mein Umfeld war – meine Klassenkameraden, aber auch meine Mutter. Als Carls diese Meinung äußerte, stockte er danach kurz und biss sich auf die Unterlippe.

„Hast du dir überlegt, ob du vielleicht doch in Erwägung ziehen würdest, den Sommer auf dieser Farm zu verbringen?“

Es war verrückt, aber die ganze Sache war mir wirklich schon so egal, dass ich es vielleicht sogar machen würde. Schließlich hatte ich nichts zu verlieren und ich war noch nie in den USA gewesen. Das alleine war ein Anreiz. Außerdem war das Wetter dort besser, was auch ein gutes Argument war. Also es sprach eigentlich ziemlich viel dafür. Dennoch schüttelte ich den Kopf.

„Nein. Ich will nicht.“

„Wirklich nicht?“

Dr. Carls sah mich wieder an. Direkt in die Augen. Wonach suchte er nur?

„Naja. Vielleicht. Aber nicht, weil ich auch nur im Entferntesten daran glaube, dass mich das psychisch in irgendeiner Hinsicht weiterbringt. Es ist wegen dem Wetter.“

Verlegen wich ich seinem Blick aus und blickte im Raum umher. Daher bemerkte ich nur aus den Augenwinkeln, dass der Psychologe aufstand und im Raum herum ging. Ich sah wieder zu ihm. Er sah anders aus als sonst. Irgendwie alt und grau. Aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Plötzlich sah er mich wieder an, und hielt meinen Blick mit seinem fest.

„Das heißt, du machst es?“

Hatte ich das in irgendeinem Wort gesagt?

„Ich sagte, dass ich unter Umständen eventuell darüber nachdenken würde. Vielleicht.“

Ich machte ihm meinen Standpunkt deutlich.

Aber was hatte ich eigentlich Großes zu verlieren? Nichts. Wieder machte sich diese Gleichgültigkeit in mir breit.

„Gut.“ Carls setzte sich wieder auf seinen Stuhl und seufzte leise. „Dann überleg dir das bitte und gib mir Bescheid. Ich denke, es wäre ein großer Schritt, wenn du dich dafür entscheiden würdest. Ich weiß, das hier ist unsere fünfte und somit letzte Stunde, aber ich gebe dir noch eine Woche Überlegungsfrist, und du kannst nächste Woche noch einmal kommen und mir sagen, was du willst. Auch per Anruf, wenn dir das lieber ist.“ Und leise – sodass ich es kaum verstand – fügte er mit einem Augenzwinkern noch hinzu: „Die Vereinigten Staaten – ein Land voller Möglichkeiten…“

Stöhnend verdrehte ich die Augen, aber leider musste ich ihm in dieser Hinsicht Recht geben.

 

 

„Ich mach‘s.“

Mit einem Seufzen ließ ich mich auf den mir schon bekannten Sessel fallen. Als ich von der letzten Stunde bei Dr. Carls nach Hause gekommen war, hatte ich mir alles noch einmal durchgedacht.

Es gab zwar negative Faktoren, doch die positiven überwogen eindeutig. Die USA – wer träumte nicht davon, einmal dort gewesen zu sein? Außerdem einmal auf Abstand von zu Hause gehen. Meiner Mutter würde das auch nicht schaden. Dem war ich mir sicher. Seit dem Vorfall bekam sie immer weniger Schlaf – zwar versuchte sie, es zu überschminken, aber das Ausmaß der Augenringe ließ sich nicht so einfach verstecken. Sie würde einsehen, dass es auch Zeit war, mich einmal gehen zu lassen. Wie sehr hatte ich mir das nicht vor einem halben Jahr noch gewünscht! Dass sie nicht mehr so eine Glucken-Mutter wäre, die mich ständig umsorgte und mir alles nachbrachte. Wenn ich jetzt daran dachte, war dieser Wunsch zwar nicht mehr so groß, doch immer noch vorhanden.

Ich würde außerdem weg sein von allen Erinnerungen. Weg von dem Zimmer, in dem es passiert war. Weg von der U-Bahn Station, wo es passiert war. Weg von all dem. Auch das würde eine extreme Erleichterung sein.

Allerdings würde auch alles neu sein – ich würde die Neue sein, niemand würde mich kennen. In diesem Fall konnte ich Glück haben, oder Pech. Hatte ich Glück, waren die Rancher nett, freundlich und zuvorkommend und behandelten mich bald wie eine von ihnen. Hatte ich Pech, war genau Gegenteiliges der Fall – sie würden mir jeden Tag zu verstehen geben, dass ich nicht dazu gehörte und es nie tun würde. Ich hoffte auf ersteres.

„Das freut mich. Du wirst sehen, es wird dir gefallen. Das garantiere ich dir.“

Er gab mir eine Garantie, dass ich mich wohl fühlen würde? War das nicht ein bisschen voreilig? So gut kannte er mich ja dann auch wieder nicht. Ich sah ihn fragend an. Doch er interpretierte meinen Blick falsch und erzählte mir, wann ich mit welchem Flug wohin fliegen könnte und wer mich abholen würde.

„Ich könnte also theoretisch übermorgen schon weg?“

Ein Zögern schwang in meiner Stimme mit. Übermorgen schon. Das war durchaus verlockend.

„Ja. Wenn du diese Formulare ausfüllst und unterschreibst“, er reichte mir ein paar lose Zettel, „kann ich sie gleich weiterleiten und du bekommst den Flug.“

Das hörte sich gut an. Ich griff nach dem Stift, den er mir anbot und begann, die Zettel auszufüllen. Name, Adresse, Mail-Adresse, Geburtsdatum. Zuerst die allgemeinen Dinge. Dann Hobbies, Vorlieben, Dinge, die ich nicht mochte. Ob diese Angaben für die Ranchbesitzer waren?

Gedankenverloren füllte ich alles aus und kam mir dabei ein bisschen vor wie ein Grundschulkind, das sich in ein Freundschaftsalbum eintrug. Dieser Gedanke ließ mich schmunzeln, doch dann kam mir ein anderer.

„Moment mal. Wer bezahlt das eigentlich alles?“

Erschrocken blickte ich Dr. Carls an. Für den Aufenthalt bei seinem Bekannten auf der Ranch würde ich nichts zahlen müssen, nahm ich an. Aber dann blieben immer noch zwei Flüge – einer hin, einer zurück. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass er das alles alleine zahlen wollte. Tat er auch nicht.

„Ich habe das schon mit deiner Mutter besprochen, sie würde sich bereit erklären, für dich zu zahlen. Das wäre jetzt schon alles geregelt.“

„Gut.“

Erleichtert füllte ich auch die restlichen leeren Linien und Kästchen mit Buchstaben aus und reichte alles dann wieder dem Doktor. Dieser warf kurz einen Blick darauf und legte sie dann auf seinen hölzernen Schreibtisch.

„Ok. Ich werde alles organisieren und rufe dich dann an. Das wird so ungefähr morgen gegen Mittag sein.“ Er nickte kurz. „So, und da du dich nun dazu entschieden hast, dieses Programm“ – Programm? „zu machen, habe ich mir gedacht, wir machen heute so etwas wie eine Vorbesprechung. Du erzählst mir, was du dir erwartest, wovor du Angst hast, was du unbedingt machen willst, was du auf keinen Fall machen willst. Ich erzähle dir auch, wie es ungefähr sein wird. Wo alles ist, wie die Ranch aussieht, was es dort Interessantes gibt und so. Ich werde zwar alles nur so ungefähr erklären können, doch ich will, dass du dir ein Bild machen kannst.“

Überrascht sah ich auf. Damit hatte ich nicht gerechnet. Klar, jetzt kam es mir logisch vor, doch vorhin hatte ich nicht gedacht, dass Carls etwas vorbereitet hatte. Interessant.

„Ok. Soll ich anfangen oder erzählst du mir zuerst etwas?“ Den Doktor zu duzen war schon zu etwas alltäglichem geworden.

„Wenn es dir nichts ausmacht, hätte ich gerne, dass du beginnst.“

Er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, worauf ich kurz tief durchatmete und dann begann.

