Cover

Kapitel 1


Ich stand am Fenster und blickte auf die Dächer der Stadt, die zur Hälfte in den Nebelschwaden zu verschwinden schienen. Eiskristalle hatten bis heute in der Früh die Scheibe geziert, doch es regnete schon den ganzen Tag, sodass sie inzwischen zusammen mit dem Regen die Scheibe hinabrannen. Die Straßen waren verlassen. Nur vereinzelt sah man noch Leute, die schnell durch die Gassen eilten, um Dringliches zu erledigen, da es nicht warten konnte.
Heute war es sehr ruhig. Ab und zu hörte man ein Pferdefuhrwerk über die holprigen Straßen rattern. Dann war es wieder still.
Ich fröstelte und wandte mich vom Fenster ab. Wir hatten Anfang November. Vor einigen Tagen war bereits der erste Schnee gefallen, doch seit dem Regen war nichts mehr von der weißen Pracht zu sehen.
Ich ging hinüber zum Kamin und warf noch ein paar Holzscheite ins Feuer. Funken stoben auf und tanzten glühend durch die Luft. Dann, ganz langsam erloschen sie nach und nach.
Es kratzte an der Tür. Ich sprang auf, schob den Riegel zurück und öffnete. Einen Moment lang stand ich da und starrte verwirrt umher, bis ich eine kleine, völlig durchnässte Katze im Gebüsch neben der Tür sitzen sah. Sie miaute kläglich. Ich bückte mich zu ihr hinab, vielleicht etwas zu hastig, denn sie verkroch sich noch tiefer im Geäst und sah mit einem schüchternen Blick zu mir auf.
„Hab keine Angst“, flüsterte ich ihr zu. „Ich werde mich um dich kümmern.“
Als ich meine Hand behutsam nach dem Tier ausstreckte, beschnupperte sie sie recht lange. Vorsichtig strich ich über ihr Fell. Es war verklebt und schmutzig. Sie verströmte zudem einen unangenehmen Geruch nach den Müllhalden am Ende einer stinkenden Gasse im Armenviertel der Stadt. Ein schwaches Lächeln huschte über mein Gesicht.
„Hab keine Angst“, murmelte ich ihr erneut zu.
Die kleine Katze strich mir um die Beine. Meine Wangen brannten inzwischen vor Kälte, weshalb ich rasch die Tür zuzog und die Katze in die Wohnstube scheuchte. Dort erhitzte ich Eimer um Eimer Wasser und schüttete sie in einen großen Bottich. Als dieser zur Hälfte gefüllt war, tauchte ich meinen Finger ins Wasser. Es hatte eine angenehme, lauwarme Temperatur erreicht, ideal zum baden. Ich schaute mich um, auf der Suche nach der Katze. Stöhnend erhob ich mich und begann zu suchen. Ich hob mein Feldbett an und lugte hinunter. Unter dem Bett lagen einige von den von mir vermissten Socken. Sogleich ließ ich mein Bett wieder auf den Boden zurück sinken, hob den niedrigen Hocker vom Fußboden und klemmte ihn unter das Bett. Dann kroch ich hinunter und begann die Socken nacheinander aufzusammeln. Jetzt vermisste ich nur noch einen Strumpf. Ich erblickte ihn eingeklemmt in der hintersten Ecke des Bettes. Vorsichtig legte ich mich auf den Bauch und streckte meine Finger nach dem Socken aus. Ohne Erfolg. Mein Arm war einfach zu kurz. Fluchend rappelte ich mich hoch, klopfte mir den Staub von den Sachen, lief um das Bett herum und bückte mich in der Hoffnung den verlorenen Strumpf nun endlich zu den Anderen bringen zu können. Auf halben Weg hielt ich plötzlich inne. Zwischen all meiner schmutzigen Wäsche lag die winzige, rostrote Katze und schlief. So wie sie da lag, hatte es etwas so friedliches an sich, dass mir ganz warm ums Herz wurde. Nichts desto trotz zog ich den noch übrig gebliebenen, kanarien-gelben Strumpf hervor und schmiss ihn quer durch den Raum in den großen Weidenkorb zu den Anderen.
Ein heftiger Windstoß ließ die Fensterläden erzittern. Es folgte ein weiterer Windstoß und ein paar Schneeflocken wehten unter der Tür hindurch ins Haus. Wenn es so weiter ging, würde es hier im Raum genau so kalt sein wie draußen. Und wieder einmal befielen mich Zweifel, ob das Haus den Winter noch überstehen würde- oder auch ich selbst? Darauf fand ich keine Antwort. Genau wie immer wenn ich mir diese Frage stellte.
WUMMM WUMM!!! „Aufmachen!“
Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf. Und da war ich nicht die einzige. Ich sah nur noch ein verängstigtes rotes Fellknäuel an mir vorbei in die Speisekammer rasen. „Miss Silvae, öffnen sie umgehend die Tür. Sofort!“ schnellen Schrittes ging ich zur Tür und riss sie auf. Vor mir standen drei der Stadtwachen. Sie waren alle groß und stämmig.
„Sind Sie Miss Regina Silvae?“ Den Mann, der gesprochen hatte erkannte ich wieder. Er war auf dem Marktplatz stationiert und unterhielt sich immer gern mit Leuten.
„Ja“, sagte ich ein wenig zögernd. „Was verschafft mir die Ehre ihres Besuches?“
Die Männer warfen sich Blicke zu.
„Möchten Sie herein kommen? Es wäre definitiv gemütlicher als hier draußen in der Kälte zu stehen. Finden Sie nicht auch?“
Die drei traten nacheinander ein. Wenn mich nicht alles täuschte, war es Erleichterung, die sich in ihrem Gesicht spiegelte. Ich führte meine Gäste in die Stube.
„Setzen Sie sich ruhig“, sagte ich und deutete mit einer einladenden Geste auf mein Bett, den kleinen Hocker und den wuchtigen Sessel.
„Danke vielmals“, murmelte der älteste von ihnen. Ächzend ließ er sich auf das Bett sinken.
„Möchten Sie vielleicht etwas zu trinken?“
„Nein danke. Wir haben nur ein paar Fragen. Ich nehme an, Sie haben bereits von den Diebstählen der vergangenen Tage gehört. Es wurden ziemlich wertvolle Gegenstände entwendet. Haben Sie jemanden beobachtet, der sich unnormal verhalten hat oder jemanden gesehen, der Diebesgut bei sich getragen hat?“
„Nein Herr. Die letzten Tage bin ich erst gar nicht aus dem Haus gegangen. Nun, nur morgens um mir ein wenig Essen zu kaufen, auf dem Markt, aber ansonsten. Zu dieser Jahreszeit sieht man kaum noch viele Leute draußen, die Zeit finden sich groß zu unterhalten.“
„Und Sie haben nichts mit den Diebstählen zu tun?“
Empört zog ich geräuschvoll die Luft ein, obwohl ich wusste, dass die Männer nur ihre Pflicht erledigten. Jetzt herrschte eine bedrückende Stille im Raum, welche offensichtlich auch die drei Männer spüren konnten, rasch ergriff ihr Anführer* das Wort.
„Verzeihen Sie, dass wir uns noch nicht vorgestellt haben. Das,“ er deutete auf den schon recht in die Jahre gekommenen Herren auf meinem Bett, „ist Antiquus Custos und das,“ diesmal zeigte er auf den Mann mittleren Alters zu meiner Linken, der es sich in dem Sessel gemütlich gemacht hatte und mich mit ernstem Blick betrachtete, „ ist Magnus Miles.“ Er nickte mir höflich zu.
„ Und ihr Name ist…?“
„Milan Amicus.“ Er reichte mir seine Hand und ich schüttelte sie. Sie war erstaunlich weich und hatte kaum Risse. Milan lächelte und machte seinen beiden Begleitern mit einer kurzen Handbewegung klar, dass es nun an der Zeit war wieder zu gehen. Sie erhoben sich und er wandte sich mir erneut zu.
„ Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Miss Silvae. Falls Sie irgendetwas sehen sollten, was uns weiterhelfen könnte, sagen Sie es und bitte.“
Einer nach dem Anderen schritt durch die Tür ins Freie. Ich ging zurück in die Stube und ließ mich in den alten Sessel fallen. Von dort aus starrte ich ins Feuer und sah den glühenden Funken dabei zu, wie sie, vom Feuer hochgeschleudert, bis kurz unter die Zimmerdecke wirbelten, dann langsam hinab schwebten und schließlich verblassten.

*Wie ich vorhin bereits erwähnte ist er auf dem Marktplatz anzutreffen. Er ist groß, muskulös und recht bärtig, hat ein rundes Gesicht und eine nette Art sich mit Leuten zu unterhalten. Kurz gesagt: Er ist nicht der schlechteste Wächter, ganz nett eben.

Kapitel 2


Ich saß im Sessel, eine warme Wolldecke um mich geschlungen um mich vor der Kälte zu schützen die wie ein schleichender Schatten zwischen den Rillen und Ritzen dieses Hauses hinein drang. Selbst das Feuer brachte keine Wärme. Inzwischen war es Dezember geworden und es lag abermals Schnee. Damit die Straßen noch einigermaßen begehbar waren hatten die Anwohner den Schnee zu beiden Seiten der Fahrbahn zu meterhohen Türmen aufgeschüttet. Lief man die unzähligen Gassen und Wege der Stadt entlang kam es einem so vor, als liefe man durch einen Tunnel aus Eis.
Rasch löste ich meinen Blick von der verschneiten Landschaft und wandte ihn erneut auf die leuchtenden und herumtänzelnden Flammen im Kamin. Es hatte etwas Beruhigendes wie ich zusammengerollt in dem Sessel lag, die Katze (ich hatte beschlossen sie Leo zu nennen) schlief auf meinem Bauch und schnarchte leise vor sich hin.
Jedoch war es sehr beunruhigend, dass sich die Zahl der Diebstähle seit dem Besuch der Wachen verdreifacht hatte. Inzwischen waren über 60 Meldungen bei den Gesetzeshütern eingegangen. Die Stadt zählte um die 25.000 Einwohner, eine stattliche Zahl für die hier üblichen Verhältnisse.
Rings um uns herum waren Wälder, Wiesen und ein paar Steinbrüche, aus denen den ganzen Tag dichte Staubwolken in den Himmel stiegen.
Erneut wanderten meine Gedanken zu den rätselhaften Diebstählen. Seitdem verließen immer weniger Menschen ihre Häuser, aus Angst sie könnten das nächste Opfer der Diebe werden. Trostlos lagen die Straßen nun da.
Auch wenn ich an manchen Tagen dem Erfrieren nah war, war ich mir sicher, dass das Schneetreiben und die verschneite Landschaft aus einem der großen Häuser auf dem Hügel betrachtet wundervoll aussehen müsste. Dort lebten all die reichen Geschäftsleute und der Adel, die sich hier unten im Schatten der Stadtmauern nie blicken ließen, aus Furcht man könnte sie mit dem „einfachen Volk“ in Verbindung bringen.
Ein kräftiger Windstoß ließ das Dach erzittern. Feine Schneeflocken schwebten durch die winzigen spalten der Dachbalken, eine landete sanft auf meiner Nasenspitze.
Ich hatte sowieso kein Geld für Reparaturen, doch musste ich irgendetwas tun. Eilig schlang ich mir die dicksten und wärmsten Tücher über die ich besaß, schlüpfte in ein meine ausgetretenen Stiefel und öffnete die Tür. Der Wind, der mir entgegen wehte war so kalt, dass mir einige Sekunden die Luft weg blieb. Ich zog das Tuch um meinen Kopf fester und wollte gerade los marschieren, als Leo hinter mir auftauchte, mich ansah und dann schnurstracks in Richtung Wald davon lief.
Ungläubig starrte ich ihm nach und beeilte mich hinterher zu kommen. Unbeirrt ging er weiter. Als er das Stadttor erreichte blieb er stehen und blickte mir ins Gesicht. Verwirrt sah ich Leo an. Es war nicht normal, dass Katzen ihrem Besitzer wie ein Hund nachliefen, schon gar nicht bei solch einem Wetter. Freiwillig!
Immer neue Fragen warfen sich mir auf, jedoch keine Antworten. „Warum tust du das?“, fragte ich. Ohne eine Regung schaute er mir unverwandt in die Augen, er blinzelte nicht, stand einfach nur da wie eingefroren. Allerdingst hätte es mich nicht überrascht, wäre er wirklich zu Eis erstarrt.
Mit Mühe wandte ich meinen Blick von ihm ab und stiefelte weiter durch den Schnee in Richtung Wald. Mein Vorhaben Holz zu sammeln, um das Dach notdürftig zu flicken, kam mir immer unwirklicher vor. Fast schon lachhaft. Ich redete mir ein, ich würde das Holz benötigen, um Feuer zu machen. Für ein wenig Geld könnte ich es auch verkaufen.
Als ich den Waldrand erreichte, blieb ich erneut stehen, nur um mich zu vergewissern, dass Leo noch hinter mir war. Er lief in der schmalen Schneise, die ich im Schnee hinterlassen hatte.
Außerhalb der Stadt war der Schnee viel höher, er reichte mir bis zu den Knien. Die Bäume warfen dunkle Schatten auf die Erde. Der gewundene Pfad, der in den Wald führte war nach ein paar Metern von Schnee und Eis fast vollständig befreit. Nadeln dämpften das Geräusch meiner Schritte. Nur das leise Winseln des Windes war hier noch zu hören. Auch im Winter standen die Bäume dicht, kaum ein Lichtsrahl fiel auf den Erdboden. Ab und zu kamen wir an einer Lichtung vorbei. Jedes Mal warf ich einen Blick gen Himmel, nur um zu sehen, dass die Sonne immer tiefer auf den Horizont zu sank.
Die Schatten zogen sich in die Länge. Ein roter Schimmer ließ den Himmel aufleuchten. Es war, als stünde er in Flammen.
Am Rande einer besonders großen Lichtung blieb ich stehen. Auch Leo verlangsamte seinen Schritt. Wir standen unsere Köpfe in den Nacken gelegt da. Mir kam es so vor, als würden die Bäume miteinander sprechen. Das Rascheln der Blätter, das Knarren der Stämme.
Ein lautes Knurren brachte mich wieder zur Besinnung. Zu meinen Füßen lag die kleine rote Katze, ihr Fell gesträubt, die Augen weit aufgerissen.
Und dann klappte auch mir der Mund auf...

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.10.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /