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Der Spiegel

Dir läuft es eiskalt den Rücken herunter, wenn jemand mit dem Fingernagel über eine Schultafel kratzt? Du erschauderst, wenn eine riesige haarige Spinne auf Dich zukriecht? Du weißt gar nicht was Angst ist!
Es ist unbeschreiblich. Kalter Schweiß auf Deiner Haut, Gänsehaut und Du zitterst wie Espenlaub. Panik steigt in Dir auf und Du läufst um Dein Leben, gehetzt von einer Meute wildgewordener Bestien, die von den Toten auferstanden sind. Das ist der Horror!
Horror? Nein! Der blanke Horror schaut Dich aus dem Spiegel an! Du erkennst die Frau nicht, die da behauptet, sie wäre 'Du'. Sie schreit Dich an, aber 'Du' gibst keine Antwort.
Du kennst Dein Spiegelbild nicht mehr, das da kreidebleich vor Dir steht.

 

Aber das sind doch Sie, Frau Bergmann!
Wer ist Frau Bergmann?

 

Du zermarterst Dir Dein Hirn, aber es fällt Dir nicht ein, wer Du bist. Ich bin nicht verrückt! Ich kann noch klar denken! Ich weiß noch genau, wo ich wohne. Ich irre durch die Stadt. Ich bin wohl in die falsche Buslinie gestiegen und in die falsche Richtung gelaufen. Die Häuser sind Dir fremd und Du kennst die Straßennamen nicht. Du warst noch nie hier! Es ist Bremen und nicht Berlin? In Berlin kenne ich mich aus, wie in meiner Westentasche. Wo kommt nur diese Mauer her?

 

Herr Wachtmeister, können Sie mir helfen?
Wie komme ich zum Kurfürstendamm?

 

Er lacht. Er lacht Dich aus, denn Du bist in Bremen und hier gibt es diese Straße nicht. Nie hat er sich so köstlich amüsiert! Wer sind sie denn, bitte schön? Du sagst dem Beamten, dass Du leider vergessen hast, wer Du bist und er lacht noch mehr als zuvor. Er nimmt sein Funkgerät, damit seine Kollegen auch etwas zu lachen haben. Du bist empört, atmest schwer, kriegst kaum noch Luft. Du drohst zu ersticken. Sie behandeln Dich wie eine Bekloppte, zerren Dich in ein Auto und setzen Dich vor einem Haus ab, das nicht Deins ist.

 

Oma Frieda, da bist Du ja!
Wer ist dieser Mann?

Bienchen, Deine Mutter ist wieder da. Die Polizei hat sie gefunden!
Mama, was ist los mit Dir?
Aber Frau Bergmann, das ist ihre Tochter Bianca.
Ich habe nur einen Sohn namens Thomas! Wer ist Frau Bergmann?
Komm, Mama! Du musst einen kräftigen Schlag auf den Kopf bekommen haben oder so was.
Du bist ganz verwirrt. Leg Dich erstmal hin! Ich hole den Arzt!


Du wirst untergehakt von der Frau, die Deine Tochter sein will und sie geleitet Dich zu einem Bett, das angeblich Deins ist. Ich kenne meinen Geschmack. Niemals hätte ich mir diese Bettwäsche gekauft. Sie ist hässlich, so wie Du! Du kannst nicht schlafen, weil Du nicht weißt, wer Du bist. Du grübelst vor Dich hin. Schaust Dir die Bilder an, die auf dem Nachttisch stehen und erkennst Niemanden.

 

Was haben Sie denn, Frau Bergmann?
Wer ist Frau Bergmann?

 

Der Arzt schüttelt ratlos den Kopf und geht unverrichteter Dinge wieder. Ich bin nicht verrückt! Verrückt ist nur diese Frau Bergmann da im Spiegel!

Böses Erwachen

Vampire und Werwölfe sind nur Hirngespinste Deiner Fantasie. Du glaubst, dass der Biss in die Halsschlagader, der Dich zu einem ewig verdammten Ungeheuer macht, schrecklich ist? Das Alzheimer-Monster ist grausamer als Alles! Es macht Dich zu einem leeren Menschen. Schrecklich, in einem fremden Bett auf zu wachen! Du versuchst der festen Überzeugung zu sein, dass Du Elfriede Bergmann bist, glücklich verheiratet mit zwei Kindern. Du hast Dich verzählt. Es ist nur ein Kind, ein Mädchen! Die kleine dicke blöde Bianca. Du konstruierst Dir eine neue Realität. Jedes Puzzleteil setzt Du zusammen zu einem ‚Ich’, aber Du erreichst ‚Mich’ nicht.
Die Vergangenheit ist Dir auf den Fersen. Du läufst um Dein Leben und schaffst es nicht mehr in die Gegenwart. Wie in einem Alptraum rennst Du auf der Stelle und es kommt immer näher.