„Ich erwarte mir…“ Was erwartete ich mir eigentlich? Dass mein psychisches Befinden sich bessern würde wohl kaum. Daran glaubte ich nicht. Aber was konnte ich mir noch erwarten? „Ich erwarte mir, dass ich in diesen … wie lange ist das überhaupt?“

Es schien, als käme ich immer wieder auf Fragen, die noch nicht beantwortet waren. So gesehen war diese Vorbesprechung wohl gar nicht so schlecht.

„Du wirst ungefähr 2 Monate in Amerika verbringen. Also falls alle Umstände passen und du nicht nach zwei Tagen schon wieder klagst, dass du nach Hause willst.“

Versuchte er gerade, witzig zu sein?

„Haha. Also ich erwarte mir, dass ich mich in diesen 2 Monaten gut erholen kann, dass ich nicht mehr jeden Tag in Angst lebe, wenn ich nach Hau… in die U-Bahn Station gehe und die Bilder wieder hochkommen.“ Shit. Ich hatte mich ein wenig verplaudert. Hoffentlich hatte er es nicht mitbekommen. Lieber schnell weitersprechen. „Ich erhoffe mir außerdem, dass meine Mutter sich ebenfalls erholt. Dass sie sich nicht ständig Sorgen um mich machen muss, dass sie auch ein bisschen lernt, was es heißt, loszulassen.“ Dr. Carls warf mir einen leicht überraschten Blick zu. Hatte er gedacht, ich machte das nur wegen mir? So selbstsüchtig war ich auch wieder nicht. Aber wenigstens machte er keine Anstalten, mich wegen meines Versprechers zu fragen. Glück gehabt.

„Tja. Sonderlich viele Erwartungen habe ich eigentlich nicht. Ich weiß ja auch nicht wirklich, was mich erwartet…“

„Genau deshalb führen wir dieses Gespräch, Aileen.“

Er lächelte mir erneut zu. Dann wartete er, als wollte er, dass ich wieder weitersprach.

„Ähm, ok. Wovor ich Angst habe.“ Diese Wiederholung murmelte ich leise und hauptsächlich für mich noch einmal. Nachdem ich kurz darüber nachgedacht hatte, begann ich, auf die Frage zu antworten.

„Am meisten Angst habe ich davor, dass es nichts hilft. Dass ich mich auch in den Staaten verfolgt fühle, nirgendwo einen sicheren Platz finde. Und, dass mich die Familie nicht akzeptiert. Natürlich werden sie so tun, als ob sie das toll finden würden“ – sonst würde Dr. Carls mich vermutlich nicht dorthin schicken, so viel Vertrauen hatte ich inzwischen schon in ihn – „aber wenn sie mich nicht wirklich da haben wollen, dann merke ich das ja trotzdem.“ Meine Stimme war mit jedem Wort leiser geworden und meine Augen fixierten momentan unsicher den Teppich. Als sich eine schwere Hand auf meine Schulter legte, blickte ich zweifelnd auf. Was würde der Doktor jetzt sagen, um mich aufzumuntern?

„Aileen, ich kann deine Sorgen wirklich verstehen. Aber auch, wenn ich dir gerne sagen würde, dass diese unbegründet sind, ich kann es nicht. Es liegt fast alleine in deiner Hand, wie alles wird. Bist du offen gegenüber den anderen, werden sie dich vermutlich leichter akzeptieren als wenn du dich schon im Vornherein verschlossen gegenüber allem zeigst. Und es ist auch nur eine Frage der Selbsteinschätzung und wie du beschließt, wie es sein wird. Wenn du dir jetzt schon einredest, dass du dich drüben verfolgt fühlen wirst, dann wird es so sein. Aber wenn du dir hier immer denkst, dass es nicht so sein wird, dann sind die Chancen sehr gering, dass es dir in den USA schlecht gehen sollte.“

Er machte eine Pause, um das Gesagte wirken zu lassen und nahm die Hand wieder von meiner Schulter. Meine Gedanken drehten sich nun um die Ereignisse, die in den letzten Wochen passiert waren. Alles brauchte so lange Zeit, um sich zu entwickeln. Und jetzt saß ich da und sollte meinem Leben mit einer einzigen Entscheidung eine völlig neue Richtung geben. Ich war zerstreut und verwirrt. Das alles ging mir zu schnell.

„In zwei Tagen… Ich weiß nicht so recht. Da habe ich gerade einmal Zeit meinen Koffer zu packen!“

Ohne mich auf irgendetwas zu konzentrieren, starrte ich Löcher in die Luft. Es wäre zwar nicht mein erster Flug oder das erste Mal, dass ich in ein anderes Land einreisen würde, aber trotzdem fühlte sich alles neu an.

„Aber du wusstest doch schon seit ein paar Wochen, dass du eventuell diese Therapie in den USA fortsetzten würdest. Es ist doch in Wahrheit gar nichts anderes, als dass wir diese psychologische Behandlung an einen anderen Ort verlegen. Keine große Sache.“

Vertrauensvoll sah er mich an. Ich wusste nicht, woher er das nahm, aber er hatte die Fähigkeit, mich mit wenigen Worten zu überzeugen. Allerdings hielt diese Überzeugung nicht wirklich lange an.

„Ja, schon, aber ich würde mich gerne länger darauf vorbereiten. Ich will einfach nicht, dass andere die Entscheidungen über mein Leben treffen.“

„Aber ich treffe doch keine Entscheidungen für dich!“

Anscheinend hatte ich Carls ein wenig aus dem Konzept gebracht. Doch er beruhigte sich schnell wieder und fuhr fort.

„Ich will wirklich nur, dass es dir bald wieder besser geht. Das ist mein Job, dafür werde ich bezahlt. Und außerdem ist der Aufenthalt in den USA nur eine von vielen Möglichkeiten. Du entscheidest, ob du das willst. Nur du, niemand sonst!“

Es war fast so, als wollte er mich motivieren. Zumindest klang seine Stimme so.

„Ok. Wenn du meinst. Zwei Tage. Von mir aus.“

Es war nicht das, was ich wollte. Doch mein Leben sollte sich ändern. Und wenn es mich auch nur ein klitzekleines Stückchen weiterbrachte.

Carls streckte mir seine Hand entgegen und ich nahm sie.

„Abgemacht?“

„Okay.“

„Gut.“ Der Doktor atmete aus. „Dann können wir ja jetzt dort weiter machen, wo wir aufgehört haben. Aber ich denke, ich rede lieber jetzt ein wenig und du hörst zu, okay?“

Das war mir sogar sehr recht. Zufrieden lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und begann, mich etwas zu entspannen.

„Aber, Aileen. Auch, wenn ich jetzt spreche; du kannst dich zwar ausruhen, doch es wäre schon schön, wenn du mir auch ein bisschen zuhören würdest!“ Ein spöttisches Lächeln fand sich auf seinen Zügen wieder. Es war so einfach, mit ihm zu reden. Nicht wie mit anderen Erwachsenen, eher, als hätte er mein Alter. Oder eben ein bisschen darüber. Auch war es nicht so, als würde ich zu meinem Therapeuten sprechen – zumindest nicht immer – sondern viel mehr, als wäre er so etwas wie ein Freund.

Nachdem ich kurz zustimmend genickt hatte, begann er, mir von der Farm zu erzählen.

