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Nächstenliebe

 

Kraftlos ließ ich mich auf den Sessel fallen. Meine Augen waren schon schmerzhaft geschwollen, doch jetzt wollte keine einzige Träne mehr aus ihnen treten. Ich ließ meine Finger langsam über mein Gesicht wandern und spürte die Züge, die mich wie meine Mutter ausschauen ließen.

Konstanze setzte sich auf die Bank neben mir; ihr Blick ging ins Leere. Ihre Arme legte sie schlapp auf die Tischplatte. Es wirkte, als würde sie jetzt aufgeben wollen, als wäre es zu viel. Raimund bemerkte dies wohl auch, denn er zögerte nicht, sich neben sie zu setzen. Mitfühlend legte er einen Arm um sie und sagte, selbst mit brüchiger Stimme: „Sie wird niemals ihren Enkel kennenlernen.“

An diesem Punkt begann ich wieder lautstark zu schluchzen, wohl sicherlich das zehnte Mal an diesem Tag. Auch Konstanze bebte, von Weinkrämpfen geschüttelt.

Raimund wurde sein Fehler sogleich bewusst und strich sich über die Stirn. Ob dies Ausdruck  des Ärgers über sich selbst oder gar über uns war, wusste ich nicht zu deuten.

„Okay, ich werde uns jetzt einen Kaffee machen…“, er erhob sich wieder von seinem auserkorenen Platz, „und kurz Sarah anrufen, ob sie gut nach Hause gekommen ist.“

Er war so fürchterlich ruhig, er schien sich immer kontrollieren und das Beste aus der Situation machen zu können. Kein einziges Mal hatte er während des gesamten Begräbnisses geweint. Normalerweise war mein Bruder mein Anker auf hoher, aufgewühlter See, aber heute… Heute machte es mich wütend. Wahnsinnig wütend. Am liebsten hätte ich ihm die Vase mit den Trauerblumen hinterher geworfen, direkt an seinen kühlen, berechnenden Kopf.

Mir wurde bewusst, dass ich meine Hände zu Fäusten geballte hatte und wie wahnsinnig auf meine Lippen biss. Ich spürte meine Adern mit meinem Herzschlag pulsieren – und beruhigte mich wieder. Langsam atmete ich aus und ein.

Du darfst deine Trauer nicht auf diese Weise regeln.

Meine Gedanken wanderten zu dem Friedhof, an dem Mutter nun unter frischer Erde begraben lag. Ich dachte an die Zeremonie, wie der Nebel sich langsam und leise durch die Grabsteine geschlängelt und der Herbst die feuchte Kühle über uns gebreitet hatte. Ja, plötzlich war der noch lebendige Sommer in einen grauen Herbst umgeschwenkt – als würde auch er über eine verlorene Geliebte trauern.

Konstanze schien wieder aus ihren Tagträumen zu erwachen und richtete ihren Blick auf mich. Sie würde wohl unweigerlich Mutters Gesicht in meinem erkennen. In mir zog sich alles zu einem dicken Klumpen zusammen und ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken hinab.

Ihr Mund öffnete sich einen kleinen Spalt und ihre Lippen bebten leicht und leise. Dann, mit viel Mühe und Kraft, begann sie zu reden: „Ich versteh es einfach nicht…sie war doch noch letzte Woche so klar bei Verstand? Wie konnte es plötzlich nur so schnell gehen…“, und da kamen die Wörter, die ich seit drei Tagen am meisten fürchtete. „Der Arzt hat doch vor Kurzem noch gesagt, dass sie noch einige Monate zu leben hätte, bis die Krankheit sie letztendlich erlösen würde?“

Mein Herz begann zu rasen und mein Puls beschleunigte sich um ein Vielfaches. Wieder biss ich mir auf die Lippe; um kein falsches Wort zu sagen, um ihr die Wahrheit nicht zu gestehen. Meinen Mund konnte ich verschließen, meine Worte versiegen lassen, doch meine Körpersprache erklärte meiner Schwester alles. Verstohlen blickte ich von ihr weg, meine Finger kratzen an dem Punkt meines Halses, wo ich es stets tat, wenn ich nervös war. Konstanzes Blick änderte sich schlagartig von traurig zu misstrauisch. Ihr ganzes Wesen veränderte sich wieder von einem verzweifelten Mädchen zu der üblichen, selbstbewussten Frau.

 „Clara, was ist los?“, fragte sie. Die Wörter hallten im Raum wider, sie spukten in meinem Kopf und mir rasten tausend schlechte Lügen durch den Kopf, um einen Ausweg aus diesem Unheil zu finden. Kaum hatte ich die ersten paar Wörter als Antwort gestammelt, wusste ich schon, dass sie es als Lüge erkennen würde. Meine Schwester hatte schon immer aus mir gelesen wie aus einem offenen Buch. Wie aus einem alten, zerfallenden Taschenbuch, das sie bereits hunderte Male gelesen hatte und eigentlich schon in- und auswendig kannte.

„Es…es tut mir leid…“, ich begann zu weinen, wie ich es in meinem bisherigen Leben noch nie getan hatte.

Meine Schwester hatte sich nun gerade aufgesetzt und ihre Ohren gespitzt.

„Was tut dir leid?“

Ihre Stimme war wie Eis. Eis, das mein Herz umschloss und es wie erstarrt anfühlen ließ. Ich brauchte ein oder zwei Minuten um mich zu beruhigen. Konstanze verstand das; sie hatte mich immer verstanden.

Nun war es Zeit, es ihr zu erzählen.

