Die Tür öffnet und schließt sich. Stille. Dann ein langgezogenes Stöhnen.
„Is‘ wer“, hicks
, „daheiimm??“
Schritte, die näher kommen. Zuerst schleifen sie über den Boden, dann über die Treppe nach oben. Immer höher, immer näher. Manchmal ist ein Hicksen zu hören. Er ist wieder betrunken.
Schließlich verharren die Schritte vor einer Tür. Der Tür zu meinem Zimmer. Es ist niemand zu Hause, Mum ist bei einer Freundin und mein kleiner Bruder übernachtet bei Kumpeln. Im Moment gibt es nur ihn
und mich.
Langsam bewegt sich die Klinke nach unten. Ängstlich kauere ich mich unter meiner Bettdecke zusammen. Meine Augen sind weit aufgerissen. Es ist die Unklarheit darüber, was diesmal passieren wird, die im ganzen Zimmer lastet. Es ist, als sei die Temperatur im Raum um mindestens 10 Grad gesunken, seit er
das Haus betreten hat. Seit ich nicht mehr sicher bin.
Als die Tür einen kleinen Spalt geöffnet wird, ist es mir, als komme ein kalter Luftzug mit herein, der mich frösteln lässt. Es ist, als würde sein Geist ihm vorauseilen, als sei dieser bereits im Zimmer, gehe langsam auf mich zu, hinter mich. In meinem Kopf erscheint die Empfindung, als fühle ich einen kalten Atem hinter mir, der in mein Genick bläst und eine dünne Eisschicht zurücklässt.
Verzweifelt rücke ich weiter nach hinten, bis mein Oberkörper an der Wand anstößt. Das Kissen hat sich hinter mir aufgebäumt, doch das spüre ich nicht. Panik hindert mich daran, meine Augen zu schließen und ist auch dafür verantwortlich, dass sich meine Hände in der Decke verkrampfen. Mein Atem kommt nur mehr stoßweise, als schließlich eine Hand in mein Zimmer greift. Ihr folgt ein Bein, seine Bewegung wird von einem grauenhaften Ächzen begleitet.
Mein Herz schlägt wie eine Trommel in meiner Brust, ein kalter Stich durchfährt meinen Körper, bis tief in mein Herz und lähmt dieses. Es stockt. Dann schlägt es rumpelnd weiter, doch die Kälte macht es ihm schwer.
Mit einem Quietschen, das mir durch Mark und Bein geht, schwingt die Tür schließlich ganz auf und dann steht er vor mir: schwarze, zerrissene Klamotten, ungebundene Schuhe, ein Bart, der schon Tage nicht rasiert wurde. Seine Augen sind rot unterlaufen und der Gestank von Alkohol trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube. Mir wird ganz plötzlich schlecht und ich presse mir die Hand vor den Mund. Obwohl ich nicht will, dass er erkennt, wie ängstlich ich bin, sind meine Augen immer noch weit aufgerissen.
„Heey… Brauuchs‘ dich ja“ hicks
„nich‘ so vor mir … vers – tecken!“
Sein Lallen ist kaum auszuhalten, es sagt mir wie jeden Abend, dass er sich nicht unter Kontrolle hat. Er weiß nicht, was er tut. Doch er wird irgendetwas machen. Und ich habe keine Ahnung, was. Es ist wieder die Ungewissheit, die mich einholt. Reflexartig werfe ich einen Blick zur Tür – sie wäre meine einzige Fluchtmöglichkeit, über das Fenster ist es zu hoch, da mein Zimmer im dritten Stock ist. Doch die Tür scheint nicht erreichbar zu sein. Erstens steht er
davor und zweitens fühlt sich mein Körper noch zu kaputt an. Geschädigt, zerschlagen. Was auch kein Wunder ist, bei dem, was ich schon seit Wochen mitgemacht habe. Beinahe jeden Abend ist er gekommen, hat mich geschlagen. Verletzt und einsam am Boden zurückgelassen und dann weiter zu meiner Mum. Ihr ist dasselbe Schicksal zu Teil geworden wie mir. Doch sie liebt ihn zu sehr, als dass sie sich dagegen wehren würde. Und ich bin zu eingeschüchtert. Leider.
Komme mir dann immer vor wie ein kleiner Käfer, der von ihm
auf den Rücken gedreht wird und dann zappelnd darauf wartet, dass er
darauf steigt. Komme mir so klein vor. Kann nichts sagen. Kann mich nicht gegen ihn behaupten, wie auch? Ich bin stumm. Wie ein Fisch. Wenn er mich mit seinem Blick durchlöchert, ist es, als wäre ich zu keiner Reaktion mehr fähig. Wie ich es hasse, dass er eine solche Gewalt über mich hat.
Langsam streckt er seine Hände nach mir aus und mir entwischt ein verängstigtes Fiepen. Dieses Geräusch, welches von meiner Angst zeugt, lässt ihm kurz ein schauderhaftes Grinsen im Gesicht erscheinen. Mit einem Ruck reißt er mir die Decke vom Körper. Sofort beginne ich zu zittern, nicht nur, weil ich heute nur ein kurzes Höschen und ein Trägertop anhabe, sondern auch, weil die Kälte immer schlimmer zu werden droht, da ich immer panischer werde. Es ist, als würde die Angst, die sich langsam in meinem Körper ausbreitet, mir sämtliche Wärme aus meinen Gliedern ziehen.
Schnell verschränke ich die von Gänsehaut überzogenen Arme vor meiner Brust. Es wirkt wärmend und ich fühle mich zumindest ein bisschen sicherer. Doch mein restlicher Körper verrät meinen wirklichen Zustand - die Hände sind kalt und schweißnass, die Haare kleben an meiner Haut und aus meiner Kehle droht ein Schluchzen zu entweichen, als er meinen Knöchel packt und mich daran aus dem Bett zieht. Selbst meine Reaktionen sind wie eingefroren, und so knalle ich mit dem Kopf hart gegen den Boden. Ein wimmernder Schmerzensschrei entfährt mir, doch er übertönt es mit einem schaurigen Lachen. Seine muskulösen Arme schwingen krampfartig vor und zurück, während er mit einem Bein nach mir tritt. Er trifft genau in den Bauch.