„Wie du ja bereits erfahren hast, liegt die Farm in Wyoming. Ganz in der Nähe befinden sich die Rocky Mountains. Bewirtschaftet wird alles von meinem Cousin Mr. Piers. Seine Frau ist vor einigen Jahren gestorben, das hat ihn recht mitgenommen… Allerdings hat sie ihm fünf Kinder hinterlassen, die ihm auf der Farm helfen. Wobei der älteste, Jake, schon einundzwanzig ist, und so viel ich gehört habe, heiratet er bald und zieht weg.“ Ein wehmütiger Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. Ob er die Familie gut kannte? „Die anderen – Luca, Susan, Robbie und Joanna – wirst du dann auf jeden Fall kennenlernen, denke ich.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er mit einer neuen Information begann. „Heath – also Mr. Piers – lebt hauptsächlich von Viehwirtschaft. Insgesamt leben auf der Farm um die fünfhundert Rinder, achthundert Schafe, elf Pferde und drei Hunde.“ Bei dieser Aufzählung sah er mich an, als sollte ich jetzt begeistert sein. Wow, eintausenddreihundert Tiere. Und wie ich begeistert bin, dachte ich ironisch. Als keinerlei Reaktion meinerseits kam, sprach er etwas enttäuscht weiter. „Das Haus, also das Wohn- oder Haupthaus, ist zirka hundertfünfzig Jahre alt und aus Holz gebaut. Es ist ein netter Dreikanter. Allerdings wirst du – soweit ich informiert bin – ein eigenes kleines Heim bekommen. Eine kleine Hütte etwas abseits von allem anderem, nahe am Fluss. Dort kannst du ganz für dich sein.“ Diese Tatsache beruhigte mich etwas. Hatte ich zuvor auch ein wenig Angst gehabt, die Familie würde die ganze Zeit um mich herum sein und sich um mich sorgen wollen, dann war diese Sorge nun weg. Ich konnte mich ja, wenn ich wollte, zurückziehen. „Außerdem bist du in einer interessanten Zeit dort – Ende August kommen nämlich die Schafe aus den Rocky Mountains zurück, wo sie Frühling und Sommer verbracht haben. Ich bin mir sicher, du könntest da mithelfen, wenn du möchtest.“ Ich, mitmachen? Beim … Schafetreiben? Also ich weiß ja nicht so wirklich… „Ferner wird auch das Jungrind aus der Herde ausgesondert und gebrannt, das ist auch immer ein ereignisreiches Spektakel, das man sich nicht entgehen lassen sollte. Du musst ja nicht mitmachen“, er schien mein verzogenes Gesicht bei der Erwähnung des Schafetreibens bemerkt zu haben, „aber zuschauen solltest du schon.“ Er grinste. Vermutlich war er selbst schon einmal dabei gewesen und dieses Spektakel – wie er es nannte – hatte sich unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt. „Ach ja, was natürlich auch sehr empfehlenswert ist, ist das Reiten. Es gibt ja dort – wie ich vorhin schon erwähnt habe – elf Pferde, auf denen du jeder Zeit reiten kannst. Ich habe mich schon erkundigt.“

Ich verstand ihn nicht. Hatte er das Vorurteil, dass alle Mädchen zwischen zwölf und neunzehn Jahren unbedingt immer Pferde liebten und reiten wollten? Tja, dann war ich wohl die einzige Ausnahme in seiner Welt. Das versuchte ich dann auch, ihm klarzumachen.

„Ok, damit kommen wir ja schon langsam zu den Dingen, die ich absolut nicht machen will. Reiten. Ich denke, du hast das noch nicht so richtig mitbekommen, aber ich mag keine Pferde. Sie sind mir zu groß und alleine der Gedanke, dass ich mich auf eines draufsetzen soll, lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen.“ Unwillkürlich schüttelte ich mich, womöglich wollte mein Körper alles noch einmal unterstreichen. Carls schien ehrlich erstaunt zu sein.

„Nicht? Aber ich dachte immer –„

„Du dachtest immer, dass alle Mädchen Pferde lieben?“ Schnell unterbrach ich ihn und lachte humorlos auf. „Falsch gedacht.“

„Ach so, ok. Na dann, es zwingt dich ja niemand dazu.“ Das will ich auch hoffen… „Gibt es sonst noch irgendetwas, das du überhaupt nicht gerne machst?“

Nach kurzem Überlegen fielen mir tatsächlich weitere Punkte ein.

„Also, ich mag es nicht, früh aufzustehen. Besonders nicht in den Ferien.“ Wieder verzog ich das Gesicht, Dr. Carls aber lachte.

„Ich schätze, das wirst du aber müssen. Zwar nicht jeden Tag, aber Aileen, das werden keine richtigen Ferien. Es ist Therapie, aber eben jeden Tag und an einem anderen Ort. Wenn sich Heath dazu entscheiden sollte, dass es gut für dich ist, in der Früh im Stall zu helfen, dann wird er dir das vorschlagen. Ich sage bewusst vorschlagen, denn zwingen wird er dich nicht. Aber bitte – sei so weit, dass du dann zustimmst. Ich weiß, das ist nicht leicht, aber versuch es wenigstens dann einmal für ein paar Tage. Du wirst sehen, man gewöhnt sich daran.“

Mir entfuhr ein genervtes Stöhnen. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Es konnte also tatsächlich sein, dass ich in der Stallarbeit helfen musste.

„Aber wenn du willst, sage ich meinem Cousin, was er eher nicht mit dir machen soll.“ Er zwinkerte mir zu und ich war mit einem Schlag wieder um einiges erleichterter.

„Ok. Danke.“

„Aber gerne doch. Du musst mir einfach sagen, wenn dir etwas nicht passt. Ich kann mit Kritik leben, weißt du!“ Ein leises Lachen schlich sich über seine Lippen und er nahm meine Hand und drückte sie kurz. Plötzlich war da so viel unerwartete Nähe zwischen uns, dass ich unwillkürlich zurückzuckte. Er bemerkte meine Reaktion, doch er schien nicht verärgert zu sein oder so. In sein Gesicht stand eher Verständnis geschrieben, so, als wüsste er, was gerade in mir passiert war. Und das, obwohl ich es mir selbst noch nicht einmal erklären konnte. Zuvor, als er seine Hand auf meine Schulter gelegt hatte, war ja auch nichts gewesen. Ok, die Berührung war viel leichter gewesen als dieser feste Händedruck jetzt. Aber trotzdem… Hatte ich wirklich noch so viel vor mir, was es zu überwinden bedarf? Carls riss mich mit einer weiteren Frage aus meiner Grübelei.

„Und gibt es etwas, das du unbedingt machen willst?“

Seine Stimme war ruhig und einfühlsam. Er hatte das Talent, dass ihm vermutlich achtzig Prozent aller Menschen schon nach wenigen Minuten vertrauen würden. Seine Stimme war schuld daran. Sie konnte genau die Tonlage annehmen, der es gerade bedarf. Egal, in welcher Situation sich der Doktor befand. Und diese Stimme hatte auch bei mir gewirkt. Noch keinem Menschen hatte ich so viel über mich erzählt wie ihm. Zumindest nicht in letzter Zeit.

„Nein. Ich weiß ja nicht wirklich, was man auf einer Farm so alles machen kann – bis auf Rinder brennen, Schafe treiben und reiten.“ Ich nannte die Dinge, die er mir zuvor empfohlen hatte. „Ich dachte mir, ich bin offen für vieles, dann ist eine Enttäuschung – sollte es eine werden – nicht so groß.“ Mein Kopf hatte sich während meiner Rede leicht schief gelegt, wie immer, wenn ich nachdachte.

„Das ist ein sehr interessanter Gedanke.“ Hatte ich ihn gerade beeindruckt? Sah ja fast so aus. Ein Gefühl des Stolzes machte sich in mir breit. Das war neu und ungewohnt. Aber nicht schlecht.

„Also gut, wir haben ja schon wieder sehr lange gesprochen, unsere Zeit ist für heute zu Ende!“ Er seufzte. „Das heißt, bis für weiteres war das unsere letzte Stunde. Übermorgen sehen wir uns noch einmal, ich begleite dich zum Flughafen, und dann bist du mal für zwei Monate weg. Was danach ist, werden wir dann schon sehen.“ Mit einem Schmunzeln hielt er mir seine Hand zur Verabschiedung hin. Und war da nicht sogar ein bisschen Wehmut in seinem Blick?

„Ich habe deiner Mutter bereits alles gesagt, was sie über den Flug wissen muss. Wir sehen uns also am Montag!“

Ich ergriff seine Hand und diesmal konnte ich sie leicht drücken, ohne, dass ich mich ihr entreißen wollte.

„Bis dann!“

Mit einem Lächeln auf den Lippen verließ ich den Raum und zum ersten Mal seit langem wusste ich nicht, was mir bevorstand.

5 - Amerika

Beethovens 5. Symphonie dröhnte in meine Ohren. Ich wollte an nichts anderes denken, als an die wunderschöne Melodie des Taubstummen.

