„Hurra!“ sagte Stefan müde als der Wecker klingelte. Ihm graute vor dem heutigen Tag. Langsam rollte er sich aus dem Bett und brachte seine 200 Kilo in Bewegung. Er war schon lange nicht mehr auf der Waage gewesen. Die, die dort im Badezimmer stand konnte ein Maximalgewicht von 180 Kilo tragen. So erübrigte sich die Frage nach seinem heutigen Körpergewicht. Er vermied es lange in den Spiegel zu schauen. Nur für das Rasieren machte er eine Ausnahme, sonst war der Anblick unerträglich. Es wäre aber für Stefan doch zu peinlich gewesen, mit Schnittwunden auf der Arbeit aufzutauchen, wo er doch in weißem Hemd und Anzug erscheinen musste. Er stibitzte sich ein großes Stück Kochwurst aus dem Kühlschrank und ging direkt aus der Küche durch die Eisentür in die Garage. Er kletterte in seinen großen Porsche Cayenne. Das Garagentor öffnete sich voll automatisch und schloss sich als er herausgefahren war. Auf der Arbeit angekommen besorgte er sich erstmal einen Kaffee mit viel Milch und Zucker bevor er den Kollegen unter die Augen trat.
Heute werden sie sicherlich irgendetwas mit ihm anstellen, denn es war ein Tag vor seinem 30.Geburtstag. Sein Chef Nils Krämer hatte eine Vorliebe für Junggesellenabschiede und Feiern für Ungebundene. Stefan Siedenberg ist jetzt seit 8 Jahren bei der Krämer Consults & Co KG als Finanzbuchhalter tätig und hatte so manchen Verkupplungsversuch seines Chefs über sich ergehen lassen müssen. Diesmal wird es eine riesige Schweinerei, da war sich Stefan ganz sicher. Die ganze Zeit grinsten die Kollegen hämisch oder hörten auf zu reden, wenn er den Raum betrat. Diesmal waren alle beteiligt und sie freuten sich schon ungemein auf diesen Spaß. Nur Stefan überlegte, wie er aus dieser Nummer heile heraus kam. „Guten Morgen, Herr Siedenberg!“ begrüßte seine Sekretärin ihn als er in sein Büro kam. Sie schien nicht viel sagend zu grinsen und er erwiderte ihren Gruß freundlich, ließ sich von ihr seine Jacke abnehmen und tauchte so gedanklich in die Geschäftswelt ein. Arbeit hatte ihm schon immer geholfen auf dem Teppich zu bleiben. „Sind die Zahlen von Herrn Krämer schon da?“ „Nein, aber er hat sie mir bis 10 Uhr zugesagt.“ Er setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl, der ziemlich bequem war. Eine Maßanfertigung für Übergewichtige, ergonomisch geformt und Rücken schonend. Da konnte man stundenlang drauf sitzen und über den Zahlen brüten und merkte am Abend kaum die Erschöpfung. Und seit Neustem gab es auch eine Sekretärin für ihn. Daran musste er sich erst gewöhnen.
Sie hatte ihm einen Kaffee hingestellt und er stellte mit reumütigem Blick seine Kaffeetasse aus der Kantine daneben. Frau Meyer ignorierte es dezent und legte ihm eine Mappe mit der heutigen Post, schön säuberlich geöffnet, auseinander gefaltet und geordnet nach Dringlichkeit auf den Tisch. Das Telefon läutete und sie ging mit freundlicher Stimme dran „Krämer Consults - Büro Siedenberg! Was kann ich für sie tun?“ Sie legte ihre Hand auf die Hörermuschel und informierte Stefan, wer dran war und was er wollte. Schnell war Stefan in seinem Element. Die Finanzbuchhaltung war sein Steckenpferd und er konnte hier sein trostloses Leben vergessen und zeigen, was er drauf hatte.
Die Kollegen ließen sich nichts anmerken und Stefan bekam ein schlechtes Gewissen, weil er den Verdacht hatte, sie würden etwas mit ihm heute vorhaben. Nils Krämer betrat sein Büro mit einem prall gefüllten Ordner mit den Quartalsbelegen. Stefan sah auf die Uhr, die an der Wand hing. Es war halb elf „Fast pünktlich!“ murmelte er.
„Guten Morgen, Nils! Möchtest Du einen Kaffee?“
„Oh ja gern, Stefan! Jetzt kannst Du ja auch Deine Gäste bewirten lassen. Ich habe Dir ja gesagt, dass eine Sekretärin Gold wert ist.“
„Frau Meyer bringt ein wenig Ordnung in das Chaos hier und ich kann Anrufe abwimmeln, das ist nicht schlecht!“ Frau Meyer stellte unaufgefordert zwei Tassen Kaffee auf den Tisch und lächelte. Stefans Magen gurgelte laut und es war ihm unangenehm. Er spürte wie die Hitze in seinem Kopf aufstieg und sich der Schweiß auf seiner Stirn bildete. Er zog reflexartig ein Taschentuch aus seiner Jackettasche und tupfte durch sein Gesicht. Er hatte vergessen etwas zu frühstücken und hatte jetzt Hunger. „Frau Meyer, wären Sie so freundlich? Könnten Sie mir ein belegtes Brötchen aus der Kantine holen?“ fragte er respektvoll „Natürlich!“ antwortete die ältere Dame mit spitzem Mund. „Für mich bitte auch!“ ergänzte Nils. Sie nickte und verschwand. „Nicht gerade ein hübscher Anblick. Aber sie scheint fähig zu sein!“ kommentierte der Chef die Sekretärin seines Finanzbuchhalters und machte es sich auf einem Stuhl gemütlich. Er schlug galant ein Bein über das Andere in seiner beigen Leinenhose und präsentierte seine blank polierten Schuhe.
Nils Krämer war ein Dressman, immer adrett und seriös gekleidet, braun gebrannt mit etwas längerem schwarzem Haar, das er sich immer mit einer lässigen Handbewegung von der Stirn wischte. Er hatte eine sportliche Figur und Stefan beneidete ihn um sein Aussehen. Er konnte alle Frauen haben. Er brauchte nur zu lächeln und schon schmolzen sie dahin. Er war zwei Jahre jünger als Stefan und ein sehr erfolgreicher Finanzberater. Stefan war von Anfang an mit an seiner Seite und hatte erlebt, wie aus einem kleinen Büro ein großes Bürogebäude geworden war. Dieser Nils Krämer verstand sein Geschäft.
Nach einem stundenlangen Gespräch über die Quartalszahlen gingen die beiden Männer in die Kantine. So langsam kam Stefan wieder sein bevorstehender Geburtstag in den Sinn. Michael Wagner, der Rechtsanwalt von Krämer Consults setzte sich mit seinem Tablett zu ihnen an den Tisch „Na, Stefan, schon aufgeregt wegen morgen?“ fragte er grinsend und Stefan bemerkte den tadelnden Blick, den Nils Michael zu warf. „Aufgeregt? Oh nein, ich weiß ja, dass ihr was vorhabt und es wird sicherlich schlimmer als mein Todesurteil!“ Nils schüttelte den Kopf. „Nein, Stefan, Du irrst Dich! Wir haben uns etwas ganz Wunderbares für Dich ausgedacht. Du wirst schon sehen, es wird Dir gefallen!“ sagte er aufmunternd. Michael grinste „Du kennst ihn ja. Er hat immer tolle Ideen, aber diesmal hat er sich wirklich selbst übertroffen!“ Stefan wurde ganz anders und das Essen, was er bereits im Magen hatte schien sich gegen die Verdauung zu wehren. Er spülte das Gefühl mit Cola herunter. „Mit mir kann man es ja machen!“ knurrte er missmutig. Am Nachbartisch wird weibisch gekichert.
Stefan ging nachdenklich zu seiner ausgiebigen Mittagstoilette, die er immer mit einem Neuankleiden verband, weil er wusste, wie widerlich Schweißgeruch war. Wegen seiner Körperfülle schwitzte er nun mal immer. Frisch gemacht wagte er sich in das Großraumbüro des Rechnungswesens. Hier saßen zwischen ein paar Stellwänden seine Mitarbeiter, für die er verantwortlich war. Er hatte sich nie als ihr Vorgesetzter gefühlt, aber jetzt wo Frau Meyer da war, wurde es ihm täglich bewusst. Er mochte es, direkt zu den Kollegen an den Schreibtisch zu gehen und mit ihnen die tägliche Arbeit zu besprechen. Jetzt stand Frau Meyer zwischen ihnen und vermittelte die Belange der Mitarbeiter. Stefan sah sich orientierungslos um. Keiner wollte etwas von ihm und er hatte eigentlich auch nichts, was er wollte. Er trat an einen Schreibtisch, an dem ein älterer Mann telefonierte. Als er aufgelegt hatte, lächelte er seinen Chef an und fragte
„Was kann ich für Sie tun, Herr Siedenberg?“
„Mh, eigentlich nichts. Ich dachte nur, Sie könnten mir vielleicht verraten, was Herr Krämer vorhat?“
„Sie meinen, ihren Geburtstag? Also ich und meine Frau freuen sich wirklich sehr auf morgen. Es wird bestimmt eine schöne Feier. Herr Krämer hat keine Kosten und Mühen gescheut!“
„Es wird sicherlich viele Gemeinheiten geben, die er vorbereitet hat.“
„Es passiert nichts, wozu Du gezwungen wirst, Stefan!“ sagte eine hübsche brünette Frau, die sich zu ihnen gesellte und ihm den Arm tätschelte.
„Ach Kerstin, wenn ich das nur glauben könnte!“ stöhnte Stefan. Die hübsche Exfreundin von Nils Krämer, Kerstin Lager war der Firma treu geblieben und erwies sich als patente Bankkauffrau, die Stefan sehr schätzte. Vielleicht holte Kerstin absichtlich ein Anliegen heraus, um ihn ein wenig abzulenken.
„Du, ich habe da zwei Rechnungen umgebucht. Die würden dann in der Quartalsbilanz berücksichtigt werden müssen bevor Du die abschließt.“
„Gut, dass Du das sagst, ich wollte das eigentlich gerade tun.“ Irgendwie war es plötzlich 17 Uhr und Stefan konnte Feierabend machen. Keiner hatte ihm etwas angetan oder verraten, was auf ihn zukam.
Als es um 22 Uhr an seiner Haustür klingelte war ihm klar, dass jetzt das erwartete Unheil drohte. Tatsächlich standen Nils, Michael und noch ein paar andere Kumpels mit einem Kasten Bier, ein paar Flaschen Whiskey und anderem Fusel vor der Tür.
„Du willst doch nicht allein in Deinen Geburtstag feiern, Alter?“ sagte Nils und stürmte schon ins Wohnzimmer.
„Ich habe uns zwei geile Pornos besorgt!“ sagte Einer, der Sven hieß. Stefan verdrehte die Augen.
„Männerabend, was? Und was kommt dann?“
„Wenn Du Lust hast, können wir noch einen Zug durch die Kneipen machen?“
„Ihr fragt, ob ich Lust dazu habe?“ fragte Stefan amüsiert.
„Klar, Alter! Hier wird Keiner zu irgendetwas gezwungen. Das wäre ja Freiheitsberaubung!“ sagte der Rechtsanwalt Michael und ließ sich auf das Sofa plumpsen. Schon machte sich Sven am DVD-Spieler zu schaffen.