„Weißt du…ich hab ihr es angesehen. Dass sie kaum noch eine Woche leben würde. So etwas sieht man, wenn man Krankenschwester ist…“, ich hatte nun genug Kraft, um ihr direkt in die Augen zu sehen. Die Augen, die so gar nicht der unserer Mutter entsprachen.

„Ich habe in meinem Leben schon sehr vielen, sehr kranken Leuten zugesehen, wie sie starben. Und Mutter…Sie hatte einfach denselben Ausdruck in den Augen, wie all die anderen.“ Mein Hals fühlte sich an, als wäre er geschwollen. Ich konnte nicht schlucken, es kratzte, wenn ich sprach.

„Da wusste ich: Bald würde sie Höllenqualen durchschreiten müssen. Ich habe dich doch am Mittwoch angerufen und habe dir gesagt, dass es ihr immer schlechter geht?“

Meine Schwester machte keine Andeutungen, dass sie diese Aussage bestätigen wollte. Ihr Mund hatte sich zu einem Schlitz geformt und ihre Augen sprachen eine Mischung von Neugier und anfänglicher Wut aus.

„…Jedenfalls wusste ich, dass ihre Schmerzen bald unerträglich sein würden. Also hab ich ihr quasi…“, meine Stimme erzitterte. „…eine Überdosis des Schmerzmittels und eines anderen ihrer Medikamente gegeben, sodass sie friedlich einschlafen konnte.“

Im ersten Moment dachte ich, sie würde ganz ruhig darauf reagieren. Sie überlegte, ihre Gedanken rasten, das sah ich ihr an. Meine Schuld, die eigentlich gar nicht existierte, fühlte sich auf meinen Schultern schlagartig ein wenig leichter an. Ich wusste, dass ich das richtige getan hatte, trotzdem war Angst vor der Reaktion meiner Geschwister zurückgeblieben.

Langsam stemmte sie sich in die Höhe und in meinen Gedanken sah ich Konstanze schon, wie sie auf mich zukam und mich umarmte.

Doch, nein – sie blieb direkt vor mir stehen.

„Was…“, sie sprach das Wort ruhig aus, „hast du dir dabei eigentlich gedacht?!“

Die letzten Wörter schrie sie durch den Raum und wieder, schon wieder, hörte ich sie widerhallen, bis in mein eigenes, klägliches Herz. Konstanze stand vor mit, wutentbrannt und schleuderte mir ungeheure Beleidigungen ins Gesicht. In diesem Moment glich sie mir einer angriffslustigen, aggressiven Wespe; sie schwirrte um mich, ihr Hinterteil zu mir reckend und laut summend Ich will dich stechen. Allerdings reagierte ich nicht, wie die meisten Menschen in dieser Situation reagierten.

Ich wollte, ich könnte heftig um mich schlagen, mich vor diesem Angriff verteidigen. Es  rauschte alles um mich und ich drohte, in Ohnmacht zu fallen – ich besaß keinerlei Kraft über meinen Körper.

Meine Schwester stieß mich hart gegen die Schulter: „Hörst du mir eigentlich zu?!“

Fast hätte sie gestochen, doch nochmals flog die tanzende Wespe fort, um mehr Anlauf zu haben; um größeres Tempo aufbauen zu können.

In diesem Moment betrat mein Bruder den Raum, sein Handy an die Brust gedrückt, sodass seine schwangere Frau kein Wort verstehen konnte, das wir sagten.

„Was ist hier los?“, fragte er und warf einen skeptischen Blick auf uns beide.

Die Situation musste grotesk wirken. Konstanze stand über mir, ihr Blick voller Abneigung, und ich saß hier klein und ängstlich wie ein Insekt, das gleich gefressen werden würde.

„Sie hat Mutter einer Überdosis ausgesetzt, damit sie früher stirbt.“, sagte Konstanze kurz angebunden und ruhig, doch mit so viel Hass in ihrer Stimme, dass mir sofort schlecht wurde.

Der erste Stich, es schmerzte.

Raimund beendete den Anruf, ohne auch nur ein Abschiedswort an Sarah gerichtet zu haben. Er stand da, versteinert, und musterte mich ungläubig. Sein Mund stand offen und er wusste offensichtlich nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte.

„Du hast uns Stunden, wenn nicht gar Wochen gestohlen, die wir mit unserer Mutter hätten verbringen können. Eine Zeit, die sie vielleicht genossen hätte.“, flüsterte Konstanze.

Der zweite Stich, meine Muskeln waren scheinbar erschlafft.

Konstanzes Worte schienen meinen Bruder aus seiner Starre zu befreien und er nahm sie bei der Schulter und führte sie zielstrebig aus dem Wohnzimmer. Ein letztes Mal drehte sie sich noch zu mir um und sah mir direkt in die Augen: „Warum? Warum suchst du immer nach Aufmerksamkeit? Einmal hatte Mutter all unsere und schon musst du dich wieder in den Vordergrund drängen, wie immer. Sogar aus Mutters Tod willst du dir Vorteile schlagen, nun bist du natürlich der gute Märtyrer.“

Ihre Worte hingen in der Luft, als die beiden hinter der Tür verschwunden waren. Mein Speichel versiegte, mein Atem ging langsam und schleppend; das Gift des dritten Stichs hatte mich vollends betäubt.

Ich machte also den Anschein, dass ich nur egoistisch gewesen war, weil ich unsere Mutter vor Schmerzen bewahrt hatte. Weil ich sie vor einer Zeit bewahrt hatte, die sie alles andere als „genossen“ hätte.

Oh, und wie sehr ich in diesem einem Moment hoffte, dass diese Aussage nicht der Wahrheit entsprach.

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Tag der Veröffentlichung: 11.09.2013

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