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Es hört nicht auf.

Ich höre nicht auf. Es tut weh und ich weiß es, doch ich höre nicht auf. Ich küsse Bettina flüchtig auf die Wange und sie lächelt zum Abschied. Es ist ein ehrliches Lächeln, eines voller Vertrauen und Zuversicht. Mein Gewissen versetzt mir einen Stich, aber ich erwidere das Lächeln. Sie merkt mir mein Unwohlsein an, aber sagt nichts. Ich auch nicht. Selbst wenn einer von uns Stille bricht, so sind es leere, bedeutungslose Worte. Reden miteinander können wir nicht. Doch ich kann sie dafür nicht anschuldigen. Meine Frau versucht es schließlich jeden Tag. Sie spricht, lange und voller Gefühle, allerdings sind ihre Gebete die einzigen Worte, die das Haus erfährt. Jeden Morgen tut sie das, bevor ich aufstehe. Ich kann spüren, wie sie im vermeintlichen Glauben, dass ich schlafe, sich auf den Flur vor dem Kreuz niederkniet und betet. Jeden Tag, jeden Morgen. Ich höre sie und mein Herz, von dem ich nicht sicher sein konnte, dass es noch existiert, schmerzt. Jeden Tag, jeden Morgen, jedes Mal die gleichen Worte. Ich kenne sie auswendig und doch verfehlen sie ihre Wirkung nicht. Nie. Sie sind vielleicht der letzte Beweis für meine Menschlichkeit.
Manchmal wünschte ich, ich wäre wie sie. So voller Glauben und Hoffnung. Es muss schwierig sein, diese Gefühle aufrecht zu erhalten, wenn man mit mir verheiratet ist. Ich kann sie nicht verstehen. Ich kann nicht verstehen, wie sie es aushält. Unsere Ehe ist perfekt. Wir sind glücklich. Sie liebt mich. Ich liebe sie, auch wenn meine Liebe wohl nie an ihre völlige Aufopferung heranreichen kann. Und es tut weh. Warum höre ich dann nicht auf? Warum mache ich so weiter wie bisher? Warum tue ich Bettina das an? Wenn sich diese Fragen in meinem Kopf aufwerfen, wünschte ich wieder einmal, ich wäre wie sie. Hätte einen Gott, dem ich diese Fragen stellen könnte. Doch ich habe keinen, denn ich weiß, dass man Gott nicht nur diese Fragen stellen kann. Er selbst fragt sie und ich habe mehr Angst vor den Antworten als vor den Konsequenzen. Ich will keine Antworten, auch wenn ich weiß, wie sie ausfallen würden. Antworten zerstören Stille, die Stille, an die ich mich so gewöhnt habe.

Marie öffnet die Tür und lässt mich in ihr kleines Apartment eintreten. Ihre Wangen sind eingefallen, die Haut blass. Ihre Hände zittern. Meine Jacke tropft auf die Dielenbretter und sie nimmt sie mir ab. Und die restliche Kleidung. Es ist wie immer. Stumm verhalten wir uns so, wie wir es jedes Mal tun. Die Seufzer und das Stöhnen wirken laut. Ich empfinde nichts außer einer Spur Traurigkeit. Reue oder gar Leidenschaft ist nicht in mir. Da ist nur ein tauber Schmerz. Sie schläft ein, sobald es vorbei ist. Ich sitze auf der Bettkante und betrachte ihr Gesicht. Sie ist so jung und doch wirken ihre Züge müde. Ihre Schönheit beeinträchtigt das nicht. Sie runzelt die Stirn und ihre Augen schließen sich fester. Nur im Schlaf verlässt der ewig gleiche Ausdruck ihr Gesicht. Sobald sie wach ist, ist das schwache Lächeln wieder da. Ihr Lächeln ist anders als Bettinas. Es ist gezwungen. Marie hat sich nie beschwert. Doch ich kann sehen, wie ihre Augen sie betrügen. Von ihnen geht ein stummer Wunsch aus. Es ist mehr ein Flehen oder Betteln. Ein Schrei um ihrer selbst willen. Aber sie fasst diese Bitte nie in Worte. Sie weiß, Schweigen schützt sie. Sie erwartet nichts, keine Änderung, kein Wort. Erwartungen bringen Enttäuschungen. Wir beide wissen, dass ich ihre Erwartungen nicht erfüllen kann. Also bleiben wir stumm. Der Schmerz ist immer noch da. Ich betrachte sie und muss der Wahrheit ins Auge blicken. Ich habe sie zerbrochen. Es gibt nichts, dass sie wieder repariert. Es gibt nur etwas, dass sie weiter zerstören kann. Etwas, das den Schmerz noch verschlimmert. Ich ziehe mich an und verlasse das Apartment. Marie schläft noch. Schuld lastet auf meinen Schultern. Ich weiß, ich bin schuldig und frage mich, ob es die Schuld ist, die weh tut.

Doch die Suche nach der Antwort erfolgt nie. Ich betrete die Küche und Bettina begrüßt mich mit einer Umarmung. Wortlos setze ich mich ins Wohnzimmer auf den Sessel. Bettina ruft mich, wie jeden Abend, zum Essen, aber ich bleibe sitzen. Erst wenn sie im Bett ist, stehe ich auf. Im Spiegel betrachte ich mein Gesicht, das von Falten gezeichnet ist. Sie zeigen mir jeden Tag ein bisschen stärker, dass trotz aller Routine und allem Schmerz die Zeit weiter läuft. Ich sehe alt aus und die ersten grauen Haare befinden sich auf meinem Kopf. Ich frage mich, wie lange es dauern wird, bis es aufhört. Wie viel Zeit noch vergehen muss bis Stille verschwindet. Oder wie lange es dauern wird bis ich mir keine Fragen mehr stelle, deren Antwort ich nicht wissen will. Wie lange ich jemand zerbrochenes halten kann.
Ich lege mich zu meiner Frau ins Bett und kann die ersten Zeichen meines Verhaltens erkennen. Ihre Hände zittern. Sie runzelt die Stirn und ihre Augen schließen sich fester.
Ich bin schuldig, doch das Schweigen verschluckt mich. Der Schmerz wird zur Gewohnheit und ich weiß, er ist besser zu ertragen als eine Veränderung. Ich weiß, so wird nichts besser. Aber auch nichts schlechter. Alles bleibt wie immer.
Doch wenn ich meine Frau anschaue, weiß ich nicht, wie viel Zeit dabei vergehen wird, in der jemand anderes zerbrechen werde?
Ich verschließe die Augen. Stille verdrängt die Erkenntnis.

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Tag der Veröffentlichung: 05.08.2009

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