Sanft strich Tara über den Firnis des handtellergroßen Gemäldes. Unter ihren Fingern spürte sie die kleinen Erhebungen der Pinselstriche, die ein Künstler vor mehr als fünfzehn Jahren auf die Holzplatte gemalt hatte. Eine wunderschöne Frau mit braunem Haar wie ihr eigenes lächelte sie an: ihre Mutter, die an einer Lungenentzündung gestorben war. Sie konnte sich kaum noch an sie erinnern. Ihr Vater hatte erst lange nach Euphenes Tod dieses Bild in Auftrag gegeben.
Behutsam legte Tara die Platte in die Schreibtischschublade zurück und drückte sie zu. Dann ging sie zum Schrank hinüber und nahm ihr Lieblingsbuch heraus. In der Geschichte befreite ein junger Ritter die Königstochter aus den Fängen eines riesigen feuerspeienden Drachen. Tara stellte sich gerne vor, selbst diese Prinzessin zu sein und ihr Verlobter Aram Klerbo würde sie retten.
Mit dem Buch in der Hand verließ sie die Bibliothek ihres Vaters durch die Tür, die auf die Veranda hinausführte. Die Vormittagssonne empfing sie warm und hell. Blinzelnd sah Tara sich um. In einigen Schritten Entfernung saß ihr Vater am Tisch unter der Schatten spendenden Überdachung. Lächelnd blickte Carrth von seinem Brief auf, als er seine Tochter kommen sah. Sie eilte zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Oh, Vater, ist heute nicht ein wunderschöner Sommertag?«
»In der Tat. Gib auf die Sonne acht! Du willst doch nicht mit einem Bauerntrampel verwechselt werden.«
»Aram Klerbo liebt mich so wie ich bin.«
»Aber was sollen die Gäste denken, wenn sie dich in drei Wochen bei eurer Hochzeit sehen?«
»Sollen sie doch denken, was sie wollen! Ich heirate meinen Verlobten, nicht sie.« Sie ging auf die Stufen zu, die hinunter auf die Wiese führten.
»Was hast du vor?«, fragte Carrth.
»Ich möchte im Baumhaus lesen.«
»Lesen?«
»Sobald ich zu meinem Bräutigam gezogen bin, werde ich wahrscheinlich keine Zeit mehr dafür finden.« Er sah sie so traurig an, dass sie rasch hinterherschob: »Natürlich werde ich dich so oft wie möglich besuchen. Bitte lass das Baumhaus nicht abreißen, ja?«
»Das werde ich nicht. Allerdings frage ich mich, ob du mit deinen zwanzig Jahren dort überhaupt noch hineinpasst.«
»Im Gegensatz zu meinem lieben Cousin bin ich kaum gewachsen.«
Er schmunzelte. »Ich weiß noch, wie ich es damals für ihn bauen ließ. Er hat dir nie erlaubt, es zu betreten.«
»Ich habe mich trotzdem heimlich hineingeschlichen, wenn er nicht zu Besuch war.«
»Oh ja, das hast du – sehr zum Leidwesen deiner Gouvernante. All die schönen Kleider, all die Splitter! Und eines Tages verkündete
Bendo, zu alt für Baumhäuser zu sein.«
»Da sah ich meine Chance.«
»Du hast es schnell besetzt und dich geweigert, es zu verlassen. Ich musste dir erst das Versprechen geben, es niemals abzureißen, solange du es noch nutzt.«
»Und das tue ich bis heute.«
»Weil du schon immer ein kleiner Sturkopf warst.«
Tara lachte und ging zu der großen Eiche, in deren mächtigem Geäst sich ihr hölzernes Baumhaus befand. Carrth ließ es regelmäßig reparieren, denn er wusste, wie viel es seiner Tochter bedeutete. Er konnte ihr einfach keinen Wunsch abschlagen.
Sie duckte sich, um zu der kleinen Öffnung im Boden zu gelangen. Als Kind war ihr alles so hoch vorgekommen, doch nun ragte im Stehen ihr ganzer Kopf in das Refugium hinein. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihr keine dicken, ekeligen Spinnen auflauerten, kletterte sie die wenigen Stufen hinauf.
In der Ecke stand noch immer ihr Nähkorb. Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie ihn dort abgestellt hatte. Darin befand sich ein Halstuch, das sie mit blauen Blüten bestickt hatte. Florale Elemente entsprachen der aktuellen Mode. Es würde ihrer künftigen Schwiegermutter bestimmt gefallen, sofern nicht mittlerweile Tiere Löcher in den kostbaren Stoff gefressen hatten. Sie wagte nicht, hineinzuschauen. Leider war ihr nach einem Fünftel das Garn ausgegangen. Sie musste ihren Vater noch bitten, ihr neues zu besorgen. Als Tuchhändler wusste er genau, wo es das gleiche in der gewünschten Farbe und Qualität gab.
Tara entriegelte das Fenster und drückte die Holzplatte auf, damit mehr Licht in das Innere des Baumhauses fiel. Sie ließ ihren Blick über den Garten schweifen, soweit es ihr die Äste des Baums erlaubten. Die zahlreichen Rosen blühten in voller Pracht. Ihre Mutter hatte sie vor vielen Jahren pflanzen lassen. Hinter der Steinmauer, die den riesigen Garten vom Rest der Welt abschottete, erhoben sich riesige Bäume.
Als Kind hatte Tara geglaubt, dort wüchse ein dichter Wald, in dem Ungeheuer lebten. Erst später hatte sie erfahren, dass es sich bloß um die Gärten ihrer Nachbarn handelte. Sie war ein bisschen enttäuscht gewesen.
Ihr Vater schaute von seinem Brief auf und winkte ihr zu. Lächelnd winkte sie zurück. Traurigkeit erfüllte sie, als sie daran dachte, dass sie ihn und ihr Zuhause bald würde verlassen müssen.
Als sie vier gewesen war, hatte er sein Tuchgeschäft stark erweitert und war binnen kürzester Zeit zum erfolgreichsten Händler der der Stadt Ebentaaby geworden. Zu dritt hatten sie die bescheidene kleine Wohnung über dem Laden verlassen und waren in das hiesige Anwesen am Stadtrand gezogen. Keine zwei Jahre später war ihre Mutter an einer Lungenentzündung gestorben. Nach ihrem Tod hatte Carrth nicht noch einmal geheiratet. »Keine Frau wird sie jemals ersetzen können«, sagte er immer.
Wenn ich nicht mehr da bin, wird er ganz allein sein in diesem riesigen Haus, dachte Tara betrübt. Wer kümmert sich dann um ihn? Manchmal wünschte ich, ich wäre ein Mann. Dann könnte ich bei ihm bleiben und eines Tages auch sein Tuchgeschäft übernehmen. Ich weiß, wie sehr er darunter leidet, keinen männlichen Erben zu haben. Wenn sich nur Aram Klerbo dafür interessieren würde!
Sie setzte sie sich auf die Decke, lehnte sich gegen die mit Stroh gefüllten Kissen und schlug ihr Buch auf. Prompt landete ein Insekt auf der offenen Seite. Trotz hartnäckigen Pustens hielten sich die schwarzen Beinchen stur am Papier fest. Die Fühler bewegten sich auf und ab. Vorsichtig schnippte sie das geflügelte Tier weg.
Eine milde Brise fegte durch die Fensteröffnung und trug den Duft der Gartenblumen mit sich. Behutsam blätterte sie die Seiten ihres Buches um, bis sie auf die braune Hühnerfeder stieß, die sie als Lesezeichen benutzte. Sie befand sich an der Stelle in der Geschichte, wo Ritter Bogat um die Hand der Prinzessin anhalten wollte, jedoch erfuhr, dass seine Angebetete von einem geflügelten Ungetüm an das Ende der Welt verschleppt worden war. Er musste zunächst die Hydra in der Meeresgrotte besiegen, um an die Flügel für sein Pferd zu gelangen, die ihn später über das Gebirge tragen würden. Der Drache hielt die Prinzessin an einem verzauberten Ort auf dem höchsten Gipfel der Welt gefangen. Dort oben erhob sich ein schneeweißer Marmorpalast, umgeben von einem verzauberten Garten voller betörender Düfte.
Sie schloss für einen Moment die Augen und lauschte dem Rauschen des Windes im Wipfel der Eiche sowie dem Zwitschern der Vögel, die sich überall in den Bäumen und Büschen versteckten.
Mit einem Mal rissen laute Stimmen Tara aus ihren Tagträumen. Neugierig reckte sie ihren Hals, um erneut aus dem kleinen Fenster zu schauen. Ihren Vater konnte sie nirgendwo entdecken, dafür jedoch vier mit Schwertern bewaffnete Männer, die sich über die Wiese der Terrasse näherten. Um ein Haar wäre ihr das Buch aus der Hand gefallen.
Rasch lehnte sie sich zurück, damit die Fremden sie nicht entdeckten. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was wollen sie hier? Warum sind sie bewaffnet? Mit einer Mischung aus Angst und Aufregung beugte sie sich vor und linste aus der Öffnung.
In diesem Augenblick rannte ihr Vater aus dem Haus heraus über die Terrasse in den Garten. Als er die Fremden erblickte, versuchte er, ihnen auszuweichen, stolperte jedoch und fiel hin. Sofort umringten sie ihn und bedrohten ihn mit den Spitzen ihrer Schwerter.
»Was wollt ihr von mir?«, brüllte Carrth.
Tara verspürte den Drang, ihrem Vater zu Hilfe zu eilen, doch ihre Arme und Beine gehorchten ihr nicht mehr. Ihr Körper schien erstarrt zu sein. Wieso kam keiner der Bediensteten?
Drei weitere Männer stürmten durch die offen stehende Terrassentür. Einer von ihnen fiel Tara sofort ins Auge: ein Schwarzhaariger mit zornigem Gesichtsausdruck. Alle Köpfe drehten sich ihm zu. Handelte es sich um den Anführer der Bande? Die anderen Männer machten ihm Platz. Wenige Schritte vor Carrth blieb er stehen und starrte auf ihn hinunter.
Tara reckte den Hals, um mehr erkennen zu können. Noch immer verstand sie nicht, was dort im Garten geschah. Die sieben Fremden trugen allesamt gewöhnliche Kleidung, also konnten es keine Soldaten sein. Für Räuber sahen sie zu sauber aus.
Der Schwarzhaarige sprach zu ihrem Vater, doch Tara konnte seine Wort aufgrund der Entfernung nicht verstehen. Zögerlich erhob sich Carrth. Seine Beine zitterten. Offenbar auf der Suche nach einem Fluchtweg sah er sich um. Tara wollte ihn rufen, doch auch ihre Zunge gehorchte ihr nicht.
Einer der Männer rammte sein Schwert in den Boden. Anschließend bildeten er und die anderen fünf einen Kreis auf der Wiese und nahmen ihren Vater sowie den Schwarzhaarigen in ihre Mitte. Letzterer sagte etwas zu Carrth. Sekunden verstrichen, in denen nichts geschah. Tara glaubte schon, dass das Missverständnis sich aufklärte, als er auf das im Boden steckende Schwert deutete.
»Aber Vater kann doch gar nicht kämpfen!«, wollte sie ihm zurufen, doch kein einziger Laut verließ ihren Mund. »Er ist doch bloß ein Tuchhändler! Ihr müsst euch im Haus geirrt haben.« Panik stieg in ihr auf. Ihr Blick huschte über die geschlossenen Fenster des Anwesens, die schweigend auf die Szene hinunterstarrten. Wo bleiben bloß die Dienstboten?
Unendlich langsam schlurfte ihr Vater zu dem Schwert, als ob er versuchte, Zeit zu gewinnen. Vielleicht hoffte er, dass rechtzeitig Hilfe eintreffen würde. Er packte den Griff und zog daran, doch die Klinge blieb im Boden stecken. Er musste beide Hände nehmen. Die Männer beobachteten ihn ruhig, wie er sich abmühte. Niemand lachte.
Schuldet Vater jemandem Geld? Falls ja, wieso sollte derjenige ihn dann umbringen wollen?
Schließlich zog Carrth das Schwert aus dem Boden. Es musste ziemlich schwer sein, denn es gelang ihm kaum, es hochzuheben. Ein paar Mal riss er es mit einem unbeholfenen Schwung in die Höhe und stolperte vorwärts auf den Schwarzhaarigen zu. Dieser wich mit Leichtigkeit aus und schlug es ihm mit einem einzigen Streich seiner Klinge aus der Hand. Anstatt nun seinerseits anzugreifen, deutete er bloß auf die am Boden liegende Waffe.
Tara spürte die Angst und die Verzweiflung ihres Vaters. Sie presste die Kiefer aufeinander, wagte kaum zu atmen. Ihre Finger krallten sich in das Buch. Plötzlich gab eine Seite nach und zerriss. Erschrocken zuckte Tara zusammen. Das Geräusch hatte in ihren Ohren so laut geklungen, dass sie für einen Moment befürchtete, damit die Aufmerksamkeit der Männer auf sich gezogen zu haben. Ihr Herz schlug wie eine Trommel in ihrer Brust, doch niemand schaute zu ihr herüber. Ihr Vater bückte sich nach dem Schwert.
»Tu es nicht!«, wollte sie schreien. Hastig blinzelte sie die Tränen weg. Ich muss ihm helfen, sonst bringen die Fremden ihn um! Ihr Mund blieb geschlossen. Ihre Beine klebten auf der Decke fest. Sie wusste, dass es die Angst war, die sie lähmte, und sie schämte sich dafür, so schwach zu sein.
Carrth riss das Schwert ruckartig hoch. Daraufhin machte der Schwarzhaarige einen seitlichen Ausfallschritt. Gleichzeitig führte er einen Streich mit seiner Klinge aus, dann trat er wieder beiseite.
»Nein!«, entwich es Tara leise. Obwohl ihr Vater mit dem Rücken zu ihr stand, ahnte sie, was geschehen war. Er ließ das Schwert fallen. Mit einem gequälten Aufschrei stolperte er rückwärts, die Arme gegen den Bauch gepresst. Sein Peiniger trat ihm ein Bein weg, sodass er rücklings stürzte und auf dem Boden landete. Carth versuchte, von dem Schwarzhaarigen wegzukriechen, doch dieser war bereits über ihm und rammte ihm die Klinge in die Brust.
Einen Atemzug lang schien der Wind zu verstummen, als ob er die letzten gurgelnden Laute des Sterbenden für die gesamte Welt hörbar machen wollte. Tara konnte ihren Blick nicht abwenden. Alles in ihr schrie, doch sie blieb stumm. Sie konnte nicht fassen, was sie da sah. Es durfte nicht sein.
Schließlich stellte der Mörder seinen Fuß auf Carrths Brust und zog sein Schwert heraus. Blut tropfte von der Klinge. Er hob den Kopf und schaute direkt zu der mächtigen Eiche im Garten hinüber.
Erschrocken zuckte Tara zurück und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Panisch sah sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit um, einem Versteck, irgendeinem Ausweg, aber sie saß in der Falle. Sie zog die Beine an und presste ihre Hände gegen den Mund, um nicht laut aufzuschluchzen. Vater, bitte hilf mir! Sie wusste genau, dass sie vergeblich hoffte. Carrth würde ihr nicht mehr helfen können.
Ihr Blick fiel auf den Weidenkorb. Die Schere!, schoss es ihr durch den Kopf. Ich brauche die Schere! Das gesamte Baumhaus ächzte und knarzte, als sie versuchte, sich zur Seite zu rollen, um zum Korb zu kriechen. Regungslos blieb sie liegen und lauschte mit angehaltenem Atem. Mehr als das Rascheln der Blätter vernahm sie jedoch nicht, sodass sie sich Stück für Stück weiter vorwagte, bis sie ihr Ziel endlich erreichte. Sie schob ihre Hand unter das Tuch und wühlte sich durch den Stoff, bis sie etwas Kaltes ertastete. Wenige Sekunden später drückte sie erleichtert die Schere an ihre Brust.
Für einen Moment schloss Tara die Augen und erlaubte sich ein paar Atemzüge. Allmählich beruhigte sich ihr Puls. Entschlossenheit keimte in ihr auf. Kampflos würde sie sich den Mördern nicht ausliefern.
Minuten verstrichen. Niemand erschien in der Bodenöffnung, die ins Baumhaus führte. Weil Tara auch keine Schritte hörte, kroch sie vorsichtig zum Fenster, um einen Blick hinauszuwerfen. Carrth lag reglos im Gras. Das Licht der Sonne legte sich wie ein blassgoldener Schleier über ihn. Die fremden Männer waren verschwunden.
Drei Jahre später
»Trödel nicht herum!«
Tara spürte einen Stoß gegen ihren Rücken. Um ein Haar wären ihr die frisch geschnittenen Brotscheiben aus dem Körbchen gefallen. Zum Glück fand sie rechtzeitig ihre Balance wieder und ersparte sich so noch größeren Ärger mit der Köchin. Sie protestierte nicht. Das tat sie nie, denn sie brauchte die Arbeit in der Küche dieses Gasthofs.
Mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen begab sie sich in den Schankraum, wo sie die Mahlzeiten an den vorgesehenen Tischen verteilte. Anschließend kehrte sie in die Küche zurück, um Nachschub zu holen. So ging es den ganzen Abend. Als die Gäste rund zwei Stunden später satt und zufrieden das Gasthaus verließen, brachte sie das Geschirr in die Küche zurück. Wie üblich tadelte die Köchin sie für ihre angebliche Langsamkeit, und wie üblich schluckte Tara ihren Stolz herunter. Den konnte sie sich schon lange nicht mehr leisten.
An jenem Tag vor drei Jahren, an dem der schwarzhaarige Mann ihren geliebten Vater ermordet hatte, hatte auch ihr Leben geendet. Nichts war ihr geblieben, nachdem ihr Onkel Sahum das geerbte Tuchgeschäft heruntergewirtschaftet und das gesamte Vermögen ihres Vaters mit seiner Familie binnen weniger Monate verprasst hatte. Selbst Aram Klerbo, der immer behauptet hatte, sie ehelichen zu wollen, hatte sie im Stich gelassen.
Tara kratzte die Essensreste von den Brettern und aus den Schalen in die Kiste hinein, die sie am Abend zu Bent, dem Schweinezüchter, am Ende des Dorfes bringen würde. Nachdem sie die Tische im Schankraum abgeputzt hatte, eilte sie hinauf zu den Zimmern im ersten Stock, um diese für die nächsten Gäste vorzubereiten.
Zurück in der Küche half Tara den beiden Küchenmägden beim Aufräumen, damit die Köchin gleich das Mittagessen zubereiten konnte. Sie wischte die hölzernen Arbeitsflächen mit einem feuchten Tuch ab und fegte den Boden.
»Ich glaube, ein Sturm zieht auf«, murmelte Jadin mit Blick aus dem Fenster. »Du solltest lieber hierbleiben, Tara. Die Schweine können gewiss warten.«
Eminda senkte das Schälmesser und reckte den Hals, um ebenfalls aus dem Fenster schauen zu können. »Ja, das sieht eindeutig nach Regen aus.«
Tara erwiderte nichts darauf. Die beiden Frauen wussten so gut wie sie, dass sie die Essensreste zu Bent bringen musste. Zum einen bezahlte er dafür, und zum anderen mussten diese entsorgt werden, um keine Tiere anzulocken.
»Was trödelt ihr schon wieder herum?«, donnerte die Stimme der Köchin mit einem Mal durch den Raum. »Jadin, du dumme Pute, das Feuer im Herd erlischt! Hol sofort Holz!« Wild gestikulierte sie mit einer Suppenkelle in der Luft herum. »Bist du immer noch nicht fertig mit Schälen, Eminda? Die Gäste sind hungrig.«
Die beiden Angesprochenen duckten und sputeten sich mit einem scheuen »Ja«. Tara fegte stumm weiter. Sobald sie genügend gespart hatte, würde sie weiterziehen, um den Mörder ihres Vaters zu finden. Alles andere spielte keine Rolle für sie.
*
Die Wolken hingen tief über dem Dorf, als Tara am Abend den mit Essensresten beladenen Karren über die schlammige Straße zog. Der Wind zerrte an ihrem Kleid und ihrem Umgang. Sie grüßte die bekannten Gesichter, die ihr entgegenkamen. Mittlerweile kannte sie alle in diesem Fünfzig-Seelen-Dorf. Die Leute mochten sie und hielten sie für eine nette, fleißige Frau. Wenn sie nach ihrer Vergangenheit gefragt wurde, erzählte sie ihnen, eine Waise zu sein, die dem Haus ihres Onkels entflohen war, um keinen alten Säufer heiraten zu müssen, dem sie für ein paar Münzen versprochen worden war. Das stimmte sogar. Sie ließ allerdings unerwähnt, dass ihr Vater ermordet worden war
Nach Carrths Tod hatte Tara begriffen, dass sich im Grunde niemand für sie interessierte. Sie war nicht das, was Mütter als gute Partie für ihre Söhne bezeichnen würden. Männer zeigten nur Interesse an ihr, wenn sie ihr unter den Rock kriechen wollten, was sie allerdings nie zuließ.
Ihr idyllisches, unschuldiges Leben im Baumhaus erschien ihr so weit weg und so unwirklich wie ein Traum. Jenseits der Gartenmauern existierte eine völlig andere Welt – kalt und brutal. Selbst das Leben innerhalb hatte sich als Illusion entpuppt. Keiner der Bediensteten hatte versucht, sein Leben für den Hausherrn zu riskieren oder zumindest Hilfe zu holen.
Zum Glück hatte Tara nach ihrer Flucht aus dem Haus ihres Onkels rasch Arbeit auf dem städtischen Markt von Ebeentaby gefunden, später in einer Bäckerei. So hatte sie zumindest ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten können. Sie hatte Leute getroffen, die ihren Vater gekannt hatten. Niemand verlor je ein schlechtes Wort über den freundlichen Tuchhändler. Niemand wusste von etwaigen Feinden. Niemand suchte nach seinem Mörder, nicht einmal die Männer von Lord Ebentaaby. Niemand dachte mehr an Carrth Bementa, und der Alltag kehrte binnen weniger Tage in die Stadt zurück. Jeder kümmerte sich wieder um seine eigenen Probleme. Menschen starben schließlich jeden Tag.
Nach anfänglicher Verzweiflung hatte Tara beschlossen, den schwarzhaarigen Mann selbst zu suchen und zu töten. Mit ihrem Ersparten war sie weitergereist, aber das Geld hatte bei weitem nicht so lange gereicht wie erhofft. In den kleinen Orten, die sie besucht hatte, wollte niemand eine bewaffnete Mörderbande mit einem schwarzhaarigen Anführer gesichtet haben.
Vor einigen Monaten war Tara dann in dem hiesigen Dorf gestrandet und hatte Arbeit im einzigen Gasthof gefunden. Es lag am Rande eines großen, hügeligen Waldes, durch den ein Weg in die Nachbarprovinz führte. Nun hoffte Tara, bis zum kommenden Frühling genügend Münzen beisammen zu haben, um weiterreisen zu können. Mangels einer besseren Idee wollte sie in die nächste große Stadt: Dekretia. Mörder fühlten sich wahrscheinlich unter vielen Menschen am sichersten, weil sie dort nicht auffielen. Sie würde sämtliche Tavernen absuchen, denn dort versammelten sich ihrer Erfahrung nach stets die zwielichtigsten Gestalten. Der Mörder musste doch irgendwo leben! Und wie groß konnte die Welt schon sein?
*
Schließlich erreichte Tara den Hof des Schweinezüchters. Sie zog den Karren hinüber zu den Ställen, aus denen Grunzen, Schmatzen und beißender Gestank drangen. Bent, ein hagerer Mann, erwartete sie bereits und inspizierte kurz die Ware. Dann winkte er seinen Knecht heran.
Jog befand sich etwa in Taras Alter. Obgleich er täglich kiloweise Mist durch die Gegend trug, hing sein Hemd faltig an seiner schmächtigen Gestalt herab. Als Tara seinen Blick erwiderte, schaute er rasch zur Seite. Stumm hob er die Kiste aus dem Karren und schlurfte zum Außengehege hinüber. Dort kippte er den Inhalt in die Tröge hinter der Umzäunung. Mit lautem Quieken stürzten sich die Tiere auf die Essensreste.
Zwischen den Holzlatten hindurch konnte Tara die Schweine kaum zählen. Bent hatte einmal behauptet, dass es sich um ein gutes Dutzend handelte. Da er allerdings alle paar Wochen eines schlachtete, war sie sich nicht so sicher. Bekamen Sauen überhaupt so schnell Nachwuchs?
Nachdem Tara zwei Kupfermünzen als Bezahlung erhalten hatte, verabschiedete sie sich und nahm die leere Kiste wieder auf ihrem Karren mit. Die ersten Regentropfen begannen zu fallen. Sie zog die Kapuze des Umhangs über ihren Kopf. Der Wind riss sie ihr sofort wieder herunter. Trotz des aufziehenden Unwetters machte sie wie üblich einen Umweg zum Wald. Dort prügelte sie die verbleibende Zeit bis zur Dämmerung mit einem Stock auf Äste und Bäume ein.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie den Mörder ihres Vaters – den Dämon, der sie bis in ihre Alpträume verfolgte und ihr gesamtes Leben bestimmte. Sie musste ihn töten, um sich selbst zu befreien. Allerdings wusste sie auch, dass es keine leichte Aufgabe werden würde. Sie musste üben und sich auf den bevorstehenden Kampf vorbereiten. Das tat sie in jeder freien Minute.
Stöcke dienten ihr als hölzerne Schwerter. Wann immer ein Ast unter ihrem kraftvoll ausgeführten Hieb zerbrach, stellte sie sich vor, es würde sich um einen Knochen des Schwarzhaarigen handeln. Ja, sie würde ihm jeden einzelnen brechen, bevor sie ihm die Klinge in sein verdorbenes Herz bohrte.
Über das, was danach kommen würde, grübelte sie nur selten nach. Es gab für sie kein Zuhause mehr, in das sie zurückkehren konnte, niemanden, der auf sie wartete. Ihr Cousin hatte ihr einmal im Streit an den Kopf geworfen, dass er sich wünschte, sie wäre ebenfalls ermordet worden. Das war in dem Moment gewesen, als sie das kleine Porträt ihrer Mutter seinen gierigen Pranken hatte entreißen wollen. Dabei hatte er Euphene doch gar nicht gekannt!
»Dir gehört hier gar nichts mehr, Cousinchen«, hatte er sie in herablassendem Ton wissen lassen. »Frauen erben nichts, schon vergessen? Sei dankbar, dass mein Vater dich gnädigerweise aufgenommen hat!«
Weil Tara es gewagt hatte, dagegen zu protestieren, hatte ihre Tante das Porträt im Anschluss zur Strafe im Kamin verbrannt. »Das soll dir eine Lehre sein, so mit meinem Sohn zu sprechen!«
Ein lautes Knacken riss Tara aus ihren Erinnerungen. Erschrocken fuhr sie herum und entdeckte in wenigen Metern Entfernung Jog, den Stallknecht des Schweinezüchters, halb hinter einem Baum verborgen.
»Was willst du?«, fragte sie misstrauisch.
Er trat hinter seinem Versteck hervor. »Was machst du hier allein im Wald?«
»Nichts.«
»Das sieht aber nicht nach nichts aus, weißt du?«
»Lass mich bitte in Ruhe!«
»Eine Frau sollte nicht alleine in den Wald gehen.« Nervös leckte er sich über die Lippen, dann sprang er mit einem Mal auf Tara zu. Er wollte sie packen, doch sie wich ihm blitzschnell aus und hieb ihm den Ellenbogen in die Seite. Mit einem ungläubigen Ausdruck auf dem Gesicht drehte er sich zu ihr um. Wut flammte in seinen Augen auf.
Tara versuchte zu fliehen, doch Jog bekam ihren Umhang zu fassen. Er riss sie zurück und legte seinen Arm um sie. Sie biss so fest zu, dass er aufschrie. Für einen kurzen Moment lockerte sich sein Griff. Rasch entwandt sie sich seiner Umklammerung. Sie schleuderte den Stock beiseite, warf ihren Umhang ab und rannte los.
»Du kleine Schlampe!« Sofort setzte Jog ihr nach.
Sie hetzte zwischen den Bäumen hindurch, sprang über Wurzeln und Äste. Das Dorf lag nicht allzu weit entfernt, doch Jog zwang sie tiefer in den Wald hinein. Sie spürte, wie ihre Beine mit jedem Schritt schwerer wurden. Sollte sie um Hilfe rufen? Wer würde ihr glauben? Einer Eingebung folgend stürzte sie sich auf einen langen, dicken Stock am Boden. Gerade als sie ihn mit den Fingern umschloss, packte Jog sie beim Zopf und riss brutal ihren Kopf zurück. Panisch schlug sie mit dem Stock nach ihm. Sie traf ihn mitten im Gesicht. Mit einem Aufschrei ließ er sie los und taumelte rückwärts.
Sofort rollte sich Tara auf die Knie, sprang auf und drosch mit dem Stock auf ihren Peiniger ein, wieder und wieder. Er stolperte über eine Wurzel und landete auf dem Hosenboden. Sie hörte nicht auf. Verzweifelt versuchte er, ihren Angriff mit erhobenen Armen abzuwehren, doch sie schlug unbarmherzig zu. Seine Kleidung färbte sich dunkel, wo der Stock ihn mehrfach erwischt hatte.
»Lass mich in Ruhe, du verfluchtes Schwein!«, schrie sie ihn an.
»Es war doch nicht so gemeint!«, winselte er zwischen den Hieben.
»Ihr Männer glaubt wohl, ihr könnt euch alles erlauben!«
»Du tust mir weh!«
»Ich hatte dich gewarnt.«
»Bitte hab Gnade mit mir!«
Bebend vor Zorn stand Tara neben dem am Boden liegenden Mann, bereit, ihn umzubringen. Kein Mensch auf dieser Welt würde es je wieder wagen, ihr etwas anzutun oder sich ihr in den Weg zu stellen. Sie hielt den Stock fest in der Hand.
»Bitte nicht!«, wimmerte Jog. Todesangst flackerte in seinen trüben, grauen Augen. Rotz lief ihm aus der Nase.
Hat mein Vater in seinen letzten Sekunden so ausgesehen?, durchzuckte es Tara. Rasch verscheuchte sie den Gedanken. Nein, Vater ist würdevoll gestorben. Er hatte nicht um Gnade gewinselt, sondern sich bis zum Schluss tapfer gegen eine Übermacht verteidigt.
»Bitte, es war doch nicht so gemeint«, jammerte der schmächtige Knecht.
Ekel stieg in ihr auf. Er hätte den Tod verdient. Sie begriff jedoch, dass sie ihn nicht totschlagen durfte. Zum einen hatte er tatsächlich nichts weiter getan, als sie zu belästigen, zum anderen würde ihr vermutlich niemand glauben, dass sie sich lediglich gewehrt hatte. Wenn sie wegen Mordes verurteilt und hingerichtet würde, würde sie ihren Vater nicht mehr rächen können.
Tara schnaubte. »Komm mir nie wieder zu nahe!« Sie drehte sich um und ging eilig in Richtung Dorf. Obwohl ihr Herz vor Angst in ihrer Brust hämmerte, rannte sie nicht. Keinesfalls wollte sie den Eindruck von Schwäche erwecken. Auf halber Strecke entdeckte sie ihren Umhang am Boden. Sie hob ihn auf, schüttelte ihn aus und warf ihn sich über die Schultern.
*
Als sie ihren Karren erreichte, stützte sich Tara keuchend darauf ab. Ein paar Mal holte sie tief Luft und wischte sich anschließend den kalten Schweiß von der Stirn, der sich mit dem Regen mischte. Sie ließ den Stock neben die Kiste fallen. Schwarze Kreise tanzten vor ihren Augen. In diesem Moment zerrte eine Böe an ihrem Umhang. Rasch band sie sich eine Schleife, damit sie ihn bei der nächsten nicht verlor.
Misstrauisch blickte sie zum Wald zurück. Zwischen den Bäumen breitete sich bereits die Dunkelheit aus. Den Stallknecht konnte sie nirgendwo entdecken. Sie hoffte, dass er seine Lektion gelernt hatte. Neben der Angst spürte sie jedoch auch ein wenig Stolz in sich. Es war ihr gelungen, sich selbst zu verteidigen. In ihrem früheren Leben wäre sie solchen Männern wie Jog ausgeliefert gewesen. Auch gegen den Mörder ihres Vaters hätte sie sich damals nicht wehren können.
Manchmal träumte sie davon, wie er ihr nachjagte. Bevor er ihr sein Schwert endgültig in die Brust rammen konnte, wachte sie allerdings jedes Mal auf. Der Vorfall im Wald hatte ihr bewiesen, dass ihre Albträume nicht zwangsläufig der Wirklichkeit entsprechen mussten. Zweifellos lohnten sich ihre Schwertkampfübungen. Sie würde auf jeden Fall weitermachen. Der Mörder ihres Vaters sollte sie ebenso fürchten wie Jog.
*
In der Nacht drückte der Orkan jaulend gegen das steinerne Gebäude. Das Gebälk und die Holzdielen knarzten. Die geschlossenen Fensterläden klapperten, als ob jemand daran rüttelte.
Tara lag mit offenen Augen im Halbdunkeln. Das Feuer im Herd flackerte unruhig hinter dem Gitter und ließ die Schatten in den Winkeln wabern. Normalerweise schlief sie mit Eminda und Jadin in einer Dachkammer, doch das war wegen des Sturms zu gefährlich. Sie fürchtete sich. Was würde geschehen, falls das Gebäude über ihr einstürzte? Würde sie sofort tot sein oder unter einem Balken vergraben langsam und qualvoll an einer Verletzung sterben?
Plötzlich spürte sie etwas Warmes an ihrem Arm. Erschrocken zog sie ihn zurück.
»Ich bin es bloß«, flüsterte Eminda neben ihr. »Komm, gib mir deine Hand! Zusammen haben wir weniger Angst.«
Befremdet runzelte Tara die Stirn. Sie wollte Eminda nicht vor den Kopf stoßen, musste sich jedoch selbst schützen, durfte niemanden an sich heranlassen. Mehr noch als den Orkan fürchtete sie, jemanden in ihr Herz zu schließen. Obwohl sie sich manchmal nach Zuneigung sehnte, blieb sie lieber für sich allein. Noch einen Verlust würde sie nicht überstehen.
*
Der Orkan wütete die ganze Nacht hindurch und legte sich erst in den frühen Morgenstunden. Das erste Licht des Tages schimmerte durch die Ritzen in den Fensterläden. Der Hahn, der sonst das gesamte Dorf weckte, schwieg.
Tara schlang die Decke enger um sich und versuchte, noch ein wenig Schlaf zu bekommen. Als sie das nächste Mal die Augen aufschlug, sah sie ein Paar Schuhe und den Saum eines Leinenkleides vor sich.
»Hoch mit euch, ihr Faulpelze!«, donnerte die Köchin. »Die Gäste sind hungrig!«
Ohne zu zögern erhob sich Tara und legte ihre Decke zusammen. Obwohl die Müdigkeit an ihr nagte und ihre Glieder schmerzten, machte sie sich sofort an die Arbeit. Ihre erste Aufgabe bestand darin, den Handkarren mit leeren Eimern zu beladen und damit zum Dorfbrunnen zu fahren. Eminda begleitete sie.
Kaum hatten die beiden Frauen das Gasthaus durch die Hintertür verlassen und umrundet, verlangsamten sie ihre Schritte. Überall auf dem Weg lagen Stroh und Zweige, sogar abgebrochene Holzplanken hier und dort. Der Orkan hatte die Dächer vieler Gebäude entlang der Straße abgedeckt.
Unwillkürlich sah Tara zu dem des Gasthauses hinauf. Es scheint noch intakt zu sein, aber wer weiß, wie die Rückseite aussieht. Hoffentlich zwingt uns der Wirt nicht, es zu reparieren.
Am Brunnen hielten sich bereits einige Frauen auf, die einander über die neuesten Erkenntnisse unterrichteten. Besonders ein Thema machte die Runde: Ein Baum war auf eine der Hütten am Waldrand gestürzt und hatte alle vier Bewohner unter sich begraben. Alle starken Männer begaben sich in diesem Moment auf den Weg dorthin, um zu helfen.
Tara, die aus einer großen Stadt stammte, rührte die Fürsorge dieser Menschen. Im Notfall hielten sie alle zusammen und vergaßen niemanden. Sie wünschte sich, dass ihre Nachbarn, Freunde und Bekannte damals nach dem Tod ihres Vaters genauso reagiert hätten, dass sie zumindest eine Zeitlang nach Carrths Mörder gesucht hätten.
Tara und Eminda füllten die Eimer mit Wasser aus dem Brunnen und zogen den Karren zum Gasthaus zurück. Dort bereiteten sie zusammen mit Jadin und der Köchin das Frühstück für die Gäste und den Wirt zu. Frisches Brot gab es keines, dafür jedoch Reste vom Vortag, die sie mit Wasser bestrichen und auf dem Herd in einer Pfanne anrösteten. Außerdem kochten sie Hafergrütze, die sie mit Apfelschnitzen servierten.
Nachdem die Gäste bewirtet worden und gegangen waren, aßen die Frauen das, was übrig geblieben war. Danach schlossen sich Tara, Eminda und Jadin einer Gruppe an, die im Wald Holz sammelte. Etliche Bäume lagen abgebrochen oder entwurzelt am Boden, sodass sie leicht zersägt werden konnten. Während sich die Männer um die schweren Stämme kümmerten und diese zu Balken und Brettern verarbeiteten, brachten die Frauen Feuerholz zum Trocknen in die Lagerstätten im Dorf.
Die Familie aus der Hütte am Waldrand hatte nicht überlebt und wurde rasch auf dem örtlichen Friedhof beerdigt. Zeit zum Trauern blieb keine, denn die Dächer der intakten Gebäude mussten dringend vor dem nächsten Regen repariert werden. Allein diese Aufgabe nahm mehrere Tage in Anspruch. Anschließend wurden die Hütten derjenigen wieder aufgebaut, die durch den Orkan obdachlos geworden waren.
*
Als Tara zwei Wochen später den Karren zum Schweinezüchter zog, ließ sie ihren Blick über die reparierten Fassaden der Gebäude schweifen. Dabei durchzuckte sie unwillkürlich die Frage, ob auch sie eines Tages dort würde weitermachen können, wo ihr Leben vor drei Jahren geendet hatte. Zum ersten Mal seit langem spürte sie wieder so etwas wie Hoffnung in sich keimen.
Im Haus ihres Vaters lebten nun andere Menschen, doch bestimmt konnte sie sich etwas Neues aufbauen, eine kleine Holzhütte vielleicht. Warum sollte sie nicht ihr eigenes Geschäft eröffnen, in dem sie selbst bestickte Tücher feilbot? Sie hatte auch schon überlegt, irgendwo Zither zu spielen, doch leider besaß sie kein eigenes Instrument mehr. Sie musste zuerst mehr Geld verdienen, um sich überhaupt den Anfang ihrer Unternehmungen leisten zu können.
Der Dämon hat mir alles geraubt!, dachte Tara grimmig. Wahrscheinlich bin ich dazu verdammt, für den Rest meines Lebens in einer Küche oder an einem Marktstand zu schuften. Oder ich heirate irgendeinen Mann, der mich nicht liebt, und muss hoffen, dass er mich nicht eines Tages mitsamt den Kindern vor die Tür setzt. Ich will mich von niemandem mehr abhängig machen!
Am Stall angekommen, sah Tara, dass der Knecht noch immer einen dicken Verband um den linken Arm trug. Er wich ihrem Blick aus, als er gemeinsam mit Bent die Kiste mit den Essensresten aus dem Karren hob und in den Trog kippte. Offensichtlich konnte er den verletzten Arm nicht mehr belasten. Ein Gefühl der Genugtuung erfüllte Tara, für das sie sich gleichzeitig schämte. Die vergangenen Jahre hatten sie verändert. Wenn sich ihr Cousin früher im Baumhaus verletzt und sie sich über ihn lustig gemacht hatte, hatte ihr Vater sie stets dafür gerügt. Sie würde nie mehr zu der »anständigen Dame« werden, zu der Carrth sie hatte erziehen wollen.
Jog schien dem Schweinezüchter nichts von der Begegnung im Wald erzählt zu haben, denn dieser benahm sich wie immer. Als Tara den Hof mit den Kupfermünzen und dem Karren wieder verließ, atmete sie innerlich auf. Das Letzte, was sie wollte, war, Aufmerksamkeit zu erregen.
Wenn das Dorf erfuhr, dass sie in ihrer Freizeit wie ein Bursche mit Stöcken auf Bäume einschlug, würde das bloß unangenehme Fragen aufwerfen. Möglicherweise würden die Leute sie dann sogar aus dem Dorf vertreiben, weil sie dachten, sie wäre verrückt. Wohin sollte sie dann gehen? Ihr Erspartes reichte momentan höchstens für eine Kutschfahrt ins übernächste Dorf. Unwillkürlich legte sie ihre Hand auf ihre Brust. Unter dem dicken Stoff fühlte sie den Anhänger ihrer Halskette – ihren größten Schatz.
*
Die Tage vergingen ereignislos, wurden zu Wochen und Monaten. Der Sommer wich dem Herbst, dem der Winter folgte. Eminda und Jadin wanderten zu ihren Familien in den Nachbardörfern und würden erst im Frühjahr wiederkommen, sobald der Schnee taute. Während der eisigen Jahreszeit reiste niemand mehr durch den hügeligen Wald in die Nachbarprovinz, weshalb das Gasthaus Winterruhe einlegte. Tara verdiente nun gar kein Geld mehr, durfte jedoch bleiben. Im Gegenzug dafür putzte sie die Zimmer, hielt Ordnung und erledigte Besorgungen.
Von ihrem Ersparten kaufte sie sich wärmere Kleidung, die es ihr ermöglichte, für ein paar Stunden täglich im Wald mit ihren Stöcken zu üben. Seit jenem Vorfall mit dem Stallknecht nahm sie auch immer ein Küchenmesser mit, um sich notfalls damit verteidigen zu können. Glücklicherweise blieb sie unbehelligt. Solange sie die ihr aufgetragenen Aufgaben rasch und ordentlich erledigte, interessierten sich weder der Wirt noch seine Gattin dafür, was sie in ihrer Freizeit machte.
Einer Eingebung folgend nahm Tara das Messer in ihre Übungen mit auf. Die scharfe Klinge verlieh ihr ein Gefühl von Macht. Leichtfüßig tänzelte sie durch den Wald, zerschlug Äste, stach auf Bäume ein. Sie stellte sich vor, sie würde sich durch ein Heer von Feinden kämpfen, um ihren Vater zu befreien. Niemand konnte sie besiegen.
Allerdings konnte sie sich dem Rausch nicht vollends hingeben. Immer wieder schaute sie sich verstohlen nach etwaigen Beobachtern um. Auch wenn sie im Grunde nichts Verbotenes tat, befürchtete sie stets, erwischt zu werden. Keinesfalls wollte sie zum Gespött des Dorfes werden. Eminda und Jadin würden sich bestimmt für sie schämen. Sie vermisste die beiden, ihr Lachen, ihre Gespräche.
Manchmal schmerzte es Tara, Emindas Angebot ausgeschlagen zu haben, den Winter über mit ihr zu ihrer Familie zu kommen. Gerne hätte sie gewusst, wie es sich anfühlte, eine Familie zu haben. Sie konnte sich kaum noch an ihre eigene erinnern. Es ist wohl besser so, dass ich nicht mitgegangen bin, dachte sie. Ich glaube, den Anblick hätte ich nicht ertragen.
Mittlerweile spürte Tara die Kälte an sich nagen. Ihre Finger schienen am Griff des Messers festgefroren zu sein. Nur mit Mühe konnte sie sie lösen. Sie beschloss, es für diesen Tag gut sein zu lassen. Der Winter würde ihr noch reichlich Möglichkeiten zum Üben bieten.
*
Ehe Tara sich versah, taute der Schnee und die ersten Knospen sprossen. Pünktlich zum Frühlingsanfang kehrten die beiden Küchenmädchen ins Gasthaus zurück.
»Wie schön!«, rief Eminda begeistert, als sie die saubere Küche erblickte. »Dieses Jahr müssen wir wohl keinen Frühjahrsputz veranstalten.«
Jadin legte ihren Arm um Taras Schultern und drückte die verdutzte Frau an sich. »War es langweilig ohne uns?«
»Ein bisschen schon«, gab diese schmunzelnd zu.
»Du solltest öfter lächeln«, fand Eminda. »Das steht dir.«
»Oh ja«, pflichtete Jadin ihr bei und ließ Tara los, um sie besser in Augenschein nehmen zu können. »Du bist hübsch. Bestimmt könntest du dir einen guten Bräutigam angeln, einen mit Geld, damit du nicht mehr schuften musst.«
Irritiert runzelte Tara die Stirn. »Wie kommst du denn jetzt darauf?«
»Eminda hat sich verlobt.«
Die Gemeinte quiekte vergnügt auf. »Jokos hat mir endlich einen Antrag gemacht.« Schwärmerisch fasste sie sich ans Herz. »Weißt du, wie lange ich darauf gewartet habe? Wir kennen uns bereits seit unserer frühesten Kindheit. Er zog vor einigen Jahren in die Stadt und versprach, zu mir zurückzukommen, sobald er genügend Geld verdient hat. Nun können wir endlich heiraten.«
»Heißt das, du wirst uns bald verlassen?« Tara zwang sich, zu lächeln, denn sie wollte der pausbäckigen Verliebten keinesfalls die gute Stimmung ruinieren. Sie erinnerte sich noch an Aram Klerbos knappe Mitteilung. Das winzige Stück Papier hatte sie damals sofort in den Kamin geworfen. Noch heute schmerzte sie der Gedanke daran, auf welch unpersönliche Weise er ihre Verlobung aufgelöst hatte – ausgerechnet in einem Moment, wo sie so dringend jemanden gebraucht hatte, dem sie vertrauen konnte, der sie vor dem Bösen in der Welt beschützte. Weder er noch sein Vater waren zu Carrths Beerdigung erschienen.
Lange Zeit hatte Tara nicht gewusst, wen sie mehr hassen sollte: den Mörder ihres Vaters oder Aram Klerbo, der ihr sein wahres Gesicht in ihrer dunkelsten Stunde offenbart hatte. Keine drei Wochen später hatte Aram sich bereits wieder neu verlobt: mit der Tochter eines Apothekers aus der Königsstadt Ambastala. Als Tara Anfang des vergangenen Jahres erfahren hatte, dass er und sein Vater bei einem Raubüberfall ermordet worden waren, hatte sie ihnen keine Träne nachgeweint. Die beiden waren ebenso schnell in Vergessenheit geraten wie ihr Vater – ein kleiner Trost in dieser rücksichtslosen Welt.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Eminda besorgt.
»Äh, natürlich«, versicherte sie ihr rasch. In Wahrheit stand sie kurz davor, in Tränen auszubrechen.
Glücklicherweise platzte in diesem Moment die Köchin herein. Ihre schrille, schimpfende Stimme ließ Tara auf einen Schlag sämtliche Sorgen der Vergangenheit vergessen.
*
Wochen zogen ins Land und mit ihnen die ersten Reisenden. Rasch machte sich Unmut unter ihnen breit. Die vergangenen Stürme hatten zahlreiche Bäume umgerissen, die nun den Weg in die Nachbarprovinz blockierten. Niemand konnte den Wald mehr mit Pferden durchqueren, sofern er nicht riskieren wollte, dass sich die Tiere etwas brachen. In der Schankstube des Gasthauses floss nun eine Menge Alkohol, der die Laune aller zumindest zeitweise hob. Das Dorf freute sich über die zusätzlichen Einnahmen.
»Jadin, du faule Gans, beweg deinen Hintern!«, trieb die Köchin die Magd an, die an diesem Abend gemeinsam mit Tara die Gäste bedienen musste. »Steh nicht so blöd herum, Eminda!« Sie versuchte, der Angesprochenen einen Tritt zu geben, doch sie konnte ihre fleischigen Beine kaum hochheben. »Hol die Metfässer und setze den Kessel auf. Wehe, du machst ihn zu heiß!« Ruckartig deutete sie mit dem Finger auf Tara. »Putz jetzt endlich die Tische!«
»Das habe ich bereits«, erklärte diese.
»Dann hilf meinem Mann und Jadin, den Tisch für Lord Erredas vorzubereiten! Sombet hat gesagt, sie seien zu acht.«
Tara staunte. »Ein Lord ist hier?«
»Wir haben es soeben erfahren. Er gibt gerade sein Pferd bei Bent ab. Und nun mach!«
»Aber wir …«
»Quatsch nicht herum! Wo bleiben die Metfässer? Und Brot ist auch keines mehr da!«
Tara begab sich gemeinsam mit Jadin in den Schuppen hinter dem Gasthaus. Dorf befanden sich tragbare Trennwände, die sie im Schankraum aufstellten, um einen abgetrennten Bereich in der Nähe des Tresens zu schaffen. Dort sollten der Lord und seine Gefolgschaft speisen. Die beiden Frauen richteten eine kleine Festtafel mit einer Tischdecke sowie dem besten Tongeschirr des Hauses her. Eine Schale mit Winteräpfeln rundete das Bild ab. Sowohl die Köchin als auch der Wirt überzeugten sich davon, dass jedes Detail stimmte.
*
Draußen war es bereits fast dunkel, doch das hinderte die Köchin nicht daran, ihren Mann sowie ihre drei Küchenmägde mit Kerzen auf den Hinterhof zu scheuchen. Dort verlangte sie, dass jeder sich abbürstete und abklopfte.
»Lord Erredas soll uns nicht für Dorftrottel halten«, erklärte sie. »Als er beim letzten Mal hier war, haben wir einen guten Eindruck hinterlassen. So wird es auch diesmal wieder sein. Behaltet immer vor Augen, dass wir es mit der rechten Hand des Königs zu tun haben!«
Tara konnte sich an keinen Adeligen dieses Namens erinnern. Wahrscheinlich besuchte er das Gasthaus, bevor ich angefangen habe, hier zu arbeiten. Was wird er wohl sagen, wenn er erfährt, dass er den Wald zu Fuß durchqueren muss? Das bedeutet mindestens zwei Übernachtungen unter freiem Himmel.
Der Wirt ließ mit stoischer Ruhe alles über sich ergehen. Erst, als seine Frau an seinem ergrauten Vollbart herumzuzupfen begann, fegte er ihre Hand verärgert beiseite.
»Jetzt reicht es aber, Weib!«, knurrte er und schickte sich an, in die Küche zurückzukehren. »Ich muss den Whisky atmen lassen.«
»Du hast doch wohl die beste Flasche besorgt!« Ihr Blick ließ nur eine Antwort zu.
»Was sonst?« Der Wirt betrat die Küche durch die Hintertür. Seine Frau folgte ihm.
Eminda beugte sich zu Tara herüber und flüsterte hinter vorgehaltener Hand: »Die Flasche hat er sofort besorgt, nachdem er erfahren hat, wer kommt. Seine Lordschaft war vorletzten Sommer schon einmal hier. Dass er uns ein weiteres Mal die Ehre erweist, bei uns zu nächtigen, ist ein gutes Zeichen.«
»Lord Erredas hat sich einen denkbar schlechten Zeitpunkt für seine Reise ausgesucht«, bemerkte Jadin. »Ob er schon weiß, dass der Weg durch den Wald mit Pferden kaum passierbar ist?«
»Hoffentlich wird er nicht allzu übel gelaunt sein deswegen.«
»Zum Glück verfügen wir über ausreichend Met und Whisky.«
»Wieso begleiten ihn lediglich sieben Männer?«, warf Tara ein. »Das kommt mir sehr wenig vor für eine solch wichtige Person.«
Eminda zuckte mit den Schultern. »Vielleicht will er möglichst unauffällig reisen.«
»Das klingt sehr unwahrscheinlich«, widersprach Jadin.
»Findest du? Beim letzten Mal waren es, glaube ich, zwölf. Viel Gepäck hatte er damals auch nicht dabei.«
»Wenn er Wert auf Unauffälligkeit legen würde, würde er tatsächlich draußen übernachten. Mittlerweile dürfte sich seine Anwesenheit auch in den Nachbardörfern herumgesprochen haben. Morgen früh stehen sie hier alle vor der Tür, um ihm irgendeinen Tand anzudrehen.«
Interessiert lauschte Tara dem Gespräch der beiden. Ihre Laune hob sich mit jeder Minute. Obwohl mindestens einmal im Monat während der Reisezeit wichtige Leute im Gasthaus einkehrten, war sie noch nie jemandem vom Hofe begegnet. Lord Ebentaaby hatte sich nie für den Mörder ihres Vaters interessiert, aber möglicherweise tat es der König, wenn er von dieser Ungeheuerlichkeit erfahren würde. Immerhin hatte Cartth als angesehener Tuchhändler viel Geld verdient und entsprechend viele Steuern bezahlt, die letztlich in die königliche Schatzkammer geflossen waren. Als einfache Frau würde ihr niemals eine Audienz gewährt werden, doch möglicherweise konnte ein Adeliger ein gutes Wort für sie einlegen. Hoffentlich bietet sich nachher eine Gelegenheit, mit Lord Erredas ins Gespräch zu kommen.
*
Der Wirt ließ es sich nicht nehmen, den hohen Gast und dessen Gefolgschaft persönlich in den Zimmern im ersten Stock einzuquartieren. Während die Köchin, Eminda und Jadin in der Küche das Essen zubereiteten, schürte Tara im Schankraum das Kaminfeuer. Sie pustete auf das Holz. Funken stoben wie Glühwürmchen auf und stiegen den Kaminschacht empor.
Noch immer wusste Tara nicht, wie sie Lord Erredas oder einen seiner Männer auf ihren Vater ansprechen sollte, ohne aufdringlich zu wirken. Zudem würde der Wirt sie garantiert verscheuchen, sobald er merkte, dass sie nicht mehr bloß ausschenkte, Essen brachte, Geschirr abräumte und putzte. Sie steckte in einem Dilemma: Einerseits war sie auf die Arbeit im Gasthaus angewiesen, andererseits durfte sie ihre Chance auf Rache nicht ungenutzt lassen. Als sie Schritte auf der Treppe hörte, stand sie mit einem erwartungsvollen Lächeln auf.
Zu ihrer Enttäuschung handelte es sich lediglich um den Wirt. »Der Lord kommt jeden Augenblick herunter. Ich habe ihm heißen Met versprochen. Bring ihn rasch her!«
Tara nickte und eilte in die Küche, wo die Köchin leise mit Eminda schimpfte. Sie wartete einen Moment ab, ehe sie sich räusperte. Als sich die Augen der Anwesenden auf sie richteten, verkündete sie die Anweisung des Wirts.
Die korpulente Frau schnaubte. »Eminda, die dumme Pute, hat den Honigwein im Topf kochen lassen! Als ich hereinkam, hat er schon gesprudelt. Das können wir Seiner Lordschaft nicht mehr anbieten.«
»Aber doch den anderen Gästen.«
»Ja, denen schon. Ich werde unsere verblieben Vorräte erwärmen. Lasst uns hoffen, dass der hohe Besuch nicht allzu durstig ist. Eminda, du bereitest jetzt die Bratkartoffeln vor! Erlaubst du dir noch einen weiteren Fehler, setze ich dich vor die Tür, verstanden?«
Mit Tränen in den Augen nickte die Küchenmagd und begann rasch, die Kartoffeln zu putzen.
Die Köchin nahm den Mettopf vom Herd und stellte einen neuen auf. In diesen goss sie den restlichen Honigwein aus dem Fass. Tara wusste, dass im Keller noch zwei weitere standen, also gab es nichts zu befürchten.
Bedächtig wie ein Apotheker goss die Köchin den Met in den vorgewärmten Tonkrug. Diesen nahm Tara am Henkel und stützte ihn zusätzlich mit ihrem rechten Unterarm ab. Ein Tuch sorgte dafür, dass sie sich nicht an dem heißen Gefäß verbrannte.
Als sie den Schankraum betrat, hörte sie bereits eine wohlbekannte Stimme im abgetrennten Bereich. Der Wirt redete ohne Atempause auf die Männer ein, wobei er über die Frauen in der Küche lästerte. Sein Hintern blockierte den gesamten Eingang. Mit kleinen, vorsichtigen Schritten näherte sie sich. Auf keinen Fall wollte sie mit dem schweren Krug stürzen und die Worte ihres Arbeitgebers vor allen Gästen bestätigen.
»Ich werde jetzt nachgucken, wo Eminda bleibt! Nicht, dass die Weiber den guten Met noch selbst austrinken!« Der Wirt manövrierte sich rückwärts aus dem abgetrennten Bereich heraus. Als er Tara neben sich stehen sah, zuckte er leicht zusammen. »Wie lange stehst du da schon?«, donnerte er sofort los. »Warum hat das so lange gedauert? Der Lord und seine Männer sind durstig.« Kopfschüttelnd blickte er zu seinen Gästen und trat schließlich zur Seite. Er versuchte ständig, seine Angestellten vor allen Leuten bloßzustellen. Vermutlich wollte er dadurch wie ein großzügiger Mann wirken, der den drei Idiotinnen trotz allem Arbeit gab.
Jetzt bloß nichts verschütten!, dachte Tara. Ihr Dienstherr durchbohrte sie förmlich mit seinem Blick, was sie umso nervöser machte. Natürlich hatte die Köchin das Gefäß fast bis zum Rand gefüllt. Bloß nichts verschütten!
Als sie um die Ecke ging und ihren Blick durch das Separée schweifen ließ, erstarrte sie mitten in der Bewegung. Rechts vom Tafelkopf saß ein schwarzhaariger Mann. Als er ihr sein Gesicht zuwandte, wäre ihr um ein Haar der Krug entglitten.
Kreidebleich stolperte Tara in die Küche und stellte den Krug auf der nächsten freien Fläche ab. Sie zitterte am ganzen Körper.»Was ist?«, zischte die Köchin. »Wieso bist du nicht da draußen?«
»Ich … ich fühle mich nicht so gut.« Tara glaubte, ersticken zu müssen. Sie unterdrückte den Impuls, nach draußen in die Dunkelheit zu stürmen – bloß weg von diesem verfluchten Mann!
»Das darf doch …«
In diesem Moment platzte der Wirt herein, packte Tara am Arm und riss sie grob herum. »Was fällt dir ein, uns derart zu blamieren!«, schnauzte er sie mit unterdrückter Stimme an. Speicheltropfen spritzen ihr ins Gesicht. »Geh sofort da raus und schenk den Herrschaften Met ein!«
Ehe sie antworten konnte, rief Eminda: »Ich könnte das doch machen!« Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab.
»Kommt nicht in Frage!«, widersprach der Wirt. »Was sollen unsere Gäste denken, wenn jetzt eine andere ankommt? Lord Erredas wird meinen, dass Tara ihn nicht respektiert. Wer weiß, was dann geschieht! Wir haben einen Ruf zu verlieren.« Wütend funkelte er Tara an. »Ich warne dich! Solltest du nicht auf der Stelle deine Aufgabe erledigen, setze ich dich noch heute Nacht vor die Tür!«
»Aber, aber«, sprang die Köchin überraschend dazwischen. Sie schob ihren aufgebrachten Mann beiseite und drückte Tara einen halb gefüllten Becher Met in die Hand. »Trink, Kindchen! Danach fühlst du dich besser. Wir alle können deine Aufregung verstehen.«
Ihr Mann schnaubte verächtlich. »Können wir das?«
Sie nickte. »Lord Erredas ist schließlich nicht irgendein Lord, sondern die rechte Hand des Königs.«
»Was hat das damit zu tun? Wenn sie sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlt, hätte sie das vorher sagen sollen.«
»Vielleicht habe ich mich erkältet«, versuchte sich Tara verzweifelt an einer Ausrede. All die Monate hatte sie sich den Augenblick vorzustellen versucht, in dem sie auf den Mörder ihres Vaters traf. Nun saß er dort seelenruhig im Schankraum neben Lord Erredas. Offenbar agierte er in den höchsten Kreisen des Reiches. Möglicherweise mordete er sogar mit Segen des Königs. Was soll ich nur tun? Was nur?
Sie trank einen Schluck aus dem Becher. Der heiße Met rann ihre Kehle hinab und füllte ihren Magen mit wohliger Wärme.
»Gut so, Mädchen!«, ermunterte die Köchin sie. Zum ersten Mal seit Monaten zeigte sie so etwas wie Mitleid. Wahrscheinlich befürchtete sie, die hohen Gäste zu brüskieren. »Denk an das Geld! Wenn du die Männer zufrieden stellst, ist dein Auskommen für die nächsten Wochen gesichert – und das von Jadin und Eminda ebenfalls.«
Tara blickte zu den beiden Mägden. Hing deren Schicksal wirklich von ihr ab? In diesem Moment begriff Tara, dass sich ihr eine große Chance offenbarte. Wenn sie gehorchte, hätte sie den ganzen Abend Zeit haben, sich in der Nähe des schwarzhaarigen Mannes aufzuhalten und ihn dabei in Sicherheit zu wiegen. So blieb ihr genügend Zeit zu überlegen, wie sie ihn am besten würde umbringen können.
»In Ordnung«, stimmte sie schließlich zu. »Ich mache es. Aber was soll ich Seiner Lordschaft bloß sagen?«
»Das überlass ruhig mir«, erwiderte der Wirt und drückte ihr den Metkrug wieder in den Arm.
*
Zurück im abgetrennten Bereich, entschuldigte sich der Wirt mit einer übertriebenen Verbeugung vor den Gästen. »Verzeiht die Verzögerung, Eure Lordschaft! Der Met hatte leider nicht die richtige Temperatur. Ihr wisst ja, wie diese Weiber sind. Immerzu muss man ein Auge auf sie haben.«
Am liebsten wäre Tara vor Scham im Boden versunken. Glücklicherweise versperrte der korpulente Wirt sowohl ihr als auch den Herrschaften die Sicht, sodass sie niemandes Blicke ertragen musste. Sie starrte auf den Krug, über dessen Öffnung sich eine Dampf kringelte. Der liebliche Duft des Honigweins stieg ihr in die Nase. Sie wünschte sich, in den bernsteinfarbenen Tiefen versinken zu können.
Schließlich trat der Wirt beiseite und winkte sie hastig in den Bereich hinein. Wie eine Marionette ging sie zum Kopf des Tisches. Dem Lord musste sie zuerst eingießen. Darauf konzentrierte sie sich. Also ging sie zum Kopf der Tafel. Sie wollte gerade nach dem Becher greifen, da räusperte sich der Wirt laut. Irritiert sah sie ihn an. Hatte sie etwas falsch gemacht?
»Es ist schon gut«, mischte sich der Mörder ihres Vaters ein. »Fahr fort!«
»Du hast ihn gehört«, bestätigte Lord Erredas.
Als der Wirt nickte, zog Tara den Becher zu sich heran. Mit beiden Händen hielt sie den Krug, während sie einschenkte. Wie durch ein Wunder gelang es ihr, nichts daneben zu schütten. Anschließend ging sie rechts herum, sodass sie den Mörder zuletzt bedienen würde. Sie spürte seinen Blick auf sich. Auch die anderen Anwesenden sahen sie an. Das Herz schlug ihr bis zum Halse. In ihren Träumen war sie dem Dämon bereits unzählige Male begegnet. Nun wurde ihr erstmals bewusst, dass er sie gar nicht kannte. Sie hatte sich doch im Baumhaus versteckt.
Sie versuchte, so langsam wie möglich zu sein, ohne den Wirt gegen sich aufzubringen. Dieser beobachtete sie nämlich ganz genau. Normalerweise hätte er sie längst vor allen angemault, doch wahrscheinlich wollte er die Situation für die Gäste nicht noch unangenehmer machen.
Schließlich erreichte Tara den vorletzten Becher. Ihr Kleid klebte mittlerweile unter ihren Achseln. Sie konnte ihren eigenen Schweiß riechen. Möglicherweise bildete sie sich das aber bloß ein. Der Mörder ihres Vaters hatte ihr seinen Becher bereits so hingestellt, dass sie bequem würde einschenken können. Mit angehaltenem Atem kippte sie die Kanne, aus der sich prompt ein Schwall Met ergoss, der den Becher verfehlte. Entsetzt sah Tara, wie sich die Pfütze über den Tisch ausbreitete – nicht nur in Richtung des Schwarzhaarigen, sondern auch in die des Lords.
»Verdammt noch mal!«, donnerte die Stimme des Wirts durch das kleine Separée. Er lief zu ihr, packte sie und zog sie mit sich. Vor ihren Augen verschwamm die Welt hinter einem Tränenschleier. Sie hatte alles ruiniert.
*
Mit hochroten Köpfen schimpften der Wirt und seine Frau in der Küche. Viel verstand Tara nicht. Sie weinte und weinte. Alles, woran sie denken konnte, war, dass sie ihre vermutlich einzige Chance verspielt hatte, den Mörder ihres Vaters zu töten. Ihr Dienstherr würde sie nicht mehr in die Nähe der hohen Gäste lassen. Zu allem Überfluss stand sie kurz davor, ihre Arbeit zu verlieren.