Stefan hatte ein umfangreiches technisches Equipment aus Stereoanlage und Fernseher mit großem Flachbildschirm. Die Kumpels kamen gerne her um mit ihm Filme zu schauen. Das war nicht ungewöhnlich. Eigentlich mochte Stefan keine Pornos und schon gar nicht in Gesellschaft. Was sollte er machen, wenn er plötzlich einen Ständer kriegte? Er hasste solche Situationen, die auf seine Kosten zur Belustigung der Anwesenden beitrugen. Aber diese Pornos waren erträglicherweise schlecht. Sie machten witzige Kommentare und lachten sich kaputt darüber, als angeregt zu werden. Anregend war eher der Alkohol, der in rauen Mengen floss und so war Stefan nicht mehr in der Lage zu widersprechen als nach einem grölenden Geburtstagsständchen um Mitternacht die Männer zu einem Kneipenzug aufbrachen. Er zog sich frische Klamotten an und ließ sich in ein Taxi verfrachten. Ein XXL-Taxi mit Schiebetüren extra für den Dicken. Er fand sich in einer Bar wieder und Nils gebeugt über seine Schulter posaunte
„Mein Kumpel hier, der heiratet morgen. Eine Runde aufs Haus!“ Stefan lachte über diesen Joke.
„Ja, ja. Ein Pfundskerl heiratet eine Pfundsfrau!“ „Genau!“ johlte Michael
„Du bist ein Pfundskerl, Stefan! Unser bester Freund!“
„Hast Du gedacht, wir stellen etwas mit Dir an? Wir sind ganz artig, weil Du doch unser Freund bist!“ lallte Sven und Stefan war irgendwie erleichtert. Er sang mit den Männern Lieder und ließ seinen Bariton dabei stolz brummen. Heute war sein Geburtstag und er war froh, dass ihm bis jetzt irgendeine üble Überraschung erspart geblieben war. Jetzt musste er nur noch die riesige Party, die Nils für ihn im Gasthof organisiert hatte überstehen und dann hatte er es geschafft. Wie er ins Bett gekommen war, konnte er sich nicht mehr erinnern.
Evana wartete schon eine halbe Stunde vor dem Haupteingang des Zirkus als ein Großraumtaxi vorgefahren kam. Die Lichter am Zelt waren schon längst alle ausgemacht worden, nur noch der Name oben an der Zeltspitze leuchtete. Sie war froh über die Straßenlaterne, sonst hätte sie hier im Dunkeln stehen müssen. Es war bereits zwei Uhr nachts als Nils Krämer endlich kam. Die Vorstellung heute war ein voller Erfolg gewesen. Das Zelt war ausgebucht und das Publikum begeistert von ihrem Auftritt. Die Nummer mit der Tuchakrobatik war wirklich toll und machte Evana riesigen Spaß. Es war mal etwas Anderes als das Trapez oder das Hochseil. Eine wirklich gute Idee von ihrem Onkel Piotr. Die ukrainische Artistengruppe konnte dieses Jahr nicht in Deutschland auf Tournee gehen. Sie hatten keine Ausreisegenehmigungen aus der Ukraine erhalten. Nur Evana durfte nach Deutschland und sie musste alleine das Geld einbringen, was sie sonst mit einer ganzen Gruppe einbrachten. Dass es ihr tatsächlich gelang machte sie stolz und nebenbei war sie froh einmal alleine unterwegs zu sein. Sie war gerade mal 22 Jahre alt und hatte nichts als Zirkus gesehen in ihrem Leben.
Nils Krämer wankte aus dem Taxi auf sie zu. Er war eindeutig betrunken. „Evana! Esssss tut mir leid, dass ich zu spät ko…komme.“ Er wollte sie mit einem Kuss auf die Wange begrüßen, aber das gelang ihm nicht. „Ich bin ganz schön besssssoffen, meine Li….Liebe! Der Stefan hat einen geilen Jung…Junggesellenabschied bekommen. Steig ein und bring mhmich insssss Bett!“ lallte er. Evana begrüßte den Taxifahrer freundlich und stieg ein. Nils kuschelte sich gleich an sie und schlief ein.
„Wohin soll es denn gehen, junge Frau?“
„Oh, hat nicht gesagt, Herr Krämer?“
„Nein, tut mir leid.“ Der Taxifahrer sah sie prüfend an. Evana versuchte Nils wach zu kriegen. Sie war zwar schon mal bei ihm gewesen, aber sie wusste nicht wie die Adresse lautete. „Nils?“ Sie klatschte ihm leicht auf die Wange. „Oh, Evana, ich binnnn wohl eingeschlafen. Oh, schö….schöne Evana!“ Er schlief wieder ein. Sein Kopf machte was er wollte und schlug nach hinten auf die Kopfstütze. Sie suchte nach seiner Brieftasche in der Innenseite seiner Jacke. „Suche Adresse!“ erklärte sie dem Taxifahrer, bevor der einen Diebstahl vermutete. Sie wusste, wie die Menschen hier zu Lande dachten. „Hier stehen: Georg-Gröhner-Str.12! Sie kennen?“ fragte sie und steckte den Ausweis wieder in die Brieftasche. Der Taxifahrer startete den Motor zur Antwort.
Evana kannte Nils schon seit etwa 5 Jahren. Onkel Piotr hatte Evana damals in einem Hostessen-Service angemeldet, den eine Bekannte von ihm hier in Deutschland führte. Er hatte gemeint, Evana müsse nur die Männer begleiten, aber natürlich stimmte das nicht. Sie musste auch mit ihnen ins Bett gehen. Es war wirklich schrecklich für das damals 17jährige Mädchen, das noch von der wahren Liebe träumte. Sie wollte ihren Onkel Piotr aber nicht enttäuschen, der so freundlich war, sie nach dem tödlichen Absturz ihrer Mutter vom Hochseil in der Artistenschule in Lublija aufzunehmen. Der Bruder ihrer Mutter sorgte für die ganze Familie und meist waren sie mit 15 Erwachsenen und 6 Kindern in drei Wohnwagen mit verschiedenen Zirkusunternehmen in Deutschland unterwegs. Die Gage für ihre Auftritte kam immer erst am Ende der Tournee, da brauchten sie genügend Geld, um alle Mäuler zu stopfen und die schöne Evana musste sich an der Geldbeschaffung beteiligen. Sie war damals von Nils Krämer engagiert worden, um ein paar Geschäftspartner bei Laune zu halten. Sie waren in einem feinen Restaurant und Evana hatte Herrn Krämer gut gefallen. Er hatte gut bezahlt dafür, dass sie mit ihm das Bett teilte.
Diesmal versprach er auch gutes Geld. Eigentlich wollte sie darauf verzichten auf dieser Tournee, die sie allein bestritt sich zu prostituieren, aber Nils war so etwas wie ein Stammkunde. Immer wenn sie in der Stadt war, gingen sie zusammen aus, amüsierten sich, tranken Wodka um die Wette und machten Sex für gutes Geld. Er war nett, sah gut aus und einer der angenehmsten Freier von Evana. Als sie den ewigen Junggesellen letztes Jahr ansprach, ob er sie nicht heiraten könne, damit sie die deutsche Staatsbürgerschaft bekommt, hatte sie nicht gedacht, dass so etwas dabei heraus kommt. Sie glaubte nicht an dieses verrückte Angebot. Erst als sie das wunderschöne Brautkleid, das am Kleiderschrank von Nils hing sah wurde ihr klar, dass er es ernst meinte. Nils saß auf seinem Bett und zog sich gerade umständlich die Kleidung aus. „Da staunst Du, was Evana?“ „Es ist Traum!“ schwärmte Evana und fuhr mit der Hand entzückt durch den seidigen Stoff des Kleides. „Ich habe es aus einem Kostümverleih. Mach es nicht kaputt!“ sagte er tadelnd. Nils hatte es geschafft sich bis auf die Unterhose zu entkleiden.
Evana war sich nicht ganz schlüssig, was er jetzt von ihr erwartete. Sollte sie mit ihm ins Bett? Sollte sie sich auch ausziehen? Sie krallte sich nervös an ihren kleinen Koffer, der mit Schmink- und Frisiersachen gefüllt war. „Ich habe auch Schuhe und Strumpfhose besorgt und eine Stola, die war nicht dabei. Ich hoffe, es passt Dir.“ Er zündete sich eine Zigarette an und machte es sich auf seinem Bett bequem. Evana ging zu den Schuhen, die unter dem Kleid standen. „Schuhe sieht teuer aus!“ „Ich wusste nicht, dass Schuhe so teuer sind. Ich hätte Damenschuhverkäufer werden sollen und nicht Finanzberater. Da ist nichts dran als eine hohe Hacke und eine Schnalle“ wetterte Nils empört los. „Ist Strassstein, hier ...echtes Leder?“ versuchte Evana zu erklären und hielt ihm ehrfürchtig die Schuhe hin. „Zieh an!“ sagte er amüsiert.
Nilsgenoss es ihr zuzusehen. Sie war eine anmutige Schönheit, viel zu schade für die Prostitution, in die ihr Onkel sie getrieben hatte. Sie war einfach zu dumm, um es alleine zu schaffen und jetzt wird er ihr helfen. Es war ein gutes Gefühl, den Ritter zu spielen, fand er. Sie hatte ihm schon viele Stunden der Freude bereitet, sie war unkompliziert und genau die Richtige für die Geburtstagsüberraschung von Stefan Siedenberg. Der wird Augen machen und diesen Spaß sicherlich mitmachen, da war sich Nils sicher. Stefan wirkte heute Abend sehr erleichtert, dass sie ihm keine Streiche gespielt hatten. Schon seit Tagen war er ängstlich durch die Firma geschlichen und hatte versucht heraus zu finden, was Nils vorhatte. Alle hatten dicht gehalten, aber nicht Alle waren begeistert von der Idee. „Diesmal gehst Du wirklich zu weit!“ hatte seine Exfreundin Kerstin Lager gesagt. Stefan war zwar ganz schön Übergewichtig, aber Nils kannte keinen Menschen, der fachlich so kompetent und dabei so vertrauenswürdig war. Ohne ihn wäre Krämer Consults nicht so erfolgreich geworden, wie es jetzt war. Es war so schade, dass Stefan keine Freude im Leben fand und nur in seinem Bungalow herum deprimierte. Nils freute sich schon auf morgen. Wenn er Evana so sah, wie sie sich mit mädchenhafter Freude in das champagnerfarbige Kleid zwängte wurde ihm bewusst, dass Stefan nicht der Einzige war, dem er ein Gefallen tat.
Nils schlief zufrieden mit sich und der Welt ein. Seine Zigarette qualmte noch im Aschenbecher und Evana drückte sie für ihn aus. Sie drehte sich noch ein paar Mal mit dem Kleid vor dem Spiegel des Kleiderschranks und träumte sie würde morgen einen Prinzen aus einem Märchen heiraten. Dass dieser Stefan Siedenberg alles Andere als ein Prinz war, hatte Nils ihr erzählt. Er war ein fettleibiger, erfolgreicher und einsamer Mann, der für jeden Spaß zu haben war. Mehr wusste Evana nicht. Sie wäre durch eine Heirat mit einem Deutschen nicht mehr darauf angewiesen eine Ausreisegenehmigung zu beantragen, wenn sie ein Engagement in Deutschland bekam. Sie würde endlich die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, wenn egal welcher Mann nur seine Unterschrift unter die Heiratsurkunde setzte. Sie bezweifelte aber, dass ein Mann so dumm sein konnte, sich aus einem Spaß heraus so ausnutzen zu lassen.
