Im dichten grünen Moos stand er da und sah sich seine Umgebung nochmals haargenau an. Das Rascheln zuvor hatte er sich nicht eingebildet, da war er sich sicher. Vorsichtig, damit er die frischen Pilze, die aus dem feuchten Grün wucherten, nicht zertrampelte, bewegte er sich auf den Weissdornstrauch zu. Er spitzte seine Ohren und lauschte. Neben dem sachten Wind an diesem warmen Herbsttag wollten ihm aber keine weiteren Geräusche zu Ohren kommen. Doch dann sah er das Geschöpf zwischen den kleinen rotgelben Blättern hindurch. Eigentlich nur dessen Augen. Der junge Löwenmensch wagte sich noch einen Schritt nach vorne, doch sogleich verschwanden die wunderschönen braunen Augen. Er hechtete auf den Strauch zu, doch tanzte nur noch aufwirbelndes Laub in der Ferne. Ungläubig schielte er in die Richtung des Zaubers und blieb in einer seltenen Art der Niedergeschlagenheit liegen. Wäre er doch nur ein richtiger Löwe, dachte er traurig.
Der Löwenmensch hiess Arual und lebte auf der immer warmen Insel Iwalam viele Jahre bevor es die Erde gab. Die Welt war voller Tiere und Wesen, die es heute nicht mehr gibt. Auf Iwalam spielten Löwen auf saftigen Wiesen und wussten nicht, dass ihnen viele 1000 Jahre später nur noch weite Durststrecken in der Wüste als Territorium gehören würden. Iwalam war grundsätzlich ein friedliches Land.
Doch Arual war erst gerade in das Alter der Jungprinzen gekommen und fühlte sich ausgeschlossen. War er ja nur ein Löwenmensch und kein ganzer Löwe. Seine Kameraden überragten ihn an Grösse und Kraft und wenn sie sich auf den weiten Wiesen tummelten und ihre Stärke massen, sass Arual oft nur unter einem schattigen Baum und war traurig. Er hatte nur noch seinen Vater, der ehemalige Herrscher Ajnos über Iwalam und hochangesehener Löwe im ganzen Land. Doch schien sich dieser nicht sonderlich für Arual zu interessieren. Wer seine Mutter war, wusste er nicht. In seinen Träumen malte er sie sich aus, wie sie ihn umsorgte und sie zusammen auf die Jagd gingen. Manchmal war es ihm, als wären es Erinnerungen und dann wieder weiss er, dass er nur tagträumte. Er hatte einmal von seinem Vater wissen wollen, wer seine Mutter war. Als Anjos darauf seine riesige Tatze hob und böse auf seinen Sohn hinunter geschaut hatte, hatte sich Arual schleunigst zurückgezogen und seither das Thema seiner Mutter nie mehr angesprochen.
Die anderen, die richtigen Löwen lachten ihn manchmal aus und nannten ihn mutiert und dumm. So war Arual immer der Aussenseiter der Gruppe und ging alleine in den Wald, um seinen Träumereien nachzugehen. Genauso wie an jenem Tag im Spätherbst, als er in die Augen blickte, die er nie mehr vergessen wollte.
Von da an kam Arual jeden Tag wieder an denselben Ort und mied es, in den stahlblauen See unweit der Stelle zu blicken, der ihm sein Spiegelbild offenbaren würde. Er sah es auch ohne Spiegel: er ging aufrecht, währendem die richtigen Löwen alle vier Beine gebrauchten. Anstelle von Tatzen hatte er Hände und Füsse. In den Nächten fror er manchmal und beneidete die Löwen um ihr Fell. Er fühlte sich nackt und verletzlich, da er kahl war. Nur auf seinem Kopf türmte eine Mähne wie die eines richtigen Löwen und am Ende seines Rückens hatte er einen Schwanz. Er versuchte stolz darauf zu sein, doch er wurde immer wieder daran erinnert, dass es doch nicht reichte um einen richtigen Löwen zu sein. Er konnte keine Zebras erledigen, auch nicht so schnell rennen wie die anderen, nicht so elegant die Bäume hinaufklettern und auch nicht so weit springen. Die Zähne um frisches Fleisch zu essen waren zu schwach und so begnügte Arual sich oft mit Beeren, die er im Wald finden konnte.
