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Aus dem Süden des Landes

So verschlug es mich gebürtigen Cottbuser in den Süden der Bundesrepublik Deutschland. Dieses Bundesland zeichnete sich dadurch aus, dass ein Liter Bier in einem Restaurant billiger war, als ein Liter Wasser. Auch überhaupt war hier aller Alkohol billiger, sowie einige ausgewählte Fleischsorten. Das Weggehen hier war hingegen teurer. Das war der Preis einer Gesellschaft, die den Begriff "Dienstleistung" verstanden hatte. Man bekam hier automatisch mehr Gehalt für solche als Nebensjobs bekannten Verdienste. Kein Wunder, warum hier unten niemand die allgemeine Forderung nach Mindestlohn wirklich unterstützte.

Nun ja, zugegebener Maßen ist das Leben hier auch ein wenig teurer, zumindest was die zusätzlichen Zusatzkosten betraf, die dem Leben aber erst einen Sinn verliehen. Damit meine ich zum Beispiel Studiengebühren, Kärtchen, Bescheinigungen, ja die ganze Bürokratie kostete hier einiges. Die Polizei lässt sich hier auch häufiger blicken und die Strafzettel kosten auch Einiges. Egal, zurück ins Präteritum.

Was ließ sich noch über Bayern sagen, außer dass es im Prinzip doch schon irgendwie wie Brandenburg war. Man bemerkte erst, was der Unterschied ist, wenn man Bayern verließ, so wie ich an jenem verhängnisvollen Wochenende. Ich entschuldige mich dafür, mit dem Wort "verhängnisvoll" eine gewisse Spannungskurve aufgebaut zu haben, die eine interessante Geschicht erwarten lässt. Die Geschichte werde ich allerdings nur streifen, da mir das Beispielhafte genügt. Wenn man in Regensburg in ein Auto steigt, vier Stunden später am Potsdamer Hauptbahnhof rausgeworfen wird und die erste Begegnung mit ein paar pöbelnden Jugendlichen macht, dann weiß man, man ist in Brandenburg. Und dann bis hoch nach Schwerin an jedem Bahnsteig ein unglücklich aussehender Kurzhaarschnittträger, der eine sehr korpulente junge Dame am Bauch kleben hatte und in regelmäßigen Abständen aggressiv über ihren Kopf hinweg auf die Gleise spuckte. Ja! Unsere Legionen der Perspektivlosen sind bis an die Küste im Norden, bis zu den Hügeln Magdeburgs bis in die Tiefen des Sachsenlandes zu Land und zu Wasser unterwegs.

Ich weiß nicht, als ich später in Regensburg ankam, fühlte ich mich irgendwie, naja, willkommen. Hier gibt es nachts keine Pöbelhorden, die Polizei kommt ja in zwanzig Minuten Intervallen vorbeigefahren, es gibt überall Kameras, ein gläserner Käfig beschützt hier die meisten vor Gewalt. Allerdings nicht vor Fahrraddiebstahl.
Die Heimat war weit weg, ich müsste bald zurückkehren, ich entwöhnte mich von guten alten Cotte anna S. .

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Nun, es sollte mich also bald wieder nach Cottbus verschlagen, als erste Bedingung hierfür sei eine Fahrkarte zu einem adäquaten Preis genannt. Bei zahlreichen Reisen durch Deutschland hatte ich mir immer vorgenommen, auf keinen Fall die Bahn zu nutzen, besonders nicht bei Zielen die länger als zwei Stunden entfernt waren Nur einmal hatte dieser Vorsatz tatsächlich der Wirklichkeit als Vorbild gedient. Das heißt, Reisen mit der Bahn waren für mich ein wohlbekanntes Übel: Zu allererst kam es immer darauf an, rechtzeitig zu buchen, sich zu informieren, stundenlang zu recherchieren und die günstigsten Preise rauszufinden. Wenn man dann zum Beispiel in Cottbus, oder Leipzig, auch in Rostock mit solchen Voraussetzungen zum "Counter" kam, dann riskierte man zumindest schon mal keinen Kleinkrieg mit der Servicekraft. Allerdings bekam man auch genau das Produkt, was man verlangte. So zum Beispiel ein Dauerspezial nach Weimar für die Kleinigkeit von 69 Euro auf dem Hinweg (Zum Zeitpunkt des benannten Beispiels, war die Klage, wegen der Bearbeitungsgebühr noch nicht durch, das hieß dann 74¤ hin und noch mal den ganzen Spaß zurück. Man kam auch um die Bearbeitungsgebühr nicht rum, weil komischer Weise in Weimar und Cottbus beide Automaten keine Scheine akzeptierten und eine EC Karte hatte man als unmoderner Jugendlicher noch nicht). Wenn man in Cottbus nach einer günstigeren Variante fragte, bekam man häufig - ich entschuldige mich für die klangunschöne Formulierung - einen Dienstleistungsarschtritt. Was hauptsächlich daran lag, dass das Personal häufig nicht mehr Ahnung von den Tarifen hatte, als man selbst.
Nun zum antithetischen Teil: Nicht so in Regensburg. Das erste Mal, seitdem ich denken konnte, wurde mir hier nicht nur eine Fahrkarte verkauft, sie wurde mir auch schmackhaft gemacht und dass nicht nur, weil sie teuerer war. Sie betrug für Hin-und Rückfahrt zwei Drittel von dem Preis, den ich für die alleinige Hinfahrt aus Cottbus nach Regensburg gelöhnt hatte. Doch schieben wir jetzt endlich mal das Preis-Leistungsverhältnis der Bahn beiseite.

Die zweite Bedingung für eine Fahrt nach Cottbus war der Notfallplan, denn, wie sagte ein guter Bekannter von mir, der eine lange Zeit täglich Bahn fahren musste: Deutsche Bahn fahren ist wie Rodeln. Du weißt nie, wann und welchem Zustand du ankommst. Das heißt, bereits vorher alternative Mitfahrgelegenheiten von den Hauptstationen, an denen man mit der Bahn hält, überprüfen.

Die dritte Bedingung war: Niemand durfte wissen, dass ich zurückkomme. Es war gleichermaßen der Überraschungswert, als auch eine Art Selbstabsicherung. Die zunehmenden sozialen Verpflichtungen waren es, die mich so weit weg verschlagen hatten, wenn ich überraschend auf dem Nichts auftauchte, dann wieder ins Nichts verschwand, könnte mich niemand einplanen, niemand terminlich verpflichten ihn zu treffen, wenn ich das nicht wollte. Ja, es ist schwer wenn man langjährigen Bekannten kein "Nein" anbieten darf. Allerdings vermisste ich sie auch, diese sozialen Verpflichtungen.

In Regensburg war alles unverbindlicher, ich weiß nicht, ob es tatsächlich an einer anderen Mentalität, oder an mir lag. Leute fragten dich andauernd, ob du auf die Party gingst, oder in den Club, oder zu der Veranstaltung, fragten allerdings nie, ob du mit ihnen dort hingehen wolltest. Außerdem war die Kommunikation auch ein wenig komplizierter, was nicht nur am Dialekt lag. In meiner WG wohnten drei weitere Deutschsprachige und zwei europäische Mädels. Nach fünf Wochen, die ich hier nun wohnte, wunderte ich mich immer noch über die Dialoge. Alles begann mit der Standardfrage A: "Wie geht es dir?" oder "Wie war dein Tag?", dann erzählte man etwas, was nach dem Schema funktionierte: "Mir geht es x, ich hab heute y und z gemacht und dabei ... ." Nun hatte ich in ein paar Kommunikationsregeln zu Hause gelernt, dass der Gefragte die selben belanglosen Fragen stellte, oder so lange etwas erzählte, bis der Fragende genügend Informationen hatte, um das Gespräch weiter zu treiben. Das Erste, wurde simpel mit einem "Joa passt scho" abgeblockt, letzteres fand gar nicht erst statt, eine jede Antwort auf die gestellte Frage wurde hier mit einem Kopfnicken, einem freundlichen Lächeln und einem "Okay" oder einem "Aha" bedacht. Nun fühlte ich mich in dem Zwang, noch etwas zu erzählen, weil mir mein Gegenüber durch sein senkrechtes Kopfzucken und sein "Okay" implizierte, dass er weiter meinem Redefluss folgte, oder noch auf etwas wartete. Tat er aber nicht. Nachdem ich dreimal versucht hatte, das Gespräch zum Weiterlaufen zu bringen, sah ich diesen, meinen Fehler ein und führte seitdem kaum noch solche Gespräche. Allerdings war es auch wie eine Falle, über die man immer wieder stolperte. Die dritte Deutschsprachige in meiner WG, kam nämlich gar nicht aus Bayern, sondern aus Schleswig, war auch noch nicht so lange hier, hatte die Gesprächsstrategie aber schon gekonnt kopiert und weiterentwickelt. Sie fragte dich also, wie dein Tag war, quittierte es mit einem "Okay" und einem freundlichen Nicken, wartete bis das Gespräch daraufhin erstarrte, lud dann ihre verbale Schussfeuerwaffe mit ihren Tageserlebnissen durch und jagte die Ladung in den Kopf des wehrlosen Opfers. Wenn das Opfer nicht clever genug war, die ihm präsentierte Gesprächsstrategie zu verfolgen, endete das oft in keinem freundlichen nickendem "Okay", sondern in einem Monolog mit zwei Zuhörern und einem Redner. Wenn. es dann tatsächlich zum Gespräch kam, wurde ich meistens von meinen bayrischen Mitbewohnern dazu aufgefordert, ihnen zu erklären, dass es bei uns zwar radikale Jugendgruppen gibt, die die nächtlichen Straßen nicht immer sehr sicher gestalten, wir aber deshalb noch nicht eine Art deutschsprachige Anarchiezentrale oder Brutstätte für die Nazihorden Deutschlands wären, dass bei uns die Arbeitslosigkeit nicht erfunden worden und Perspektivlosigkeit nicht unsere Religion war.
Obwohl diese Vorstellung schwer zu sein schien, wurde sie doch vorläufig akzeptiert, schließlich befand sich tief in dieser Zone der kulturelle Höhepunkt Deutschlands. Komischer Weise zählt Berlin in den Köpfen der meisten nicht zu dem Osten des Landes. Berlin ist so etwas wie eine Tolkien'sche Metropole, in der so manche Fabelgestalt zu Fuß unterwegs ist, Berlin präsentiert hier für die meisten Leute, mit denen ich sprach (auch Dänen, Spanier, Italiener) das mystisch-kreative-omniverselle Zentrum Deutschlands. Nicht, dass ich das bestreiten will, meine Impressionen von Berlin sind allerdings etwas anders.
Weiterhin durfte ich dann allgemeine Dinge erläutern: Zum Beispiel was Fit ist, oder Selters, Kathi-Kuchenteig und eben diese typischen zönischen Gebräuche. Es gab nur wenige hier, die es nicht komisch fanden, wenn ich sagte, dass ich aus dem Osten Deutschlands käme und nicht aus Ostdeutschland. Viele verstehen den Unterschied nicht, besonders viele ausländische Studenten bekommen anscheindend vermittelt, dass die kulturelle Grenze nicht nur vorhanden, sondern schwer zu überwinden sei. Dabei braucht man doch bloß in den Zug zu steigen.