Sie legte sich zu Nils ins Bett und wunderte sich nicht als sie am Morgen durch eine Hand geweckt wurde, die ihren Körper erforschte. Nils zog ihr das Nachthemd aus und liebkoste der müden Evana die Brüste. Sie war nicht zu erregen. Seine Berührungen ließen sie kalt. Sie war es gewohnt den Männern etwas vor zu machen und öffnete bereitwillig die Beine als er sich auf sie rollte. Sie war froh, dass sie es schnell hinter sich bringen konnte und drehte sich noch einmal um, als er unter die Dusche sprang. Er zog ihr die Decke weg und weckte sie noch einmal unsanft.
„Auf, auf, heute wird geheiratet!“
„Lass schlafen mich!“ wimmerte sie. „Gib Decke, Nils!“ Er schmiss ihr die Decke wieder hin.
„Ich mache Dir einen Kaffee, der Deine Lebensgeister weckt, Evana!“ Als er mit einer Tasse zurückkam, die wirklich köstlichen Duft verbreitete, setzte sie sich auf.
„Meinst Du, wird freuen Überraschung Dein Freund?“
„Weiß nicht!“ sagte Nils achselzuckend und setzte sich zu ihr auf das Bett. „Es wäre Dir zu wünschen, aber Stefan hat natürlich das Recht ab zu lehnen. Ich fand es erst eine sensationelle Idee, aber so langsam kommen mir Zweifel. Er wird sich ganz schön verarscht vorkommen.“
„Er wird sein böse!“ Nils schüttelt den Kopf
„Ich habe Stefan noch nie böse erlebt. Er hat sich noch nie über irgendetwas aufgeregt oder geschimpft.“
„Deswegen er dick!“
„Da könntest Du Rechthaben!“ sagte Nils nachdenklich und kuschelte sich an die nackte Evana.
Stefan knurrte missmutig in seinem Bett als es stürmisch zu klingeln anfing. Er rollte aus dem Bett und stellte fest, dass er noch angezogen und es 9 Uhr morgens war. Er schlurfte zur Küche und sah auf dem Bildschirm der Haustürkamera. Es war Nils Krämer. Stefan drückte den Summer und hörte, wie sportlich und ausgeschlafen sein Besucher die Stufen herauf gehüpft kam. Verschlafen fingerte er an der Kaffeemaschine. Nils kam nicht gleich in die Küche, sondern verschwand im Wohnzimmer. Dort knisterte er verdächtig mit irgendetwas herum und kam endlich in die Küche. Stefan blinzelte ihn müde an.
„Wow, Alter! Du siehst Scheiße aus. Das müssen wir schleunigst ändern!“
„So ist das eben, wenn man 30 ist. Ich habe die Hoffnung aufgegeben, jemals nicht Scheiße auszusehen.“
„Midlifecrisis?“ witzelte Nils und klopfte seinem Freund auf die Schulter. Stefan nippte an seinem Kaffee.
„Kann ich erstmal duschen gehen, bevor ich das Geschenk auspacke?“
„Bitte ausgiebig und rasieren nicht vergessen!“ Stefan vermutete, dass er nach Schweiß roch und ihn deshalb sein Freund ausgiebig duschen schickte. Das konnte er nicht leiden, er wollte nicht mit Körpergerüchen unangenehm auffallen, wo er doch schon so hässlich war. Die Dusche tat gut. Stefan hatte sich eine große Dusche mit Massagedüsen einbauen lassen, als seine Mutter ins Altersheim kam. Jetzt war die morgendliche Dusche immer ein Genuss und keine Wasserschlacht mit anschließendem Hochwasseralarm. Die Rasur war schnell erledigt und die Gesichtscreme, die er von seinem Hautarzt verschrieben bekommen hatte bewirkte ein frischeres Aussehen. Stefan drückte sein Doppelkinn weg und fand, dass er so gar nicht so schlecht aussah. Er hatte noch volles Haar, das er in einem klassischen Männerhaarschnitt seitlich gekämmten Scheitel und etwas Gel in Form bringen konnte.
Nur in Unterwäsche tapste er in sein Schlafzimmer, wo er von Nils überfallen wurde. „Das sieht doch schon viel besser aus!“ lobte der seinen übergewichtigen Freund und hielt ihm einen maßgeschneiderten Anzug hin. Stefan starrte ihn ungläubig an. Der Anzug mit Frackjacke und eingelassenen Samtapplikationen war wirklich schick. Nils hatte sogar ein Hemd besorgt mit diesem barocken Flatterausschnitt, so wie Stefan es cool fand, aber nie gewagt hatte sich zu kaufen. Er musste einen Tipp von dem Schneider bekommen haben, bei dem sich Stefan immer seine Anzüge maßanfertigen ließ.
„Willst Du mit mir in die Oper gehen?“ fragte Stefan belustigt.
„Na, in Unterwäsche ganz bestimmt nicht, Alter!“
„Das ist echt ein Hammer Outfit!“ staunte er und nahm ihm das Hemd ab.
„Damit wirst Du bestimmt Meatloaf-mäßig aussehen. Die Frauen werden Dir zu Füßen liegen.“ Stefan zog sich das Hemd an und zupfte es über seinen dicken Bauch. Der Ausschnitt des Hemds war ziemlich groß und ließ ein wenig sein Brusthaar erkennen. Er sah in den Spiegel und überlegte noch, ob er es sich trauen wird, damit in die Öffentlichkeit zu gehen.
„Ich hoffe, Du findest passende Schuhe zu dem Anzug, die konnte ich Dir nicht besorgen. Ich warte draußen auf Dich!“ Mit diesen Worten verzog sich Nils schnell, bevor Stefan sich gegen diese Aufmachung wehren konnte. Nils wusste, wie er tickte und ließ ihm keine Chance. Fertig umgezogen stand Stefan vor dem Spiegel. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal so angesehen hatte. Ihm gefiel, was er sah. Vor ihm stand zwar ein dicker Berg, aber er war erfolgreich im Beruf und hatte tolle Freunde, da konnte seine Mutter an ihm herumnörgeln, wie sie wollte. Er zog die Schublade vom Nachttisch auf und holte ein Kästchen heraus. Andächtig zog er eine goldene Halskette heraus, die einmal seinem Vater gehörte, den er kaum kannte. Er hatte keine Ahnung, wo sein Vater war, wusste nur, dass er als LKW-Fahrer sein Geld verdiente. Ihm klangen die abfälligen Worte seiner Mutter in den Ohren „Du bist so fett, wie Dein nichtsnutziger Vater!“ und legte triumphierend die Kette um seinen dicken Hals. Egal, was Nils jetzt mit ihm vorhatte, es konnte nicht so schlimm werden, wie das Leben mit seiner schrecklichen Mutter, daran sollte ihn jetzt diese Kette erinnern.
Die schwarze Limousine rollte vor das Rathaus. Nils hatte mit Stefan Champagner getrunken und war froh, dass das Geburtstagskind heiter und aufgeregt seine Überraschung erwartete. Die Männer stiegen aus und der Chauffeur fuhr wieder davon. Vor dem Rathhaus warteten schon Sven und Michael mit ihren Freundinnen in feinstem Zwirn. Sie bewunderten gleich die Verwandlung von Stefan und Nils grinste zufrieden. „Hat Dir denn Nils endlich erzählt, was er mit Dir vorhat?“ fragte Michael Wagner skeptisch. „Ich möchte nicht, dass Du später auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren kannst!“ Stefan drehte sich mit gehobenen Augenbrauen seinem Freund und Chef Nils Krämer zu, der nervös von einem Fuß auf den Anderen wippte. „Ich würde lieber erstmal auf die Frauen warten!“ zischte er durch die Zähne Michael an. Stefan kannte das Ritual schon, das man mit 30jährigen Junggesellen veranstaltete. Er bekam einen Besen in die Hand und musste irgendeine Treppe fegen bis er von einer heiratswilligen Jungfrau erlöst wurde. So wenig Einfallsreichtum hatte er Nils gar nicht zugetraut. Hier auf dem Rathhausplatz war eine Menge los. Der Grünmarkt war gut besucht und Touristen fotografierten die Wahrzeichen der Stadt. Der Dicke musste also gleich für die Belustigung der Bürger sorgen. Stefan ergab sich seinem Schicksal.
Die schwarze Limousine kam langsam vorgefahren. Einige Leute blieben schaulustig stehen, um zu sehen, wer diesem Wagen entsteigt. Es konnte ja irgendeine Berühmtheit sein und das wollte Keiner verpassen. zunächst sah Stefan, wie Kerstin Nager in einem roten Abendkleid aus der Limousine stieg aufhielt. Schon als er den Stoff des Kleides sah, das anschließend erschien bekam er kaum noch Luft. sein Herz begann zu rasen und er fingerte nervös nach den taschentuch, um sich die stirn abzutupfen. Das war eindeutig ein Brautkleid! Es war unvorstellbar, dass dies eine Geburtstagsüberraschung sein sollte. Nils konnte doch nicht wirklich eine echte Hochzeit für ihn arrangiert haben. Da ging er wirklich zu weit. Wie hatte er sich das vorgestellt? Stefan holte tief Luft und sah sich seine Braut an, die da der Limousine entstieg. Sie war zierlich und wirkte zerbrechlich. Er hatte eher eine dicke fette Kuh erwartet, passend zu diesem Berg, der er war und keine anmutige Elfe. Sie war bezaubernd und sah ihn schüchtern an. Ihre Augen waren grün und das Haar, das mit kleinen Röschen hochgesteckt war, war rot-braun und fiel in wellen über ihre schultern. Ihre Nase war spitz mit ein paar Sommersprossen und ihre Lippen wohlgeformt mit Lipgloss, auf dem sie nervös kaute.
Er lächelte Evana an, die innerlich zitterte. Sie hatte in den letzten Stunden darüber nachgedacht, wie dieser Moment sein würde und er war nicht im Geringsten so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Evana hatte Kerstin, die ihr beim Zurechtmachen geholfen hatte, die ganze Zeit mit Fragen gelöchert und die hatte immer nur kopfschüttelnd gesagt „Warum tust Du Dir das an, Mädchen? Nils ist so ein Blödmann!“ Jetzt stand dieser Stefan vor ihr. Er war zwar dick, so wie Nils es ihr beschrieben hatte, aber Evanas Vorstellung war die von einem stinkenden Riesen, der wie ein Buddha grinste. Sein Lächeln hetzt war hingegen herzerwärmend und er war sehr gut gekleidet. Die Goldkette und der Hemdkragen gefielen ihr. Er war sicherlich ein sehr reicher Mann. Er wirkte stark und selbstsicher, wie ein Türsteher oder ein russischer Ringkampfchampion als wie ein trockener Buchhalter, der nur Zahlen im Kopf hat, so wie Nils es ihr erzählt hatte.
„Hallo, Stefan! Tut leid mir, ich mitmachen dummer Spaß, aber ich hoffen auf deutsches Staatsbürgerschaft.“
„Du kennst also meinen Namen und ich weiß nichts von Dir?“ sagte er eher amüsiert als ärgerlich
„Evana Trebkowa mein Name. Akrobatin in Zirkus gerade ist in Stadt. Kennen Nils Kämer von Hostessenservice.“ „Hostessenservice?“ Dass Nils sich ganz gerne mal mit Frauen vergnügte, war Stefan bekannt. Gerade deshalb war die Beziehung zwischen Nils und Kerstin ja auseinander gegangen. Diese Evana sah gar nicht wie eine Prostituierte aus. Sie war so elegant und wirkte dabei so unschuldig. Es schien ihr dabei wichtig zu sein, dass er über ihre Herkunft und Beweggründe bescheid wusste. Stefan bewunderte ihre Ehrlichkeit und sie regte sein Mitgefühl.
„Aus welchem Land kommst Du?“ Evana hatte viele Reaktionen erwartet, aber nicht einen ruhig da stehenden Mann, der sie neugierig ausfragt. „Kommen aus Ukraine. Lubija mein Heimatstadt. 22 Jahre!“ informierte sie ihn und Stefan sah ihren treuherzigen, bittenden Blick. Er hatte keine Ahnung von der Ukraine. Wusste nicht mal, wo die lag und ihm war das Gefühl auch ziemlich egal, von dieser Frau über den Tisch gezogen zu werden. Eine Scheinheirat also, dachte er und sagte sich, warum nicht? Er würde sowieso nie heiraten, geschweige denn eine Frau fürs Leben finden. Es gab eine große Feier im Anschluss der Trauung in dem feinen Gasthof, das hatte Stefan schon herausbekommen. Er würde im Mittelpunkt stehen in dieser tollen Kleidung und mit seiner Braut tanzen und er tanzte für sein Leben gern.
Dieser wunderschönen Elfe würde er mit der deutschen Staatsbürgerschaft ein Gefallen tun. Was seine Mutter wohl dazu sagen wird? Sie hat immer gemeint „Wer so aussieht, wie Du, wird nie heiraten!“ Er griff nach der goldenen Halskette und wünschte sich so sehr, sein Vater wäre hier und würde ihn von diesem Quatsch abhalten. „Du siehst wunderschön aus, Evana! Warum machst Du das hier mit? Du hättest bestimmt keine Probleme einen anderen Ehemann zu finden.“ „Ehemann egal. Männer alles gleich. Ich brauche nix Geld oder Kinder - nur traurig Kinder.“ So Stichpunkthaft sie sich auch ausdrückte, er verstand sie genau und es füllte sein Herz mit Wärme. Sie war genauso ein deprimiertes Wesen wie er und er wünschte sich, sie vom gegenteil zu überzeugen. Aber wie sollte er das tun, wenn er selbst so ein Trauerkloß war. Evana kannte wahrscheinlich nur Männer, die für eine Frau bezahlten. Dass er anders ist, würde Stefan gerne behaupten, aber wäre er schlank, wäre er sicherlich genauso, wie diese Männer.
Er beugte sich lächelnd herunter zu Evana, die ein Kopf kleiner war als er
„Willst Du mich heiraten, Evana?“ Sie lächelte dankbar um diese romantische Frage. Sein Herz füllte sich mit Wärme
„Natürlich Stefan, darum ich hier!“ Er drehte ihr seine Seite zu und beugte den Arm in einer galanten Geste
„Gehen wir?“ sie hakte sich bei ihm ein. Die Hochzeitsgäste hatten sich etwas Abseits hingestellt, um den Beiden, die Chance zu lassen sich kennen zu lernen. Michael und Kerstin waren sicher, dass Stefan diesen 'Spaß' nicht machen wird. Doch der sah Nils nur missbilligend an und fragte
„Wo muss ich hin, um mein Todesurteil zu unterschreiben?“ Michael verschränkte die Arme und verdrehte die Augen
„Das ist doch jetzt nicht Dein Ernst, Stefan? Du willst doch nicht wirklich diese wildfremde Frau jetzt heiraten?“
„Es ist mein Ernst. Ich kann Euch doch jetzt nicht den Spaß verderben.“
„Irgendwo hört aber mal der Spaß auf!“ piepste Kerstin kopfschüttelnd. Nils legte Evana, die den Tränen des Glücks nahe war den Arm um die Schulter. Sie ließ Stefan nicht los, der schmerzhaft spürte wie sie sich in seinen Arm krallte.
„Darf ich Euch Evana Trebkowa, die berühmte Hochseilartistin aus der Ukraine vorstellen. Sie stammt aus einer uralten Schaustellerfamilie, die schon über Generationen erfolgreich mit ihren Trapeznummern ist. Sie ist gerade auf Tournee in Deutschland und tritt gerade in der Jubiläumsshow im Zirkus auf dem Marktplatz auf.“ Nils hörte sich an, wie der Zirkusdirektor persönlich und zerrte an Evana, die sich gegen ihn wehrte. Stefan griff Nils Handgelenk des Arms, der auf Evanas Schultern lastete und schob sich zwischen die Beiden, was ihm mit seinem dicken Bauch überhaupt nicht schwer fiel. Er richtete sich an den Rechtsanwalt Michael.
„Evana wünscht sich deutsche Staatsbürgerin zu werdn und das wäre doch durch eine Heirat mit mir möglich, oder?“
„Natürlich!“ sagte er nachdenklich „Du weißt, dass man übel bestraft werden kann, wenn eine Scheinheirat nachgewiesen wird?“
„Wer sagt denn, dass es eine scheinheirat ist? Ich finde sie bezaubernd.“ stellte Stefan klar und alle lachten, sogar Evanas Lachen war zu hören.Sie wich nicht von der Seite des Bräutigams und ließ ihn ihre zittrige Hand am Arm spüren.
Kerstin gesellte sich zu Nils, der etwas irritiert zur Seite geschoben wurde.
„Wo hast Du die bloß aufgegabelt? Ist sie eine von Deinen Nutten, Nils? Ich finde es geschmacklos, wie Du das Leid der Kleinen für Deine Zwecke ausnutzt!“
„Sie hatte mich um Hilfe gebeten und da kam mir die Idee mit Stefan…“ stammelte Nils entschuldigend.
„Du weißt ganz genau, dass Stefan niemals jemanden die Hilfe verweigern würde. Er ist einfach zu gutmütig und Du nutzt das aus. Ich dachte, Du wärst sein bester Freund?“
„Du scheinst ihn besser zu kennen als ich. Ich dachte, er würde sofort ablehnen. Wahrscheinlich ist er noch zu besoffen, um klar zu denken. Es war eigentlich nur ein Spaß, aber Evana hat gleich die Mitleidsnummer abgezogen.“
„Du bist so ein Idiot! Die Zirkusschlampe weiß doch, wie sie an ihr Ziel kommt. Du bist doch auch auf sie reingefallen. Merkwürdig, dass Du sie nicht geheiratet hast. Wahrscheinlich bist Du nur glücklich, wenn Du sie für Sex bezahlen kannst." Evana sah zu den Beiden herüber. Sie hatte alles mit angehört und hoffe, dass Stefan nichts davon mitbekam. Kerstin hatte Recht, Sie wusste welches Ziel sie verfolgte und es bedeutete ihr so viel, dass sie über Leichen ging. Nicht einmal ihrem Onkel Piotr hatte sie etwas gesagt und wenn der das rausbekommt, wird es richtig Ärger geben, aber er wird einsehen, dass es zu ihrem Besten sein wird.
Eine Dame lugte aus der Rathhaustür „Ist das Hochzeitspaar Siedenberg/Trebkowa hier?“ Evana wurde ganz schwindelig, sie bekam weiche Knie und sackte leicht weg. Stefan, der sie die ganze Zeit interessiert beobachtete, wie sie tranceartig vor sich hin starrte, fing sie auf
„Hoppla! Mach mir nicht schlapp. Ich habe noch vor mit Dir auf unserer Hochzeitsfeier einen flotten Walzer auf das Parkett zu legen.“
„Ich fasse nicht, passieren in Wirklichkeit!“
„Mir geht es ebenso!“ sagte er und half ihr die Stufen einer Treppe herauf.
„Du musst nicht machen das!“ sagte sie auf halber Höhe zu ihm.
„Ich helfe Dir gerne die Treppe rauf!" witzelte Stefan.
"Ich meinen, Du müssen nicht heiraten mich!"
"Sieh mich an, Evana. Ich werde nie eine Frau finden, da kann ich mich beruhigt auf so etwas einlassen. Ich helfe gern!“
„Es macht nicht ob dick, Du bist rein im Herz, Stefan!“ sagte sie und lächelte. Stefan hatte ein merkwürdiges Gefühl im Magen, sagte man dazu nicht 'Schmetterlinge im Bauch', so als hätte er sich gerade verliebt. Er verliebte sich ständig. Eine Frau brauchte nur etwas Nettes zu ihm zu sagen und schon war es um ihn geschehen. Es wird vorbeigehen, so wie es immer vorbei ging, auch diesmal.
Der Standesbeamte machte ein paar abfällige Witze über das ungleiche Paar, irgendwas mit „Elfe und Berg“. Es war nicht sehr nett und Evana warf Stefan einen bestürzten Blick zu. Die Trauzeugen waren Kerstin und Nils, denen irgendwie das Lachen vergangen war, weil die ganze Sache plötzlich so ernst wurde. „Sie dürfen die Braut jetzt küssen!“ Evana und Stefan küssten sich kurz. Evana hatte dabei sanft mit der Hand über seine Wange gestrichen, wovon er eine Gänsehaut bekam. Sein Herz schien zu explodieren beim Anblick ihrer schönen Augen und Evana war überrascht, wieviele Gefühle aufeinmal in ihr hochkamen. Sie sahen sich eine Weile in die Augen, dass der Standesbeamte doch Zweifel bekam, dass es sich hier nicht um eine Scheinheirat handelte, so wie vermutet. Nils hatte goldene Ringe besorgt, die sich die Beiden gegenseitig anstecken konnten. Als sie aus dem Standesamt heraustraten wurden sie mit Reis beschmissen und es gab Champagner, den der Chauffeur der Limousine eingeschenkt hatte. Er gratulierte dem Brautpaar: „Sie sind wirklich das ungewöhnlichste Hochzeitspaar, das ich jemals gefahren habe.“
Die Lichter im Zirkuszelt gingen aus. Stefans Herz klopfte bis zum Hals, denn so eben hatte der Zirkusdirektor den Auftritt der Akrobatin Evana Trebkowa aus der Ukraine angekündigt. Ein Strahler machte einen Lichtkreis auf dem Vorhang, aus dem die Schausteller in die Manege kamen und endlich öffnete sich der rote Stoff. Evana hatte ein glitzerndes Kostüm an, wie ein Badeanzug, den sie über eine Seidenstrumpfhose gezogen hatte. Sie war stark geschminkt mit Glitter über den Augen, verstärkten Wimpern und knallroten Lippen. Ihr Lächeln war starr, wie das einer Puppe und sie stakste auf den Manegenmittelpunkt zu und drehte sich mit gehobenen Armen zu allen Seiten ins Publikum, das applaudierte. Stefan klatschte nicht. Er war fassungslos und außerdem war ihm noch ganz übel von dem Gestank des Elefantenschisses, der eben vor Evanas Auftritt weggemacht wurde und seit drei Programmpunkten für unangenehmen Geruch hier in der Loge gesorgt hatte. „Ey, Alter! Warum klatscht Du nicht? Das da ist deine Ehefrau!“ amüsierte sich Nils und machte Michael auf Stefans Gesichtsausdruck aufmerksam. Sie feigsten sich was und Stefan sah diese fremdartige Frau mit großen Augen an, die sich da in die zwei Tücher erhob, die vom Zeltdach herunter hingen. Sie wickelte die Tücher um ihre Arme und dann um ihre Hüfte und turnte mit akrobatischer Leichtigkeit über den Köpfen der Zuschauer. Mal über Kopf und mal im Spagat oder einer anderen Verrenkung rollte sie sich ein oder aus den Tüchern.