Die Tage vergingen. Immer wieder war er im Wald, doch an einem Abend hatte er auf dem Rückweg das Gefühl, dass jemand ihn verfolgen würde. Schnell drehte er sich um, doch konnte er nichts erkennen. Herzklopfend ging er weiter. Doch nun tat sich auch bei seinem Geruchsinn etwas; da war ein anderes Lebewesen! Aufgeregt und neugierig blieb Arual stehen und schaute sich um. Er roch etwas Altes, Vertrautes und ging dem nach. Nach wenigen Schritten stiess er im Dickicht auf einen anderen Löwen. Enttäuscht wollte sich Arual abwenden, als der Andere seinen Namen murmelte.
„Ja?“ Das Interesse war geweckt.
„Arual, hilf mir. Ich habe etwas in meiner Tatze, das da nicht hingehört. Du mit deinen Finger kannst das vielleicht entfernen. Es tut nämlich ganz schön weh.“
Arual war erstaunt. Es war das erste Mal, dass ein Löwe ihn um Hilfe bat. Zudem hatte er diesen Löwen noch nie gesehen und wollte wissen, wer er war und wieso er seinen Namen wusste.
„Ich bin ein alter, unwichtiger Löwe, der seit Jahren am Leben ist. Mein Name ist Nauj. Du als einziger Löwenmensch im Land bist bekannt. Nur deshalb weiss ich deinen Namen. Aber jetzt hilf mir Kleiner, ich habe noch Wichtiges zu erledigen.“
Arual schaute sich die Tatze vorsichtig an und entdeckte etwas, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Es war durchsichtig, spitzig und hart wie ein Stein. Es schien sich bereits entzündet zu haben, denn die Tatze war geschwollen und etwas eitrig. Behutsam nahm er das Material zwischen Zeigefinger und Daumen und zog den Splitter heraus.
„Was ist das?“ Arual hatte nur noch Augen für das sich in der Sonne spiegelnde Teilchen.
„Am besten du wickelst achtsam ein paar dicke Rosenwurzblätter darum und verscharrst es unter der Erde, damit sich niemand mehr daran verletzen kann. Aber pass auf, du kannst dich leicht daran schneiden. Es ist nicht von dieser Welt Arual, lass es so aussehen, als wäre es auch nie hier gewesen.“ Nauj bedankte sich und wollte weitergehen, doch Arual hängte sich ihm an. Es schien eine Aura von Nauj auszugehen, die Arual zuvor nur bei Königen des Landes gesehen hatte.
Mutig sagte er zu dem alten Löwen: „ Hör zu, ich habe dir geholfen. Ich würde nun auch gerne deine Hilfe in Anspruch nehmen. Lehr‘ mich rennen, klettern, kämpfen und erzähl mir alles, was du weißt. Als Gegenleistung kann ich dir in der Zeit deine Tatze versorgen. Ich kenne alle Heilblätter im Wald.“
Nauj machte ein nachdenkliches Gesicht. Er war einsam, aber Arual als ständigen Begleiter zu haben, schien ihm keine gute Idee zu sein. Man hatte viel von ihm gehört. Er wäre eigensinnig und stur, hätte keine Willenskraft und innere Stärke. Und doch wusste er, dass dies seine Aufgabe war.
„In Ordnung Arual. Ich aber werde die Entscheidungen treffen und du musst mir gehorchen, egal, was du denkst oder für richtig hältst. Ich werde der Stammführer in unserem kleinen Stamm sein. Hast du verstanden?“
Dankend nickte Arual und freute sich auf die bevorstehende Zeit. Er hatte nichts, was ihm bedeutete, in seinem Zuhause gelassen, auf was er nicht hätte verzichten können. Einzig das Amulett seiner Mutter. Dieses jedoch trug er immer auf sich und hätte es gegen alles auf der Welt Vorherrschendes beschützt. So folgte der junge Löwenmensch Nauj und wartete wissbegierig darauf, was der weise, neu gefundene Freund ihm alles zeigen würde.
Die Tage und Wochen zogen sich dahin und Arual lernte, seine Nase noch besser zu gebrauchen, sich kleinen Tieren anzuschleichen und diese zu fangen. Er lernte mit blossen Händen zu fischen, die Bäume schneller hochzuklettern und die Geräusche anderer Tiere besser wahrzunehmen. Jeden Tag entfernten sie sich weiter von der Stelle, wo sie sich das erste Mal getroffen hatten und sahen neue wunderschöne Landschaften. Arual war erstaunt von der Weitläufigkeit seines Landes. Seine Kameraden vermisste er kein einziges Mal. Jede Nacht kuschelten sich die beiden Freunde aneinander und bevor Arual von den vielen Erlebnissen erschöpft einschlief, dachte er noch immer an die schönen Augen, die ihn einst verzaubert hatten.
Eines frühen Morgens, die Sonne des Iwalamlandes schlummerte noch hinter den Bergen und die meisten Tiere schliefen, entdeckte Arual in weiter Ferne Lichter. Er war eben erst aus der Höhle gekrochen, die sie gestern gefunden hatten. Aufgeregt weckte er den alten Löwen und zeigte ihm seine Entdeckung.
„Arual, was ist das? Lichter, die sich nicht bewegen, können keine Glühwürmchen sein! Hast du so etwas schon einmal gesehen? Sollen wir dorthin gehen?“
Nauj erwachte gähnend und drehte sich zur Seite. Mit müder Stimme erklärte er seinem neuen jungen Freund:
„Ja Arual, ich weiss, was das ist. Das, was du siehst ist Kibmazom. Ein Land fern unserer Vorstellung. Dort leben Wesen, die uns nicht bekannt sind. Erst einmal ist ein Löwe dort gewesen – dein Vater, Arual. Dies geschah noch vor deiner Geburt. Er wurde gefangen gehalten, als er sich dort aufhielt. Er konnte sich aber retten und hat dich dabei mitgenommen. Das ist alles was ich weiss.“
Herzklopfend fragte Arual nach.
„Warum weißt du das alles?“
„Ich bin dein Grossvater Arual. Dein Grossvater.“
Arual hatte nicht gemerkt, wie schwach und dünn der alte Löwe in den letzten Tagen geworden war. Mit seinen langen Armen drückte er Nauj an sich und weinte.
„Bitte Grossvater, bleib bei mir! Ich brauche dich! Du musst mir noch so viel erzählen!“ schluchzte Arual in das dicke Fell seines Freundes.
„Du hast genug gelernt. Deine Arme und Beine sind stark geworden, du kannst kämpfen und dir selbst Nahrung suchen. Aber was dich vor allem stark gemacht hat, sind deine Gedanken. Du hast deine Fähigkeiten so einzusetzen gelernt, wie du am besten davon profitieren kannst. Ich habe dir alles gelehrt, was ich konnte. Nun ist es an mir zu gehen. Ich werde bei dir sein Arual. So wie es deine Mutter ist.“
Das waren die letzten Worte des Löwen, bevor er seine Augen schloss und den letzten Atemzug machte. Entsetzt blickte Arual auf seinen Grossvater und wusste nicht, was er nun machen sollte. Er wäre am liebsten für alle Ewigkeit bei ihm geblieben. So viele Fragen hatte er noch. Nach Stunden des Trauerns nahm Arual all seine Kraft zusammen und zog los. Er wollte seine eigene Geschichte erfahren. Vorher bettete er seinen Grossvater aber noch um ein Blumenbeet und schickte ihn nach alter Tradition dreimal zum Himmel und wieder zurück, um ihn dann beim letzten Mal für die Unendlichkeit gehen lassen zu können.
Arual machte sich schweren Herzens auf und war nun umso überzeugter, dass er das Land auf der anderen Seite besuchen möchte. Mit der neuen inneren Kraft machte er sich auf und erlebte noch viele Abendteuer auf seiner Reise. Wer weiss, vielleicht ist er auch heute noch irgendwo unterwegs auf der Suche nach dem Augenpaar, das er immer im Herzen mit sich trug. Denn alles andere, was er gesucht hatte, hatte er gefunden. Das Wichtigste davon war das Vertrauen in sich selbst…
Tag der Veröffentlichung: 25.10.2012
Alle Rechte vorbehalten