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Und so begab es sich, dass ich mit einer Bahnfahrkarte gerüstet, mich im Prinzip schon auf dem Weg nach Hause befand, doch vorher noch etwas Zeit vergehen musste, ein paar Wochen.

Nun, womit vertrieb man sich hier so die Zeit: Man ging Saufen. Ja man konnte hier an jedem Tag, zu jeder Zeit Saufen gehen, es gab hier sogar Clubs, die sechs Tage die Woche Livemusik hatten, oder immer irgendwelche Glücksspielchen, die mit kostenfreiem Alkoholgenuss verbunden waren. Ich ging also aus. Bereits an meinem ersten Abend, den ich hier ausgegangen war, hatte ich gelernt, dass diese Club-yippi-yippi-ye-yippi-ye-krawall-und-remmi-demmi-Partys nichts für mich waren. Also gelernt hatte ich das in Cottbus, aber hier erneut: Mein erster Ausgang endete nämlich damit, dass ich von zwei Gymnasialschülerinnen in einen solchen Club gezerrt wurde (die famose Souzie Wong Lounge - es ist genau das wonach es sich anhört), eine Stunde später auf dem Bordstein davor saß und eine weitere Viertelstunde später auch schon begriffen hatte, dass es jetzt Zeit war, zu gehen, allerdings Zick-Zack-artig und sehr langsam. Nach diesem Erlebnis, begann ich mich über das Nachtleben hier zu informieren, aber Schuppen, wo man tatsächlich Musik aus dem E-Gitarren-Genre hören konnte, gab es kaum, weniger als in Cottbus.
Das hieß also, die Alternative war mehr Alkohol und irgendwelche Studentenheimfeiern.
Oder Studieren. Sich in die Einsamkeit zurückziehen und lernen. Ich ging also aus.

Die Regeln eines abendlichen Clubs waren einfach. Ich hatte sie aber immer noch nicht verstanden. Ich hatte mich nicht rauspoliert, ich tanzte nicht, ich hielt konstant mehrere alkoholische Getränke in meiner Hand, ich guckte böse. Etwas ändert sich nicht, egal wo man sich aufhält. Es gibt Mentalitäten, die gehören einfach nicht zusammen. Diese Partys wären wahrscheinlich die Erfüllung eines jeden Cottbuser Schicki-Micki-Mädchen-Party-Traums gewesen. Hier durfte man zu jeder Zeit auf den Tischen tanzen, die Musik benutzte nie Klänge, die einen überforderten, umm tss, umm tss. Zur Befriedigung der der auch Rock hörenden Massen wurden dann relativ bekannte Rocklieder in umm-tss-umm-tss-Versionen gespielt. Welche, konnte man ja erahnen. Von "Ich Roque" bis hin zu "little sister don't you cry" - alles mit dem schönen reinen Klang einer elektronischen Vierviertelbass unterlegt.
Von einer Stadt im Osten des Landes in eine Stadt des Süden des Landes. Wenn man von einem Augenblick zum nächsten den Club wechselt, würde man gar nicht den Unterschied bemerken. Die Fleischbeschauung ist die selbe, die Drinks sind die selben, die Fratzen sind die selben, das Rumgezucke ist das selbe. Nur der Service, aber das stellt man nicht im ersten Augenblick fest, der variiert stark. Man kriegt hier immer noch kostenlos ein Lächeln zu dem Bier. In meiner Geburtstadt kriegt man bestenfalls einen Blick zugeworfen, der sagt: "War gar nicht so schlimm, dass du Bier gekauft und mich damit vom Starren abgelenkt hast."

Ich denke, der hauptsächliche Grund ist, wie ich es schon in meinen früheren Exkursen beschrieb, das grundsätzliche Verständnis für Dienstleistung. Dienstleistung heißt zum Beispiel nicht, dass man an der Kasse sitzt und Geld kassiert, man soll dabei möglichst freundlich lächeln und glücklich wirken, egal wie es einem geht. Nun. Diese Kategorie von Verkäufer gibt es bei uns in Brandenburg wirklich selten. Hier trifft man zwar genauso oft Verkäufer, die Ahnung von ihrer Arbeit haben und sie auch gut machen, aber wirklichen guten Service? Doch woran liegt das? Etwa am Ost-West-Konflikt? Nein. An der Ostseeküste schaffen es die meisten Arbeiter, zumindest in der Gastronomie, zufrieden zu wirken und nett zu lächeln. Kein Wunder warum häufig ein so trauriger Eindruck von den Preußen entsteht - Die freundlichsten Verkäufer in Cottbus sind türkische.
An Dönerbuden.

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Eine Woche sollte es nun noch sein, eine Woche Studieren, und eine viel zu lange Zugfahrt, dann würde er die frische Luft der Provinzstadt wieder in seinen Nüstern haben.

Was gab es zu tun in dieser Woche, zuersteinmal ein sogenanntes WG-Casting (Wer bei diesem Wort einen Brechreiz bekommt, sei mir herzlich willkommen). Es wurde organisiert von dem deutschen Mädchen meiner WG, das heißt, alles war auch dementsprechend gut geplant. An der Haustür ein Zettel auf dem stand: WG-Casting Klingeln bei Scheuermann. Außer Acht ließ sie dabei, dass bereits das Zimmerangebot in Englisch verfasst war, sodass ein Fremdsprachiger nun vielleicht gar nicht wusste, was Klingeln heißt, was WG, oder was Casting (Vielleicht gab es ja sogar Deutsche, die dieses Wort nicht kannten, oder schlichtweg den Gebrauch davon mieden), oder was das überhaupt für ein ominöser Zettel war. Soweit lief es schon gut. Nun trat aber das erste Problem auf: Unsere erste Kanditatin kam nicht. Kanditatin, allein das Wort, Bewerberin, nun gut, aber Kanditatin? Dieser Fernsehcharakter zieht sich hier durch alle Bereiche des Lebens, du musst dich immer, zu jeder Zeit, verdammt gut präsentieren. Kleine Lämmchen dürfen eben nicht nur nicht PR Arbeit machen, sie dürfen auch keinen Interessengruppen, Lerngruppen, Hobbygruppen, zum Teil sogar Vereinen und WG's beitreten, weil sie eben Lämmchen sind. Man wollte entweder charismatische Schafe, oder gezähmte Wölfe. Und genau so eine theatralische Seifenoper vollführte auch unsere deutsche Mitbewohnerin und Organisatorin. Sie war ja "so" aufgeregt gewesen. Ihr war es ja "so" peinlich, dass sich die erste "Kanditatin" nicht blicken ließ. Sie "wusste" ja auch gar nicht "warum", aber sie fühlte sich für die ganze Sache ja "so" "responsible" (Man betrachte die Wörter mit ", als speziell nervenraubend und Gute-Zeiten-Schlechte-Zeiten-artig betont).
Nun, sie war kein Einzelfall, was diese Selbstpräsentation betraf, es ist kein bestimmter Habitus des Westens. Viele Menschen sind so. Es hat eher mit dem Grad der Fernsehbildung zu tun, denke ich zumindest. Ich hatte einen Bekannten in Cottbus, der das genauso konnte. Er sagte zum Beispiel in Bezug auf seine Freundin ständig, er sei sie nicht "wert". "Warum" war sie überhaupt mit ihm zusammen? Er wusste nur, dass er nicht "ohne sie leben" konnte. Es hatte mich nie gestört, dass er so empfand, wenn er denn so empfand. Was mich dabei störte war, wie er sich darstellen musste. Waren diese Gefühle, die er für sie hatte, denn tatsächlich so schlimm, so überwältigend, dass er ein Problem daraus machen und es jedem unter die Nase reiben musste? Die Selbstdarstellung und das Darstellungsbedürfnis entwickeln sich immer weiter, es gibt Menschen, die es nicht unnormal finden, wenn man ihnen eine Weile mit der Kamera folgt. Doch zu diesem Experiment vielleicht später.