Das ist nicht Evana! Nicht die Evana, die er letzten Samstag geheiratet hatte. Nicht die im gebrochenen Deutsch sprechende, entzückende Frau, der er zum Spaß das Ja-Wort gegeben hatte und der es nicht im Geringsten etwas aus zu machen schien, dass er ein Berg von einem Mann war. Sie war bezahlt worden, engagiert von seinem Chef. Nur eine Schaustellerin vom Zirkus. Sie hatte gesagt „Es macht nicht ob dick, Du bist rein im Herz, Stefan!“ Er hatte es in seinem Alkoholrausch empfunden wie ein Traum und es war auch nur ein Traum gewesen, denn keine Frau war an seinem Herzen interessiert, weil er ein schwabbeliger Berg war, ein Monster aus Fett und Schweiß. Und schon wieder triefte der Schweiß von seiner Stirn. Das ständige Aufschauen zu dem schwingenden Etwas da in der Zeltkuppel hatte ihn ganz schwindelig gemacht. Mit einem Taschentuch tupfte er die Tropfen ab und Nils entging dies nicht „Sie ist wirklich bezaubernd, nicht wahr Stefan?“ „Mir ist schlecht!“ stöhnte Stefan. Michael klopfte ihm auf die breite Schulter. „Ich würde gerne mal sehen, wie Du da oben turnst...“ Die Männer lachten laut, dass sich alle benachbarten Logenbesucher nach ihnen umdrehten und missbilligend die Köpfe schüttelten.
Evana rollte sich mit rasender Geschwindigkeit aus dem Tuch. Das sollte das Finale werden und der Bühnenarbeiter hatte den Auftrag, die Höhe des Tuchs so zu korrigieren, dass Evana gestreckt im Mittelpunkt der Manege landete, aber er hatte gepennt. Evana klatschte mit einem dumpfen Knall in die Sägespäne direkt vor der Loge, in der Stefan saß. Er vernahm ein leises „Au!“ und sprang panisch auf. Er stieg mühevoll über die Absperrung und beugte seinen schweren Körper über Evana, die regungslos da lag. Keiner hatte sich sonst gerührt. Das Publikum war verstummt und starrte gebannt auf die Artistin und den dicken Mann. Stefan sah sich suchend um. Keiner kam hinter dem roten Vorhang hervor. Der Bühnenarbeiter am Seil raufte sich die Haare und sprach Gebete. Nils und Michael sahen ihn auch nur hilflos an. Stefan hob Evana auf, die wie erstarrt da lag. Sie atmete laut ein als er sie anhob. Sie war leicht wie eine Feder. Beschwerlich war nur sein eigener Körper. Sie keuchte, denn der Schock hatte ihr den Atem geraubt. Sie schlang ihre Arme um Stefans Hals und das Publikum brach in tosenden Beifall aus. Es wurde fotografiert und Stefan wusste nicht wohin. Er stürmte auf den roten Vorhang zu, dahinter wird sich doch irgendjemand befinden, der Evana helfen kann. Der Vorhang wurde aufgerissen und auf den Helden stürmten 8 riesige weiße Pferde zu.„Bleib still stehen, dann nix passiert!“ flüsterte Evana atemlos. Der Vorhang wurde schnell wieder geschlossen und ein Clown kam auf die Beiden zu und sprach Evana in einer fremden Sprache an. Sie antwortete ihm heiser, dann wendete er sich Stefan zu. „Folgen mir zu Evanas Wohnwagen?“ Stefan wäre lieber gewesen er hätte ihm die zitternde Evana abgenommen und er hätte sich den Schweiß von der Stirn wischen können.
Vor dem Wohnwagen wurde ihm endlich Evana abgenommen, weil er viel zu dick war, um in diesen Liliputaner-Caravan hinein zu passen. Sie verschwanden in diesem kleinen Kasten, der verdächtig schaukelte und Stefan konnte sich endlich den Schweiß von der Stirn wischen. Aus dem Zirkuszelt war wieder Applaus zu hören und Pferdehufgetrappel ließ vermuten, dass sie das Abendprogramm einfach weiter durchzogen. Der dicke Mann stand ganz allein und unbeachtet da in dieser Stadt aus rollenden Häusern und wusste nicht wie ihm geschah. Was konnte er tun? Das einzig Richtige: Einen Krankenwagen rufen! Schnell zog er das Handy aus der Tasche.
Als Evana zu sich gekommen war, lag sie in den Armen des Mannes, dem sie nie wieder begegnen wollte. Sie hatte so ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber. Sie hatten so wundervoll getanzt und er war die ganze Hochzeitsfeier so charmant zu ihr gewesen. Sie hatte aber nichts Besseres zu tun, als die 5000€ von Nils entgegen zu nehmen und ohne ein Wort zu verschwinden, dabei hätte sie ihm doch einfach nur danken können. Sie hatte gehofft, dass sich ihre Wege nie wieder kreuzten, aber jetzt lag sie in seinen Armen und er trug sie aus der Manege, wie ein fürsorglicher Ehemann. Der Clown Vladimir hatte sie angesprochen: "Wer ist dieser Kerl? Wieso kümmert er sich um Dich?" und sie hatte ihm geantwortet "Das ist mein Ehemann!" Verwundert hatte er ihm den Weg zu ihrem Wohnwagen gezeigt, aber hier zeigte sich ihr Unterschied. Er war einfach zu groß und zu schwer für dieses Wohnmobil, das ihr Onkel Piotr zur Verfügung gestellt hatte. Onkel Piotr kam ihr in den Sinn, sie musste Vladimir unbedingt noch sagen, dass er sie nicht verraten soll. Aber jetzt schlavenzelten die Frau vom Zirkusdirektor und 3 andere Frauen um sie herum. Sie zogen Evana aus und wickelten ihr irgendwie einen Verband ums Bein. Evana begriff nicht, warum sie es machten, ihr tat doch gar nichts weh. Sie konnte sich nicht erinnern, wie ihr Auftritt war. Plötzlich erstarrten alle vor Schreck. Sirenen von einem Krankenwagen waren von Draußen zu hören.
"Wer hat denn einen Krankenwagen gerufen?"
"Ich befürchte, dass war der dicke Mann, der Evana rausgetragen hat."
"Das ist Evanas Ehemann!" sagte Vladimir und Evana stöhnte, weil er dies Geheimnis ausposaunte.
"Verdammt, weiß der denn nicht, dass Evana gar kein Geld hat, um den Krankenwagen zu bezahlen, geschweige denn, einen Krankenhausbesuch?" Evana schüttelte den Kopf zur Antwort.
"Er weiß gar nichts von mir!" sagte sie leise. Tatsächlich hatte sie die 5000€, die sie von Nils bekommen hat, an Onkel Piotr geschickt und behauptet, sie hätte einen Vorschuss bekommen und jetzt hätte sie dieses Geld dringend gebraucht.
Ein Sanitäter stürmte den Wohnwagen und warf alle Anwesenden hinaus. Er fingerte an Evana herum, leuchtete ihr mit der Taschenlampe in die Augen und fühlte ihren Puls.
"Frau Trepkowa, haben sie irgendwo Schmerzen?"
"Nein!"
"Mein Gott, wollten die sie umbringen. Er begann den Verband wieder abzuwickeln.
"Eine Beinschiene!" befahl er einem anderen Sanitäter, der vor dem Wohnmobil stand.
"Hier! Die Tür ist zu eng, ich komme nicht mit der Trage herein."
"Es wird schon gehen, sie sieht sehr leicht aus!"
"Sie dürfen nicht mitnehmen mich. Ich keine Geld!"
"Machen sie sich keine Sorgen, Frau Trepkowa!"
"Ich kann nicht gehen in Krankenhaus. Ich habe Auftritt morgen!" protestierte sie lauter.
"Mit dem gebrochenen Bein können sie bestimmt die nächsten Wochen keinen Auftritt mehr machen!"
"Das gehen nicht. Ich müssen. Familie in Ukraine brauchen Geld. Familie ist groß..."
"Beruhigen sie sich erstmal. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie es aussieht!" Der Sanitäter trug Evana mit der Beinschiene aus dem Wohnmobil und legte sie auf die Trage des Krankenwagens. Sie protestierte dabei bitterlich und weinte
"Niet! Nein, nicht!"
"Was ist los?" fragte Stefan den Sanitäter.
"Sie will nicht ins Krankenhaus! Sprechen sie mit ihr!"
"Ist es denn schlimm?"
"Das sieht ganz nach einem Trümmerbruch aus und sie hat sicherlich eine Gehirnerschütterung, so wie sie den Sturz geschildert haben..."
"Stefan, Ich gehen nicht in Krankenhaus!" rief Evana und versuchte aufzustehen, aber sie war bereits festgeschnallt. Die Sanitäter zogen sich zurück und Stefan trat an die Trage, die schon halb im Krankenwagen hing. Er war etwas peinlich berührt, weil sie nur in Unterwäsche da lag. Sie war so wunderschön.
"Willst Du denn nicht, dass man Dir hilft, Evana? Du hast ein gebrochenes Bein." versuchte er es mit ruhiger Stimme. Evana sah ihm in die Augen. Es schnürrte ihr die Kehle zu, dass der Mann, den sie so schändlich ausgenutzt hatte, sich Sorgen um sie machte.
"Ich in Ordnung, machen keine Sorgen. Geh Hause, Stefan!"
"Du bist nicht in Ordnung, Evana!" sagte er wieder mit geduldiger fester Stimme. Wie konnte er nur so hartnäckig sein? Er sollte sie hassen und sich einfach nicht um sie kümmern. Die Leute hier im Zirkus wissen schon, wie man so etwas heile macht.
"Ich haben keine Geld!" sagte sie leise und eingeschüchtert. Ihr kullerte eine Träne über die Wange.
"Hast Du denn keine Krankenversicherung?" Wie dumm es doch war, eine solche Frage zu stellen, dachte Stefan. Sie schüttelte den Kopf und noch mehr Tränen flossen. "Mach Dir keine Sorgen, Evana, ich regel das schon. Jetzt lass Dich erstmal ins Krankenhaus fahren und von einem Arzt untersuchen über Geld sprechen wir später." Sie nickte leicht.
"Sie sollten ein paar Sachen für ihre Frau einpacken. Sie wird sicherlich ein paar Tage dort bleiben müssen." teilte ihm der Sanitäter mit. Evana war dieses 'ihre Frau' nicht entgangen. Hatte er tatsächlich den Sanitätern gesagt, er wäre ihr Ehemann? Schon wurde sie in den Krankenwagen geschoben. Sie rief noch Stefan zu, dass der Schlüssel unter der Fussmatte sei und dann klappten die Türen vor ihm zu und die Sanitäter sprangen in den Krankanwagen. Mit ohrenbetäubendem "Tatütata" rollten sie durch die Schaulustigen, die sich überall versammelt hatten und die Stefan erst jetzt bemerkte.
"Da machst Du aber was mit!" sagte Nils und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. "Kommst Du noch mit auf ein Bier?" "Nein, ich werde hinterher fahren!" sagte Stefan und zwängte sich in das Wohnmobil. Drinnen konnte er gerademal aufrecht stehen ohne sich den Kopf zu stoßen. Es war sehr aufgeräumt hier, nur die Schminksachen wirbelten auf einem Tisch vor der Spiegelwand herum. In einer Niesche mit Tisch und Sitzgelegenheit stand ein Fernseher, der einen Bildschirm gerademal so groß wie eine Postkarte hatte. Auf der anderen Seite war das Bett auf dem das Verbandsmaterial in einem Häufchen lag. Stefan stand vor einer Küchenzeile aus Lilleput und vermutete hinter einer größeren Tür das Bad. Mit Mühe konnte er Zahn- und Haarbürste dort herausfischen.