 

Gestatten, Bergmann! Komm, nimm Deine Schuhe.
Wir gehen nach Bremen und werden Stadtmusikanten!


Sein Lächeln ist umwerfend, obwohl Du es gar nicht verdient hast. Dieser Hans Bergmann scheint ein korrekter Mann zu sein. Liebevoll und fürsorglich, aber Du kannst Dich nicht erinnern. Er hat nicht gefragt, wie Du überlebt hast und Du hast nicht gefragt, wie er es geschafft hat in russischer Gefangenschaft zu überleben. Es war mein Mordkomplott!
Wo ist Thomas? Er starb kurz nach seiner Geburt, erinnerst Du Dich nicht? Er ist genau so ein Lügner, wie Dein Spiegelbild!

Warum sprichst Du nicht mit mir? Hör mir zu! Ich bin hier in der Hülle der Vergessenheit. Du gibst kein Laut von Dir. Hör endlich auf mich zu kritisieren! Ich lasse mir keine Vorschriften mehr machen! Ich weiß, wer ich bin! Ich bin nicht verrückt!
Warum hast Du mich vergessen? Das hast Du nun davon. Ich werde jetzt Deine Gedanken übernehmen. Ich bin der Steuermann auf diesem sinkenden Schiff! Du wolltest nicht mit mir leben. Aber ich lebe noch in Dir. Ich bin das Alzheimer-Monster!
Ich bin Elfriede Bergmann aus Berlin und Deine einzige Freundin. Ich bin Dein inneres Kind und gerade mal 14 Jahre alt. Ich bin der flotte Feger von Berlin. Komm spiel mit mir! Findest Du mich nicht hübsch? Ich bin schwanger, na und? Was ist Dein Problem? Ich habe Hunger und Durst. Ich brauche Liebe!

Diese verdammten Erinnerungen. Sie zerfetzen Dich von innen. Je mehr Du sie verdrängt hat, umso schmerzhafter treten sie ans Licht. Alte Narben platzen auf und baden Dich im Blut. Gib mir nicht die Schuld. Ich musste es tun, sonst wäre ich verrückt geworden, so wie Du jetzt! Wenn Dein Inneres sich nach außen kehrt und Du Dein wahres Gesicht im Spiegel siehst, wirst Du es nicht wieder erkennen.

Der Arzt schüttelt wieder verzweifelt den Kopf.

Sie haben Alzheimer, Frau Bergmann!
Wer ist Frau Bergmann?

Das Alzheimer-Monster

Der Horrorfilm nimmt kein Ende. Das Streichorchester zieht die Bögen über die Saite mit dem höchsten Ton. Immer im Staccato, herunter und herauf. Du starrst in die Dunkelheit und der Kontrabass wechselt zwischen zwei tiefen Tönen hin und her. Immer schneller werdend. Du keuchst. Dann ein Aufblitzen und ein Fiepen. Ein schriller fieser Ton, wie das Testbild nach Sendeschluss, grell und nervtötend.

An meinen Händen klebt Blut. Es tropft herunter. Es rinnt von Deiner Stirn. Du schleppst Dich durch den Flur und hinterlässt eine Spur des Grauens. Dein ‚Ich’ zerspringt in tausend Scherben, so wie Dein Spiegelbild.
Gut gemacht! Sie erklären Dich für unzurechnungsfähig. Gratuliere, Du wirst eingewiesen. In die Klapse, hörst Du? In die Irrenanstalt, wo lauter Bekloppte und verwirrte Menschen von weißen Kitteln hin und her geschoben werden. Ich bin nicht verrückt!

Schau, meine Tochter Bianca bringt mir Blumen.

Gefällt es Dir hier, Mama?
Nicht schlecht, hier lässt es sich eine Weile aushalten.
Ich komme bald wieder heim.

Mach Dir keine Sorgen, Kindchen!

 


Sie lächelt und verschwindet. Bianca verschwindet aus Deinen Erinnerungen. Du denkst an Thomas?


Der Vater von Thomas hat Dich gepackt, nachdem er die Tür eingetreten hatte. Er hat mich angelächelt unter seinem Soldatenhelm. Er fasste meinen Busen an, auf den ich so stolz gewesen war. Dann steckte er sein Ding da rein, wo ich noch keine Ahnung von hatte. Was macht der Mann mit mir? Ich konnte nicht schreien, denn er hielt mir den Mund zu. Draußen fielen die Schüsse, während er sein Geschoss in Dich hinein rammte. Du würdest das gerne vergessen, aber stattdessen hast Du vergessen, wer Du bist.

 

Die Elfi schafft das schon!
Sie ist stark.
So etwas haut unsere Elfi nicht um!


So viele Tote. Leichen, überall Leiche und die eine Leiche, die kennst Du. Es ist Thomas Vater. Er sieht Dich an in seiner Leichenstarre. Die Wehen setzen ein, mitten auf dem Friedhof.
Sie schaffen mich in die Leichenhalle und ich gebäre ein Kind. Es ist ein Sohn. Der Sohn eines Toten. Die Toten gratulieren Dir zu Deinem Erstgeborenen und greifen nach ihm mit ihren kalten Händen. Er war so schwach! Sie nahmen ihn und begruben ihn. Nur Du allein weißt, was wirklich geschah!

Verurteilt zum Tode

Es regnet! Lauter schwarze Gestalten stehen mit schwarzen Regenschirmen um etwas herum. Es ist ein Grab. Es ist Dein Grab! Du wurdest beerdigt, denn 'Ich' bin jetzt 'Du'! Ich bin nicht verrückt! Ich weiß genau, wer 'Ich' bin und 'Du' bist tot! Du kannst nicht mehr aus diesem Sarg heraus. Du schlägst um Dich trittst gegen den Deckel, doch sie haben ihn zu genagelt. Du hörst wie die Erde auf das Holz prasselt. Das Geräusch wird immer dumpfer und das Einzige, was Du hörst ist Dein eigener Atem. Du bist gefangen in Dir.

 

Frau Bergann, kommen Sie!

Es gibt Kaffee und Kuchen.


"Ich helfe ihnen" sagt die Pflegerin und zerrt mich aus dem Sessel. Der Kaffee schmeckt nicht und die Torte ist zu mächtig. Ich muss zum Klo und kotzen, aber ich kann mich nicht mehr bewegen in meinem Sarg. Du übergibst Dich, dem Pfleger vor die Füsse. Sind Sie Thomas? Der Zivi mit den langen Haaren sieht Dich entgeistert an, bevor er Dein Erbrochenes aufwischt.

 

Du bist angeklagt. Du bist schuldig.
Ich verdamme Dich!
Ich verurteile Dich zu einem Leben ohne Liebe!


Liebe? Liebe gab es damals nicht und Liebe gibt es heute auch nicht. Ich habe Thomas geliebt, zwei Tage lang und dann ist die Liebe von uns gegangen. Mein Herz wurde zu Stein und ich habe überall gesucht. Du wolltest die Liebe stehlen? Gib es zu! Du wolltest es einer anderen Mutter nehmen, so wie es Dir genommen wurde. Weißt Du noch, wie Du die Säuglinge aus ihren Kinderwagen genommen hast? Weißt Du noch, wie sie Dich angesehen haben? Sie haben nicht geglaubt, dass ein junges Mädchen wie Du ein Baby stehlen will.
Nichts mehr mit ‚flotter Feger’. Du warst das grausamste Scheusal von Berlin!


Du hast wieder zugegriffen bei diesem Luftangriff auf dem Weg in den Luftschutzbunker. Die Mutter hat überall nach ihrem Kind gesucht. Du wolltest es zurückgeben, aber dann hat eine Miene sie zerfetzt. Du hast gesehen, wie Kopf, Arme und Beine auseinander flogen. Du hast das Kind angesehen und erkannt, dass es nicht Dein Kind war. Es war hilflos und allein. Du hattest keine Ahnung von Babys und es war Krieg. Es war ein Mädchen, aber Du wolltest doch einen Jungen. Du hast es Bianca genannt und konntest es stillen. Du hast Deinen eigenen Schrei nach Liebe gestillt. Die Liebe einer Anderen. Gestohlene Liebe! Sie hat Dir vertraut bis zu diesem Tag an Deinem Sterbebett.

 

Quatsch, Mama! Was erzählst Du für Horrorgeschichten
in Deinem Alzheimer-Wahn?

 

 

 

 

 

 

Elfriede Bergmann

Geborene Spille

7. Juni 1929 - 28. Oktober 2011

Sie nahm ein schreckliches Geheimnis mit ins Grab.
Es wurde mir erzählt von einem Engel namens


Thomas


Möge seine Seele nie vergessen sein!

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.10.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meiner Oma Frieda gewidmet

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