In der halben Stunde, die wir nun warteten, referierten wir kurz darüber wie ich in diese WG gekommen war. Meine Darstellung beim Interview damals, wäre unter die Kategorie dehydriertes, armseliges Schäfchen im Wolfsflickenteppich gegangen. Ich war absolut erschöpft gewesen, bekam keinen Ton auf Englisch raus und war am Ende meiner mentalen Zurechnungsfähigkeit. Ich bekam das Zimmer auch nicht, aber das Angebot, erstmal dort im freien Zimmer zu schlafen. Allerdings muss ich sagen, dass ich einfach lange genug geblieben bin: Der andere Kanditat (oder besser der Gewinner des Castings und somit Gewinner eines 3mX6m Zimmers im Kleinplattenbaughetto direkt neben der Uni) hatte etwas "Besseres" gefunden. Ich hätte gern gewusst, ob ich dann tatsächlich Platz 2 auf der Liste gewesen wäre, ich habe mich aber bis zum heutigen Tage nicht durchringen können, zu fragen. Wahrscheinlich nicht, ich hätte mich ja nicht mal selbst genommen, durchgeschwitzt, schwer atmend, sich kaum artikulieren könnend und die ganze Zeit angestrengt seufzend ... .
Nun, es hat dann auch endlich irgendwann geklingelt, die Zuspätkommerin und der Pünktliche standen an der Tür. Sie hatten keine Chance gegen den Dritten, der irgendwann kam: Sie hatte sich zu sehr präsentiert, dafür, dass sie zu spät kam. Er war zu anders gewesen und der Dritte, oh, er hatte gleich die harten Storys ausgepackt, all das Gute und Ehrliche, gleich die Arbeit in der Dritten Welt. Arbeit in der Dritten Welt schlägt Zuspätkommerinnen und Menschen aus der Dritten Welt. Ehrlich gesagt, ich hatte mich auch für den Dritten entschieden. Warum warf ich mir dann selbst vor, oberflächlich zu sein? Mentalität. Es ist eine völlig andere Mentalität, mit der ich aufgewachsen war, doch musste ich verstehen, dass die andere praktischer ist, vielleicht auch ein wenig einfacher. Du musst dir nicht Gedanken um Körpersprache, um Probleme, um irgendwelche Herkunft machen, es ist einfacher, eine gute Geschichte zu hören, die dich unterhält und die dir einen guten Ersteindruck liefert. Das ist übrigens auch schon lange das Konzept seriöser Berichterstattung. Unterhalte deine Zielgruppe, unterhalte sie gut und du kriegst eher das, was du willst. Unterhaltung macht die Menschen glücklich.

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Die Bundesrepublik Deutschland besteht aus Baustellen. Die größte Baustelle ist die Kultur, es ist nicht nur, dass ein bisschen zu wenig Geld hineinfließt. Dadurch, dass Kultur so vielfältig ist und die Interessen da eher in wirtschaftlichem Sinne von Bedeutung sind, werden die Gelder auch nicht in verständlichen Bahnen ausgegeben.
In meiner Heimatstadt zum Beispiel herrschte, bis ich die Oberstufe erreichte eine Geldknappheit für Grundschulen, danach wurden Gelder für Gymnasien gekürzt, ein paar Jahre später begannen Lehrerversetzungswellen, die so manchem Pädagogen schlaflose Nächte bescherten. In Berlin und Brandenburg fingen nun Angestellte an zu demonstrieren, holladiwaldfee. Als ich Zivildienst leistete, arbeitete ich mit einer nicht studierten aber anerkannten Heilpädagogin zusammen, die in einer Sonderschule eingesetzt war und überlegte, noch viermal im Monat irgendwo putzen zu gehen. Auch in anderen Bundesländern gab es heftige Desaster mit dem Kultur- und Bildungsauftrag. In Bayern wurde alles privatisiert und die staatlichen Universitäten wurden mit Einführung der Studiengebühren von einem halben Tausender pro Semester zu Privathochschulen für Arme. Nun fragt man sich nicht nur, wo der Bildungsetat hingeht, sondern auch wohin das Geld der Studenten geht. In Baustellen.

