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Kapitel eins - Steffi

Ring. Ring.

Mein Telefon summte die übliche Melodie. Ich hatte mich noch immer nicht an diesen Klingelton gewöhnt. Jedes Mal fiel ich vor Schreck fast aus dem Bett, wenn es bimmelte. Ich lag da, mit halb geöffneten Augen, und wünschte, ich könnte demjenigen einen Klaps verpassen, der es gerade wagte, mein friedliches Schlummern zu stören. Auf der Suche nach dem Telefon, knallte meine Hand unsanft gegen den Nachttisch.

Ohne auf das Display zu schauen, hob ich den Hörer ans Ohr.

„Hallo?”, flüsterte ich schläfrig, während ich mit meiner linken Hand die Brille vom Kissen nebenan angelte. Wahrscheinlich denkst du jetzt, dass sie hinüber war, nachdem ich darauf lag, aber ich schlief nicht auf diesem Kissen. Vielleicht bin ich die einzige Person, die zusätzliche Kissen im Bett hat, aber immer nur eines benutzt. Nicht alle drei oder vier, nur eines.

„Hallo, Schätzchen. Wie geht's dir?”, hörte ich meine Mutter durchs Telefon trällern. 

„Mama!”, seufzte ich. Ich öffnete und schloss meine Augen, um den Nebel vor meinen Augen zu vertreiben. Als ob das helfen würde.  Ich war erst drei Tage weg, und meine überfürsorgliche Mutter wollte mir nicht den Freiraum einräumen, den ich brauchte. “Mir geht's gut. Und euch?”

„Uns geht's auch gut, Schatz. Wie gefällt's dir in Spanien?”, fragte sie und summte eine ihrer Lieblingsmelodien. 

„Das hast du schon gefragt. Genau genommen hast du mir diese Frage die letzten drei Tage täglich gestellt. Spanien ist klasse”, sagte ich gelangweilt.

„Ja, du gibst mir immer dieselbe Antwort, Steffi, und ich frage es immer wieder. Wie gefällt dir Spanien? Ich will Details, Schätzchen!”, drängte sie.

Ich seufzte, räkelte mich, und rieb mir die Stirn. Dann starrte ich an die Decke. Meine Sicht war immer noch verschwommen. Ich nahm kurz die Brille ab, säuberte sie mit einem kleinen Stück meiner Bettdecke und setzte sie wieder auf. Immer noch verschwommen. Der Drang, in Tränen auszubrechen, schnürte mir die Kehle zu. Aber nein, ich musste stark sein. Ich konnte mich nicht ständig von diesem Malheur runterziehen lassen. Das ist jetzt ein Jahr her, Stephanie! Komm mal drüber hinweg! “Um ehrlich zu sein, Mama, hatte ich bisher noch nicht wirklich Gelegenheit, irgendetwas zu tun.“

„So schlimm? Oh Liebling, es tut mir so leid.“ Sie wimmerte, und ich konnte den leisen Unterton von Tränen in ihrer Stimme hören. 

 „Mama, es ist nicht deine Schuld. Der Sinn dieses Urlaubs war doch, mich zu erholen.  Ich hatte ein hartes Jahr. Und wir waren uns einig, dass ich diese Reise machen werde, wenn meine Gesangskarriere ins Rollen kommt, und … endlich ist es soweit.“

„Ich weiß, aber als wir diesen Plan gemacht haben, Schatz, da konntest du noch sehen. Und jetzt...“, sie schniefte, und ich stellte mir vor, wie sie sich mit dem Handrücken die Tränen abwischte.

„Ich bin nicht blind, Mama!”, zischte ich durch geschlossene Zähne. 

Da traf mich einmal ein Schicksalsschlag und plötzlich behandelten mich alle wie ein Porzellanpüppchen. Die Leute sahen in mir plötzlich etwas Außergewöhnliches. Vielleicht war ich es ja auch.

„Ja, ich habe Probleme, klar zu sehen, aber ich bin nicht blind.“ Als ich die Worte aussprach, krächzte meine Stimme.

Ich wusste, ich hatte der Welt und mir selbst lang genug etwas vorgemacht. Als mir die harte Realität bewusst wurde, packte ich meine Koffer und flüchtete in den Urlaub.

Mein Debütalbum war ein Riesenerfolg. Man könnte sagen, dass der Verlust – meine Sehbehinderung – bei den Menschen die Herzen öffnete, meine Musik zu akzeptieren. Immerhin waren es ständig, wenn ich diese Talentshows schaute, die krebskranken Kinder, bei denen die Jury die goldenen Buzzer drückte.

Eine Zeit lang glaubte ich, dass es mein Schicksalsschlag war, der meinen Erfolg hervorbrachte, aber mir wurde klar, dass dem nicht so war. Die Songs, die ich schrieb, ermutigten mich, niemals aufzugeben. Und es fühlte sich gut an, dass sie auch andere mit ähnlichen Herausforderungen ermutigten.