Schon zeitig in der Früh war ich aufgestanden und meine Mutter hatte mich zum Flughafen in Wien gefahren, kurz vor elf Uhr war dann Boarding gewesen. Die Verabschiedung von meiner Mutter war ihrerseits tränenreich gewesen und dennoch irgendwie erleichternd. Sie brauchte sich nun in den nächsten neun Wochen nicht mehr um mich zu kümmern. Das würde ihr bestimmt gut tun. Und mir würde es Abwechslung bieten. Amerika. Wie oft hatte ich früher schon davon geträumt, einmal über den großen Teich ins Land der unendlichen Möglichkeiten zu fliegen! Alle in meinem früheren Freundeskreis hatten diesen Wunsch mit mir geteilt und einst hatten wir beschlossen, einmal gemeinsam die Staaten zu besuchen. Doch nun saß ich alleine in diesem Flugzeug, welches sich nun schon gute drei Stunden in der Luft befand. Der Flieger war nicht voll - bei weitem nicht. Meine Sitzreihe hatte ich ganz für mich alleine, hinter mir saß eine dreiköpfige Familie und schräg vor mir schlief eine ältere Dame.

Auch ich hatte die Augen geschlossen, jedoch nur, da mich die Stewardessen angesehen hatten, als bräuchte ich psychische Unterstützung. Als würde ich es nicht alleine - ohne Eltern und sonstige Begleitpersonen - elf Stunden in diesem Flieger aushalten. Und teilweise hatten sie sogar Recht. Die zweite halbe Stunde des Flugs hatte ich großteils damit verbracht, meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Das gelang mir viel leichter, wenn niemand dabei zusah, den ich kannte. Und das war hier der Fall gewesen.

 

Ich musste eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder öffnete und auf den Bildschirm über dem Sitz vor mir schaute, waren es nur mehr zweieinhalb Stunden Flugzeit. Schnell schüttelte ich meinen Kopf, um die letzten Traumfetzen, an die ich mich noch erinnern konnte, loszuwerden. Er war darin vorgekommen, hatte mit seiner Hand nach mir gegriffen. Als ob er mich zurückhalten wollte. Zum ersten Mal war ich von dieser Amerika-Idee zu einhundert Prozent überzeugt. Ich wusste, dass dieser Traum nicht wahr werden konnte, immerhin war er ja tot. Aber dennoch kam es mir ein bisschen vor wie ein Zeichen. Das Böse wollte mich zurück haben, aber ich entfloh ihm. Es war ein gutes Gefühl.

Plötzlich hörte ich ein Klirren und als ich mich umsah, erblickte ich zwei Stewardessen, die einen Essenswagen zwischen den Sitzreihen schoben und die letzte Mahlzeit brachten. Ich seufzte und streckte mich. Ein bisschen was im Magen würde auch mir nicht schaden.

Als die jungen Damen dann bei mir angekommen waren und mir ein kleines Abendessen brachten, bestellte ich mir außerdem noch zwei Becher Orangensaft, da meine Kehle schon ganz vertrocknet war. Auch innerlich fühlte ich mich ausgetrocknet. Als hätte ich alle meine Tränen während des Schlafens vergossen. Und auch die Erinnerungen an mein ‚altes Leben‘ waren - zumindest für den Moment - ein bisschen verwaschen.

Das ließ ein leichtes Lächeln auf meinen Lippen erscheinen. Wie gut es tat, wenn nicht die ganze Zeit Gedanken alle Gefühle bestimmten. Meine Mutter hatte einmal zu mir gesagt, nicht nur wer glücklich ist, lächelt, sondern auch wer lächelt, ist glücklich. Nie hatte ich dem mehr Glauben geschenkt als in diesen wenigen Minuten. Kaum hatte ich das Lächeln aufgesetzt, fühlte ich etwas, was man wohl am besten mit 'innerer Zufriedenheit' beschreiben konnte. Und als ich dann auch noch ein kleines Milka-Naps bei meiner Jause entdeckte, war ich seit langer Zeit wieder so etwas wie glücklich.

Als um das Ganze mit Musik noch zu unterstreichen, erklang aus den Stöpseln meines iPods gerade die vierte Symphonie in B-Dur.

Beglückt schloss ich die Augen und genoss es, mich nur auf die Musik zu konzentrieren. Ohne Gedanken, ohne Erinnerung. Genoss den Moment.

 

Als mich ein Rumpeln aufrüttelte, stieß ich mit noch geschlossenen Augen einen tiefen Seufzer aus. Die leichte Beneblung der Müdigkeit hatte angehalten und die Erinnerung nicht wieder hochgelassen. Ein schönes Gefühl, doch ich wusste, dass es nicht mehr viel länger anhalten würde. Spätestens die frische Luft, die mich umfangen würde, wenn ich aus dem Flieger käme, würden meine Gedanken wieder freilegen. Und mit ihnen die Erinnerung.

Die letzten Momente im Flugzeug auskostend blieb ich starr in meinem Sitz und sah zuerst den anderen Passagieren zu, wie sie die Maschine verließen. Dann, und auch nur mit minimalem Einsatz an Energie, ergriff auch ich mein Gepäck und begab mich aus dem Flieger. Trat sofort an die frische Luft, die - wie ich geahnt hatte - das Gefühl von Glück wieder verdrängte und der Erinnerung Platz machte.

 

Ich fühlte mich ein bisschen verloren. Der Flughafen war riesig. Und überall waren Menschen, die nur ihr eigenes Leben im Kopf hatten. Sie sahen alle müde aus und ihr Blick irrte in dem Gebäude herum.

Schon nachdem ich wenige Meter gegangen war, sah ich einen Mann mittleren Alters und ein etwa dreizehnjähriges Mädchen auf mich zukommen. Der Mann hatte einen dunklen Bart und kurze, braune Haare. Sein Hemd war unachtsam in die ebenfalls dunkle Hose gestopft und seine Füße steckten in alten Cowboystiefeln. Das Mädchen hatte rote Haare, die lockig in alle Richtungen abstanden. Dass sie zu mir wollten, hatte ich mich schon überzeugt - hinter mir war niemand mehr.

"Hallo, du musst Aileen sein!"

Der amerikanische Akzent des Mannes, welcher sich danach auch gleich als Heath vorstellte, ließ mir ein Lächeln auf dem Gesicht erscheinen.

"Ich hoffe, du hattest einen guten Flug?!"

Guter Flug? Naja, für meine Umstände eigentlich schon.

"Danke, Sir, den hatte ich."

Reflexartig hatte ich ihn nicht beim Vornamen genannt, was er auch gleich ausbesserte.

"Aileen, bitte, sag Heath! Wir werden vermutlich die nächsten neun Wochen miteinander verbringen, und du wirst dich hoffentlich bald wie ein neues Familienmitglied fühlen."

Er ließ ein tiefes Lachen erklingen, bei dem mir ein Schauer den Rücken hinunterlief. Nicht vor Angst oder so, nein, aber es war schon so lange aus, dass ich etwas Ähnliches gehört hatte, das so von Herzen kam. Heath war mir sofort sympathisch.

Da meldete sich auch das Mädchen endlich zu Wort.

"Genau. Wir haben uns schon so auf dich gefreut!"

Ihre Augen leuchteten, es schien also zu stimmen, was sie sagte.

"Ach ja, ich bin übrigens Susan."

Sie streckte mir ihre kleine Hand entgegen, die ich auch sofort ergriff. Sie war feucht und warm.

"Freut mich, dich kennen zu lernen, Susan."

Und diesen Satz meinte ich auch wirklich ernst.

"Ich bin mir sicher, dass es dir bei uns gefallen wird! Wir haben eine große Farm mit vielen Tieren und man kann so viel unternehmen, der nächste Ort ist auch nicht weit entfernt, und du wirst dich auch sicher bald einleben, wir sind ja eigentlich alle ganz nett und ... " - "Susan, vielleicht lässt du Aileen mal in Ruhe ankommen, ja? Ich weiß es ja nicht, aber wenn ich hier ganz neu herkommen würde, wäre ich froh, wenn nicht sofort irgend so ein kleines Mädchen", bei diesem Teil des Satzes grinste er belustigt und Susan funkelte ihn böse an, "mich sofort mit ihrer Plapperei in Beschlag nehmen würde." Dann wandte er sich an mich: "Sie ist halt ein sehr aufgewecktes Mädchen, nimm es ihr nicht zu übel, falls sie einmal übersehen sollte, dass man auch für wenige Minuten nichts sagen kann!"

"Ach, das ist kein Problem, wirklich."

Es war mir unangenehm, dass Heath Susan meinetwegen tadelte.

Doch die schien auch nur kurz eingeschnappt zu sein und griff gleich nach meiner kleineren Tasche, um sie zu tragen. Heath nahm mir mit einem Ächzen die beiden Koffer aus der Hand und führte mich zu einem riesigen Pick-up Truck. Er schmiss die Gepäckstücke hinten auf die Ladefläche und hielt mir dann eine der hinteren Türen auf, damit ich einsteigen konnte. Susan hatte schon den Beifahrersitz in Beschlag genommen. Mit einem leisen 'Danke' setzte ich mich in den Wagen, dessen röhrender Motor auch gleich darauf gestartet wurde.

Da niemand etwas sprach - Susan schien auch nicht mehr das große Bedürfnis zu haben, sich den Worten des Vaters entgegenzusetzen -  packte ich meinen iPod aus einer meiner Taschen, steckte mir die Stöpsel in die Ohren und drückte Play. Sofort ertönten die ersten Takte einer meiner Lieblingssonaten - die Mondschein Sonate. Genau passend zur Tageszeit, dachte ich mir, da es zirka zehn Uhr in der Nacht war.

Als ich meinen Kopf an die kalte Scheibe legte, sah ich den Highway an uns vorbeirasen. Vereinzelt konnte ich ein paar Sterne am noch nicht ganz verdunkelten Himmel ausmachen. Doch was mich am meisten faszinierte, waren die Wolken - sie schienen so nahe zu sein. Wie in der Vorschau von den Simpsons...

Mit diesem Gedanke schloss ich die Augen und beschloss, etwas vor mich hinzudösen.

 

Wahrscheinlich war ich in einen tieferen Schlaf gefallen, denn als ich das nächste Mal die Augen öffnete, befand ich mich zusammengerollt auf einem alten Sofa. Susan saß neben mir in einem hölzernen Schaukelstuhl und starrte mich an. Als sie erkannte, dass ich müde zu blinzeln begann, sah sie dies wohl als Zeichen, dass ich munter war und teilte das sofort ihrem Vater mit.

"Daddy! Sie ist jetzt wach!" Die rufende Stimme veranlasste mich dazu, mich seufzend aufzusetzen.

Kurz darauf kam auch Mr. Piers schon, und auf einen Wink seinerseits sprang Susan auf und verließ das Zimmer. Vermutlich, um selbst schlafen zu gehen. Wie spät war es eigentlich? Ich hatte überhaupt keine Ahnung, wie lange ich geschlafen hatte.

"Das ist nur ein kleines Gästezimmer, in das wir dich vorübergehend getragen haben. Aber wie Michael dir vielleicht bereits gesagt hat, bekommst du ein eigenes kleines Reich, ein bisschen weiter weg von hier. Möchtest du gleich hingehen? Deine Koffer befinden sich schon dort!"

Ich nickte und torkelte hinter Heath her, als dieser langsam vorging. Ja, Dr. Carls hatte mir erzählt, dass ich eine eigene kleine Hütte behausen würde. Darauf hatte ich mich schon gefreut - nicht direkt bei allen anderen, etwas abgelegen, alleine. Klang ja nahezu perfekt für mich.

Wir gingen einen Weg entlang, rund um uns lagen Wiesen und riesige bräunliche Weideflächen mit Rindern darauf. Dass die schwache Morgensonne in meinen Augen brannte, ließ mich darauf schließen, dass es vielleicht vier Uhr morgens sein könnte. Da hatte ich ja noch einige Stunden zu schlafen.

Wenige Minuten später waren wir da, vor uns stand eine kleine Hütte. Das Holz war schon dunkel und die Fenster wiesen Schlieren auf, doch der Gesamteindruck gefiel mir sofort. Auch als wir hinein gingen, fand ich es immer noch toll. Es war häuslich eingerichtet, sogar eine kleine Küche befand sich in dem Raum, in den wir eingetreten waren.

"Das Schlafzimmer ist in diesem Zimmer", Heath deutete auf die Tür links, "da kannst du dich jetzt wieder hinlegen. Morgen werde ich dich ausnahmsweise erst gegen halb acht zum Frühstücken abholen. Schlaf dich jetzt aus, du hast noch genügend Zeit, dir alles anzusehen!"

Seine Stimme klang auch schon müde, ob er die ganze Zeit wie Susan gewartet hatte, bis ich erwachte?

Kurz verweilte er noch neben mir, und als ich nickte, schlurfte er langsam zur Holztür, ging hinaus und schloss sie hinter ihm wieder. Ich war alleine und auch wirklich zu müde, um mich noch gründlich umzusehen. Daher befolgte ich Mr. Piers Rat und begab mich ins Schlafzimmer, wo ich mich in mein neues Bett legte. Die Matratze gab ein bisschen unter mir nach, gerade so viel, dass es bequem war. Nicht zu weich und nicht zu hart. Zwar quietschten die Federn ganz leise, aber daran würde ich mich schnell gewöhnen.

Da der Koffer, in den ich meine Uhr gepackt hatte, neben dem Bett stand, öffnete ich ihn, nahm den Wecker heraus und stellte ihn auf viertel nach sieben. Das Letzte, an das ich dachte, war der Geruch nach Regen, als ich einschlief.

 

Eine zarte Melodie - Vivaldis Sommer aus den vier Jahreszeiten - ließ mich erneut erwachen. Allerdings hielt ich die Augen noch geschlossen und lauschte dem Lied.

Als es ausgeklungen war, setzte ich mich seufzend auf und warf einen Blick auf den Wecker. 07:21 Uhr. In neun Minuten würde Heath mich abholen. Es wurde Zeit, dass ich mich etwas frisch machte und mich umzog. In meinen momentanen Kleidern hatte ich immerhin mehr als achtundvierzig Stunden verbracht, Nächte inklusive. Sie gehörten wirklich mal ausgewechselt.

Gott sei Dank wusste ich, in welchem Koffer ich was eingepackt hatte und so war ich acht Minuten später fertig - gewaschen, angezogen und frisiert. Da Heath noch nicht erschienen war, wollte ich nachschauen, ob ich ihn auf dem Weg zu mir entdecken konnte. Doch als ich aus dem ersten Fenster sah, bemerkte ich schnell, dass es nicht das war, das Richtung Hof zeigte. Ich sah nicht den Weg, sondern eine Weide mit Pferden darauf. Und in nur etwa zwanzig Metern Entfernung war auch ein durch Holz eingezäunter runder Platz, auf dem gerade ein Junge mit einem Pferd arbeitete. Er hatte blonde Haare, und war schätzungsweise nur etwas größer als ich. Doch was mir selbst auf diese Entfernung auffiel, war, dass scheinbar seine Proportionen überhaupt nicht zusammenpassten. Die Nase schien zu groß, der Mund zu klein. Seine Stirn war  sehr hoch und die Augen sehr weit auseinander. Außerdem schienen seine Arme und Beine zu lange. Vermutlich war er in der Entwicklung irgendwann einmal steckengeblieben...

Ein Klopfen riss mich aus meinen Beobachtungen. Auf mein 'Herein!' öffnete sich knarrend die alte Holztür und Heath trat ein.

"Du bist ja schon ganz fertig!" Er schien etwas überrascht.

"Das ist gut, dann verschwende ich jetzt keine Zeit, in der ich auf dich warten müsste."

Mein Blick war immer wieder zwischen ihm und dem unproportionierten Jungen hin und her gewandert, was Mr. Piers anscheinend auch aufgefallen war.

"Das da draußen ist Luca, mein zweitältester Sohn. Er arbeitet mit seinem jüngsten Pferd, White Tulip. Sie soll mal ein hervorragendes Westernpferd werden. Deswegen trainiert er auch ständig mit ihr im Round Pen."

Es interessierte mich zwar herzlich wenig, was Luca mit seinen ganzen Pferden vorhatte, doch ich nickte nur, ohne mich dazu zu äußern. Trotzdem schien Heath mein Desinteresse zu spüren, denn er ging wieder zur Tür und hielt sie mir auf.