"Was machst Du denn da? Das ist Hausfriedensbruch!" stellte Michael fest.
"Ich bin ihr Ehemann. Ich packe ein paar Sachen zusammen, die sie im Krankenhaus gebrauchen kann..." Stefan kannte sich mit Krankenhausgepäck ziemlich gut aus. Er hatte oft für seine Mutter die Tasche packen müssen, bevor sie endlich ins Pflegeheim gekommen ist. Sein Blick fiel auf ein Regal über Evanas Bett. Hier standen ihre Brautschuhe und drumherum waren fein säuberlich die Röschen aufgereiht, die sie bei der Hochzeit im Haar getragen hatte. Sein Herz schmerzte bei dem Anblick.
Evana lag in ihrem Krankenbett. Ihr Bein in Gips hing in einer Schlinge, die an einem Bügel über ihrem Bett festgemacht war. Sie wirkte sichtlich genervt von ihrer momentanen Lage. Als Stefan herein kam und schüchtern die Frauen in den Nachbarbetten grüßte, hellte sich ihre Miene ein wenig auf. Er musterte sie aufmerksam, nahm sich umständlich einen Stuhl und setzte sich neben ihr Bett. Er sagte nichts. Was sollte er auch sagen? Irgendwie wusste er gar nicht, wer sie war. Irgendwie war es ganz angenehm für Evana, dass er nichts sagte. Er konnte sich sein Mitleid sparen und eine Frage wie z.B. "Wie geht es Dir?" erübrigte sich doch in dieser Situation. Er hatte einen Rucksack dabei, der prall gefüllt war. Es schien ihrer zu sein.
"Ist mein?"
"Ich habe Dir ein paar Sachen eingepackt. Unterwäsche, Waschzeug und solche Sachen. Ein Buch, das auf Deinem Nachtisch lag, damit Du etwas zu lesen hast." Er packte es aus und legte es auf den weißen Rollwagen, der neben ihrem Bett stand.
"Ähm, ich wusste nicht, was Du so magst. Hier ist etwas Schokolade. Magst Du Schokolade?" Das letzte Mal, dass Evana Schokolade geschenkt bekam war als Kind, als ihre Eltern noch lebten. Sie war so gerührt von dieser Geste, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie nickte benommen und biss sich unsicher auf die Unterlippe.
"Wohin soll ich die Sachen packen?" Evana beobachtete den dicken Mann, wie er zum Schrank herüber ging und fein säuberlich Bademantel, Jeans und Wäsche in den Schrank legte. Er war so ordentlich, dass es etwas sinnliches hatte. Die anderen Frauen im Zimmer verstummten und sahen auch dem Schauspiel zu. Stefan spürte ihre Blicke. Was sie wohl dachten? Wahrscheinlich war es grotesk für sie, dass ein so dicker Berg zu einer solchen Elfe zu Besuch kam und auch noch Kleidung für sie mitbrachte. Er wollte gerade noch den Kulturbeutel ins Bad bringen.
"Stefan, geben mir Haarbürste?" Sie bürstete sich angestrengt die Haare. Sie waren ganz verfilzt und ungewaschen. Stefan ahnte, wie sie sich fühlen musste. Sie hatte sicherlich nicht duschen können, geschweige denn ihre Haare waschen. Ohne Aufforderung machte er sich zu schaffen an einem Knoten in ihrem Haar. Sie sah ihn erstaunt an, aber er war zu beschäftigt um es zu bemerken. Er war so fürsorglich. Evana versuchte sich zu erinnern, wann jemand sich mal so um sie gekümmert hätte. Im Zirkus waren sie zwar wie eine große Familie, aber von ihnen wird wohl keiner hier ins Krankenhaus kommen. Sie waren zu beschäftigt mit den Vorbereitungen für die letzte Abendvorstellung.
"Stefan?"
"Mhm!" brummte er Gedanken verloren.
"Zirkus reisen morgen weiter. Mein Wohnmobil können nicht auf dem Marktplatz bleiben. Können Du kümmern?"
"Natürlich!" Er nahm ihr die Haarbürste aus der Hand und bürstete zufrieden lächelnd ihre Haare.
"Der Knoten ist raus!" Er sah sie an. Sie wirkte müde und geschafft.
"Ich fragen, weil Niemand aus Zirkus kommt in Krankenhaus."
"Ich hoffe, ich passe überhaupt ans Steuer dieses Lilleputaner-Wohnmobils!" sagte er amüsiert. Sie schüttelte verzweifelt den Kopf
"Du dürfen nicht immer zu sagen solche Sachen!" flüsterte sie.
"Warum hilft Dir keiner vom Zirkus?" lenkte Stefan ab
"Leute von Zirkus gehen nicht in Krankenhaus."
"Ich dachte, ihr seid eine große Familie? Wieso lässt man die heruntergefallenen Akrobaten in der Manege liegen. Dann schaffen sie es nichtmal einen Krankenwagen zu rufen, sondern machen im Programm weiter, als wäre nichts passiert?" Stefan war lauter geworden. Die Wut war ihm anzusehen. Evana griff nach seiner Hand, mit der er sich neben ihr auf das Bett stützte. Ihr war es peinlich gegenüber den anderen Frauen im Zimmer, die schon wieder neugierig guckten. Aber dann bemerkte sie den Ring an seinem Finger. Er trug tatsächlich den Hochzeitsring? Ihr schossen sofort wieder die Tränen in die Augen, so sehr berührte sie das.
Verwirrt sah Stefan die emotionale Regung in Evana und spürte schmerzhaft, wie ihre Finger sich in das Fleisch seiner Hand bohrten. Sie hatte soviel Muskelkraft und war dabei so verletzlich. Die ganze Hochzeit hatte sie sich an ihn fest gekrallt, wie ein Bergsteiger ohne Sicherheitsleine und er hatte sie nicht fallen gelassen. Aber dann ist sie einfach auf und davon, ohne ein Wort, ohne Abschied. Evana kämpfte gegen die Tränen an.
"Ich vertreten Akrobatikschule aus Lublija. Ich haben Vertrag mit Zirkus, kriegen Geld für Auftritt und geben an Schule in Ukraine."
"Ich weiß, das hast Du mir schon erzählt." sagte er ruhig und umschloss ihr Hand mit seiner.
"Sie verlassen sich mich, dass ich geben Geld. Ich in Krankenhaus machen kein Auftritt. Ich in Krankenhaus bekommen kein Geld. Ich in Krankenhaus alleine, nutzlos für Zirkus..." Ihre Stimme zitterte immer mehr. "Ich kann nicht legen Bein hoch, ich gehen Arbeit..." Sie zog das Gipsbein aus der Aufhängung und erhob sich im Bett. "Ich kann nicht liegen hier!" Stefan sprang auf und verhinderte, dass sie aus dem Bett aufstand, in dem er sie festhielt. Sie hatte enorme Kraft.
"Jetzt sei doch vernünftig, Evana! Du kannst jetzt nicht aufstehen!"
"Ich müssen..." keuchte sie Tränen aufgelöst. Sie sank in Stefans Arme. "...sonst ich sterben. Ich sterben, wie Mama!" Sie weinte bitterlich und schluchzte immerzu "Mama" und irgendetwas in ihrer Sprache. Stefan hangelte hilflos nach der Klingel. Die Krankenschwester half ihm Evana wieder in ihr Bett zu legen.
"Muss ich ihnen wieder eine Beruhigungsspritze geben, damit sie ruhig liegen bleiben, Frau Trepkowa?" fragte die Schwester genervt.
"Das ist nicht nötig!" knurrte Stefan und reichte Evana ein Taschentuch.
"Sie sind der Ehemann?"
"Ja!"
"Frau Trepkowa muss wirklich ruhig liegen bleiben, sagen Sie ihr das!"
"Es ist nun mal nicht leicht für sie!" sagte Stefan wütend. Wie oft hat er sich schon mit Krankenhauspersonal und Pflegern herum geplagt? Seine Mutter war keine einfache Patientin, die brav ihre Medikamente nahm und sich an die Anweisungen hielt. Sie hatte immer etwas daran auszusetzen und sah gar nicht ein, sich an irgendwelche Vorschriften zu halten. So etwas sah man nun mal nicht gern im Krankenhaus oder im Pflegeheim und da musste der geplagte Sohn schon oft ein Machtwort sprechen, bevor sie seine Mutter mit Beruhigungsmitteln vollstopften, damit sie keinen Ärger mehr machte.
"Ich möchte, dass sie die Medikamentation von Frau Trepkowa vorher mit mir abstimmen. Ich möchte mit dem behandelnden Arzt sprechen, ist das möglich?" Der große dicke Mann war ein Kopf größer als die Krankenschwester, die nun eingeschüchtert zu ihm auf sah.
"Lass, Stefan!" sagte Evana, die wieder nach seiner Hand hangelte.
"Ich schau mal, wo der Arzt gerade ist." sagte die Schwester pickiert und machte auf dem Absatz kehrt. Schnaufend ließ sich Stefan auf dem Stuhl neben dem Bett nieder und tupfte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Dann sah er in ein reumütig lächelndes Gesicht.
"Großer starker Mann! Du nicht schimpfen müssen mit Schwester. Sie nur wollen machen Evana gesund!"
"Du wirst nicht gesund von Beruhigungsmitteln!" knurrte Stefan noch ziemlich aufgebracht. Evana streichelte ihm die Hand. Ihr Gesicht sah traurig drein und er erinnerte sich an ihren Schmerz.
"Was ist mit Deiner Mutter passiert?"
"Sie gefallen von Hochseil..."
Verwirrt verließ Stefan das Krankenhaus. Auch das Gespräch mit dem Arzt hat nicht dazu beigetragen, dass er einen klaren Gedanken fand. Mit finsterer Miene stellte dieser Mann in weiß die Diagnose, dass Evana nicht mehr als Artistin arbeiten könnte. Der Bruch war sehr kompliziert und sie mussten in einer Operation den Knochen mit Schrauben fixieren. Die Heilung wird lange dauern und der Ausgang ist noch ungewiss. Evana tat Stefan unendlich leid. Sein Herz war noch schwerer als sein Körpergewicht.
Es war schon dunkel als er auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus in seinen Porsche Cayenne kletterte. Viele Nachrichten in Abwesenheit verkündete sein Handy, aber er war nicht in der Lage nur einen Rückruf zu tätigen. Wenn er nur ein Wort über die eben gesammelten Eindrücke verlierte, würde er anfangen zu weinen und nicht mehr damit aufhören, da war er sich sicher.
Am nächsten Morgen meldete er sich erstmal bei Krämer Consults krank. Frau Meyer wirkte besorgt und fragte nach, aber Stefan konnte ihr nicht sagen, was los war. Er fuhr erstmal zum Marktplatz, wo der Zirkus schon angefangen hatte die Zelte abzubrechen. Geschäftiges Treiben herrschte und Stefan kostete es etwas Überwindung sich in die Wohnwagenstadt zu wagen. Keiner hielt ihn auf, stattdessen wurde er nickend begrüßt und als er Evanas Wohnwagen aufschloss, trat eine Frau zu ihm, die er erst nicht erkannte. Die Direktorin hatte er zwar während der Vorstellung gesehen, aber jetzt war sie ungeschminkt und in Alltagskleidung.