Vor Schmerz krümme ich mich zusammen, Tränen laufen über meine Wangen. Doch ich bleibe stumm. Das habe ich mir angewohnt, seit ich herausgefunden habe, dass meine Schmerzensschreie ihn mich nur noch länger peinigen lassen. Meine Augen haben sich wie von selbst geschlossen, und ich lasse die tägliche Tortur klaglos über mich ergehen. Wie sollte ich mich auch zur Wehr setzen? Niemand würde mich hören, und gegen seine Größe und Kraft komme ich alleine nicht an. Ich wäre schneller als er, doch ich würde es nicht einmal aus diesem Zimmer heraus schaffen. Es ist aussichtslos.
Und so liege ich still leidend am kalten Fußboden und warte auf das Ende, das irgendwann kommen muss. Doch heute ist es anders. Ich weiß nicht, warum ich mir so sicher bin, doch ich spüre es. Etwas ist nicht so wie sonst. Und als er mit einer Hand mein Top wegreißt, weiß ich es: Heute werde ich nicht nur geschlagen werden. Heute wird es schlimmer werden. Viel schlimmer.
Ich werde benützt werden. Beschmutzt. Zerstört.
November.
Ich fühle mich … leer.
Wie ein anderer Mensch. Ein neuer Mensch.
Als würde mein altes Ich ausgelöscht worden sein. Ein neues geboren.
Ich hatte mir immer gewünscht, neu geboren zu werden. Ohne die ganzen Fehler, die ich mein Leben lang – es waren zwar nur sechzehneinhalb Jahre, aber Leben ist Leben –gemacht hatte. Doch jetzt … ich weiß nicht. Es fühlte sich nicht so an, wie es sich anfühlen sollte. Ich dachte, ich würde mich gut fühlen. Fehlerlos. Als könnte ich einen Neuanfang wagen. Tja, das konnte ich jetzt auch machen – neu anfangen. Doch wo müsste ich starten? Das ist eine Frage, an die ich nicht denken will. Es fühlt sich nämlich nicht so an, als sei das ein Anfang. Nein. Das ist etwas anderes. Es ist, als sei es ein Ende. Nicht nur ein Abschied, nein.
Es ist das Ende.
Dezember.
Ich fühle mich schwerelos.
Wie eine Feder. Leicht und sorglos.
Als würden all meine Probleme vergessen sein. Als hätte ich nie welche gehabt.
Sterben soll schmerzlos sein. Habe ich gehört. Ich will sterben. Ich will vergessen. Will keine Erinnerung mehr haben an das vorherige Leben. An die letzten paar Wochen. Die davor waren nicht so schlimm gewesen. Vor mein inneres Auge zaubern sich Momente, in denen ich glücklich war. Als ich mit Jared zusammengekommen war. Er mich zum ersten Mal geküsst hatte. Er mir sagte, dass er mich liebt. Ich war glücklich gewesen.
Einst.
Januar.
Ich fühle mich klein.
Wie jemand, der nichts bedeutet. Den niemand bemerkt.
Als würde sich keiner für mich interessieren. Als wäre ich Luft.
Einmal gab es Menschen, denen war ich nicht egal. Sie behandelten mich nicht wie Luft. Und einen davon liebte ich. Jared. Doch er war nicht für mich bestimmt gewesen. Als er wenige Monate vor mir sechzehn wurde, zog er weg. Mit seiner Familie. Ohne mich. Zog weg, nicht nur in einen anderen Ort, eine andere Stadt, nein. Er wanderte aus. Der Kontakt brach ab. Er verschwand aus meinem Leben. Als hätte es ihn nie gegeben. Als wäre er nur eine Einbildung meiner Phantasie.
Und er hinterließ nur ein schmerzvolles Loch in meinem Herzen.
Februar.
Ich fühle mich kraftlos, ausgelaugt.
Wie ein zerschlagener Mensch. Ein kaputter Mensch.
Als würde nichts in meinem Körper mehr zusammenpassen.
Warum das so ist, weiß ich, doch ich will es nicht wissen. Ich versuche, es zu vergessen. Ich will es einfach auslöschen. Doch ich glaube, das kann ich nicht. Ich werde nicht vergessen. Das wird kein neues Leben werden, in dem ich von vorne beginnen kann. Ohne Erinnerung. Es ist nicht zu Ende. Ich werde weiterleben. Werde mit der Erinnerung leben. Werde lernen müssen, mit dem Schmerz umzugehen. Werde nicht sterben. Ich werde leben.
Aber will ich das überhaupt noch?
Meine Hände zitterten, als ich den Kleiderschrank öffnete. Ein Koffer lag geöffnet auf dem Boden, in ihn würde ich alles, was ich hineinbrachte, einpacken.
Es waren schon Wochen vergangen – inzwischen war März geworden - und seit jenem Vorfall hatte er mich nicht mehr angerührt. Warum, wusste ich nicht. Ich war froh darüber, dass er es nicht mehr tat, aber ich hielt es auf keinen Fall länger in seiner Nähe aus. Ich musste hier weg.
Verzweifelt griffen meine Hände nach allen möglichen Kleidungsstücken. T-Shirts, Jeans, Westen, Unterwäsche – alles, was ich in meine Hände bekam, wanderte in meinen Koffer. Dabei warf ich ständig einen Blick zu meiner Zimmertür. Mein Herz pochte wie verrückt, zwar war es mitten in der Nacht, aber dennoch hatte ich das Gefühl, er
könnte jeden Moment hereinkommen und mich dabei erwischen, wie ich zusammenpackte.
Wäre es wenige Monate früher gewesen, hätte ich mich nicht sorgen müssen. Er hätte tief geschlafen, da er am nächsten Morgen fit für die Arbeit sein müsste. Doch dann hatte alles begonnen. Mit dem Verlust seines Jobs.