"Aber du hast bestimmt schon großen Hunger, komm, gehen wir frühstücken!"

Dankbar, dass er nicht mehr über Pferde sprach, schlüpfte ich schnell aus meiner Hütte und wartete dann auf Lucas Vater. Gemeinsam gingen wir dann zurück zur Farm.

 

Als wir den Raum betraten, in dem wir essen würden, war das ganze Frühstück schon aufgetischt. Schnell setzte ich mich, denn was ich sah, war wirklich umwerfend.

Es gab alles, was das Herz begehrte. Von Ham and Eggs über gebratenen Speck, Würstchen und Haferschleim bis Brownies war alles dabei. Bei den Getränken war die Auswahl schon geringer, wenn auch nicht um viel: Frisch gepresster Orangensaft, Kaffee, heiße Schokolade und Tee. Der Anblick der Speisen verschlug mir die Sprache und ich ermahnte mich, den Mund geschlossen zu lassen.

Doch Heath schien bemerkt zu haben, dass ihr Frühstück mich etwas aus der Bahn geworfen hatte und grinste.

"Wie du wahrscheinlich schon bemerkt hast, unterscheidet sich unser amerikanische Frühstück etwas vom österreichischen. Ich hoffe, du findest trotzdem etwas, das dir schmeckt."

Oh ja, das würde ich bestimmt.

"Normalerweise versuchen wir, immer gemeinsam zu frühstücken - zumindest während der Woche - doch da du heute ja länger geschlafen hast, warst du da nicht mehr dabei. Aber Susan wird gleich kommen und dir etwas Gesellschaft leisten. Sie wird dir dann auch alles zeigen, und wir werden uns wieder unseren Arbeiten widmen. Brauchst du noch etwas?"

Heath sah mich fragend an, doch ich schüttelte den Kopf.

"Nein danke, ich habe momentan alles, was ich brauche."

"Gut. Du kannst schon zu essen beginne, Susan wird, wie ich sie kenne, noch etwas brauchen."

Mit diesen Worten verließ er den Raum.

 

So, womit beginne ich denn jetzt am besten?!

Die Auswahl an verschiedenen Speisen brachte mich etwas aus dem Konzept. Zuhause hatte ich stets das gegessen, was gerade da war, aber in dieser Fülle war das etwas schwierig.

Die Antwort wurde mir von Susan abgenommen, welche nun hereingestürmt kam.

"Guten Morgen! Tut mir Leid, dass ich so spät bin. Du hast ja noch gar nicht begonnen, weißt du nicht, was du essen sollst?"

Sie lachte herzhaft, als wäre das das Problem eines jeden, der jemals diese Farm besucht hatte.

"Kein Problem, ich kann dir gerne etwas empfehlen, wenn du möchtest. Ja? Gut, also mir persönlich schmeckt ja ein Brownie am besten. Er ist typisch amerikanisch und ich glaube, dir würde das momentan auch nicht unbedingt schaden." Kritisch musterte sie mich. "Wenn du allerdings auf deine Figur achten willst, was - wie schon gesagt - im Moment völlig überflüssig bei dir ist, würde ich eher den Haferschleim empfehlen. Und wenn du einmal etwas anderes probieren willst, dann nimm Ham and Eggs, Würstchen und Speck."

Beifall herrschend sah sie mich an, wahrscheinlich erwartete sie eine lobende Antwort.

"Ok, ähm, du kennst dich ja wirklich aus!" Gut, lobender Teil geschafft. "Ich glaube, ich nehme die Brownies... Wenn die wirklich so gut sind, wie du sagst..."

Zaghaft griff ich nach einer der braunen Törtchen und goss mir Orangensaft in mein Glas. Auch Susan schaufelte sich gleich zwei der amerikanischen Köstlichkeiten auf ihren Teller. Sie begann auch gleich damit, sie zu verdrücken, was ich nur begrüßte, da sie so nicht mehr redete. In der so entstandenen Stille suchte ich nach einer Gabel, fand jedoch keine, und führte den Brownie dann einfach mit den Fingern zum Mund. Nachdem ich den ersten Bissen geschluckt hatte, war ich der Überzeugung, dass dieses kleine, braune Schokoding mir für den ganzen Tag reichen musste. Wie viele Kalorien das wohl hatte...? Naja, aber Susan hatte schon Recht, wenn sie meinte, dass mir das nicht schaden würde. Ich war wirklich dünn. Nicht schlank, nein. Nur dünn. Wer mich nicht kannte, würde wohl sagen, krankhaft dünn. Aber ich konnte ja auch nichts machen, in letzter Zeit hatte ich eben keinen Appetit auf viel Essen. Und das hatte dann halt zufolge gehabt, dass ich etwas abgenommen hatte.

Als ich mit meinem Brownie fertig war, amtete ich laut hörbar aus.

"Bist du etwa schon fertig?"

Susan sah mich erstaunt an. Ihre zwei Brownies waren schon weg und sie hatte gerade Haferschleim in ihre Schüssel gegeben.

"Ja, ich bin es nicht gewohnt, so viel zu essen."

Susans Blick wanderte zwischen mir und dem Haferschleim hin und her.

"Ok, warte noch kurz, dann bin ich auch fertig."

In Rekordtempo hatte sie den Brei verschlungen. Dann nahm sie ihren gebrauchten Teller samt Glas und räumte es in die nächste Abwasch. Ich tat es ihr nach.

"Gut, ich zeige dir jetzt den Hof und alles, was wichtig ist, ok?"

Ich konnte nur kurz nicken, denn Susan begann schon wieder zu reden.

"Also: Das war jetzt das Speisezimmer, dort essen wir immer Frühstück, wenn Schule ist und unter der Woche immer gemeinsam; in den Ferien oder am Wochenende so von sechs bis acht Uhr. Jeder räumt seine Sachen selbst weg, und was am Schluss noch übrig ist, der, der für diese Woche zuständig ist. Da wirst du dann auch einmal eingeteilt werden, denke ich. Mittagessen ist eigentlich nie gemeinsam; entweder, man verzichtet darauf, wie ich es meistens mache" - das erklärte ihren gesunden Appetit beim Frühstück - "oder, man macht sich selbst etwas. Wir haben immer etwas da, was man sich machen kann. Schau, hier ist alles gelagert." Sie führte mich in einen mittelgroßen Raum, in dem sich einige Regale befanden. Alle waren voll mit essbaren Dingen. Allerdings nur diejenigen, die trocken gelagert werden konnten. Fleisch oder Milchprodukte konnte ich nicht ausmachen. "Falls du also einmal zu Mittag Hunger bekommen solltest oder ein Picknick machen willst - Picknicke kann man bei uns sehr gut machen, das wirst du auch noch sehen. Wir haben siebenundneunzig Hektar Grund, davon sind zirka siebzig Prozent Wiese oder Weidefläche. Und alles ist so wunderschön..." Ihr Gesicht bekam einen schwärmerischen Ausdruck. Ihre Wangen röteten sich. "Abendessen gibt es dann um halb sieben Uhr. Dann versammeln sich meist alle und essen zusammen. Aber zurück zur Hausführung." Wir verließen den Raum wieder und betraten einen weiteren. Susans Redefluss konnte durch nichts gebremst werden - sei es einer der beiden Hunde oder die Tatsache, dass ich einen Satz beginnen wollte - und so verging der Vormittag ziemlich schnell.

Gegen zwei Uhr am Nachmittag waren wir dann mit der Hausbesichtigung fertig, die Hofbesichtigung folgte nach einer kurzen Pause, in der wir uns die Ham and Eggs vom Frühstück wärmten.

"Was passiert eigentlich mit dem Frühstück, das nicht gegessen wird?"

Der Gedanke, dass es einfach weggeworfen werden könnte, gefiel mir nicht. Doch Susan beruhigte mich.

"Keine Angst, es wird nicht weggeschmissen, falls du das glaubst. Es wird einfach in den Kühlschrank oder auf unseren speziellen Rest-Esstisch gestellt, und im Laufe des Tages kommt sicher immer jemand - so wie wir jetzt - der Hunger bekommt und es isst. Und wenn niemand Hunger bekommt - was nur ganz, ganz selten vorkommt – opfert sich meist Daddy und isst es zu Abend."

