Das Leben ist wie ein Buch, wie die Buchstaben zwischen dem Umschlag.
Ein Anfang und eine Ende. Ohne, würde das Leben nicht existieren. Geburt und Tod.
Alles ist vorbestimmt. Schicksal.
Und jeder hat sich danach zu richten. Fügung.
Vergangenheit. Gegenwart. Zukunft. Ende.
Kommt dir das nicht auch bekannt vor?
Wer glaubt Gott wäre der Autor jedes Lebens, der liegt falsch. Ich glaube nicht an Gott.
Denn der Autor bin Ich.
Kapitel 1
Ihre Haare waren golden wie die Sonne. Sie wellten sich um ihr zartes Gesicht von unendlicher Schönheit.
Ihre Augen funkelten wie die hellsten Sterne am Nachthimmel, hell wie der Sirius.
Ihre Haut, war so glatt und rein. Die Sommersprossen, die bei jedem Lachen um ihre Nase tanzten, fügten sich in das Bild ein. Wie sehr sehnte ich mich danach jede einzelne zu küssen.
Ihre Lippen so rot wie Rosen. Sie verzogen sich immer zu einem Lachen, wenn sie sprach.
Nie könnte ich mich an ihrem Anblick satt sehen. Diese teuflische Schönheit, hatte mich in ihren Bann gezogen. Meine Hände zitterten, sie wollten sie berühren. Doch ich verbot es ihnen.
Wütend zerknüllte ich ein Blatt in meinen Händen, ich hatte gerade damit begonnen etwas zu schreiben. Doch kein Wort wurde dem gerecht, was ich sagen wollte. Man dachte die deutsche Sprache wäre ausdrucksstark. Aber das war sie nicht, sie war schweigsam und nichtssagend. Nichts. Denn jedes Wort, brauchte einen Mutigen, der es ausspricht, es mit Leben füllte.
Kaum einer besaß die Macht, mit bloßen Worten Angst und Liebe zu verbreiten.
Fast niemand kann mit Wörtern töten und heilen.
Aber einige konnten es. So wie sie. Rosenmund.
~ ~ ~
Ich befand mich auf dem Weg zum Englischunterricht. An unserer Schule war es üblich, dass man nicht in Klassen, sondern in Kursen unterrichtet wurde. Ich mochte Englisch. Die Sprache hatte ihren eigenen Klang und besonders liebte ich die Texte von Shakespeare, die wir gerade im Unterricht behandelten. Sie boten so viel Stoff, so viel Drama und so viel Liebe. Stunden könnte ich damit verbringen sie mir selbst vorzulesen und dann über sie nachzudenken. Sie zu interpretieren, zu glauben man wäre der Lösung nahe und wenn man das Ziel glaubte zu erkennen, schien plötzlich alles wieder anders. Es gab immer neue Fragen, die geklärt werden mussten. Fragen, auf die wahrscheinlich nie ein Mensch die Antwort finden würde. Denn diese kannte nur Shakespeare selbst.
Als ich die Klasse betrat, war ich eine von den Ersten. Ich ging an meinen üblichen Platz am Fenster. Es stand offen und warme Sommerluft strömte herein. Aus meiner Tasche holte ich die Lektüre, Hamlet. Ich kannte es bereits vorher, ein grausames Buch, voller Gier und Rachlust.
Nach und nach versammelten sich auch meine anderen Mitschüler. Fast alle Stühle waren belegt, nur zwei Leute fehlten.
Zu meiner rechten saß Mina, eine gute Freundin von mir. Auf der anderen Seite saß Max, wir waren seit ungefähr einem halben Jahr zusammen. Unter dem Tisch nahm er meine Hand, während unsere Lippen sich zärtlich trafen. „Hallo mein Schatz“, sagte seine Stimme so zuckersüß.
„Hey...“sagte ich verliebt und betrachtete seine grünen Augen. Sie waren glanzvoll. Manche Nacht, wenn ich nicht schlafen konnte, dann dachte ich an seine Augen. Nur an seine Augen. So wunderschön und so endlos, dass ich mich jedes Mal in ihnen verlieren könnte ohne es zu merken.