Die Baustellen waren, wohin sein Auge blicken konnte, sie gestalteten den Betonklotz, der sich tief in die Erde und über die eine weite Oberfläche erstreckte. Sie waren allgegenwärtig, sie waren zukünftige Springbrunnen neben der Unibücherstube, sie dichteten die Lecks in der Decke, durch die unerbittlich das Regenwasser in das geistige Eigentum Deutschlands hineinfloss, sie kultivierten mitten im Herbst von Sträuchern zerfressene Blumenrabatten.Sie bellten laut in die Reden der Professoren und schlugen gegen die Wände, sie schrien verzweifelt um Aufmerksamkeit, sie bekamen nie genug davon. Sie stellten das Antlitz dieser Uni dar. Um diesen Zustand aber eine Art Würde zu verleihen, hing man ein Banner über das ganze, das mit "Baustelle Universität Regensburg" betitelt war und eine Internetadresse anpries, die in etwa nullkommafünf Prozent Informationen über etwas von Belang enthielt. Das Panorama zeigte mir das Banner, einen romantisch mit Patinagrün bestrichenen Bauschuttcontainer, ein paar Absperrzäune, in der Ferne einen kleinen Bagger, den Blick auf das herbstgrüne Feld der Universität. Während sich am Morgen bereits Geisteswissenschaftler ihre Knie an viel zu kleiner Beinfreiheit stießen, schlummerte die Hitze von laufenden Radiatoren den offenen Fenstern der wissenschaftlichen Fakultät entgegen, ihre Flure waren noch leer. Der Audimax konnte schon seit langer Zeit nicht mehr begangen werden, bestimmte Ausgänge mussten gesperrt werden, die Tiefstraße unter der Uni wurde umgelenkt, die Fußgänger in neue Bahnen gepresst, zu einem Tanz gezwungen. Sie tanzten um die vor Unvollständigkeit umzäunten Götzen.
Die Natur rächte sich dafür: In Form von Hasen.

Eines Abend war ich denn also bergabwärts unterwegs, als ich einen toten Hasen sah, ein Fahrradreifenabdruck schien der Grund für seine Unbeweglichkeit zu sein. Nun erschien mir das sehr ungewöhnlich, allerdings nur so lange, bis ich den zweiten toten Hasen, nur ein paar Stunden später auf einem Bürgersteig sah. Nun schien es mir absurd. Doch auch diese Einstellung änderte sich bald, denn eines Abends entdeckte ich die Hasenplage. War es mein jugendliches Gemüt oder ein allgemeiner Wahn, ich weiß es nicht, das Gefühl ist mir unbehaglich, ich möchte zu dieser Anekdote nur eine Situationsbeschreibung geben: Es ist dunkel, man kann gerade so eine lockige Schattengestalt über die Felder springen sehen, vor einem zucken ein dutzend weiße Flecken von Hasenschwänzchen und Hasenpfoten in der Dunkelheit, ein allgemeines unrhytmisches Tappen ist zu hören, es sind hunderte, tausende, sie sind überall und die Schattengestalt muss aufpassen nicht auf einen zu treten, denn das ganze Feld um ihn ist erfasst von dem Tappen der Pfoten und den kleinen Lichtblitzen. Die Natur holt sich mit einer Armee von Hasen zurück, was man ihr genommen hat.
Zugegeben: Auch in Form von Problembären, Wolfsrudeln, asiatischen Marienkäfern, atomar verseuchten Wildschweinen, Vogelgrippen und von Zeit zu Zeit gibts auch mal Krieg.
Und das sind wiederum alles Themen, die lieber in der Öffentlichkeit besprochen werden, als das Thema Kultur.

Ich bin ja immer noch der Meinung, dass unsere sogenannte Kultur nicht nur aus Weihnachten, Karneval und dem Oktoberfest besteht.