Während wir die Ham and Eggs verspeisten, genoss ich die Stille, die sich bot. Seit über fünf Stunden hatte Susan nun auf mich eingeplappert, da waren diese wenigen Minuten genau noch rechtzeitig gekommen. Ich war kein Mensch, der es liebte, wenn er stundenlang von jemandem zugetextet wurde. Ich liebte die Ruhe und Einsamkeit. War gerne alleine. Doch seltsamerweise war es mir nicht so zuwider, dass Susan den Mund nicht halten konnte, wie ich mir anfangs gedacht hatte. Und ich hörte sogar zu bei dem, was sie sagte. Normalerweise gingen die Worte in solchen Situationen beim einen Ohr hinein und beim anderen wieder hinaus. Nicht so, wenn Susan sprach. Vielleicht lag es daran, dass sie mit Händen und Füßen sprach. Außerdem liebte sie die Worte, die aus ihrem Mund kamen. Zumindest wirkte es so, als sei alles, aber auch wirklich alles, was sie sagte, zuvor sorgsam zusammengedacht worden. Kaum zu glauben, bei den Mengen an Text, die sie täglich von sich gab. Aber nun wusste ich, wo alle ihre Zimmer hatten, ich wusste, dass Susan noch vier weitere Geschwister hatte, die Jake, Luca, Joanna und Robbie hießen. Ich wusste, wo der Waschraum war, die Küche, kannte alle Räume des gesamten Hofes. Ich würde zwar noch eine Weile brauchen, bis ich mir auch wirklich sicher war, dass Susans Zimmer wirklich Susan gehörte und nicht das von jemand anders war, aber ich wusste wenigstens, dass ich schon einmal davon gehört hatte. Das war mehr, als man normalerweise von mir behaupten konnte.

"Ok, ich sehe, du bist auch fertig. Gib mir dein Teller, ich wasche kurz ab und dann zeige ich dir den Hof, ok?" Sie nahm meinen Teller und begab sich zur Spüle. "Ich weiß nicht, ob es sich noch ausgeht, vermutlich nicht, dann müssen wir es eben auf morgen verschieben, aber den nächsten Ort musst du auch noch unbedingt sehen! Er ist auch gar nicht weit weg, man geht nur ungefähr eine halbe Stunde, zu Pferd ist man noch einmal schneller und mit dem Moped geht es am schnellsten. Kannst du Moped fahren? Ich kann es. Zwar darf ich noch nicht offiziell, aber auf seinem eigenen Grund darf man, daher mache ich es auch immer. Es ist wirklich lustig!"

Und so ging es weiter, bis sie fertig mit unserem Geschirr war. Dann nahm Susan mich bei der Hand und führte mich hinaus.

"Am besten, wir fangen bei deiner Hütte an, dann findest du dich sicher am schnellsten zu Recht. Das ist bei den meisten Menschen so, wenn man jemanden was erklärt, sollte man immer dort beginnen, wo er sich schon am besten auskennt oder sich am wohlsten fühlt. Ich nehme jetzt einmal an, das wird bei dir bei deiner Hütte am ehesten zutreffen, also werden wir dort beginnen, ok? Aber eigentlich ist es egal, wo wir anfangen, du bekommst ohnehin alles zu sehen, da musst du bei mir als Guide keine Angst haben!"

Sie kicherte und gemeinsam gingen wir zu meiner kleinen Unterkunft. Dabei erklärte sie mir, dass die Wiese rund um meine Behausung auch als Weide genützt wurde. Jedoch nicht alles auf einmal, sondern im drei-Monats-Takt – daher war diese auch so grün und die daneben bräunlich. Jedes viertel Jahr wurde umgesteckt, sodass die Pferde und Rinder eine andere Fläche abfressen konnten. Die Namen er Pferde, welche sich gerade auf dieser Weide befanden, erklärte mir Susan ebenfalls und es erstaunte mich, dass ich mich sogar bemühte, sie mir einzuprägen.

"Ok, jetzt habe ich dir mal eigentlich alles rund um dein Heim erklärt. Ich würde vorschlagen, wir gehen jetzt diesen Weg weiter, da kommen wir zu einem kleinen Bach, den musst du unbedingt sehen, ok?"

Sie wollte schon losgehen, doch ich unterbrach sie.

"Susan, warte mal kurz. Du machst das alles sehr toll und ich fühle mich wirklich geehrt, so einen tollen Guide zu haben, aber meinst du nicht auch, dass es bei solchen Dingen nicht besser wäre, wenn du mir nur sagst, wo der Weg hinführt, anstatt dass wir alles gemeinsam besichtigen? Das dauert doch Stunden und meine Beine sind das nicht gewöhnt, weißt du..."

Mitleidig sah sie mich an.

"Oh, tut mir leid, daran habe ich gar nicht gedacht. Ich meine, du kennst so etwas ja nicht und bist auch nicht eingestellt auf längere Fußmärsche... Ich hätte daran denken sollen, du hast Recht, ich zeige dir nur das, was du wirklich wissen musst."

Sie schien ein schlechtes Gewissen zu haben.

"Schon gut, Susan, das war doch nicht böse gemeint. Den Rest kannst du mir ja morgen zeigen oder so, ja?"

Versöhnlich sah ich sie an und ihr schien es überhaupt nichts zu machen, dass ich sie kritisiert hatte. Allerdings bestand sie trotzdem darauf, mir alles zu zeigen, was sich unmittelbar um den Hof befand.

So wusste ich am Ende des Tages, wo die Ställe waren, dass die Arbeit dort anscheinend lustig war; sie erzählte mir, dass sie auch Schafe hatten, die jedoch am Anfang des Frühjahres in die Berge getrieben worden waren, wo nun zwei junge Männer auf sie aufpassten. Ende August würden alle, die reiten konnten und mithelfen wollten, hinauf kommen und die Tiere herunter treiben. Sie würden dann geschoren werden und über den Winter in den Stall kommen.

Susan zeigte mir die Weidefläche des Jungrinds, die sie hatten, erklärte mir, dass die Kälber in den nächsten Wochen gebrannt werden würde und ich da gerne mithelfen könnte, was ich dankend ablehnte.

Insgesamt war ich nach dieser Führung sicher um einiges an Wissen reicher, aber auch so müde, dass ich mich für das Abendessen entschuldigte und stattdessen bereits gegen acht Uhr abends hundemüde in mein Bett fiel. Den Wecker stellte ich mir dieses Mal auf halb sieben Uhr, da dies die Zeit war, zu der eigentlich die meisten am Hof aufstanden, wie Susan mir erklärt hatte.

Das letzte Geräusch, das ich vernahm, ehe ich einschlief, waren Hufschläge und eine tiefe Stimme, die das Tier zu loben schien.

 

Die nächste Woche verging wie im Flug - Susan zeigte mir am zweiten Tag meines Aufenthalts wie versprochen die Stadt und wir gingen zu dem kleinen Bach, der ihr so gefiel. Ich persönlich fand diesen nicht unbedingt so toll, jedoch hatte es mir der Ort angetan. Es war eigentlich nur eine Straße, an der aber alles war. Ein Metzger, ein Lebensmittelgeschäft, eine Drogerie, ein Friseur, eine Bank, eine Bibliothek, ein Geschäft für Papierwaren, ein Schuhgeschäft, eine Bäckerei, ein Pub, ein Kleidergeschäft, und sogar eine kleine Kirche. Und alles wirkte so idyllisch, als ob alles haarscharf aufeinander abgestimmt war. Niemand wollte den anderen übertrumpfen, indem er seine Auslage protziger gestaltete als die des Geschäfts neben sich. Kurz gesagt - ich kam mir vor wie im Märchen.

 

Erst am dritten Tag war am Morgen die ganze Familie am Frühstückstisch versammelt. Ich kannte nun zwar schon alle Leute vom Sehen, allerdings hatte ich mit den meisten von ihnen nur wenige Worte gewechselt.