Als unser Englischlehrer Herr Morten die Klasse betrat, riss ich mich von den Augen los und grüßte im Chor. Nachdem er seine Anwesenheitsliste mit üblicher Sorgfalt durchgearbeitet hatte. Sprach er mich an, ich sollte die Stelle aus dem Buch vorlesen, die wir aufgehabt hatten zu bearbeiten. Hamlets Monolog. Weltweit bekannte Zeilen:
„Sein oder Nichtsein, dass ist hier die Frage.“
So begann ich zu lesen. Die Worte glitten mir über die Lippen, so als wären sie meine eigenen. Ich musste mich nicht anstrengen um Stellen zu betonen oder Gefühle herüber zu bringen. Dieser Monolog war mir so bekannt, dass man denken könnte die Wörter wären meine eigenen gewesen.
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Ihre Lippen schliffen jedes Wort zart und verleiten den Worten den Klang und die Perfektion die ihnen gebührte. Mein Blick hing an ihrem rötlichen Mund. Das Rot war sanft wie Rosen, als wäre es kein Blut was unter der Haut floss, sonder Rosenblätter, die ihren Lippen die Farbe verliehen.
Sie machte Fremdes zu Eigenem und erzählte eine Geschichte. Keine Geschichte aus Wörter, eine Geschichte, die zwischen den Zeile stand. Die Melodie ihrer Stimme glich Musik in den schönsten Tönen. Jede gesetzte Pause war so gezielt, dass dem Zuhörer der Herzschlag stoppte. Würde sie nicht fortfahren, neue Wörter ansetzen, dann würde ich sterben. Mein Herz würde aufhören zu schlagen.
„Sein oder Nichtsein, dass ist hier die Frage.“
Von ihr gesprochen hatten diese Wörter eine völlig neue Bedeutung. Eine neue Perspektive. Ein neuer Weg. Oh Rosenmund, wie gerne würde ich diesen Weg mit dir gehen. Wenn ich doch nur könnte. Ich würde dich halten, mit mir hättest du nichts zu befürchten. Nicht einmal der Tod könnte dir etwas anhaben. Engel. Rosenmund.
„Sterben – schlafen-“
Du würdest nicht sterben, nur in meinen Armen schlafen. Schlafen für eine lange Zeit. Doch immer wenn meine Lippen dich berühren, würde ich dir einen zauberhaften Traum schenken.
„Schlafen! Vielleicht auch träumen! Ja, da liegts“
Ja, Rosenmund. Vertrau mir. Nur mir, ich bin der Einzige, dem du vertrauen kannst. Komm in meine Arme und schlafe. Schlafe mein Kind.
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Schleichend verging der Tag. Stunde um Stunde kroch dahin. Zeiger, die sich partout nicht bewegen wollten. Still stehen. Auch ein Ausdruck von Widerstand. Nichts tun. Womit könnte man den Gegner mehr verunsichern, als mit Stillstand. Angriff? Darauf wäre er vorbereitet. Stille und dann angreifen. Restlos vernichten.
Oh ja, dies taten die Zeiger mit mir. Sie unterstützten die Lehrer in ihrem langweiligen Gerede über Matheformeln. Ein Thema, dessen Faszination, die es auf manche ausstrahlt, mir wohl immer verborgen bleiben wird. Gedankenverloren begann ich Herzen in das karierte Heft zu malen. Ein typisches Mädchenphänomen. Viele Mädchen begannen, wenn ihnen langweilig war Herzen zu zeichnen. Der ewige Wunsch nach Liebe. Der ewige Traum vom Glück.
Ich glaubte ihn gefunden zu haben. Meine Liebe. Mein Glück. Max.
Einige Herzen später, erklang endlich das ersehnte Klingeln. Als ich vor Freude aufsprang wehte der weite Sommerrock um meine Beine. Mit einem lachen auf den Lippen ging ich durch den Korridor. Hinaus auf die Straßen, nach Hause. Tänzelnden Schrittes setzte ich einen Fuß vor den anderen.
Es war Freitag. Freitag war ein ganz besonderer Tag in der Woche, nicht nur, dass das Wochenende begann. Ich machte jeden Freitag einen ausgiebigen Spaziergang durch die Wiesen und Felder. Zum Nachdenken, Fühlen, Glücklichsein. Aber zunächst musste ich mir ein Mittagessen zubereiten. Noch eine Besonderheit am Freitag, ich aß jedes mal Nudeln. Soweit ich mich erinnern konnte, stammte dieses Ritual bereits aus meiner jüngsten Kindheit. Während ich das Wasser aufsetzte und die Soße zubereitete tönte aus dem Radio französische Musik. Ich verstand zwar kein Wort französisch, aber ich fühlte die Stimmung der Instrumente und den Klang der Stimme dadurch um so deutlicher. Während alles auf dem Herd vor sich hin köchelte sah ich aus dem Fenster in den Himmel. Dort zeichneten die Wolken Streifen an den Himmel. Ansonsten war er unendlich weit und blau. Der Sommer war da.
Kapitel 2
~ ~ ~
„Schließ, in dein Gebet all meine Sünden ein!“, hatte sie vorhin gesagt. Die Worte klangen in meinem Ohr. Wie konnte sie sündigen. Sie hatte gewiss nicht gesündigt. Nein, Engel begehen keine unrechten Taten. Nie. Niemals.
Es passte nicht in mein Weltbild. Gewiss hatte sie noch keine Handlungen vollzogen, die Buße benötigten. Doch war sie anscheint kurz davor. Ich musste sie aufhalten. Ich musste ihr helfen. Den rechten Weg zeigen. Unseren Weg zeigen.
Unschuldig war sie und unschuldig wird sie bleiben.
In meinen Armen sicher gewiegt. Beschützt vor dem Unrecht der Welt. Rosenmund, ich bin bei dir. Dein Beschützer. Dein Retter. Dein Prediger.
~ ~ ~
Ich saß alleine am Küchentisch. Mein Bruder war auf Klassenfahrt und würde erst heute Abend wiederkommen. Rosie, meine Mutter war noch auf der Arbeit, ebenso wie mein Vater Bernd. Säuberlich stellte ich alles nach meiner Mahlzeit in den Geschirrspüler.
Schließlich machte ich mich auf den Weg. Ich hatte es nicht weit, denn unser Haus stand am Rande einer kleinen Vorstadt.
Es war ein kleiner, schmaler Sandweg, den ich einschlug. Er führte direkt durch die Felder und Wiesen. Selten begegnete man auf dieser Strecke Menschen. Nur ab und zu einige Hundebesitzer, die ihre Hunde auf den Wiesen einen grandiosen Auslauf boten. Meine Finger fuhren im Gehen über die Gräser, die den Weg hüfthoch säumten. Sie waren verschieden, weich bis kratzig, feucht bis ausgedürrt. Die Sonne schien gnadenlos von ihrem höchsten Punkt aus auf mich hinab. Es war heiß. Zu heiß. Mein Mund wurde trocken, die Zunge taub. Ich ließ mich in den Schatten eines Baumes fallen und befeuchtete meine ausgetrockneten und rauen Lippen. Von diesem Punkt aus konnte ich über weitere Felder blicken und sah etwas auf blitzen. Wie Sonnenlicht, dass von einem Spiegel reflektiert wurde. Mehr war jedoch nicht zu sehen. Ich strich mir eine Locke hinter das Ohr und roch meinen eigenen Schweiß. Mein Blick schweifte in die Ferne. Schwüle Luft flimmerte und irritierte meine Wahrnehmung. Müde von dem grellen Licht, in das ich blinzelte, fielen meine Augen zu. Mit geschlossenen Lieder begann ich nachzudenken. Über den Sinn des Lebens. Was war der Sinn des Lebens? Viele Religionen und Philosophen hatten versucht Antwort zu geben. Ich fragte mich selber, was der Sinn meines Lebens war.
Und wie ich so in diese philosophische Frage vertieft war, bemerkte ich nichts mehr um mich herum. Keine Hitze. Keine Geräusche. Keine Zeit. Hier draußen gab es für mich keine Zeit, keine Termine zu denen man eilen musste. Diese Zeit gehörte ganz alleine mir. Mir und meiner Freiheit.
Schnell verwarf ich meine Theorien zu dem Sinn meines Lebens. Es war nicht gut zu oft an die Zukunft zu denken, denn wer das tat, verpasste das Hier und Jetzt. Das Leben. Ich öffnete meine Augen und erhob mich langsam von meinem Schattenplatz. Als ich in die Sonne trat, traf sie mich mit voller Wucht. Hitze. Keinen klaren Gedanken konnte ich mehr fassen. Mein Mund war immer noch ausgetrocknet und es gelüstete mich nach einem Glas kaltem Wasser. Deswegen entschloss ich mich auf den Weg nach Hause zu machen. Der Sand knirschte unter meinen Schuhen.
~ ~ ~
Die Sonne brannte auf mich hinab. Ich verfluchte sie, denn sie zeichnete rote Male auf meine Haut. Mein Nacken, meine Arme und mein Kopf waren feuerrot. Ungeschützt waren sie ihr ausgesetzt. Aber ich spürte keinen Schmerz, denn was meine Augen erblickten, entschädigte für alles. Für jegliche Art von Schmerzen. Nur die Sehnsucht konnte sie nie betäuben. Das tiefe Loch nicht füllen. Wieder zitterten meine Hände, als sie so zierlich da lag. Zum Schutz vor mir selber presste ich sie unter meinen Oberkörper. Ich durfte nicht die Kontrolle verlieren. Nichts gefährden. Es würde die Zeit kommen. Ja, sie würde, aber nicht jetzt. Später.
Langsam unter Einwirkung dieses Trosts, beruhigte ich mich. Unsere Zeit würde kommen und ewig andauern. Nie enden.
Ihre Engelslocken strich sie zurück. Meinem Mund entfuhr ein Keuchen und bewegte die Weizenhalme um mich herum. „Rosenmund...“, flüsterte ich und mein ganzes Begehren lag in diesem Namen. Ich hätte so viele Worte, die ich ihr geben wollte. Doch ich musste sie zurückhalten, unterdrücken. Zunächst musste meine Tarnung sicher bleiben. Es war schwer, doch ich musste diesen Preis zahlen. Den Preis für unsere glorreiche Zukunft.
~ ~ ~
Als ich endlich zu Hause ankam, war immer noch niemand dort. Ich eilte in die Küche und trank gierig aus einer Wasserflasche. Eigentlich bestand meine Mutter immer darauf, dass wir aus Gläsern tranken, aber heute konnte ich den Durst nicht zügeln. Das Wasser war angenehm erfrischend und kühl. Einige Tropfen blieben an meinen ausgetrockneten Lippen hängen, deswegen fuhr ich mit der Zunge hinüber, um auch noch sie ein zu saugen. Wieder setzte ich den harten Rand der Flasche an meine Lippen und trank. Diese Gier, hoffentlich wurde sie mir nicht zum Verhängnis.
Plötzlich klingelte mein Handy. Sofort erkannte ich die Nummer. Es war Isa, meine beste Freundin.
„Hey Isa, du hast Glück gehabt, ich bin gerade nach Hause gekommen!“, sagte ich, als ich abnahm.
„Ach Linea, ich hab es doch gewusst. Ich habe es einfach im Gefühl, wenn du zu Hause ankommst!“, sagte sie und ich hörte das Grinsen in ihrer Stimme.
Ich lachte: „Was gibt es denn so wichtiges?“
„Ich wollte dich fragen, ob du und Max heute Abend Lust hätten mit Lukas und mir mal wieder richtig feiern zu gehen?“
„Also ich bin dabei und ich denke Max hat auch nichts gegen einen lustigen Viererabend.“
„Super!“, freute Isa sich und verabschiedete sich von mir.