"Guten Morgen!"
"Guten Morgen! Ich hole den Wohnwagen von Evana" gab Stefan kurz Auskunft. Sein Herz klopfte, denn er hatte irgendwie das Gefühl nicht hier her zu gehören und etwas Falsches zu machen.
"Wie geht es ihr?" fragte die Direktorin besorgt. Stefan atmete tief durch, er wollte lieber nicht darüber sprechen.
"Sie wird noch einige Tage im Krankenhaus bleiben müssen. Ich bringe ihr Gefährt in Sicherheit, damit sie ihnen hinterher fahren kann." log Stefan ausweichend, doch die alte Frau sah seine glänzenden Augen dabei.
"So schlimm, also!" knurrte sie nachdenklich und seufzte "Evana hat noch Ausrüstung im Zelt. Vladimir hilft Ihnen bestimmt. Ich suche ihn mal!"
Ein älterer Mann kam angelaufen und sprach aufgebracht mit der älteren Frau in einer anderen Sprache. Auch er war schwer wieder zu erkennen. Es war der Zirkusdirektor. "Mamamia!" jammerte die Direktorin und hastete davon. Der Direktor dreht sich zu Stefan und atmete schwer. Er reichte ihm die Hand "Eros Rimaldi!" "Stefan Siedenberg!" sie schüttelten sich kurz die Hand. "Stefan, Sie sind Ehemann von Bella Evana! Grande Amore?" Stefan nickte nur, denn es war eigentlich keine ernst gemeinte Frage, sondern eher eine Feststellung. Es machte deutlich, dass er vermutete, dass es sich um eine Scheinheirat handeln musste. "Es wird Ärger geben. Tutto Problema! Die Ukrainer arrivo ... sind da" Stefan brauchte gar nicht zu fragen, was das bedeutet, denn sie kamen jetzt zu ihnen herüber marschiert. Vladimir, der Clown, den Stefan merkwürdigerweise sofort erkannte, kam mit einer großen roten Kiste auf sie zu. Aus der Kiste hangen halb die Tücher, die Evana für ihren Auftritt benutzt hatte. Er wurde umzingelt von vier drahtigen Männern, ziemlich klein im Gegensatz zu dem Clown. Sie redeten aufgebracht auf ihn ein. Vladimir gab immer kurze Antworten und bahnte sich den Weg zu dem Wohnmobil von Evana. Er bemerkte die Männer, die am Wohnmobil standen und wirkte erleichtert.
Vladimir richtete sich an Stefan und den Direktor "Es tut leid mir. Ich habe in Ljublija telefon und sagen Evana haben Unfall. Ich wissen nicht, sie machen Aufstand." "Meine Frau ruft gerade die Polizei!" sagte der Direktor schnell. Stefans Herz klopfte wie wild und er bekam schweißnasse Hände. Ob er Angst hatte, konnte er nicht so genau sagen, aber der Schweiß, der von seiner Stirn tropfte war kalt. Er wischte es ab und stopfte das Tuch gerade in die Tasche als sich einer der Ukrainer in freundlicher Tonlage an ihn wendete. Er verstand kein Wort, nahm aber trotzdem die Hand, die er ihm entgegen streckte und sagte "Stefan Siedenberg!" weil er glaubte, er hätte sich vorgestellt. Vladimir übersetzte "Das ist Piotr Trepkowa, Evana's Onkel!" Wieder sagte dieser kleine Onkel etwas und lächelte dabei. "Habe gesagt ihm , Du wissen, wo Evana befinden!" sagte Vladimir und stellte die Kiste hin. "Sag ihm, dass sie im Krankenhaus ist!" sagte Stefan ahnungslos. Vladimir zögerte und sah hilfesuchend den Direktor an, der nur mit den Schultern zuckte. Dann sagte er es und die Ukrainer begannen aufgeregt durcheinander zu schimpfen. Eine Empörung sondergleichen in einer anderen Sprache. Was war nur falsch daran in einem Krankenhaus zu sein? Stefan war ratlos. Vladimir versuchte ein paar Übersetzungen. "Sie regen auf, können nicht bezahlen und Evana müssen Auftritt machen und reisen mit Zirkus heute..." Das ging eine ganze Weile so und Stefan stand wie erstarrt da. Plötzlich stand dieser Piotr vor Stefan und sagte was. Vladimir übersetzte
"Er will Schlüssel von Wohnmobil"
"Was will er damit?"
"Es ist seins!"
"Aber Evana brauch den Wagen doch?"
"Er Evana bringen Wagen..." Vladimir sah auch schon ganz hilflos aus. "Nun geben ihm Schlüssel schon!" Merkwürdigerweise musste Stefan an die Hochzeitsschuhe denken. An diese sündhaft teuren Schuhe, die bewirkt haben, dass Nils Krämer finanziell ins Schuhbusiness einsteigen will. Die Schuhe, die Evana hübsch dekoriert mit den Haarspangen auf das Regal gestellt hatte. Die Schuhe, mit denen sie mit Stefan auf ihrer Hochzeit getanzt hatte. Er wollte nicht, dass dieser Miniaturonkel sie nur anfasste
"Nein!" sagte Stefan und alles um ihn herum verstummte. Sie sahen ihn mit großen Augen an. Entschlossen nahm er die Kiste mit den Akrobatikutensilien stellte sie in den Wohnwagen und schloss ab. "Evana hat mich gebeten, ihr Wohnmobil zu holen und das mache ich jetzt auch!" sagte Stefan entschlossen. So entschlossen, wie er noch nie war, so kam es ihm vor. Er machte den Rücken selbstbewusst gerade als er von Onkel Piotr ausgeschimpf wurde. Er war mehr als ein Kopf kleiner als Stefan und wirkte wie ein wütender Zwerg.
"Ich glauben, sie meinen ernst. Sehr enrst!" warnte Vladimir ängstlich und im selben Augenblick zückt einer der Ukrainer ein Messer. Da bekam Stefan es wirklich mit der Angst zu tun. Auch der Direktor machte ein entsetztes Gesicht und zu allem Überfluss tauchten zwei Männer auf, muskelbepackt bis zu den Ohren und genauso groß wie Stefan. Stefan wurde schwindelig. Die schimpfenden Ukrainer hatten also Verstärkung dabei.
Nein! tatsächlich waren die Beiden zu Stefans Verstärkung aufgetaucht. Sie stellten sich links und rechts neben ihm auf und verschränkten die Arme vor der Brust. Hätte Stefan die Vorstellung nach Evanas Sturz noch angesehen, hätte er 'Die stärksten Männern der Welt' vom Zirkus Rimaldi in ihrer Rolle kennen gelernt. Da verstummten die vier Hochseilartisten aus Ljublija und Stefan bekam wieder etwas Mut.
"Vladimir, Du könntest die doch mal fragen, wie sie hergekommen sind. Evana hat mir gesagt, sie hätten keine Einreisegenehmigung bekommen. Sind sie vielleicht illegal hier? Was wohl die Polizei dazu sagt?" Noch während es Vladimir übersetzte, kam die Direktorin mit zwei Polizeibeamten um die Ecke. Die Polizei war erstmal damit beschäftigt, die flinken Ukrainer ein zu fangen. Vladimir bot Stefan gleich an, das Wohnmobil zu fahren mit einer kleinen Entschuldigung, gab er den Hinweis, dass auch die stärksten Männer der Welt wahrscheinlich nicht hinter das Steuer passen würden. Stefan fuhr mit seinem Porsche und diesem Wohnmobil im Schlepptau erleichtert und stolz auf sich vom Marktplatz auf die Straße.
Als Stefan frisch eingekleidet und frisiert im Krankenhaus ankam, traf er im Gang den Arzt, den er am Vortag schon gesprochen hatte "Gut, dass sie da sind!" begrüßte er ihn atemlos und begleitete ihn in das Krankenzimmer. Die anderen kranken Frauen saßen etwas erschrocken in ihren Betten. Evana wurde gerade in einen Rollstuhl gehievt. Von den vier Ukrainern waren nur noch zwei übrig und die redeten auf Evana ein, die ganz verheulte Augen hatte. Ein Anblick, den Stefan nie vergessen wird. Der Arzt trat auf Evana zu
"Wollen Sie wirklich das Krankenhaus verlassen? Ihr Ehemann ist jetzt da. Sie brauchen nicht..." Stefan mischte sich ein
"Was ist los, Evana?" Sie sah Stefan an. Wie konnte sie diesem herzensguten Mann nur erklären, dass sie keine andere Chance hatte? Stefan hatte es immer nur gut mit ihr gemeint, er wusste nichts von Abkommen oder Verträgen.
"Stefan, ich müssen in Ukraine zurück. Ich gehen da in Krankenhaus!"
"Sie sind nicht transportfähig, Frau Trepkowa!" wendete der Arzt verzweifelt ein und Onkel Piotr schimpfte auf Stefan in seiner Sprache ein, dass Evana zusammen sackte und immer kleiner wurde. Stefan war sich nicht ganz sicher, ob sie hier das Messer herausholen würden.
"Herr Piotr Trepkowa, Eva bleibt hier!" sagte er laut und deutlich. Auch wenn es unmissverständlich war, hatte es keine Wirkung auf den Ukrainer. Aber auf Evana hatte es eine Wirkung. Stefan spürte wieder ihre Krallen in seinem Arm. Plötzlich entpuppte sich der jüngere Ukrainer als Jemand, der Deutsch sprechen konnte
"Was glauben, Sie können stehlen Wohnmobil aus Zirkus und jetzt bestimmen Evana bleiben hier. Onkel Piotr machen Sorgen..."
"Er macht sich Sorgen?" schimpfte Stefan los. "Dann frage ich Sie, ob er Evanas angesehen hat? Sie hat ein gebrochenes Bein und wird hier aus dem Bett gezerrt..."
"Sie kommen mit in Ukraine zurück, gehen da in Krankenhaus. Evana wollen das auch..." stammelte der Junge, der ziemlich unsicher wirkte. Piotr verschränkte die Arme vor der Brust. Stefan klopfte das Herz bis zum Hals
"Nicht jetzt! Wenn Evana in die Ukraine zurück will, dann kann sie das erst, wenn der Arzt es ihr erlaubt!" Der Arzt nickte zur Zustimmung. Piotr redete auf Evana ein, die weinerlich antwortete. Sie hob den Kopf wiede zu Stefan, den sie immernoch am Arm hielt.
"Ich müssen gehen mit!" sagte sie entschlossen
"Du bist nicht transportfähig. Hast Du den Arzt nicht gehört?" stammelte Stefan
"Ich wollen. Du können nicht verbieten mich!" Stefans Hilflosigkeit nahm überdimensionale Ausmaße an. Es wurde zwar kein Messer herausgeholt, aber es fühlte sich so an, als würde Evana zustechen, ihm mitten ins Herz. Und der Felsbrocken an den sich Evana geklammert hatte bröckelte. Stefan entzog ihr den Arm, hielt sich die Brust. Er hatte das Gefühl keine Luft mehr zu kriegen. Verschwommen sah er wie die Ukrainer den Rollstuhl mit Evana aus dem Raum schoben. Dann sank er auf das leere Krankenbett. Der Arzt drückte sofort den Alarmknopf.