„Guten Morgen, Aileen!“, begrüßte mich Susan, sobald ich einen Fuß in das Zimmer gesetzt hatte. Obwohl ich pünktlich war, waren alle anderen bereits anwesend und schienen nur mehr auf mich zu warten.

„Guten Morgen. Tut mir leid, dass ihr warten musstet.“ Schnell setzte ich mich auf den letzten freien Stuhl und wartete darauf, dass Heath wie am Vortag ein Gebet beginnen würde. Ich musste nicht lange warten. Alle senkten ihre Häupter, während der Familienvater Gott für das Essen dankte und dafür, dass ich jetzt bei ihnen war und er bat für einen schönen und lehrreichen Sommer.

„Amen.“

Sofort war die ernste Stimmung wie weggewaschen und alle erhoben sich, um ihre Teller zu befüllen.

Ich steuerte dieses Mal die Ham and Eggs an, außerdem schaufelte ich mir ein paar Streifen gebratenen Speck darauf und goss mir ein Glas Orangensaft ein. Damit schien ich eine sehr beliebte Kombination erwischt zu haben – Heath, Jake, Luca und sogar Susan nahmen sich dasselbe. Einzig Joanna entschied sich für Haferschleim und Robbie griff nach einem Muffin.

Nachdem die ersten Bissen hinuntergeschluckt waren, brach Heath das anfängliche Schweigen. Er wandte sich an Luca. „Wie geht es dir mit Tulip? Macht ihr Fortschritte?“

Der Blonde nahm einen Schluck O-Saft und nickte dann. „Ja schon. Diese Stute ist so sensibel, das hab ich noch nie erlebt!“

„Denkst du, du kannst mit ihr diesen Sommer schon an ein paar Rodeos mit ihr teilnehmen?“

„Auf jeden Fall. Ob wir etwas gewinnen werden, weiß ich nicht, aber ich muss sie auf jeden Fall daran gewöhnen.“

Etwas verunsichert blickte ich zwischen Vater und Sohn hin und her. Luca bildete ein Rodeopferd aus?

Jake schien meinen Blick gesehen zu haben, denn er lachte leise. „Nicht die Art von Rodeo, wie du denkst. Rodeos sind hier bei uns allgemein Veranstaltungen, an denen verschiedene Westernreitturniere stattfinden. Also meistens ein bisschen Barrel Racing, Calf Roping, Team Roping, manchmal auch Bull riding und Bronc riding. Letzteres wäre, was du dir unter ‚Rodeo‘ vorstellst.“

Ich zog die Augenbrauen wissend nach oben und nickte. „Ah, ja. Genau. Danke.“ Ich hatte keines der Wörter, das Jake in Verbindung mit diesem Event benutzte, verstanden. An dieser Stelle sprang Luca ein.

„Wenn du willst, kannst du uns mal zu einem begleiten. Das ist immer richtig lustig!“

Gehemmt schüttelte ich den Kopf. „Danke, das ist wirklich nett, aber nein danke.“

Luca nickte nur resigniert und wandte sich dann wieder seinem Frühstück zu. Super gemacht, Aileen. Soviel zu ‚nimm die Einladungen an‘. Du sollst dich integrieren!  

„Aber Luca hat wirklich recht! Und wenn du noch nie bei einem richtigen Rodeo gewesen bist, kannst du auch nicht sagen, ob dich das interessiert oder nicht“, schaltete sich nun Susan ein. Ich hatte mich schon gewundert, dass sie bisher recht schweigsam gewesen war. „Außerdem gehört das hier quasi zur Tradition, das macht jeder. Da kannst du auch andere Leute treffen, denn hier auf der Ranch sind nur wir, und in der Stadt sind jetzt auch nicht unbedingt besonders viele Menschen in deinem Alter, also so ein Rodeo ist eine super Möglichkeit für dich, denke ich!“

Als ich wieder aufsah, hatten alle außer Joanna ihr Essen kurz unterbrochen und sahen Susan eindringlich an. In Lucas Blick konnte ich eindeutig ein ‚Jetzt überfordere sie nicht, das war nur eine Idee!‘ ausmachen. Doch Susan schien sich nichts dabei zu denken.

„Ich sag dir einfach, wenn das nächste ist, und du kannst es dir ja noch überlegen, ok?“

„Ist gut.“ Was mir an Susan gefiel, war, dass sie nicht Rücksicht nahm auf mich wie eigentlich alle anderen auch. Ich fühlte mich seltsam in Schutz genommen, vor allem von Luca und Heath. Fast als dachten sie, ich könnte mich nicht alleine gegen Susan wehren.

Diese warf ihrer Familie einen triumphierenden Blick zu. Kurze Stille folgte. Dann stand Joanna plötzlich auf und räumte ihr Geschirr weg.

„Ich bin dann weg, bye!“

Und schon waren wir eine Person weniger. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie sich Heaths Brustkorb hob und senkte, als er geräuschvoll seufzte. Die anderen äußerten sich nicht dazu, doch es lag nun etwas Bedrücktes in der Luft.

Nach einigen Sekunden begann Susan wieder, bedeutungslose Dinge anzusprechen, und Robbie stieg begeistert in das Gespräch ein. Der Kleine wirkte auf den ersten Eindruck wie ein Engelchen – trotz seiner braunen Haare. Allerdings hatte er die blauen Augen, und seine Haare luden zum Durchwuscheln ein. Außerdem wirkte er für einen Achtjährigen seltsam unverdorben und unschuldig. So, wie es eigentlich sein sollte. Nachdem ich ihm aber einige Zeit zugehört hatte, wurde mir bewusst, dass er vermutlich genauso viel Energie beim Reden hatte wie Susan. Nur war ihre Stimme viel angenehmer; Robbie piepste vor sich hin in einer unangenehmen Tonlage.

Nach wenigen Minuten erhob sich auch Luca vom Tisch und kündigte an, dass er nun wieder mit Tulip trainieren würde. Jake hatte vor, zu seiner Freundin Emily zu fahren und wusste noch nicht, wie lange er bleiben würde. Auf Heath wartete noch Büroarbeit, und da ich Zeit hatte, half ich Susan beim Abräumen und Abwaschen.

 

In den weiteren Tagen geschah nichts Besonderes, und langsam gewöhnte ich mich an einen gewissen Alltag: Mein Wecker ließ mich um halb sieben Uhr erwachen, beim Frühstück war ich dann um sieben. Wenn ich zurückkam, arbeitete bereits Luca mit seinem kleinen, weißen Pferdchen.

Nach dem Frühstück hatte ich dann eine gewisse Auszeit, in der ich entweder las, Musik hörte oder spazieren ging. Anfangs hatte ich zwar kurz erwogen, nach Hause zu telefonieren - mit meiner Mutter oder Mona - aber Heath hatte mir geraten, das nicht zu tun, da es nicht gut für mich sein würde. Ich sollte mich ja hier so schnell wie möglich einleben, und das geschah wohl am besten, wenn ich keinen Kontakt zu nach Hause hatte. Auch hatte ich mich damit abgefunden, dass ich nur selten Internetzugang hatte, und den meist nur dann, wenn ich sowieso gerade keine Lust hatte, sodass ich mir das Computern eigentlich schnell abgewöhnt hatte. Und es fehlte mir kein bisschen.

Nachmittags unternahm ich dann eigentlich immer etwas mit Susan - entweder, wir gingen in die Stadt, oder machten einen Spaziergang oder unternahmen eben das, worauf wir gerade Lust hatten.

Und nur ganz selten kamen die Erinnerungen - meist am Vormittag, wenn ich nichts Großartiges machte. Langsam und voller Unheil schoben sie sich dann in meine Gedanken, und ich schloss mich dann in meinem Zimmer ein, zog mir die Decke über den Kopf und dröhnte mich mit Beethovens fünfter Symphonie zu, bis es wieder besser war. Doch das wurde auch immer weniger.

Schließlich war wieder Samstag geworden, und mir wurde bewusst, dass ich die erste Woche ohne gröbere Schäden in den Staaten verbracht hatte. Bis jetzt war noch keine meiner Befürchtungen eingetreten, und ich war froh darüber.

Impressum

Texte: Sophie Bramberger
Bildmaterialien: Bild: kichigin19 @fotolia.com; Bearbeitung: Sophie Bramberger
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2015

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /