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Prolog


(LUZIFER)

Keine einzige Träne hatte er vergossen. Wozu auch? Ändern konnte er es nicht mehr.
Der Tod ist nicht das Ende, es ist der Beginn von etwas Neuem! Einer stirbt, um an seine Stelle einen anderen zu lassen.

Luzifer wusste, dass er den Platz seines Vaters eingenommen hatte. Dass dieser es missbilligt hätte, wenn er weinen würde. Und er setzte alles daran, diesen vorletzten Wunsch seines Vaters zu erfüllen.
Der Wind streifte seine Schwingen, trug den schweren Körper höher und höher. Die Luft wurde dünn und kühlte ab, doch der Drache spürte es nicht. Zu frostig war es in seinem Inneren. Seine Muskeln begannen, immer stärker zu zittern, sein Atem ging immer keuchender. Langsam, aber unaufhaltsam schwanden seine Kräfte.
Es wunderte ihn nicht, immerhin flog er nun schon über zwei Tage ohne Pause. Doch es war noch nicht zu Ende. Er musste durchhalten, um sein Ziel zu erreichen.
Luzifers Kehle schnürte sich zusammen, als er daran dachte, was sich unter ihm befand. Was passieren würde, wenn seine Kräfte nicht reichten. Doch er schluckte den Kloß hinunter und befahl seinen Flügeln, schneller zu schlagen. Er vertraute auf die ständigen Übungen, auf seine Kräfteeinteilung und auf sein Herz. Es war stark, es würde weiterpumpen. Es würde ihn an sein Ziel bringen.
Luzifers Atem ging rasselnd, der Wind schien gedreht zu haben und blies nun gegen den goldenen Körper des Drachen. Doch dieser ließ sich nicht beirren.
Er würde diesen Ozean überqueren und Terregina erreichen. Dort würde er schließlich den letzten Wunsch seines Vaters erfüllen. Sie werden bereuen, was sie getan haben. Bitter bereuen.

Wut in Form eines gellenden Brüllens durchschnitt gemeinsam mit den schneller werdenden Flügelschlägen die Luft, Feuer schoss nach unten. Luzifers Körper glitt tiefer, und seine Augen erspähten das, wovon er bisher nur geträumt hatte. Eine zarte Landmasse schwamm inmitten des dunklen Ozeans, ihre Ufer waren rau geschnitten und hoben sich nicht viel vom Meeresspiegel ab. Ein weiter Strand führte in die Insel hinein und somit auch irgendwann zu den Rebellen.
Luzifers Flügel schlugen schneller. Vor ihm lag Terregina und somit die Möglichkeit, den letzten Wunsch der Person zu erfüllen, die ihm alles gegeben hatte, was er war.
Er würde seinen Vater rächen. Er würde es schaffen.

Asrael


Asrael schloss die Augen und ließ sich zu Boden sinken. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen, um diesen vor der sengenden Hitze der Wüstensonne zu schützen. Verdammt! Wie lange irre ich denn nun schon hier herum, ohne irgendjemanden zu finden?

Nach einigen Tagen in der Wüste hatte er zu zählen aufgehört. Er schlief den Tag über und marschierte in der Nacht. Mit jeder Minute, die verstrich, schwanden seine Kräfte. Nur ein einziges Ziel hielt ihn am Leben: Er musste die Rebellen finden. Sie finden und von ihm überzeugen, damit er mit ihnen seinen eigentlichen Plan durchführen konnte. Doch dazu musste er zunächst am Leben bleiben.
Obwohl er am liebsten einschlafen würde, erhob er sich bereits nach wenigen Minuten wieder und lief weiter. Sein Atem ging keuchend und jeder Schritt war eine Überwindung. Aber er musste unbedingt einen geschützten Platz für den Tag finden, sonst war er verloren.
Alles in ihm lechzte nach Wasser, für einen kleinen Schluck würde er seine linke Hand geben. Zumindest theoretisch. Stöhnend setzte er einen Fuß vor den anderen. Sein Tempo hatte in den letzten Tagen stark nachgelassen. Und dann – endlich – glaubte er, in der Ferne etwas zu erahnen. Etwas Großes. Vielleicht einen Felsen oder einen Baum. Oder – aber soweit wagte er beinahe nicht zu hoffen – das Ende dieser tristen Landschaft.
Angetrieben durch den Glauben, endlich fündig geworden zu sein, bewegten sich seine Gliedmaßen schneller und schneller, und er schlurfte auf sein Ziel zu.
Asraels Augen wurden immer größer, während er sich mit seinen Lederhandschuhen den Schweiß aus dem Gesicht wischte. Es war tatsächlich ein Baum! Ein großer, grüner Baum!

