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Zeit

Was ist Zeit?

Die Zeit ist das, was vergeht, bevor die Zukunft eintritt. Oder das, was vergangen ist, bevor die Gegenwart eintrat. Sie ist die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft in einem.

Sie besteht aus Jahren, Tagen, Stunden, Minuten und Sekunden. Sie vergeht.

Die Vergänglichkeit ist wohl das Einzige, das man mit Sicherheit über die Zeit behaupten kann. Doch ist es jedem selbst vorbehalten, ob genau diese Vergänglichkeit etwas Positives oder etwas Negatives ist.

So manch einer behauptet, die Zeit bringe ihn ins Grab. Die Zeit lässt unseren Körper altern, unsere Glieder schwächen, unsere Gedanken verlangsamen. Dieser Prozess lässt uns endgültig dieser Welt entweichen, lässt uns – wie heißt es so banal? – sterben. Wenn man die Zeit anhalten könnte, so würden wir nicht altern und auch nicht sterben.

Doch wie heißt dieses alte Sprichwort? Die Zeit heilt alle Wunden. Auch Schmerz ist vergänglich. Wenn man sich tiefer in diese Philosophie vorwagt, so würde dies bedeuten, dass es ohne Zeit auch keine Vergänglichkeit gibt, wie es ohne Vergänglichkeit auch keine Zeit gibt. Könnte man dann nicht behaupten, dass ein Mensch ewig an der Trauer eines längst vergangen Vorfalls nagen würde? Dass es nicht einmal möglich wäre, dass sich dieser Schmerz vermindert?

 

Die Frau saß dort, in diesem sterilen Raum, und konnte sich nicht entscheiden, ob sie die Zeit vergehen lassen sollte oder doch nicht. Verzweifelt klammerte sie sich an jede Sekunde, starrte auf die weiße Uhr mit den schwarzen Ziffern. In diesem Moment hasste sie die Vergänglichkeit; genau so sehr wie sie die Unvergänglichkeit hasste. Denn die Zeit schien stehengeblieben zu sein, doch diese schreckliche Ungewissheit raubte ihr jegliches Vermögen, zu leben. Sie trommelte mit ihren Fingerspitzen auf die Armlehne, ihren starren Blick stets in eine Richtung gehaftet. Ihr Gesicht war bleich wie die Wand hinter ihr, umrahmt von dunklen, zerzausten Haaren. Immer wieder biss sie sich leicht auf die Unterlippe.

 

Wie schnell vergeht Zeit?

Physiker haben mit dieser Definition kein Problem. Die Basiseinheit der Zeit ist die Sekunde. Eine Sekunde ist das 9.192.631.770-fache der Schwingungsdauer von 133Cs zwischen seinen beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustands. Und eine Minute enthält 60 dieser Einheiten, eine Stunde 3600.

Doch oftmals erscheint einem Menschen eine Sekunde als würde sie aus hunderten, qualvollen Momenten bestehen.

 

„Wir konnten es nicht vorhersehen“, hörte die Frau die Worte in ihrem Kopf widerhallen. „Die Operation wird noch länger dauern…leider kann ich Ihnen keine Garantie geben.“

10 Stunden waren es nun schon, seitdem sie durch die Hölle schritt. Doch für sie waren es keine Stunden, es waren Jahre. Sie fühlte sich auch um ein Vielfaches gealtert. Sie fühlte jede einzelne Falte, die neu hinzugekommen war. Ihr Herz, das bereits schwächer schlug.

Ihr Ex-Mann saß direkt neben ihr, doch von ihm konnte sie keinen Beistand erwarten. Er hatte vorhin geschlafen. Fast eine halbe Stunde. Er schien nicht so nervös – stets hatte sie ihn um seine Gleichgültigkeit beneidet. Er schlief, er ging auf die Toilette, er konnte essen.

Vor ein paar Stunden hatte sie sich gezwungen, ein Glas Wasser zu trinken. Es hatte schal geschmeckt. Nach einem tödlichen Virus und ein klein wenig nach Blut. Sie hatte sich gleich darauf übergeben.

Seitdem saß sie auf ihrem Sessel. Ihre Finger bewegten sich, hin und wieder bissen ihre weißen Zähne auf ihre ausgetrockneten Lippen. Ansonsten war sie gänzlich ruhig.

 

Und die Minuten schienen nicht zu vergehen. Es war ungerecht, warum vergingen die 10 Jahre, in denen ihre Tochter gesund gewesen war, so schnell? Und in diesen paar Stunden schienen mehrere Ewigkeiten zu vergehen?

Doch sie hatte auch Angst davor, dass diese qualvolle Zeit verging. Denn dessen Ende konnte bedeuten, dass es kein Ende für ihre Qualen gab.

Und plötzlich – es war wirklich plötzlich, wie kann eine Ewigkeit dann doch so schnell vergehen? – öffnete sich eine Tür. Eine Tür, die sich doch eben noch nicht bewegt hatte. War Zeit denn eine Grundvoraussetzung für Bewegung? Denn eine Bewegung, egal ob schnell oder langsam, muss eine gewisse Zeit überstreichen, um vollendet zu werden.

Die Tür öffnete und schloss sich und der Arzt ihrer Tochter stand vor ihr. Mit tiefster Trauer und Bestürzung im Gesicht.

Und in diesem Moment, als dieser fremde Mann die Eltern in ein separates Zimmer bat, geschah etwas Merkwürdiges. Stets will man die Zeit immer anhalten, man will unendlich leben, Alles sehen. Doch niemals hatte sich die Frau so sehr gewünscht, dass die Zeit schneller verging. Dass sie raste, an ihr vorbeischoss, sie selbst überholte. Entweder, bis so viel Zeit vergangen war, dass ihre Wunden geheilt wären. Oder bis sie zumindest der Tod holte, sodass sie nicht mehr trauern musste.

Noch nie war die Frau derartig dankbar für die Vergänglichkeit aller Dinge gewesen – auch wenn die Vergänglichkeit selbst, und somit die Zeit, eigentlich die Schuld am Tode ihrer Tochter trug.

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Tag der Veröffentlichung: 04.02.2015

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