Was waren doch gute Freunde. Der Schatz jedes Lebens. Eine Einheit, die getrennt voneinander funktionierte, aber nur zusammen perfekt war. Ich schlug mein Notizbuch auf. Dort hatte ich einige Zitate gesammelt. In Shakespeares Augen war Freundschaft:
„Wie kunstbegabte Götter schufen wir
mit unsern Nadeln eine Blume beide
nach einem Muster und auf einem Sitz,
ein Liedchen wirbelnd, beid' in einem Ton,
als wären unsre Hände, Stimmen, Herzen
einander einverleibt. So wuchsen wir
zusammen, einer Doppelkirche gleich,
zum Schein getrennt, doch in der Trennung eins,
zwei holde Beeren, einem Stiel entwachsen,
dem Scheine nach zwei Körper, doch ein Herz.
Zwei Schildern eines Wappens glichen wird,
die friedlich stehn, gekrönt von einem Helm.“
Ich las mir die Zeilen laut vor, um auch jedes einzelnes Wort zu begreifen, zu verstehen und nachzuvollziehen. Die letzten Wörter hingen noch in der Luft. Ihr Klang und ihr Geschmack war noch in der Küche. Ich atmete tief ein. Seltsam wie unterschiedlich seine Sprache zu meiner wahr. Ich hätte es ähnlich sagen wollen, doch hätte ich Freundschaft nie so erklärt wie Shakespear. Die Sprache veränderte sich. Manchmal glaubte ich, dass dies etwas schlechtes war. Alte Texte haben immer etwas bezauberndes. Eine besondere Melodie, einen besonderen Klang, der sie zum Leben brachte, wenn man sie vorlas.
~ ~ ~
Zwei Tage. Das klang nicht viel, wenn man bedenkt, dass man noch sein halbes Leben oder mehr vor sich hatte. Zwei Tage waren aber auch achtundvierzig Stunden. Eine noch verschmerzbare Größe an Zeit. Aber was war mit den Minuten, wenn jede Minute so kläglich zu vergingen schien. Zweitausendachthundertachtzig Minuten. Das hört sich nicht mehr einfach nur nach einem kleinen zwei Tages Trip an. Minuten schienen zu schleichen, jeder kannte das. Aber kaum einer weiß wie lang Sekunden waren, wenn jede einzelne so schmerzhaft voll Sehnsucht war. Hundertzweiundsiebzigtausendachthundert Sekunden.
Hundertzweiundsiebzigtausendachthundert mal Schmerz.
Ein Wochenende war nicht kurz. Es war Zeit die gelebt werden wollte, jede verlorene Sekunde, war eine Sekunde zu viel.
172800.
~ ~ ~
Es war neun Uhr abends, als es an meiner Tür klingelte, meine Mutter öffnete sie und ich hörte Stimmengewirr. Währenddessen stand ich im Badezimmer und tuschte die Wimpern noch ein weiteres Mal. Auf meinem Mund trug ich einen leichten Hauch von Lippenstift in einem sinnlichen Rot auf. Im Flur warteten bereits meine Freunde. Ich ging zu ihnen und umarmte Isa und Lukas kurz. Max bekam von mir einen kurzen Kuss. Gerade hatten sich unsere Lippen wieder von einander getrennt, da hörte ich aus der Küche die Stimme meiner Mutter sagen: „Komm nicht später nach Hause als abgemacht!“
„Ja, Mom. Ich bin spätestens um ein Uhr zu Hause und bin sicher Max bringt mich, oder?“
Er grinste: „Machen sie sich keine Sorgen Frau Schäfer, ich passe auf ihre Tochter auf.“
Wir gingen gemeinsam los. Die ganze Zeit über hielt ich Max Hand, ich war sehr glücklich mit ihm zusammen zu sein.
Gemeinsam gingen wir vier zunächst in eine kleine Diskothek. Ich setzte mich auf einem Barhocker und wir bestellten uns jeder ein Flasche Bier.
„Auf einen gelungenen Abend!“, rief Lukas laut. Er war eindeutig der Stimmungsmacher in unserer kleinen Gruppe. Wir stießen die Flaschen zusammen und tranken jeder einen Schluck. Die Musik wummerte in meinem Ohr. Es war ein Lied, dass ich nicht kannte, aber ich mochte es. Mein Fuß wippte im Takt der Musik und auch wenn ich den Text noch nie gehört hatte bewegte ich meine Lippen und sang was ich verstand und ich mir gleichzeitig aus diesen Brocken zusammen dichtete. Das war eine kleine Macke von mir, wenn ich den Songtext nicht kannte, dichtete ich mir meine eigenen Lyrics dazu.
Max griff nach meiner Hand und zog mich auf die Tanzfläche, ich drehte mich einmal unter seinem Arm. Lachend bewegten sich unsere Körper auf dem glatten Boden zur Musik.
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Ich ging nicht gerne Feiern. Clubs waren mir zu groß, zu voll und zu laut. Die Luft war stickig und sie ein zu atmen war kein gutes Gefühl. Doch ich nahm es in den Kauf, denn ich wusste das sie heute hier war. Sie, die ich jede Sekunde sehen wollte. Sie, die mein Leben bestimmte.
Ihr Körper bewegte sich auf der Tanzfläche so grazil. Die Musik und sie waren in einem Einklang, so als wäre die Melodie extra nur für sie komponiert worden. Wie ihre Lippen sich zu einem Lachen formten, sie schienen noch rötlicher als ohne hin schon. Wenn sie lachte, dann schien alles in Zeitlupe zu geschehen. Langsam warf sie ihren Kopf zurück und während ihre Lippen sich verformten, zeigte sie ihre wunderschönen weißen Zähne, die einen starken Kontrast zu ihren Lippen bildeten. Rot und Weiß. Jeder hatte sicher ein anderes Bild im Kopf, wenn er an diese Farbe dachte. Rot und Weiß, waren für mich die Farben von Rosenmund und ihrer unendlichen Schönheit.
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Ich legte meine Arme um seinen Hals und sah ihm intensiv in die Augen. Sein Blick lag auf meinem Mund. Ich lächelte leicht und stellte mich auf Zehnspitzen um ihn zärtlich zu küssen. Er grinste und schrie über die laute Musik an mein Ohr: „Ich liebe deine Lippen!“
Auf meinen Lippen fand sich ein Grinsen wieder. „Danke, ich liebe dich!“, sprach ich laut gegen die Musik an.
Viel zu schnell ging der Abend vorbei. Dabei liebte ich es, einfach zu tanzen und zu lachen. Das Leben zu genießen. In vollen Zügen.
Lachen. Tanzen. Leben.
Für mich gehörte das alles zusammen. Schon oft hatte ich versucht Max zu einem Tanzkurs zu überreden, aber er sträubte sich. Ich hätte mit jemand anderen tanzen können, aber das war für mich nicht dasselbe. In seinen Armen zu liegen bedeutete mir einfach viel mehr. Ich seufzte.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Max und sah mich fragend von der Seite an, als wir gerade in meine Straße einbogen. „Ja, alles bestens. Ich habe nur mal wieder geträumt“, sagte ich und sah ihn mit einen Lächeln an.
„Meine kleine Traumtänzerin...“, sagte er grinsend, er zog mich enger an sich und gab mir einen leichten Kuss. Wir standen bereits vor meiner Haustür.
„Willst du noch mit rein kommen?“, fragte ich ihn leise und hatte meine Arme um seine Hüfte gelegt.
„Nein, es tut mir Leid, meine Süße, aber ich muss nun auch nach Hause“, sagte er, ehe er mich ein letztes Mal küsste.
Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und sah ihm noch hinterher. Die Straßenlaterne warf einen hellen Schein auf ihn. Ein letztes Mal winkte Max mir zu, ehe er in der Dunkelheit verschwand. Als ich in den dunklen Flur trat, vermisste ich ihn bereits sehr. Langsam zog ich meine Sachen aus und schminkte mich ab. Als ich in den Spiegel sah, erblickte ich nicht mein eigenes Bild. Stattdessen sah ich die Augen, die ich so liebte. Max Augen.
Selbst als ich bereits im Bett lag und langsam einschlief, konnte ich nur an eins denken.
Seine Augen.
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Kapitel 3
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Wenn Zeiten kommen, muss man sie nutzen.
Wenn Chancen sich auftun, muss man sie ergreifen.
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Meine Füße sanken leicht in dem nassem Untergrund ein. Ich war auf dem Weg zu Max, die ganzen letzten Tage hatte es nur geregnet und ich bereute es bereits, dass ich diese Abkürzung gewählt hatte. Der sonst so trockene, steinige Sandweg hatte sich zu einer einzigen schlammbraunen Masse verwandelt. Mit angewiderten Gesichtsausdruck stapfte ich über den Weg. „Ihgit!“, murmelte ich leise, als mein Schuh besonders tief in dem Schlamm stecken blieb.
Das Wetter war dieses Jahr sehr wechselhaft, vor zwei Wochen war ich noch durch die sengende Sonne, bei heißen Temperaturen in leichten Sommerkleidern durch die Gegend gelaufen. Aber diese wenigen Tage voller Regen, die wie ein enges Netz fast andauernd vom Himmel kamen, hatten so vieles geändert, nicht nur den Boden, sondern hatten sie auch die Temperaturen gesenkt und die Sonne verdeckt. Bei diesem Gedanken warf ich einen Blick gen Himmel. Dunkle, schwere, schwarze Wolken schoben sich vor die Sonne. Mal wieder. Ein frischer Wind kam auf. Ich fröstelte leicht und in meinem Unterbewusstsein breitete sich ein Gefühl von Unbehagen aus. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke höher, aber das Gefühl verschwand nicht. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Knacken. Ehe ich herum fahren konnte, drückte sich etwas auf meinem Mund.
Die Kälte verschwand. Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden. Alles verschwand.
Alles wurde taub und schwarz.
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Ich strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Wie schön sie doch war. Vorsichtig hob ich ihren Körper hoch in meine Arme. Es musste sein, auch wenn ich mich dafür verabscheute.
Sie wäre nicht mit mir gegangen. Sie hätte es nicht verstanden. Sie wusste nicht, was gut für sie war.
„Nun beginnt unsere Reise, Rosenmund. Es beginnt unser gemeinsamer Weg. Es beginnt die Zukunft. Nein, es beginnt die Ewigkeit. Die Zeit und dein Herz schlägt nur noch für uns.“
Ein Zittern fuhr durch meinen Körper. Ich war fast da. Fast an meinem Ziel. Zu lange hatte ich mich zügeln müssen, zu viele Sekunden in Sehnsucht verbracht, als dass ich jetzt widerstehen konnte. Langsam beugte ich mich über ihren zerbrechlichen Körper, der in meinen Armen lag. Ich berührte ihre Lippen mit meinen nur kurz, aber dieser Moment war mehr. Mehr, als ich je gewagt zu Träumen hatte. Mehr. Ich wollte mehr. Mehr von ihr.
„Mehr von dir, Rosenmund.“
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Verloren.
Verloren in einer Welt von Schmerz.
Verloren in einer Welt von Dunkelheit.
Verloren in dieser Welt, in der ich nicht weiß, wo ich bin.
Verloren in dieser Welt, in der ich nicht weiß, was morgen ist.
Verloren, im freien Fall.
Wo bin ich?
Was mag geschehen sein?
Ich bin allein.
Verloren.
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~ ~ ~
Sie war so reglos. So tot.
Ich ließ sie zurück in dem dunklen Raum. Sorgfältig verschloss ich die Tür und stieg die enge Treppe nach oben, durch das vergitterte Fenster fielen keine Sonnenstrahlen. Ohne Licht war alles so trist, dunkel und hoffnungslos.
Das Bild war noch in meinem Kopf, fest verankert. Ihre roten Lippen so blass.
Ich schlug mit der flachen Hand gegen die Wand und biss mir gleichzeitig auf die Lippen. Unterdrückte den Schrei, als sich der Schmerz langsam in der Handfläche ausbreitete.
Verflucht sei ich, für meine Tat.
Ablenkung. Ich musste das Bild von ihrem Körper aus meinen Gedanken verbannen. Dringend.
Ich riss die Tür zu meinem Zimmer auf und setzte mich an den Tisch. Ließ die Worte zu mir kommen, ließ sie meine Gedanken verdrängen.
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Tag der Veröffentlichung: 05.09.2010
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