„Das werde ich dem Fahrer nie vergeben“, knurrte meine Mutter und ich hörte ein Knacken.

 “Was sagst du?“, fragte ich und ignorierte ihre unterschwellige Drohung.

„Ach, nichts. Schon gut, Liebling. Wenn du dich in Spanien nicht wohl fühlst, kannst du jederzeit heimkommen. Das weißt du, oder?“

„Nein, Mama. Das werde ich nicht. Ich gönne mir diesen Monat Auszeit. Vielleicht bekomme ich dadurch Inspiration und Ideen für neue Songs.“

„Mach dir keinen Stress, Schatz.“

„Mach ich nicht.“ Ich atmete hörbar aus, Tränen schossen mir in die Augen, und ich sah überhaupt nichts mehr. Ich blinzelte, und die Tränen kullerten auf meine Wange.  „Manchmal fühle ich mich überrumpelt von all dem, Mama.  Ich verstehe, dass alles aus gutem Grund geschieht. Ich freue mich darüber, dass Atlantic Records mich unter Vertrag nehmen will.  Ich freue mich über den Anstieg meiner Instagram-Follower. Darüber, dass meine Musik zu einer Pop-Sensation geworden ist, … Aber warum ist das alles nach meinem Unfall passiert? Warum musste mir ausgerechnet dieses schreckliche Ereignis den Weg zu meinem musikalischen Erfolg ebnen?“ Das hatte ich nie verstanden. Natürlich hat es mir mein Therapeut erklärt. Er sagte: „Schlechte Dinge dauern nicht ewig, und sie ermöglichen oft die guten Dinge, die folgen.“ Aber es ergab für mich keinen Sinn. Tag für Tag wurde meine Sicht schlechter. Und es machte mir Angst, dass dieser Motivationsfunke früher oder später erlöschen würde, ersetzt durch ein Meer von Traurigkeit. Dann würden meine einst so inspirierenden Lieder zu Alben mit düsteren Melodien und melancholischen Balladen verkommen. Meine Fans würden mich hassen. Ich würde mich hassen, und ich wäre unglücklich. Bis in alle Ewigkeit. 

„Schatz, ich verstehe dich. Ich verstehe deinen Schmerz. Aber glaub mir, es wird besser. Du bist die stärkste Person, die ich kenne, und ich bin froh, dass Millionen und Abermillionen von Menschen das auch so sehen. Es gibt nicht nur Schattenseiten, Schatz. In gewisser Weise war es auch ein Glücksfall. Weißt du, wie viele Menschen, du inspiriert hast? Hast du die lebensverändernden Geschichten gelesen, die Menschen seit der Veröffentlichung deines Albums erzählt haben?  Du gehörst zu den wenigen Glücklichen und inspirierst andere.“

„Ich liebe dich, Mama“, flüsterte ich. Ich hasste ihre Anrufe stets, bis sie mit ihrer aufmunternden Rede begann.

„Ich dich viel mehr, Süße. Aber ehrlich, ich bring den Fahrer um.“

„Er starb an der Unfallstelle, Mama.“

„Genau. Aber du hast überlebst, um andere inspirieren zu können.“

„Ja, ich bin dem Tod entkommen, habe meine Sehkraft verloren und wurde ein Popstar.“  Der Sarkasmus kam nicht mit rüber.

„Mensch! Was für eine inspirierende Story! Genau richtig, wenn du in ein paar Jahren in Harvard eine Rede hältst“,  jubelte sie.

„Mama. Harvard ist für außergewöhnliche Persönlichkeiten.“

„Ja, so wie dich, mein Schatz. Du bist eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Vergiss das nie.“

„Werde ich nicht. Ich gehe jetzt dann an den Strand.  Ich sagte einer der Hotelangestellten, sie solle mich um vier abholen.  Also mach ich mich besser fertig.“

„Na klar. Lass es dir gut gehen, Schätzchen. Pass auf dich auf. Und, wenn du magst, angel dir einen spanischen Ehemann.“

„Mama! Tschüss!“, sagte ich und rollte mit den Augen.

„Tschüss, meine Kleine!“, antwortete sie lachend.

Nachdem sie aufgelegt hatte, schlüpfte ich in meinen Badeanzug, aber nicht ohne zuvor ein paar Augentropfen in meine Augen zu träufeln. Sie verringerten die Unschärfe und meine Sicht wurde erträglicher. Auch wenn es nur dreißig bis vierzig Minuten anhielt. Ein paar Minuten später kam die Hotelangestellte in mein Zimmer. Sie hatte eine blau-schwarze Uniform

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sharela Koch
Cover: Germancreative
Übersetzung: Sharela Koch
Tag der Veröffentlichung: 15.06.2022
ISBN: 978-3-7554-1567-1

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