Technische Störung.
Bereits in den letzten Tagen kam mir Laptop krank vor. Er hakte immer kurz, ich schob es auf die miese Internetleitung, doch im Prinzip wusste ich, dass er krank war. Heute hörte er dann plötzlich ganz auf zu atmen. Ich würde für Laptop schnellstmöglich ärztliche Hilfe besorgen.

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Die technische Störung war, nachdem ich die Zeit gefunden hatte sie untersuchen zu lassen, binnen vierundzwanzig Stunden und einhundertneunzehn Euro behoben worden. Am nächsten Tag sollte es also nach Cottbus gehen. Ich hatte die Bahnkarte zurückgegeben und mir eine Mitfahrgelegenheit gesucht. Dummheit. Geld ist eine knappe Ware für eine Studenten, man sollte sie nicht für Mädchen, Konsumbedürfnisse oder lange Abende ausgeben. Wenn man es dann schafft, trotzdem noch alles das zu haben, dann ist man ein guter Student. Die Devise heißt "Kostenlos" oder "Sehr sehr günstig". Ob Ost, ob West, der sogenannte Lifestyle der Spezies Student war überall in jeder ihrer Erscheinungsformen vertreten.
Ich ging also zu einer Studentenfeier, alles kostenlos, aber nicht umsonst. Die Kulisse war erschreckend: Völlig hemmungslos tranken, speisten und tanzten die Studenten hier. Der Rauch füllte die Luft. Der Altersdurchschnitt lag bei achtundzwanzig. Ich konnte mich also schon aufgrund meiner wundervollen und noch gänzlich erhaltenen Jugend nicht so recht integrieren. Dennoch: Nur einer Viertelstunde bedurfte es und ich unterhielt mich mit einem Münchner über die Arbeit als individueller Schwerstbehindertenbetreuer, er selber hatte die Mission an diesem Abend noch jemanden zu finden, der niederbayrisch sprach. Zwischendurch erfreute ich mich an dem Schauspiel eines einundvierzigjährigen, betrunkenen Mannes, der sich gerade durch Menge drängelte, weil keine Frau mit ihm tanzen wollte. Später gesellte ich mich zu ihm, er rauchte Stein und wir unterhielten uns. Er war Punkrocker gewesen, so wie er es selbst ausdrückte, sein Leben lang. Nun machte er gar nichts. Als im Gespräch herauskam, dass ich aus dem Osten des Landes kam und dazu auch noch weiter nördlich, da konnte er sich nicht mehr halten. Er wollte mir zeigen, wie fortgeschritten er war, also versuchte er alle Dinge, die ich sagte mit geschickten, wohldurchdachten und vor allen Dingen gut angebrachten Kommentaren ins Lächerliche zu ziehen. Das ging ungefähr mit folgender Taktik vor sich. Ich sagte so etwas wie: Das erste Mal besuchte ich Regensburg mit dem Auto. Sein Kommentar lautete wie folgt: Ach fahrt ihr inzwischen nicht mehr mit Pappkisten. Ich sagte: Radikale sind in Deutschland viele an der Zahl. Er kommentierte: Ja, bei euch vielleicht. Ich denke ich brauche nicht weiter zu erklären, was dieser verbitterte Expunkrocker in mir auslöste, denn so was kannte ich bereits. Vielleicht nicht exakt in dieser Form, solche Modelle gab es aber auch zu Hauf in Cottbus. Man weiß nicht warum sie so feindselig sind, obwohl sie doch eigentlich erwachsen sein müssten, aber sie sind es und von solchen desillusionierten Jugendlichen, die alt geworden sind, wimmelt es vor allen in Universitätsstädten. Soll heißen: Er war nicht der einzige Einundvierzigjährige, früh um fünf sturzbesoffen auf einer Studentenparty. Und er war nicht der einzige, der hier Ost-West-Konflikte auszutragen versuchte.
Zwei Tage später war ich bei der Immatrikulationsfeier, getrieben vom Freibier. Dafür musste ich mir nur ein sechzig Minuten langes Programm antun. Zwanzig Minuten Musik, vierzig Minuten Rede. "Ich freue mich, die Studenten aus Bayern willkommen zu heißen, aber auch die Studenten aus dem Ausland, die Studenten aus den anderen Bundesländern, wie ähm, Nordrheinwestfalen und Rheinlandpfalz [Textteile fehlen] … Freibier und Brezeln! Einen schönen Abend!“ Ich hatte leider nie einer Immatrikulationsfeier an der BTU Cottbus beigewohnt, würde aber wetten, dass hier auch keiner speziell die Bayern grüßt und man danach sowieso Saufen geht. Das ist eben so: Wir grüßen Meck-Pom und Thüringen, aber bei den Sachsen hört es dann eben auch schon auf. Nun es gab dann tatsächlich später einige sehr liberale bayrische Mitstudenten, die sich fürchterlich darüber aufregten. Deutschland sei ein Land und wie kann man nur vergessen, die Ostdeutschen zu grüßen. Ich wollte ihnen nicht erklären, dass sie es waren, die das Land spalteten, indem sie versuchten hinter allem eine Diskriminierung zu sehen. Das ist nämlich das eigentliche Problem Deutschlands: Hinter allem steckt Diskriminierung! Die Männer diskriminieren die Frauen, die Heteros die Schwulen, die Deutschen die Ausländer und die Westdeutschen die Ostdeutschen und umgekehrt.
Über sowas machte ich mir gar keine Gedanken. Deutsch hin, Deutsch her, wenn man sich nicht leiden kann, dann hat das nichts mit einer kulturellen Begebenheit zu tun, oder mit einer religiösen, sexuellen. Man kann zwar kategorisieren und dann alle über einen Kamm scheren, muss man aber nicht.
Ich mischte mich also nicht zu den Diskriminierungsgesprächen, sondern wandte mich den Dingen zu, wegen denen ich hier war:
Ich würde mir meine Studiengebühren zurückholen: Bier für Bier für Bier, Brezeln gab es auch.

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Willkommen zurück im Süden des Landes. Das Wochenende war gut gewesen. Eigentlich hätte es mir Kraft geben sollen, doch aus unerfindlichem
Grund schlief ich den Montag erst einmal durch. Ich träumte außergewöhnlich viel:

Ich besorge mir eine Mitfahrgelegenheit nach Potsdam - ein Potsdamer, der in Regensburg arbeitet, fährt. Er verzweifelt eine dreiviertel Stunde lang über die Fahrzeugvermietung. Er wollte doch einen Combi. Sein Fahrrad passe nicht in diesen mickrigen, unpraktischen Picasso oder wie das Ding auch immer heiße. Die Fahrzeugvermietung versteht nicht, er ist doch Stammkunde und jedes zweite Mal stimmt was nicht. Was ist denn mit der Dienstleistung? Er ist gebürtiger Potsdamer, seine Familie lebt da, sein Sohn hat heute Geburtstag, alles was er will ist schnell nach Hause und nächste Woche nach Mailand. Und einen Combi. BWL hat er studiert, in den Westen hat es ihn getrieben, er lebt diesen Lifestyle, er mag Bayern. Ich besorge mir eine Mitfahrgelegenheit nach Cottbus - Ein Flugtriebwerksprüfer fährt, geboren in Würzburg.
Er will nach Hause, nach Vetschau, in Oberbayern hätten sie ja auch vor der Wende keine Bananen gehabt, warum immer alle so arrogant wären, deshalb mag er den Spreewald, München, hah, München, da sind sie alle so extrovertiert. Das Wetter, ja manchmal fährt er früher wenn das Wetter nicht so ... .
In zwei Stunden sagen sie im Verkehrsfunk bestimmt, dass die A72 auf Höhe Hof staut. Er will da nicht mehr weg, aus der Lausitz, als er dorthin gezogen ist, wurde er von vielen behandelt als wäre er eine Art Goldgräber, der sein Leben hinter sich lässt, um das Abenteuer zu suchen.
Mentalitäten vermischen sich. Ich vermische mich auch. Ich nicke und lächle und sage "Okay" oder "Aha" und lasse Dialoge ins Nichts laufen.
Ich jammere und bin viel zu sozial angehaucht. Ich präsentiere mich achtzehn Stunden am Tag, stelle mein Licht dennoch unter den Scheffel. Ich werde zusehends oberflächlichler, den Tiefgang zu suchen. Verliere ich meine Identität, oder erweitere ich sie, bin ich Deutscher im speziellen, oder allgemeinen Sinne?

Ich wachte auf. Eigentlich hätte mich mein Wochenende in der Heimat entspannen sollen, ich tat alles, was ich tun sollte und alles was ich wollte, strapazierte mich nicht unnötig. Dennoch schlief ich. Ich verschlief einen ganzen Tag. Das Reisen war es wahrscheinlich, die Reise durch ein Land, welches in sich in seiner Vielfältigkeit kaum unterschied.
Der Schnee lag auch hier, allerdings waren hier alle Wege gesalzen. Das Salz knirschte unter meinenSohlen und hieß mich Willkommen zurück im Süden des Landes.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.12.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Westdeutschen. Für alle Ostdeutschen. Für alle Norddeutschen. Für alle Süddeutschen.

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