Evana kam aus dem Weinen nicht mehr heraus. Das alte Auto von Onkel Piotr röhrte über die Autobahn Richtung Grenze. Evana saß mit ausgestrecktem Gipsbein auf der Rückbank. Onkel Piotr schlief auf dem Beifahrersitz und Cousin Sadi saß am Steuer und schwieg. Die beiden Brüder Gero und Mital, die auch zur Artistengruppe Ljublija gehörten saßen noch in Untersuchungshaft. Sie starrte auf den Rucksack, in dem nun ein deutscher Pass und eine Heiratsurkunde versteckt war. Sadi hatte mitbekommen, wer dieser dicke Mann war, der ihnen so viel Ärger gemacht hatte, aber er hatte Onkel Piotr nichts gesagt. Onkel Piotr war eigentlich nur sauer darüber, dass das Wohnmobil nun weg war. Er ging davon aus, dass dieser Stefan ein Mann aus der 'stärkste Männer der Welt'-Truppe war und das war auch gut so. Seiner Meinung nach, wurde Evana dazu überredet ins Krankenhaus zu gehen. Krankenhäuser und Ärzte sind nicht gut für Artisten. Sie machen einen krank und verunsichern nur. Ein gut trainierter Körper ist immer gesund und ein Beinbruch muss nur geschient werden, dann wird er schon wieder heilen. Schmerzen gehören zum Erfolg.
So war es für Evana ein Leben lang gewesen, aber jetzt tat ihr nicht nur das Bein weh. Ihr Herz schmerzte noch mehr und sie fühlte sich unendlich schlecht. Stefan hat ganz und gar nicht gut ausgesehen, als sie ihn so vor den Kopf gestoßen hatte, nur damit er sie gehen ließ. Er wusste nichts von ihr. Er wusste nicht, dass sie sich dieser Zirkusschule in Ljublija verpflichtet hatte und ihn nur geheiratet hatte, um in Deutschland Geld verdienen zu können. Jetzt war sie auf dem Weg nach Haus. Dorthin wo sie hingehörte.
Evana griff nach dem Rucksack und holte die Tafel Schokolade heraus. Sida hörte das Knistern und drehte sich neugierig um
"Hast Du Hunger, Ev?" Niemals könnte Evana dieses Stück der Erinnerung essen!
"Nur etwas gegen den Kummer" murmelte sie.
"Du brauchst nicht traurig sein. Du bist unsere kleine Heldin, weißt Du das?" Sida lachte "Wir sind alle sehr stolz auf Dich. Du hast ganz allein hier in Deutschland mehr Geld eingebracht, als jemals eine Artistengruppe zuvor. Dein kleiner Sturz wird daran nichts ändern! Die paar Auftritte, die Du jetzt nicht mehr machen kannst sind nicht mehr wichtig..."
"Und warum habt ihr mich dann aus dem Krankenhaus geholt? Ich hätte in Ruhe gesund werden können, hätte mich in das Wohnmobil gesetzt und wäre nach Hause gefahren, aber jetzt...?"
"Frag nicht, Ev! Ich habe keine Ahnung, aber vielleicht hat Onkel Piotr befürchtet, dass Du dann gar nicht mehr nach Hause kommst.."
"Meinst Du?" murmelte Evana und sah den schlafenden Mann auf dem Beifahrersitz prüfend an. Irgendwie machte er ihr immer Angst, sogar wenn er friedlich schlief. Evana steckte die Schokolade zurück in den Rucksack. Sida hatte Recht. Sie hatte tatsächlich darüber nachgedacht, in Deutschland zu bleiben. Vielleicht hätte sie sogar mit Stefan Siedenberg etwas angefangen, zumindest hätte sie ihn gern näher kennen gelernt, ihren Ehemann. Der Ehemann, der nun ein Wohnmobil zuviel hatte, aber keine Ehefrau mehr...
Die Wochen vergingen und Stefan hörte nichts mehr von Evana. Täglich fuhr er an dem Wohnmobil vorbei, das auf seiner Auffahrt stand. Er hatte sorgfältig den Kühlschrank abgetaut, das Wasser abgestellt und den Abwassertank entleert. Nun stand das Miniaturmobil da und erinnerte ihn an Alles. Sie hatten ihn gleich ein paar Tage da behalten im Krankenhaus, so sehr hatte ihn die Sache mitgenommen. Stefan hatte beim Zirkus Rimaldi angerufen und mit dem Clown Vladimir gesprochen, aber der wusste auch nicht, was mit dem Wohnmobil passieren soll
"Wahrscheinlich sitzen die Ukrainer noch im Gefängnis, weil sie illegal in Deutschland waren"
"Dieser Piotr Trepkowa und ein junger Ukrainer haben Evana aus dem Krankenhaus geholt"
"Ja? Dann haben sie sie bestimmt mit nach Ljublija mitgenommen..."
Stefan ging seiner Arbeit nach und versuchte sich abzulenken, aber so recht wollte sich keine gute Laune mehr bei ihm einstellen.
Nils und Kerstin gingen ihm auf die Nerven mit ihren plötzlichen Heiratsplänen. Ist ja schön, dass sie wieder zueinander gefunden hatten und es war auch irgendwie nett, dass Stefans Hochzeit daran Schuld sein sollte, da hatte das Ganze zumindest etwas Gutes gehabt.
Nils Krämer versuchte Stefan mit ein paar Finanzmarktanalysen für die Schuhindustrie abzulenken, aber sonst war er keine große Hilfe.
"Alter, man könnte fast glauben, Du warst verliebt in die kleine Nutte..."
"Sprich nicht so von Evana!" murrte Stefan.
"Sie ist so eine Zirkusschlampe. Sie wollte nur diese verkackte deutsche Staatsbürgerschaft!"
Ich mache mir einfach Sorgen um sie und jetzt lass mich in Ruhe meine Arbeit machen!"
"Kommst Du jetzt heute Abend mit in die Kneipe oder nicht?"
"Na, meinestwegen und jetzt verschwinde endlich!"
Evana saß auf ihrem Bett in dem Zimmer, dass sie sich mit ihrer Cousine teilte. Sie hatte das Training abbrechen müssen. Die Schmerzen waren unerträglich, aber Onkel Piotr war ein gnadenloser Trainer. Erst als sie nicht mehr aufhörte zu weinen, schickte er sie zum Doktor. Der Doktor war eigentlich nur ein Physiotherapeut. Er machte Massagen, renkte wieder ein und so etwas. Er zuckte nur mit den Schultern und verordnete Evana Schmerzmittel und etwas Bettruhe. Das Bein sah ziemlich schlimm aus. Es war dünner als das Andrere und an der Operationsnarbe eiterte es etwas.
Evana kramte eine Schachtel unter der Matratze hervor und holte den Ring heraus. Sie spielte damit herum, steckte ihn sich auf und zog ihn wieder ab. Wie es wohl Stefan jetzt geht? Er hat ein fantasisches Leben, war reich und gebildet. Sie erinnerte sich an sein Lachen. Er hatte einen wunderbaren Humor, aber dann war da dieser Blick damals im Krankenhaus, als hätte Evanas Entscheidung, dem Familienoberhaupt zu gehorchen, Stefan das Leben ausgelöscht. Ein kalter starrer Berg, von dem Lawinen von Geröll herunter kamen, wenn man versuchte ihn zu erklimmen. Kein Halt mehr!
Was war das Leben noch wert, wenn man keinen Grund mehr hatte zu lachen? Früher haben ihre Cousine und sie hier herumgealbert und gekichert. Es war herrlich und es war ein zuhause. Evana legte sich auf das Bett und starrte die Decke an. Sie drehte den Ring an ihrem Finger und horchte in sich hinein. Was war übrig geblieben? Tränen, nichts als Tränen. Eine gebrochene Evana, eine Elfe, die nicht mehr fliegen kann. Es war so wunderbar gewesen am Trapez in schwindelerregender Höhe zu schwingen und die Schwerelosigkeit zu spüren, wenn man zum Salto ansetzte. Ein Traum, der nun vorbei war.
Ihre Tante klopfte zarghaft an die Tür des Zimmers und kam mit einer Tasse Tee herein. Evana rührte sich nicht. Sie starrte weiter an die Decke und ihr liefen die Tränen an der Wange herunter. Tante Elea ließ sich schnaufend auf dem Bett der Cousine nieder.
"Ich vermisse Deine Mutter manchmal sehr. Es wäre jetzt schön, wenn sie hier wäre." sagte die Tante, die die Schwester von Evanas Mutter war. Aber sie ist nicht hier! Evana rührte sich nicht. Die Tante stöhnte: "Nun sag doch was, Kind!" Ich bin kein Kind mehr! Evana regte nichts. "Du bist wie sie, Evana! Und wenn Du so weiter machst, wirst Du enden wie sie. Lass dich nicht von Piotr kaputt machen..." Immernoch keine Antwort von der Nichte.
Alles wäre beim Alten geblieben, wenn Stefans Mutter nicht gestorben wäre. Sie starb und Stefan traf seinen Vater nach vielen Jahren auf der Beerdigung wieder. Ihn wieder zu erkennen war überhaupt kein Problem, denn er war genauso korpulent wie er, obwohl die Sache mit Evana ihn so sehr mitgenommen hatte, dass er bereits einige Pfunde verloren hatte. Die Traurigkeit, die ihn auf dem Friedhof heimsuchte stammte nicht vom Verlust seiner Mutter. Ganz im Gegenteil, ihr Tod war eine Erleichterung. Nie wieder diese Nörgeleien und die zerstörerischen Bemerkungen, ein Nichtnutz zu sein. Sein Vater schüttelte ihm die Hand, wie so viele auf dieser Trauerfeier und wünschte Beileid. "Du bleibst doch auf ein Stück Kuchen in der Wirtschaft nebenan!" lud Stefan ihn ein und Dieter Siedenberg zwinkerte ihm zu "Ich lasse mir die Feier des Tages nicht entgehen!" Fast hätte Stefan laut gelacht, aber die Pietät ließ dies auf dem Friedhof nicht zu. Auch sein Vater tanzte auf dem Grab seiner Ex-Ehefrau. Sollte diese Hexe doch in der Hölle verbrennen. Der Zorn machte sich bei den Herren äußerlich nicht bemerkbar. Mit schwingenden Schritten, die ihnen wegen ihrer beider Körperfülle anstrengte folgten sie dem Trauerzug in die Wirtschaft nebenan.
Sie hatten sich so viel zu erzählen. Es war so als ob sie wieder Vollständig waren. Sie unterschied doch nur das Alter und die Haarfarbe, aber ihre Seelen waren gleich. Weit bis nach dem Leichenschmaus unterhielten sie sich noch. Also kamen sie auch auf das Thema, dass Stefan so sehr belastete. "Wir müssen den Wohnwagen in die Ukraine bringen und sehen wie es Evans geht!" sagte der Fernfahrer schließlich zu seinem Sohn.
Evans legte ein paar Blumen auf das Grab ihrer Mutter, sprach ein Gebet und humpelte los zur Bushaltestelle. Sie hatte gleich drei Schmerztabletten genommen und spürte ihr Bein kaum. Das erste Stück Richtung deutsche Grenze überwand sie mit dem Bus. Dann musste sie irgendwie über die Grenze kommen. Ein Lkw-Fahrer erklärte sich bereit sie mitzunehmen. An der Grenze zeigte sie ihren deutschen Pass. Sie schlief ein und fand sich am Morgen an irgendeiner Raststätte mit einem aufdringlichen Fahrer wieder. Dieser erhoffte sich eine angemessene Belohnung von seiner Beifahrerin. Doch die hatte Fieber und wirkte krank.
Tag der Veröffentlichung: 12.12.2011
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