Zumindest in den Augen des Wanderers, dessen Umgebung in den letzten Wochen hauptsächlich sandgelb und grau gewesen war, hatten die Blätter eine gesättigte Farbe.
Als die Schnürschuhe des Mannes auf die ersten Gräser traten, fiel er auf die Knie. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, welches über und über mit Sand und Schweiß verklebt war, und er legte seinen Kopf auf den Boden. Tief sog er die Luft in seine Lungen, Luft, die so anders war als die Tage zuvor. Er roch das Leben, die Fruchtbarkeit, und Wasser. Doch diese Gerüche schienen noch ein wenig entfernt zu sein.
Schnell hatte er sich wieder aufgerappelt und sah sich um. Das wenige Grün, das hier vorhanden war, musste doch von irgendwo Wasser bekommen! Langsam begann er, langsam weiterzugehen, den Blick stets zu Boden gerichtet.
Nach einigen Minuten des Suchens hatte er Erfolg – sein Fuß trat auf Erde. Reine Erde, die nicht mehr mit Sand vermischt war. Schnell senkte Asrael seinen Körper zu Boden und schälte sich aus seinen Lederhandschuhen, um seine bloßen Finger in die Erde tauchen zu können. Dann begann er, mit bloßen Händen zu graben. Das Braun klebte an seinen Fingern, schob sich unter seine Nägel, doch alles, was Asrael bemerkte, war die Feuchtigkeit. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, doch mit der Zeit verschwand es wieder. Obwohl er immer tiefer grub, erreichte er kein Wasser.
Asrael schluckte schwer, lehnte sich gegen den Baumstamm und schloss die Augen. In seinem Inneren fühlte er sich so leer wie schon lange nicht mehr. Er hasste diese zu Bruch gegangene Hoffnung. Es muss doch irgendetwas geben, mit dem ich dieses Wasser aus der Erde holen kann!

Seine Hände ballten sich zu Fäusten, während er die Augen zusammenkniff und nachdachte. Dann erinnerte er sich.
Suchend blickte er sich um, streckte sich und riss die nächstbesten Blätter von dem Baum über ihm. Dann wandte er sich seinem Loch zu. Es hatte eine ansehnliche Größe und einige Blätter würden hineinpassen. Asrael griff nach einem seiner Lederhandschuhe, und legte ihn in die Mitte des Loches. Danach verteilte er rund herum die Blätter und streifte sich sein Oberteil über den Kopf. Es war ebenfalls aus Leder, gut gearbeitet, und würde das Wasser nicht durchlassen.
Mit einigen flinken Handgriffen hatte er das Kleidungsstück über das Loch gelegt, sodass unter seiner tiefsten Stelle der Lederhandschuh liegen müsste. Die Enden beschwerte er mit ein wenig Erde, dann betrachtete er zufrieden sein Werk. Zwar war er schon durch diese wenige Anstrengung außer Atem geraten, doch das Ergebnis würde die Mühe wert sein. Am Abend würde ihn hier Wasser erwarten.
Und nun musste er nur noch einen sonnenlosen Platz in der Nähe für den Tag finden, da es unter dem Baum gewiss zu heiß werden und dessen Schatten wandern würde.

Asrael wachte rechtzeitig auf, um den Untergang der Sonne sehen zu können. Doch er ließ sich nur kurz von diesem Schauspiel in den Bann ziehen, in dem die gesamte Wüste zu strahlen schien, dann trat er mit großen Augen und einem Kribbeln im Bauch auf sein Wasserloch zu. Vorsichtig schaufelte er die Ränder seines Oberteils frei, dann nahm er es ab. Und tatsächlich – Wasser. Es war nicht viel, aber auf seinem Handschuh befand sich eine kleine Pfütze und die darum liegenden Blätter waren ebenfalls feucht. Asraels Herz begann schneller zu schlagen. Langsam beugte er sich hinunter, um keinen Sand in das Loch zu werfen, dann senkten sich seine Lippen auf das Leder und er nahm das lauwarme Wasser in sich auf.
Als er mit dem Handschuh fertig war, schleckte er die Flüssigkeit von den Blättern. Es waren nur wenige Schlucke, doch sein Magen gluckste, als sie unten ankamen. Der Durst war noch lange nicht gestillt, aber Asrael wusste, er würde den nächsten Tag überleben. Und irgendwann muss diese Wüste ja auch ein Ende haben!


Nur ungerne verließ er seine Schlafstätte, doch dann passte er sein Tempo seinem Kräftestand an und schlurfte mit gebeugten Schultern durch den Sand. In den ersten Tagen hatten die Körner geschmerzt, wenn sie an den offenen Blasen an den Fußsohlen gewetzt hatten, doch Asrael hatte sich daran gewöhnt. Nun eiterte zwar die eine oder andere Stelle und manchmal trat Blut aus, doch der Mann war sich sicher, dass dies aufhören würde, sobald er eine bessere Gegend erreicht hatte. Eine, wo es Wasser und etwas zu essen gab. Wie zur Bestätigung knurrte sein Magen, und Asrael hielt erstaunt inne und blickte an sich hinunter. Das war das erste Lebenszeichen seit Tagen! Das Wasser schien ihm gut getan zu haben.

Nach einigen Stunden veränderte sich plötzlich die Gegend. Die Ebene nahm Formen an, und sanfte Hügel zierten die Landschaft. Der Wind strich sanft darüber und blies ein paar Sandkörner gegen Asraels Körper. Dieser blickte nun noch aufmerksamer umher, als zuvor. Wäre es vielleicht möglich, dass dies hier… das Ende wäre? Dass diese Wüste aufhörte? Asrael wagte kaum es kaum zu hoffen, doch plötzlich nahm er auch am Horizont eine Veränderung wahr. Dieser war in den Tagen zuvor eine einfache Linie gewesen, doch nun hoben sich Umrisse davon ab.
Asraels Beine bewegten sich schneller, sein Herz pumpte das Adrenalin durch seine Adern und dann begann der Boden, sich zu verändern. Er wurde fester, und der Sand weniger. Wie zuvor unter dem Baum.


Als Asrael einen der Umrisse vor ihm als Gewächs ausmachen konnte, und daneben weitere erblickte, lachte er. Stockende, schrille Laute verließen seine Kehle, er drehte sich im Kreis und umarmte den nächsten Baum. Für einen Außenstehenden musste er aussehen wie ein Verrückter, doch der Wanderer war einfach nur froh, endlich wieder hoffen zu können. Hoffen auf Wasser, auf etwas zu Essen, und auf eine unbeschwerlichere Reise zu den Rebellen.

Rayel


Erst nachdem die Dreiergruppe einige Stunden geflogen war, fiel Rayel auf, dass Redbreast den kürzesten Weg anstrebte. Und somit jedoch auch den gefährlichsten. Sie schloss die Augen, um eine gedankliche Verbindung zu ihm aufzubauen. Nun, da ihre Körper so nahe waren, war es viel leichter als zuvor am See.
Red, weißt du, was du tust?
Soweit ich mitbekommen habe, muss es schnell gehen. Durch die Berge führt der kürzeste Weg. Natürlich weiß ich, was ich mache!


Seufzend tätschelte Rayel die schuppige Panzerung des Drachens, allerdings war sie sich ziemlich sicher, dass er dies nicht spüren würde. Sie drehte sich zu Pjuro um. „Falls du es noch nicht bemerkt hast, wir fliegen durch das Gebirge.“
Ihr Begleiter nickte ohne eine Miene zu verziehen. „Habe ich schon festgestellt. Aber mach dir keine Sorge, du hast zwei starke Männer um dich, die dir immer zur Seite stehen und dich beschützen werden!“ Ein süffisantes Lächeln umspielte nun seine Züge, doch Rayel schnaubte nur abfällig.
„Mir kommt es mehr so vor, als müsste ich auf euch Acht geben!“ Mit diesen Worten verdrehte sie ihre Augen und wandte ihren Oberkörper wieder in Reiserichtung.
Links und rechts von ihnen befanden sich bereits die Ausläufer der Berge, doch das Tal, durch das sie flogen, zog sich immer schmäler zusammen. Und aus Erfahrung wusste Rayel, dass es an den engsten Stellen nur wenige Meter waren. Wenige Meter Platz zum Hindurchfliegen, während an den Seiten die Felswände schroff waren und nur eine leichte Berührung schon die Haut aufriss. Redbreast musste vorsichtig sein.
Willst du noch einmal landen, bevor wir hineinfliegen?

Die Rebellin hoffte, der Drache würde ihr eine positive Antwort geben. Sie wollte nicht mitten im Gebirge bangen müssen, dass seine Energie bis zum Ende reichen würde.
Aber nur ganz kurz.


Der gehörnte Schädel des Tieres sackte nach unten und Rayel drückte sich auf seinen Rücken. Der Wind pfiff in ihr Haar, welches nun schon lange wieder getrocknet war und ließ es flattern. Kurz vor dem Aufsetzen breitete Redbreast seine Flügel ganz aus, damit sich der Wind darin fing und ihren Sturz bremste. Rayel wurde dabei heftig gegen den Körper unter ihr gedrückt, und mit einem Stoß wurde ihr gesamtes Lungenvolumen an Luft aus ihr herausgepresst.
Die Landung erfolgte im Gegensatz zu der am See recht sanft. Zwar wurden die beiden Rebellen ein wenig durchgeschüttelt, aber Redbreast rutschte nicht am Boden dahin, sondern kam sofort zum Stillstand. Dann berührte er mit seinem Bauch den Boden, um Rayel und Pjuro besser absteigen zu lassen.
Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, atmete Rayel tief durch und streckte sich. Dann sah sie sich um. „Ich habe von oben den Verlauf eines kleinen Flusses gesehen, er müsste ungefähr in dieser Richtung sein.“ Sie deutete Richtung Südwesten. „Dann müssen wir unsere Wasserreserven nicht sofort aufbrauchen!“
Du hast Recht. Ich hätte dort landen sollen, dann müsstet ihr jetzt nicht laufen. Oder wollt ihr, dass ich euch hinfliege?


Ein warmes Gefühl ließ Rayel lächeln und sie boxte dem Drachen leicht gegen die Schulter. „Die paar hundert Meter schaffen wir wohl auch alleine. Aber wenn du vorfliegen möchtest, kannst du das gerne machen.“ Sie nickte ihm noch einmal aufmunternd zu, dann drehte sie sich zu Pjuro um. „Was hältst du von einem kleinen Wettlauf bis zum Wasser?“
Sofort begannen seine Augen zu glitzern und Rayel sah, wie er leicht in die Knie ging und seine Muskeln anspannte. „Gegen dich immer!“
Rayels Augen verengten sich zu Schlitzen. „Das werden wir sehen. Bist du bereit?“
Pjuro stellte sich einige Meter neben sie und nickte steif.
„Gut. Dann … los!“ Sie drückte sich mit einem Bein von dem Boden ab und flog förmlich nach vorne, doch dass sie sich damit den Gewinn keinesfalls sicherte, war ihr klar. Pjuro war zwar kleiner als sie, doch er hatte mehr Muskeln und er war ein Mann. Damit bescherte ihm leider Mutter Natur einen Vorteil.
Doch Rayel war ebenfalls nicht untrainiert und mit ihren langen Beinen hatte sie eine reelle Chance auf einen Sieg.
Nach der Hälfte begann Rayels Atem, keuchender zu werden, doch ein Seitenblick bestätigte, dass es Pjuro auch so gehen müsste. Schnell blickte sie wieder nach vorne und fixierte ihr Ziel. Das Blau schien ihr zuzuleuchten, als wollte es ihr zurufen, dass sie gewinnen musste.
Nach einem weiteren Viertel fühlte Rayel, wie ihr eine Schweißperle den Rücken hinunter lief. Das Gras streifte ihre Waden, die Sonne brannte auf ihren Kopf und ließ alles etwas verschwimmen. Ihre Atemzüge wurden immer kürzer und immer mehr, und die Muskeln in ihren Beinen begannen zu zittern. Wie lange war es aus, dass sie so etwas geübt hatte? Bestimmt über einen Monat.
Entgegen aller Vornahmen spürte sie schließlich, wie ihre Kräfte nachließen. Ihre Schritte wurden fast unmerklich, aber dennoch stetig langsamer. Sie wurde langsamer. Und plötzlich hatte Pjuro sie überholt.
Er schien seine Kräfte für den Schlusssprint aufgehoben zu haben, für die letzten hundert Meter. Was der kann, kann ich auch!

Rayel kniff ihre Augen zusammen und presste die Zähne aneinander. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt und Adrenalin jagte durch ihre Adern. Ihre Schritte verlängerten sich automatisch und wurden auch wieder schneller. Pjuro kam näher.
Fünfzig Meter noch zum Fluss, fünf zu Pjuro. Doch auch dieser schien seine Kraftreserven noch einmal anzuzapfen, denn der Abstand verkleinerte sich nicht mehr. Ich kann es schaffen, ich kann das!

Rayel holte tief Luft und presste jeden Schritt einzeln gegen den Boden, ließ sich nach vorne schießen. Schließlich war sie endlich mit Pjuro auf einer Höhe. Und in zehn Metern würde es einen Gewinner geben. Zehn Meter… Du schaffst das! Du bist stark!


Doch ihre Kräfte ließen sich nicht noch mehr verstärken. Pjuros hingegen schon. Einen Meter vor ihr erreichte er das Ziel und nachdem er weitere zwanzig Meter ausgelaufen war, wendete er und kam keuchend auf sie zu. In seinem Gesicht klebte ein breites Lächeln. Er hob die Hand, und nur widerwillig schlug Rayel ein. Sie versuchte ebenfalls, ihre Mundwinkel nach oben zu bewegen, doch es funktionierte nicht. Immerhin hatte sie verloren. Sie war zu langsam gewesen. Ich. Habe. Verloren.


„Ach komm, jetzt sei doch nicht beleidigt. Es war doch nur ein Rennen!“ Er musste ihre geballten Fäuste bemerkt haben, die sich immer noch nicht entspannt hatten. Rayel wollte ihm schon glauben und sich lockern, als er noch weitersprach. „Es muss ja keiner wissen, dass ich der Schnellere von uns beiden bin. Du kannst nichts dafür, dass meine Ausdauer stärker ist oder ich mehr Kraft habe.“
Seine Worte entfachten eine Hitze in ihr. Feuer schien sie von innen zu verschlingen, und sie sprang auf ihn zu. Mit einem Ächzen seinerseits knallten beide auf den Boden. Rayel setzte sich beidbeinig auf ihn und drückte seine Arme zur Seite. Dann brachte sie ihr wutverzerrtes Gesicht in die Nähe des seinen, in dem die Augen und der Mund weit aufgerissen waren.
„Merk dir eines, Mann

. Vielleicht magst du schneller sein, vielleicht bist du stärker. Aber in den anderen Sachen, für die man den Kopf braucht, bin ich dir weit überlegen.“ Sie lehnte sich zurück, ihr stahlfester Griff wurde jedoch nicht schwächer. „Und wenn du überrascht wirst, solltest du dich wehren können.“
Innerhalb von Sekunden hatte sie ihn losgelassen und stand neben ihm, die Hände in der Taille gestützt. „Komm, wir trinken etwas und vergessen die Sache, einverstanden?“
Pjuro nickte langsam und starrte sie immer noch mit erschrockenem Blick an. Rayel streckte ihm die Hand entgegen und zog ihn in die Höhe, als er sie ergriff.

Nachdem sie sich erfrischt hatten und auch Redbreast gekommen war, stiegen sie wieder auf dessen Rücken und traten die Weiterreise an.

Rayel stieß einen schrillen Schrei aus, als Red plötzlich mitten im Canyon die Flügel anzog und sich fünfzig Meter nach unten fallen ließ. Sie waren schon tief zwischen den Bergen, unter ihnen schlängelte sich der Fluss hindurch und das Gebirge schien nach oben immer mehr zusammenzuwachsen. Hättest du uns nicht vorwarnen können?

, schimpfte sie in Gedanken mit dem Drachen, nachdem sie tief ausgeatmet hatte. Dieser behielt die Antwort jedoch für sich und kurvte weiter zwischen den steinigen Wänden nach vorne. Rayel drückte sich an seinen Körper, als die Felsen immer näher kamen. Sie konnte sich nicht erinnern, dass es früher auch schon so bald so eng geworden war. Mist, vielleicht hätten wir doch den anderen Weg nehmen sollen?


Ein flaues Gefühl machte sich in Rayel breit, als Redbreast abrupt in der Luft stoppte, sich erneut einige Meter fallen ließ und vorsichtig weiterflog. Die Rebellin wusste, wie schwierig es für den Drachen sein musste, diesen Flug unbeschadet zu manövrieren. Er durfte nicht landen, musste den Platz zwischen Flügel und Felsen genau abmessen und außerdem sollten Rayel und Pjuro auch am Schluss noch auf seinem Rücken sein. Nicht die einfachste Aufgabe.
Red, wie geht es dir?

Rayel strich über seine gepanzerte Schulter, was ihr Begleiter wohl nicht spüren konnte.
Momentan noch gut. Aber in der Ferne wird der Spalt immer enger. Wenn sich das Gebirge wieder verschoben hat oder wir nicht durchkommen, ist es aus.


Rayel schluckte und blickte ebenfalls angestrengt nach vorne. Tatsächlich. Zwar wanden sich einige Kurven durch den Gebirgsspalt, doch die Zwischenräume wurden immer gefährlicher. Mist. Instinktiv suchte sie am Boden nach einem Platz zum Landen, doch sie wusste, dass es sinnlos wäre. Selbst wenn sie die Landung unversehrt überstehen würden – was nicht sehr wahrscheinlich war – würden sofort wilde Tiere herbeikommen und ihnen den Garaus machen. Und gegen diese war sogar Red machtlos, es waren einfach zu viele.
Nur schemenhaft drängten sich Bilder in Rayels Gedanken, doch sie verdrängte sie gekonnt. Es war zu lange aus, sie hatte nicht helfen können. Es war vorbei.
Dennoch hatte die Angst in ihrer Brust einen Stachel hineingeschlagen, und ein von ihm ausgehender Riss breitete sich immer weiter aus.
Plötzlich fühlte Rayel eine Hand auf ihrer Schulter und sie zog die Luft ruckartig ein.
„Pjuro, erschreck mich doch nicht so!“ Ihre Stimme wurde von dem Fahrtwind verschluckt, denn ihr Begleiter antwortete nichts darauf. Stattdessen beugte er sich zu ihr nach vorne und schloss die Arme so gut es ging um sie.
„Hab keine Angst, er wird es schaffen!“
Kurz schloss Rayel die Augen und ließ seine Worte in sich wirken, dann löste sie sich. Sie wendete den Kopf nach hinten und funkelte den Mann an. „Denkst du, das weiß ich nicht selbst? Wenn du jemanden zum Umarmen brauchst, klammer dich an ein Horn von Red!“
Als Pjuro sie jedoch nur verschmitzt angrinste, wandte sie sich beleidigt wieder ab. Ihre Stirn lag in Falten. Wie sie es hasste, sich schwach fühlen zu müssen! Dass Pjuro es auch noch bemerkt hatte, veranlasste ihre Lippen dazu, sich zusammenzuziehen und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Ich bin nicht schwach. Ich habe keine Angst.


Dennoch umfasste sie selbst den Rückenstachel des Drachen fester. Dann versuchte sie, sich zu entspannen und ließ sich von Red durch den Canyon fliegen.

Nachdem sie weitere Stunden hinter sich gebracht hatten, fühlte Rayel, dass sich der Körper unter ihr immer mehr anstrengen musste. Redbreasts Atem ging heftiger, seine Flügelschläge waren nicht mehr so kontrolliert und gleichmäßig.
Und dann passierte, wovor Rayel zuvor Angst gehabt hatte: Reds Schwinge streifte den Felsen. Der Drache brüllte auf, während der Körper sich drehte. Rayel und Pjuro stimmten erschrocken in das Geschrei mit ein, während die drei immer tiefer fielen. Red, pass auf!

Rayel begann ebenfalls zu keuchen, der Boden kam immer näher und Redbreast wirkte nicht so, als würde er etwas dagegen unternehmen. Red!

Die Rebellin versuchte, ihm wie bei einem Pferd die Fersen in den Bauch zu schlagen, doch gegen seine Panzerung kam sie nicht an. Verzweifelt wandte sie sich an ihren zweiten Begleiter.
„Pjuro!! Wir werden sterben! Mach doch etwas!“
Die Antwort kam nur bröckchenweise bei ihr an, der Wind vertrug einige Wörter. „Redbreast … Flügel eingerissen. … Bewusstsein?“
Hektisch warf Rayel einen Blick zu Reds Flügel. Und tatsächlich: Am Ende flatterte ein Teil der ledrigen Haut lose im Wind, während das austretende Blut vom Wind verweht wurde. Mist, meint Pjuro, ob Red bei Bewusstsein ist?

Verzweifelt suchte Rayel nach dem Bewusstsein des Tieres, doch sie konnte es nicht ausmachen. Das muss nicht heißen, dass er weg ist. Es ist der Stress, er muss noch da sein!

Rayel schloss die Augen, atmete tief durch und sammelte all ihre Kräfte. Dann brüllte sie Redbreast an. RED!! FLIEG!!


Verzweifelt japste sie nach Luft, ihr Körper rutschte auf dem Drachen und ihr Kopf stand in Sternen.
„Pjuro…“, versuchte sie, doch es war zu leise. Vor ihren Augen wurde alles schwarz, während sie langsam das Gleichgewicht verlor. Sie spürte noch, wie ein Ruck durch den Körper unter ihr ging, dann rutschte sie von ihm herunter und stürzte in die Tiefe.

Kaltes Wasser war rund um sie und lähmte ihren Körper. Rayel spürte, wie sich ihr Knie verdrehte, als sie an einen großen Stein gestoßen wurde. Sie öffnete den Mund und wollte einatmen, doch in ihre Lunge drang bloß Wasser.
Wo musste sie hinschwimmen? War das die Oberfläche? Wo war das Ende? Rayel versuchte ein Tempo zu machen, doch dann wurde sie von etwas gepackt und weggezogen. Ein blubbernder Schrei entwich ihr und somit die letzte Luft. Als sie losgelassen wurde, versuchte sie, an die Oberfläche zu gelangen. Doch dann wurde alles schwarz.

Pjuro


Luft füllte Pjuros Lungen. Red! Sie ist ins Wasser getaucht!

Er wusste nicht, ob der Drache ihn hörte, doch er musste ihm doch mitteilen, dass sie Rayel verloren hatten.
Kurz bevor sie ins Wasser gestürzt wären, hatte Redbreast sein Bewusstsein wieder erlangt und war nach oben geflogen. Dabei war Rayel hinuntergerutscht. Red! Wir müssen etwas machen!

Pjuro hämmerte mit seinen Fäusten auf den Drachen ein, doch dieser reagierte nicht. RED!

Pjuros Brust fühlte sich an wie eingeklemmt, als sie die letzten hundert Meter aus dem Canyon herausflogen. Draußen torkelte Red durch die Luft und landete unsanft auf dem Boden. Sofort sprang Pjuro von seinem Rücken. „Wir haben Rayel verloren! Sie ist ins Wasser gefallen!“
Rauch drang aus Redbreasts Nüstern, seine Flügel lagen neben ihm auf dem Boden und er keuchte schwer. Die Lider bedeckten seine Augen und sein Atem ging rasselnd. „Red!“ Verzweifelt ließ sich Pjuro neben dem Drachen nieder und strich ihm über seinen Kopf. Als er nicht reagierte, ging der Rebelle weiter zu dem verletzten Flügel. Er konnte jetzt nicht alleine in den Canyon zurückkehren, das war zu gefährlich. Entweder, Rayel hatte sich so stark verletzt, dass sie schon tot war oder es in den nächsten Stunden sein würde – dann könnte er ihr auch nicht mehr helfen. Oder aber sie hatte sich nur leicht verletzt, dann konnte sie sich selbst helfen.
Pjuro fuhr sich mit den Händen durch seine blonden Haare. Warum hatte das passieren müssen? Warum Rayel?


Er schloss die Augen und versuchte, sich auf Redbreasts Flügel zu konzentrieren. Ihm konnte schließlich geholfen werden.
Zögernd griff Pjuro danach und entfaltete ihn soweit es möglich war. Ein Zittern lief über Redbreasts Körper. Pjuro schnappte nach Luft. Die Schwinge war einen guten halben Meter eingerissen, dunkelrotes Blut drang aus der Wunde. Ich muss die Blutung stillen.

Zwar waren die Flügel nicht sehr gut durchblutet, doch da Red ohnehin schon geschwächt vom langen Flug war, bedeutete jeder Tropfen Energie. Energie, die er nicht verlieren durfte.
Schnell holte Pjuro den Vorratssack, fädelte die Kordel heraus, die ihn zusammenhielt und band damit den Stoff auf die Wunde. Red würde vorerst nicht mehr fliegen können, da er den Flügel zusammenklappen hatte müssen, doch so würde es schneller heilen.
Im nächsten Augenblick war Pjuro wieder bei Redbreast und hielt ihm den Wasservorrat hin.
„Trink, los, trink!“ Er leerte etwas Wasser aus dem Behälter über die Schnauze des Tieres, welches daraufhin tatsächlich das Maul einen kleinen Spalt öffnete. So konnte Pjuro die Öffnung hineinschieben und ließ Wasser hinein laufen.
Als der Drache das Wasser ausgetrunken hatte, setzte sich Pjuro neben den großen Körper und lehnte sich an ihn. Seine Ellbogen stützten sich auf den Knien ab, während er den Kopf in den Händen hielt. Was sollte er nur machen? Wäre es besser, hier zu bleiben, oder nach Rayel zu suchen? Was wäre sinnvoller? Hierzubleiben. Den Auftrag so schnell wie möglich auszuführen.

Aber Rayel! Er konnte sie nicht zurücklassen.
Seine Faust schlug so hart auf den Boden, dass es schmerzte. „Mist!“ Sein Blick wanderte hinauf in den Himmel, der immer dunkler wurde. Sie waren bereits einen ganzen Tag unterwegs. Was mache ich? Ich muss etwas machen…

Pjuros Blick huschte umher, versuchte, etwas zu finden, was ihm weiterhelfen könnte. Doch er sah nur das Gebirge, hohes Gras, einige Bäume und den Fluss. Keine Menschen, keine Tiere. Weiterfliegen können wir momentan nicht. Zurückkehren auch nicht. Wir sind hier gefangen. Ich kann Red nicht alleine lassen, aber ich kann auch Rayel nicht sich selbst überlassen!


Schwerfällig erhob Pjuro sich und ging auf Redbreasts Schädel zu. Über diesen strich er kurz, damit der Drache die Augen öffnete.
„Red, was soll ich machen? Soll ich hier bleiben und mich ausruhen, damit wir morgen weiterkommen? Oder soll ich nach Rayel suchen?“
Rauch drang aus den Nüstern des Tieres, als es leise schnaubte. Rayel kommt schon alleine klar. Sie ist stark, sie schafft das. Ruhe dich aus, dann können wir morgen Ivy finden und zurückbringen.


Pjuro schloss die Augen und atmete tief durch. Er hatte diese Antwort erwartet, trotzdem wollte er sie nicht hören. „In Ordnung. Aber meinst du, du schaffst es, wieder zurück zu fliegen?“
Der Drache schloss die Augen. Nein. Vielleicht über den anderen Weg. Auf jeden Fall werde ich lange brauchen. Aber wenn Ivy ihre Prüfung erfüllt, habt ihr einen Drachen, der euch zurückfliegt.


„Und was ist mit dir?“ Pjuro strich dem Tier über den Hals. Er wollte ihn nicht einfach so hier lassen, mit seiner Verletzung.
Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich komme schon klar. Die Drachen sind zwar entfernt, aber wenn Ivy es schafft, kann dieser den anderen Bescheid geben und es wird sich jemand um mich kümmern.


Pjuro schluckte. Dann würde die Königin möglicherweise von ihnen erfahren. „Aber dann musst du vorsichtig sein mit dem, was du sagst. Catalina darf nichts von uns erfahren!“
Mach dir keine Sorgen. Wir schaffen das. Und jetzt leg dich nieder, damit du morgen ausgeruht bist.


Seufzend bewegte sich Pjuro unter Redbreasts unverletzten Flügel, breitete ihn über sich und rollte sich ein. Allerdings war er noch lange so in Gedanken versunken, dass er erst einschlief, als der Himmel tiefschwarz gefärbt war.

Impressum

Texte: Sophie B.
Bildmaterialien: Drachenbild: yoggurt @deviantart.com; Bearbeitung: klexxx
Tag der Veröffentlichung: 22.06.2012

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