Langsam blättere ich um. Ich kann mich nicht wirklich auf das Buch konzentrieren, obwohl es eigentlich gut geschrieben ist. Keine Ahnung, was heute los ist, aber meine Aufmerksamkeit ist nicht vorhanden. Seufzend lege ich das Buch beiseite, und gehe meinen Gedanken nach.
Nach zwei Wochen Schule kommt jeder so allmählich wieder in den Alltag eines Schülerlebens zurück. Die Hausübungen werden vergessen und abgeschrieben, die Worte des Lehrers interessieren keinen. In den Pausen sitzen einzelne Gruppen um Tische herum, jeweils nach den Cliquen geordnet. Ich – wie immer – an dem Tisch mit Tina. Sie gibt den Ton an. Wir geben den Ton an. Und doch ist es nur eine Schulgemeinschaft. Zumindest meistens. Mona ist die Einzige, mit der ich mich auch außerschulisch treffe.
Das Geräusch von einem Gegenstand, der gegen Holz schlägt, reißt mich aus meinen Gedanken. Ich blicke zur Tür, doch sie bleibt geschlossen. Unten höre ich, wie meine Mutter und mein Vater zu streiten beginnen.
„Aber warum? Du warst doch so weit oben!“
„Na und? Die glauben wohl, ich bring’s nicht mehr… Als würde ein Jüngerer mehr schaffen!“
Mein Vater klingt nicht wie sonst, wenn er von der Arbeit nach Hause zurück kehrt. Eher so, wie er an manchen Tagen ist, wenn er abends noch mit Freunden in einem Pub gesessen hat. Leicht angetrunken.
„Und was machen wir denn jetzt? Wir brauchen das Geld!“
Die verzweifelte Stimme meiner Mutter veranlasst mich dazu, langsam aufzustehen. Ich seufze und schleiche langsam hinaus auf den Gang, die Treppe hinunter, und habe so ein besseres Bild auf die beiden.
„Du hast ja eh noch deinen Job, und ich werde auch bald etwas Neues finden!“
Mein Vater macht einen langsamen Schritt auf Mum zu, diese schlingt die Arme um seinen Hals. Er streicht ihr beruhigend über den Rücken.
„Wir schaffen das, es wird alles gut werden!“
Damals war er noch der gute, liebevolle Vater gewesen. Doch damals war vorbei.
Wieder warf ich einen hastigen Blick zur Tür. Niemand zu sehen. Nachdem ich genug Kleidung in meinem Koffer hatte, lief ins Badezimmer, um meine Zahnbürste, ein kleines Handtuch und Duschgel zu suchen. Was mir nicht sofort ins Auge stach, ließ ich zurück. Keine Zeit für Nebensächlichkeiten.
Nachdem sich das Wichtigste im Koffer befand, schloss ich jenen und setzte mich dazu auf ihn. Dabei kam das, was ich zu verdrängen versuchte, wieder deutlicher an die Oberfläche zurück.
Was mit mir geschehen war. Was keiner wusste. Nicht einmal meine Mutter oder mein kleiner Bruder schienen etwas bemerkt zu haben. Sogar mir selbst war aufgefallen, wie sehr ich mich verändert hatte. Warum sahen sie es nicht? Sahen sie nicht den Schmerz, jedes Mal, wenn sie in meine Augen blickten? Sahen sie nicht die Verzweiflung, die mir ins Gesicht geschrieben stand? Sahen sie nicht, wie ich mich tagtäglich quälte? Sahen sie nicht, wie ich litt?
Doch nie würde es jemand erfahren. Niemand durfte
es erfahren. Daher musste ich fliehen. Musste weg von hier. Sonst würde es wieder geschehen, irgendwann. Das spürte ich instinktiv.
Mit einer kurzen Handbewegung wischte ich mir alle Tränen aus meinem Gesicht. Sah mich gehetzt um. Dabei fiel mein Blick auf den Schreibtisch rechts neben der Tür. Einsam und verlassen, ich hatte ihn schon länger nicht mehr benutzt. Das würde ich jetzt ändern, meiner Mutter zuliebe. So leise wie nur möglich erhob ich mich und taumelte unter dem Schleier von Tränen, der mir erneut die Sicht raubte, auf den Tisch zu. Meine zitternden Hände fanden Zettel und Stift und begannen, zu schreiben.
Ich bin weg. Halte es nicht mehr aus. Sucht mich nicht, bitte.
Du kannst nichts dafür, Mama. Tut mir leid.
A.
Schnell hatte ich einige verwackelte Buchstaben zu Papier gebracht und mich dabei immer wieder gehetzt umgedreht, um mich zu vergewissern, dass ich immer noch alleine war. Dass einige Tränen auf die sowieso schon kaum leserlichen Zeilen tropften, beachtete ich nicht. Nachdem ich meinen kurzen Abschiedsbrief beendet hatte, ließ ich den Stift lautlos auf das Papier fallen und wandte mich zu meinem Koffer um. Dieser schien nur darauf zu warten, endlich mit mir abzuhauen. Ich nahm ihn in beide Hände und hob ihn auf. Zwar war er extrem schwer und ich musste mir ein Stöhnen verkneifen, aber würde ich ihn rollen, hätte das zufolge, dass ich jemanden aufweckte. Meinen kleinen Bruder, der im Nebenzimmer ruhig schlief, meine Mutter, die sich vermutlich wieder einmal in den Schlaf geweint hatte. Sie dachte wohl, keiner wüsste, dass Dad sie jeden Tag, wenn er von einem Pub zurückkam, wieder schlug. Betrunken, wie er dann war, hatte er sich nie unter Kontrolle. Dieses Verhalten war auch mir zum Verhängnis geworden.
Aus dem Headset meines iPods vernehme ich die zarten Töne Beethovens dritter Symphonie. Sie verzaubert mich, lässt mich in eine andere Welt sinken. Genau das brauche ich jetzt. Vor wenigen Stunden, als es zu dämmern begann, ist mein Vater wieder in ein Pub gegangen. Ich weiß, dass er sich wieder antrinken wird. Und ich habe mir vorgenommen, mit ihm darüber zu reden. Ich will nicht, dass er das macht. Er ist dann immer so anders. Obwohl es nie viel Alkohol ist, den er zu sich nimmt. Aber ich weiß, dass es trotzdem zu viel ist. Immerhin wird man süchtig, und so wird er nie eine neue Arbeit finden.
Das Öffnen und Schließen unserer Haustür reißt mich aus meinen Plänen. Das muss er sein. Ich atme noch einmal tief ein und aus, schalte die Musik ab und gehe auf den Gang hinaus. Hier warte ich auf ihn und wenige Minuten später kommt er auch schon. Er kann nicht mehr ganz gerade gehen, aber er scheint noch alles mitzubekommen. Ich mache einen Schritt auf ihn zu.
„Dad, ich muss mit dir reden.“
Er sieht mich an, als wäre ich verrückt geworden. Mitten in der Nacht ein Gespräch beginnen, das mit ‚ich muss mit dir reden‘ beginnt. Kein guter Anfang.
„Ich weiß, dass dich das ziemlich mitnimmt, dass du deinen Job verloren hast. Aber dass du täglich in diese Pubs gehst und dich betrinkst, bringt dich auch nicht weiter, weißt du.“
Er schüttelt den Kopf und sieht mich herablassend an. Seine Augen blitzen. „Was weißt du denn schon vom Leben?! Du wagst es tatsächlich, mir zu sagen, was gut für mich ist, und was nicht?“
Wieder bewegt sich sein Kopf langsam von links nach rechts. Unwillkürlich weiche ich einen Schritt zurück. Seine Stimme ist leise, fast bedrohlich. Das Lallen ist kaum vorhanden, doch mir fällt es auf. Und als ich meine, dass er vielleicht doch einmal darüber nachdenken sollte, was ihm tatsächlich gut tut und was ihm schadet, kommt dieser Glanz in seine Augen.
„Meinst du wirklich? Ich nämlich nicht.“
Seine Augen starren mich aggressiv an und ich weiche erneut zurück. Die Augen habe ich weiter geöffnet als normal, doch ich rede mir ein, dass ich keine Angst zu haben brauche. Energisch mache ich einen Schritt auf ihn zu. Versuche, ihn doch zu überreden. Denke nicht an die Folgen. Immerhin ist er mein Vater, was soll schon geschehen?
Doch im letzten Moment überlege ich es mir anders. Wahrscheinlich ist es besser, mit ihm in nüchternem Zustand zu sprechen. „Leg dich jetzt am besten hin, und wir reden morgen weiter. Aber wir reden weiter, denn so kann es nicht weitergehen!“
Da holt er mit der flachen Hand aus und schlägt zu. Mitten in mein Gesicht.
So hatte es begonnen. Mit einem Schlag. Einem einzigen. Und es waren so viele daraus geworden.
Nervlich fast am Ende stellte ich fest, dass wieder sämtliche Gefühle in mir hoch kamen, die ich schon so oft zurückgedrängt hatte.
Angst. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich vor etwas so sehr gefürchtet, als alleine vor dem Gedanken, dass es
wieder geschehen könnte.
Abscheu. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein. Mein Körper begann zu frösteln. Es war schlimm, zu wissen, dass er
seine Hände tagtäglich an mich gelegt hatte.
Aber noch schlimmer war die Tatsache, dass er in mir
gewesen war. Ekel. Ich war immer schon ein Teil von ihm gewesen. Das war nicht so schlimm, auch, wenn ich mich nun dafür schämte. Doch nun war auch er ein Teil von mir. Ein Teil von ihm war in mir. Innerlich schüttelte ich mich bei dem Gedanken. Scham. Ich würde das kein zweites Mal durchhalten, nie. Die Scham war so groß, dass ich mich fühlte, als würde ich jeden Moment erneut im Erdboden versinken wollen. Wenn mich jemand nur ansah, stellte ich mir vor, er sähe die Flecken an mir. Flecken, die er
hinterlassen hatte. Die mich kennzeichneten.
Doch dann schlich sich noch ein Gefühl ein, das ich bei den letzten Malen immer sofort verdrängt hatte. Das nun umso stärker hervor kam. Zuerst war es nur ein Loch. Es fühlte sich leer an. Ich
fühlte mich leer an. Als hätte meine Brust ein Loch, genau dort, wo mein Herz sein müsste. Hätte ich die Vorgeschichte ausblenden können, würde ich sagen, es war der Schmerz über eine nicht erwiderte Liebe. Aber das konnte doch nicht sein. Wie konnte eine Liebe nicht erwidert sein, wenn ich sie nicht einmal spürte? Was sollte bitte erwidert werden, wenn es nicht da war? Oder … war sie doch da, die Liebe? Liebe zu meinem … Vater? Nein, das konnte nicht sein! Wieder war es, als würde etwas Gallenartiges in mir aufkommen. Als würde der Ekel mich überwältigen wollen. Gezwungen schluckte ich sie hinunter, während ich langsam ein Bein vor das andere setzte.
Doch plötzlich stockte ich, denn dann kam die Wut. Wut auf alles und jeden. Meine Hände verkrampften sich, nicht nur unter dem Gewicht des Koffers. Nein, es war die Wut, die in mir pulsierte wie flüssige Lava. Wie das Magma eines Vulkans, der gleich ausbrechen wollte. Meine Augen waren frei von Tränen, diese hatten sich verzogen. Die Lider waren zu Schlitzen verengt und meine Stirn legte sich in Zornesfalten.
Wie konnte er es wagen, mich einfach so zu benutzen?! Als wäre ich ein Spielzeug, ein Ding. Nicht ein lebender Mensch, seine Tochter
!! Und wie konnte meine Mutter es zulassen, dass er es tat?! Wie konnte sie so tun, als würde sie ihn lieben
?! Warum ließ sie sich nicht von ihm scheiden, warum trennte sie dieses … Problem nicht einfach von uns? Es wäre so einfach, man müsste nur ein Wort sagen… Und mit diesem Gedanken verpuffte die ganze Wut und wurde von einer gehörigen Portion Hilflosigkeit abgelöst. Meine Finger begannen zu zittern, beinahe hätte ich den Koffer fallen gelassen. Nur ein Wort sagen… Wenn das denn so leicht wäre. Gedanklich hatte ich es längst getan.
Doch… Ich schaffte es nicht. Keine Ahnung, warum das so war, aber es ging einfach nicht. Vielleicht war es die Angst, dass er
es erfahren könnte. Dass mir niemand glauben würde, und er wütend würde. Oder es war einfach die Scham, die mich davon abhielt. Oder etwas ganz Anderes. Ich wusste es nicht.
Mir war momentan nur eins klar: Ich musste weg. Auch, wenn ich jedes Mal einen Kloß im Hals bekam bei dem Gedanken vielleicht für immer weg zu gehen, war mir dennoch klar, dass ich es tun musste. Weit weg, wo mich niemand finden würde. Zumindest niemand, den ich kannte. Das wäre ein zu großes Risiko. Doch wo sollte ich hin?
Freunde? Nein, die würden mich nicht verstehen und mir wie meine Mutter raten, zu einer Psychologin zu gehen oder so was.
Verwandte? Dasselbe.
Außerdem würde ich es nicht schaffen, irgendjemandem unter die Augen zu treten. Dafür schämte ich mich viel zu sehr. Fühlte mich zu dreckig, zu beschmutzt.
Endlich war ich im Erdgeschoss. Während ich meinen Weg nach draußen fortsetzte, versuchte ich, so gut es eben in dieser Finsternis ging, mir alles einzuprägen: den dunklen Esstisch aus Nussholz, die passenden Stühle dazu. Den weißen Perserteppich, der dem kleinen Zimmer selbst in der Nacht den letzten Schliff gab. Das rote Sofa, welches den Großteil des Wohnzimmers einnahm. Meter davor den großen Flachbildfernseher. Dazwischen ein kleiner Teetisch, wieder aus Nuss. Alles passte wunderbar zusammen. Rot, weiß, braun. Im ganzen Haus.
Wir waren nie arm gewesen, dafür hatte der letzte Job meines Vaters gesorgt. Bankdirektor der angesehensten Filiale der Stadt war er gewesen. Bis jemand mitbekommen hatte, dass er heimlich trank. Dann war er gefeuert worden. Und das Unheil hatte erst richtig begonnen. Mit der Zeit wurde das Geld weniger, da er arbeitslos war und jeden Abend viel versoff. Meine Mutter arbeitete halbtags, doch das war zu wenig. Früher oder später würden wir all das verkaufen müssen, alle Erinnerungen, all das Schöne.
Ich versuchte, mir einzureden, dass es also sowieso besser war, wenn ich jetzt verschwand. Dann würde ich das Alles nicht mehr mitbekommen.
Mit dieser Überzeugung atmete ich noch ein letztes Mal in diesem Haus meiner Kindheit aus und zog die braune Jacke sowie meine Converse an.
Mit einem Quietschen, das jedoch nicht laut genug war, jemanden zu wecken, öffnete ich die Haustür, blickte noch einmal sehnsüchtig zurück und verließ das Haus.
In den Straßen brannte fast kein Licht mehr, die Häuser warfen unheimliche Schatten auf die frisch asphaltierte Straße. Nur vereinzelt fand das Licht einer der wenigen Laternen den Weg auf den Asphalt und beleuchtete meine hastigen Schritte. Seltsam beobachtet fühlte ich mich dabei. Die schummrige Beleuchtung bewirkte, dass ich mich noch unsicherer fühlte. Gehetzt blickte ich mich um. Nichts. Aber da war doch ein Geräusch gewesen. Oder doch nicht? Meine Schritte wurden immer schneller und schneller, während ich mich alle fünf Sekunden umblickte. Gehetzt.
Folgte er mir etwa? Nein, bitte nicht!
Wieder begannen die Tränen zu fließen, ich konnte sie nicht unterdrücken. Wie ein Schleier legten sie sich über meine Wangen, meine Augen, mein ganzes Gesicht. Vernebelten meine Sinne. Mein Schluchzen drang mir ins Ohr, während meine Beine leicht versetzt auftraten. Die Tasche, die ich vorhin noch eng umschlungen gehalten hatte, schlenkerte nun in Höhe meiner Beine herum und brachte mich fast zum Stolpern. Mein Weinen wurde immer lauter, während ich in die nächste Straße einbog, immer noch keine Ahnung, wo ich eigentlich hin wollte. Ich ließ mich von meinem Gefühl leiten, quasi immer der Nase nach. Ging dorthin, wo es mir gerade in den Sinn kam. Und versuchte, mich auf die Umgebung zu konzentrieren. Ich wollte nicht, dass mein Selbstmitleid mich wieder übermannte. Dass die Schluchzer mich zum Stehen bleiben veranlassten und mich schüttelten. Dass Tränen meine Sicht verschleierten. Nein, das konnte ich gerade nicht brauchen, aber es würde geschehen, wenn ich weiterhin meine Gedanken denken ließ, was sie wollten. Also konzentrierte ich mich auf die düstere Straße.
Ich kam an einer alten Trafik vorbei, in der er
vermutlich die Zigaretten bezogen hatte. Wieder tauchte sein Gesicht vor mir auf. Seine verzerrte Mimik, die hasserfüllten Augen, die … Stopp! Das war keine gute Ablenkung, stellte ich fest, und suchte die Straßenecken nach anderen Plätzen ab. Ich entdeckte einen Supermarkt, in dem ich mich einmal für einen Ferialjob beworben hatte. Allerdings war ich nicht genommen worden. Ich lief an der Bäckerei vorbei, die ich als Kind oft aufgesucht hatte. Die Besitzerin war stets so etwas wie eine zweite Mutter für mich gewesen, bis sie vor ein paar Jahren einem Autounfall zum Opfer gefallen war. Seit diesem Tag hatte ich die Backstube nicht mehr betreten.
Auch an meiner Volksschule lief ich vorbei, immer weiter aus der Stadt heraus. Ach, wie lange war das schon aus, dass ich hier das letzte Mal einen Vormittag verbracht hatte? Sechs Jahre, wie ich schnell im Kopf überschlug. Da war alles noch in Ordnung gewesen. Heile Welt. Keine Jungs, die einem das Leben schwer machten, keine oberflächlichen Freunde, kein trinkender Vater. Gerade war ich noch so etwas wie ein bisschen abgelenkt gewesen, doch der Gedanke an meinen Vater machte wieder alles kaputt. Die Schluchzer, die sich vorhin nahezu eingestellt hatten, krochen erneut meine Kehle hoch. Mein Körper wurde geschüttelt, meine Beine überkreuzten sich, wieder brachten sie mich fast zu Fall. Beinahe die Kontrolle verloren rief ich mich zur Ordnung. Himmel, wo war mein Stolz geblieben? Lief tatsächlich heulend durch die Stadt. Zwar war kein Mensch um diese Zeit unterwegs, der mich sehen konnte, doch war es mir trotzdem peinlich. Aber was konnte schon noch erniedrigender sein, als das, was mir ohnehin schon passiert war?
Nein, eigentlich nichts.
Während ich immer weiter von zu Hause weg lief, weg aus der Stadt, wo alles so vertraut und voll Erinnerung war, durchforstete ich meine Gedanken, wo ich denn eine Bleibe haben könnte. Allerdings kam mir keine Idee, und ich stolperte und fiel der ganzen Länge nach hin. Die Schuhspitze meines Converse war in einer Unebenheit der Straße hängen geblieben und hatte mich somit zu Fall gebracht.
"Scheiße!!"
Fluchend rappelte ich mich auf und besah den Schaden. Ich war über und über mit nassem Schmutz besudelt und das Gewand sah schlimm aus. Wasser hatte meine gesamte dunkle Jeans und den unteren Teil der schwarzen Lederjacke durchnässt. Die Decke, die unter meinen Arm geklemmt war, hatte zum Glück nichts abbekommen. Auch die Tasche sah besser aus als ich. Ein Seufzer schlich sich über meine Lippen. Das würde dauern, bis es trocken war und ich fühlte, wie ich zu frösteln begann. An Ersatzgewand hatte ich leider nicht viel Auswahl im Gepäck.
Doch ich beschloss, weiterzulaufen. Es war immer noch Nacht – wenn auch eine kalte Märznacht - und die einzigen, die jetzt schon unterwegs waren, waren Besoffene. Und die konnten sich am nächsten Morgen sowieso an nichts mehr erinnern.
Immer weiter lief ich, weiter und weiter. Schließlich erreichte ich eine U-Bahn-Station ziemlich am Ende der Stadt.
Da werde ich eine Weile bleiben! Es ist weit genug weg von zu Hause und nicht all zu kalt. Perfekt!
, freute ich mich bitter. Zwar war mir bewusst, dass es vermutlich laut werden würde, wenn ein Zug vorbeiraste, doch das war mir im Moment egal. Über die Tatsache, dass ich beklaut werden könnte, machte ich mir keine Gedanken. Jetzt war sowieso schon alles egal.
Fröstelnd verkreuzte ich meine Arme vor der Brust und zog die Schultern nach oben.
Meine Beine trugen mich vorbei an Gleisen, Ticketautomaten und geschlossenen Shops. Doch ich schüttelte gedankenverloren den Kopf. Alles wirkte so, als würden die Plätze am Tag von vielen Leuten passiert werden. Schlecht für mich, wenn ich dort die weitere Nacht verbringen würde. Es würde Aufsehen erregen, da sich hier eigentlich nie Bettler niederließen.
Also suchte ich einen abgelegenen Platz - der aber nahe den Schienen war - und breitete eine mitgenommene Decke aus. Dann stellte ich meinen Koffer daneben auf, ließ mich auf den selbstgemachten Schlafplatz fallen und schlug eine Decke über mich, um mich etwas zu wärmen. Weich war es zwar nicht besonders, aber ich hatte etwas, wo ich – zumindest für diese Nacht – bleiben konnte. Dann würde ich weiterziehen. Wusste noch nicht, wohin, aber es würde sich schon irgendwie ergeben. Mein Kopf sank wie von selbst in meine Hände und ich begann wieder, loszuschluchzen.
Anscheinend war ich eingeschlafen, denn als ich erwachte, konnte ich mich nur mehr daran erinnern, geweint zu haben und mich dann niedergelegt zu haben - natürlich nicht, ohne mit dem Weinen aufzuhören. Die Tränen waren unermüdlich aus meinen Augen geströmt.
Nun war ich wieder munter geworden, die Tränen waren versiegt. Und die Erinnerungen kamen wieder hoch. Nur in der Nacht blieben sie mir verwehrt, da ich quasi nie träumte. Nie war ich so glücklich über diese Tatsache gewesen, als in den letzten Nächten.
Mein Vater. Wie ich ihn hasste. Hasste, wie den Teufel. Was dachte er sich dabei? War ich seine Sklavin? Sein Spielzeug? Was konnte ich dafür, wenn er sich betrank und dann Dinge tat, die nicht getan werden durften? Noch dazu bei der eigenen Tochter! Hatte der Mann denn überhaupt kein Gewissen?
Plötzlich störten Stimmen meine Gedanken. Männliche Stimmen. Lallende Stimmen. Besoffene.
"Scheiße."
Dieses Mal war es kein Ausruf, sondern nur eine Feststellung. Was würden die mit mir machen, wenn sie mich finden würden? Doch diese Frage war sinnlos, denn da sah ich sie auch schon.
Sie waren zu fünft, als sie um die Ecke bogen. Drei von ihnen hatten noch die Bierflasche in der Hand, die anderen torkelten herum. Dreimal Braunhaarig, zweimal Blond, soviel konnte ich erkennen.
Die Angst breitete sich in mir wie Gift aus. Schnell. Tödlich.
"Hey, Süße!"
Der eine schaute mir direkt in meine Augen. Er musste doch die Angst in ihnen bemerken, musste doch sehen, dass ich, verängstigt wie eine Maus vor einer Katze, nur darauf hoffte, dass sie mich in Ruhe ließen.
"Willst du spielen?"
Ein anderer, dieses Mal der Blonde am Rand, ohne Bier.
Verzweifelt schüttelte ich den Kopf und rückte weiter zurück an die Wand. Ich wusste, dass meine Angst sie vermutlich noch mehr erregte, als wenn ich cool geblieben wäre, doch ich konnte sie nicht abstellen. Sie war in mir, wie mein Blut. Meine Gedanken, meine Seele. Bei meinem Vater war das etwas anderes gewesen. Seine Attacken hatte ich gekannt. Doch ihre waren mir neu. Panik stieg in mir auf, drohte, mich zu überwältigen. Ich konnte fühlen, wie mein Körper immer mehr zu Zittern begann, diese Bewegung übertrug sich auch auf meine Zähne, welche hart aufeinandertrafen. Wieder und wieder.
Die anzüglichen Blicke der Jungen ließen etwas in mir aufsteigen, es übertraf sogar die Panik. Widerlichkeit. Ich fühlte mich plötzlich wieder fast genauso beschmutzt, wie an dem Tag, an dem er
mich zurückgelassen hatte. Fühlte mich schutzlos, ausgeliefert. Es war, als hätte ich das alles schon einmal erlebt und müsste diese Qualen jetzt noch einmal erleben. Déjà-Vu. Normalerweise machten mir solche Ereignisse nichts aus, aber in dem Fall musste ich es wirklich nicht haben.
Meine Augen waren aufgerissen und ich verfolgte jede ihrer Bewegungen.
"Ach, komm schon!"
Wieder ein anderer. Er kam auf mich zu und nahm meinen Arm. Nicht sehr sanft, wie ich bemerken durfte. Der Druck war fest, doch das schien ihm nicht bewusst zu sein. Hart riss er mich auf die Beine, während meiner Kehle ein Wimmern entkam. Mein Rücken drückte sich erneut gegen die Wand, wollte entkommen, doch der Blonde war zu nahe. Sein Atem schlug mir ins Gesicht, ich konnte den Alkohol riechen, roch, dass er viel zu viel davon zu sich genommen hatte. Um diesem Gestank zu entkommen, drehte ich den Kopf zur Seite und atmete nur noch stoßweise. Mein Körper versteifte sich, als eine Hand meine Wange streichelte. Als ich mein Gesicht wegdrehen wollte, nahm er mein Kinn in die Hand und es fühlte sich an, als wollte er es zerquetschen.
"Nun komm schon, sträub dich nicht so."
"Das wird lustig!"
Wieder der Blonde.
Ein Druck löste sich, jedoch nicht der um meinen Arm.
Die Tränen begannen zu fließen. Warum geschah so etwas mir? Warum schon wieder?
"Ach komm. Jetzt weint sie!"
Die Stimme war spöttisch. Als wäre ich nur ein Ding. Kein Mensch mit Gefühlen.
Trotz der Tränen waren meine Augen immer noch weit geöffnet, als sollte mir ja nichts entgehen, was da mit mir geschah.
Der Junge nahm schnell seine Hände von mir, um dem Blonden eine über zuziehen. Dieser schlug jedoch zurück und die beiden gerieten etwas abseits, wo sie weiterhin auf sich einschlugen, was einem anderen ermöglichte, zu mir vor zu kommen.
Auch er packte mich gleich am Arm und versuchte, mich mit sich von der Wand zu ziehen. Legte seine eine Hand um meine Taille und hielt mit der anderen die Hand fest, mit der ich mich gegen ihn wehren wollte.
Zum Glück fand ich nun auch meine Stimme wieder.
"Nein! Lass mich!"
Ich versuchte, mich aus seinem Griff zu wehren, doch ohne Erfolg. Wie eine Wahnsinnige schlug ich um mich, doch die einzige Reaktion, die ich erntete, war Gelächter.
Innerlich wurde ich immer kleiner, die Tränen wurden immer mehr.
Womit hatte ich das verdient?
Wieso ich?
Was hatte ich getan?
Doch den Jungen schien ich egal zu sein. Sie brauchten ein Spielzeug und hatten mich ausgewählt. Doch das Spielzeug hatte Krallen, beschloss, sich zu wehren.
Tapfer schlug ich auf meinen Peiniger ein, kreischte ihn an, kratzte ihn. Froh darüber, meine Nägel nicht wie eigentlich beschlossen geschnitten zu haben, holte ich aus und zog eine Kratzspur über sein linkes Auge. Sofort begann sie, sich rot zu verfärben. Zu verzweifelt, um mich darüber freuen zu können, packte ich ihn bei seinen Haaren und riss kräftig daran. Meine andere Faust schlug ihm in den Bauch. Jedoch nicht sonderlich fest, ich war noch nie besonders stark gewesen. Leider.
Shit.
Es nützte nichts.
Er schlug zurück, ein Schlag landete auf meiner Schläfe und mir wurde kurzzeitig schwarz vor Augen. Ich stellte meine Versuche ein. Doch ihm hatte es anscheinend gefallen, mich leiden zu sehen.
Wieder und wieder trafen mich seine Schläge. Ich konnte nichts dagegen machen.
Nun kamen auch die anderen wieder und halfen ihm.
Von überall kamen Schläge auf mich zu. Manche trafen mich, manchmal trafen sie sich gegenseitig. Der Druck um meinen Arm war verschwunden, doch ich konnte sowieso nicht fliehen, da sie mich eingekesselt hatten. Auf drei Seiten Jungs, auf der vierten Seite die Gleise. Ich überlegte noch, ob ich den Sprung hinunter wagen sollte, und zu fliehen versuchen sollte, da traf mich etwas Hartes am Schädel. Ich vermutete, dass es ein Glas war.
Es zersplitterte an meinem Kopf und Teile bohrten sich in mein Gesicht. In die Wangen, Stirn und Schläfe.
Ich brach zusammen. Zwar bekam ich noch alles mit, doch ich konnte mich nicht mehr wehren. Das war mir zwar auch vorher nicht sonderlich leicht gefallen, doch nun war ich entstellt. Meine Arme und Beine verweigerten ihren Dienst, unglücklich und verzweifelt musste ich über mich ergehen lassen, wie sie mich immer mehr zu einem kleinen Häufchen Nichts zerschlugen.
Nun lag ich da, blutüberströmt, mit zahlreichen Prellungen und möglicherweise sogar Brüchen. Langsam und warm rann Blut meine Wange hinunter, über sämtliche Beulen und Schnitte. Alle waren mir in der letzten halben Stunde zugefügt worden, geschätzt.
Doch ich fühlte nichts mehr. Gar nichts. Keinen Schmerz, keine Scham.
Vollkommen ruhig lag ich auf dem kalten Asphalt, doch auch die Kälte konnte mir nichts mehr anhaben. Ich fühlte sie nicht. War taub. Keine Gefühle drangen von dem Schmerzzentrum in mein Gehirn. Ich nahm nichts mehr wahr. Gar nichts mehr. Nur ein leises Summen war in meinem Kopf, ansonsten blieb alles still. Ich begrüßte diese Ruhe, sie war angenehm. War sie es, die vorhersagte, dass ich sterben würde? Nun, es würde mir nichts ausmachen. Nichts hielt mich mehr hier, auf dieser Welt.
Meine Augen hatten sich langsam geschlossen und ich atmete ganz langsam und regelmäßig ein und aus. Sehr langsam. Vermutlich konnte man meinen Atem nicht mehr hören, selbst wenn man sich anstrengte.
Ich hatte nur noch einen Wunsch: zu sterben.
Und doch hoffte ein Teil in mir, die Jungen würden gehen und mich würde jemand finden und ins Krankenhaus bringen.
Doch wie erwartet hoffte dieser Teil vorerst vergeblich.
Ein Junge - ich hatte die Augen immer noch geschlossen, also erkannte ich nicht, um wen es sich handelte - zog mir meinen Pulli über den Kopf und riss mir meinen BH vom Körper. Da setzte mein Verstand zum Teil wieder ein. Das wollte ich nicht. Klar, all die Dinge zuvor auch nicht, aber was jetzt geschah, war mir noch mehr zuwider.
Kurze Erinnerungsstücke schoben sich in meine Gedanken. Genau dasselbe war mir damals … Nein. Daran durfte ich nicht denken. Das hatte ich mit mir selbst vereinbart. Die Erinnerung daran würde mich innerlich auffressen. Langsam, aber sicher. Wie eine Krankheit, Krebs oder Aids. Man wusste, sie war da, doch konnte sich nicht gegen sie zur Wehr setzen.
Warum musste das mir passieren?
Warum?
Ich hatte nichts Falsches getan, oder?
Verzweifelt versuchte ich, die fremden Hände von meinem Körper zu zerren, doch vergeblich. Es gelang mir nicht einmal, meine Arme einen Zentimeter zu heben, so erschöpft war ich.
Versuchte, einzuschlafen. Oder bewusstlos zu werden. Irgendetwas, damit ich das, was jetzt geschehen würde, nicht mitbekam. Doch ich konnte nicht abstellen, zu begreifen, was die Jungen mit mir machen würden.
Einer von ihnen hatte anscheinend noch nicht begriffen, dass der nächste Schritt 'Vergewaltigung' sein würde, und schlug weiterhin mit der Bierflasche auf mich ein. Nun, da die Taubheit etwas weggeblasen wurde, bekam ich auch das wieder mit. Es war, als würde mein Schamgefühl alles andere übersteigen, und mir verhelfen, wieder normal zu denken, versuchen, zu reagieren. Langsam klärten sich meine Gedanken. Ich wollte das nicht wahrhaben. Nein… Ich… nicht. Zwar dachte ich nur in unzusammenhängenden Wortfetzen, doch verstand mein Gehirn sich darauf, diese richtig zu deuten und an die betreffenden Körperstellen weiterzuleiten.
So versuchte eine meiner Hände – natürlich vergeblich – die Hand des Jungen von meiner Brust zu verdrängen. Doch diese hielt daran fest und der Druck verstärkte sich sogar noch.
Ein leidendes Stöhnen schlich sich über meine Lippen. Zwar war es leise, doch sie hörten es.
„Na, gefällt es dir doch?“
„Ich wusste es! Na, komm schon!“
„Genau, mach mal was.“
Ihre lallenden Stimmen waren fast nicht zu ertragen. Wohl dachten sie, mein Körper erfreute sich an ihren Berührungen, doch da lagen sie sehr falsch.
Immer noch versuchte ich verzweifelt, mich gegen ihre außer Kontrolle geratenen Hände zur Wehr zu setzen, doch sie waren übermächtig. Ich schaffte es kaum, die meinen soweit zu bringen, dass sie die ihren berührten, ich war einfach zu schwach.
Gerade, als sich eine Hand über meinen Bauch nach oben vortastete, traf mich das Glas erneut an der Schläfe. Der Splitter, der darin gesteckt hatte, wurde weiter in mich hinein geschoben, und in meinem Kopf explodierte etwas. Das letzte, was ich sah, waren lauter kleine Sterne, dann verlor ich das Bewusstsein, mir wurde schwarz vor Augen. Und ich war froh darüber.
Texte: Sophie B.
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2012
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