Als der Wirt Luft holte, rief Eminda ihm rasch in Erinnerung: »Wir sollten Seine Lordschaft nicht warten lassen!«
Er klappte seinen Mund zu und stieß einen Grunzlaut aus. »Du hast recht. Geh raus und tausch die Tischdecke aus!«
»Was ist mit dem Whisky?«, warf Jadin ein.
»Stimmt!« Er schaute Eminda nach, die soeben die Küche verließ. »Ich warte besser, bis sie wieder da ist.« Als er sich wieder Tara zuwandte, flammte neuerlich Wut in seinen Augen auf. »Pack deine Sachen und verschwinde!«
»Was?«, entfuhr es Tara entsetzt.
»Bist du taub? Du sollst mein Gasthaus verlassen – und zwar sofort. So etwas wie dich kann ich hier nicht gebrauchen. Wir können dankbar sein, wenn Seine Lordschaft uns deinetwegen nicht noch bestraft.«
»Aber ich … Es ist doch dunkel draußen.«
»Das hättest du dir vorher überlegen sollen.«
In diesem Moment berührte die Köchin seinen Arm. »Du darfst Tara nicht hinauswerfen.«
»Nenn mir einen guten Grund, Weib!«, verlangte der Wirt.
»Wer soll mir sonst in der Küche helfen? Jemand muss sich um die Kartoffeln kümmern.«
»Das kann Jadin machen.«
»Nein, sie soll den Teig kneten. Unsere hohen Gäste sind gewiss schon hungrig. Wollen wir sie etwa noch länger warten lassen?«
»Natürlich nicht! Ich will aber nicht riskieren, dass diese tollpatschige Kuh schon wieder etwas anstellt.«
»Ich werde ein Auge auf sie haben.«
Der Wirt starrte sie einen Atemzug lang an. Dann seufzte er. »Na schön, auf deine Verantwortung! Sollte Seine Lordschaft jedoch vorzeitig aufbrechen, werde ich sie rausschmeißen – ganz egal, aus welchem Anlass er geht.«
Tara wischte sich die Tränen fort. »Ich werde dich nicht enttäuschen.«
Er bemaß sie mit einem kurzen, abschätzigen Blick. Dann endlich kehrte Eminda mit der Decke zurück. »Wie ist die Laune Seiner Lordschaft?«, erkundigte er sich bei ihr.
Sie zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen.«
»Hat er sich beklagt?«
»Nein, das nicht …«
»Spuck’s schon aus!«
»Man konnte deine Stimme in der gesamten Schankstube hören. Ich glaube, das war unseren Gästen etwas unangenehm.«
Der Wirt schoss einen giftigen Blick auf Tara ab. »Das ist alles deine Schuld.«
»Sie hat uns Probleme bereitet«, bestätigte die Köchin. »Trotzdem müssen wir jetzt weiterarbeiten. Wie wäre es, wenn du unseren Gästen Met bringst? Ich habe bereits neuen aufgesetzt. Das Essen ist in zwanzig Minuten fertig.« Sie reichte ihm den frisch gefüllten Krug und scheuchte ihn aus der Küche.
*
Innerlich aufgewühlt putzte Tara die Kartoffeln. Ihre Gedanken kreisten um den Mörder ihres Vaters. Es kam ihr so vor, als ob er sie durch die Wände hindurch beobachtete. Natürlich wusste sie, dass sie sich das lediglich einbildete. Ob er auch an sie dachte? Immerhin hatte sie ihn und seinen Herrn um ein Haar mit heißem Met verbrüht. Unwillkürlich berührte sie ihren Anhänger. Darin befand sich ein giftiges Pulver. Sie hatte es im vorletzten Jahr in ihrer Heimatstadt Ebentaaby erworben – ursprünglich, um ihrem tristen Dasein ein Ende zu setzen. Als sie den kleinen Behälter dann in den Händen gehalten hatte, war jedoch überraschend ihr Lebensmut zurückgekehrt. Damals hatte sie beschlossen, ihren Vater zu rächen. Seitdem ertrug sie die Armut und die vielen Rückschläge besser. Es gab immer einen Ausweg.
Hätte ich mich bloß nicht so dumm angestellt! Ich war so dicht davor, ihn zu töten. Sie legte das Küchenmesser an die Kartoffel und schnitt einen dünnen Streifen Schale ab. Vielleicht sollte ich einfach hinübergehen und ihm die Klinge in sein verdammtes Herz rammen. Ich hasse ihn so sehr. Wieso hat er meinen Vater, einen unschuldigen Tuchhändler, ermordet?
»Starr keine Löcher in die Luft!«, riss die Stimme der Köchin sie aus ihren Gedanken. »Die Kartoffeln schälen sich nicht von selbst.«
Tara beeilte sich, die Knollen von den Schalen zu befreien. Anschließend wusch und schnitt sie sie in Scheiben. In einer mit Wasser gefüllten Schüssel überreichte sie sie der Köchin. Die Frau kontrollierte das Ergebnis mit zusammengekniffenen Augen. Schließlich nickte sie und schüttete die Kartoffeln in die Pfanne. Jadin holte die Fladenbrote aus dem Ofen, die sie in mehreren Weidenkörben verteilte und anschließend in den Schankraum brachte. Tara sah ihr nach.
»Jetzt hör schon auf, dir Sorgen zu machen!«, riet die Köchin ihr in erstaunlich freundlichem Tonfall. »Die beiden machen ihre Sache gut, und der Whisky tut sein Übriges. Ist der Lord zufrieden, ist es auch mein Mann.«
Tara nickte, froh darüber, dass die Frau offenkundig glaubte, sie würde um ihre Stelle fürchten. Irgendwo traf das auch zu. Zumindest in dieser Nacht wollte sie ein letztes Mal im Warmen schlafen. Am folgenden Morgen würde sie nämlich das Gasthaus verlassen.
*
Eine gefühlte Ewigkeit später betrat Eminda die Küche. »Geschafft! Unsere hohen Gäste begeben sich gerade auf ihre Zimmer.«
»Sind sie zufrieden?«, erkundigte sich die Köchin.
»Ich denke, schon. Zumindest hat sich keiner beklagt. Verschüttet habe ich auch nichts.« Eminda zwinkerte Tara zu, die das Gesicht verzog. Sofort ging sie zu ihr hinüber und strich ihr über den Arm. »War nicht so gemeint. Lord Erredas scheint das kleine Missgeschick längst wieder vergessen zu haben.«
»Da bin ich aber froh«, betonte die Köchin. »Es wäre unverzeihlich, wenn er anderen Leuten von seinen schlechten Erfahrungen berichten, womöglich sogar behauptet würde, wir hätten einen Anschlag auf ihn verübt.«
»Es war doch bloß ein bisschen Met. Ich denke, es spricht für Seine Lordschaft, dass er gnädig über das Missgeschick hinweggesehen hat.«
»Adelige sind nicht wie wir gewöhnlichen Menschen. Sie poltern nicht herum, sondern lächeln dir ins Gesicht, sodass du glaubst, sie hätten dir verziehen. Das Schlimme ist, dass sie über genügend Macht und Geld verfügen, um dich und deine Familie dauerhaft zu ruinieren.«
Eminda schluckte. »Jetzt machst du mir ein bisschen Angst.«
»Nein, ich warne dich lediglich davor, es dir mit den Mächtigen des Landes zu verscherzen. Wenn sich Seine Lordschaft nicht über das Essen oder die Betten beschwert hat, heißt das noch lange nicht, dass er zufrieden war. Du musst dir auch weiterhin die größte Mühe geben.«
In diesem Moment betrat Jadin die Küche. Auf dem Arm trug sie einen Stapel schmutziges Geschirr.
Tara nahm es ihr ab und stellte es auf die Ablage neben dem Spülbottich. Teller für Teller kratzte sie die Essensreste in den Eimer, in dem schon die Kartoffelschalen lagen.
»Das sieht gut aus«, kommentierte die Köchin zufrieden. »Je weniger übrig geblieben ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass es Seiner Lordschaft gemundet hat.«
Tara nickte lächelnd, doch eigentlich dachte sie über völlig andere Dinge nach. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr, sich zu rächen. Das Gift in ihrem Anhänger reichte für genau einen Versuch und verlor seine Wirkung, wenn es erhitzt wurde. Der Wirt würde sie garantiert nicht mehr in die Nähe der hohen Gäste lassen. Wie also sollte sie den Mörder ihres Vaters dazu bewegen, etwas Kaltes zu essen oder zu trinken? Sollte sie möglicherweise Eminda und Jadin in ihre Pläne einweihen? Nein, ich darf sie auf keinen Fall in meine Angelegenheiten mit hineinziehen. Wenn etwas schiefläuft, werden womöglich auch sie bestraft. Ich muss es allein tun.
*
Als Stunden später die letzten Gäste den Schankraum endlich verlassen hatten, begannen die Aufräumarbeiten. Vergnügt berichteten Eminda und Jadin dabei über die Ereignisse des Abends. Kein einziges Mal meckerte die Köchin, was wahrscheinlich an ihrer eigenen Neugier lag. Natürlich ging es hauptsächlich um Lord Erredas und seine Gefolgschaft. Auch Tara spitzte die Ohren in der Hoffnung, mehr über den Schwarzhaarigen zu erfahren.
»Erst hat Seine Lordschaft den Whisky dankend abgelehnt«, berichtete Eminda.
»Was?«, entfuhr es der Köchin fassungslos. »Der war doch so teuer! Ihr habt ihm hoffentlich etwas anderes angeboten!«
»Er sagte, er wolle kein schweres Gepäck mit auf die Reise nehmen. Insgesamt haben die hohen Gäste nur wenig Alkohol getrunken. Vielleicht mögen sie keinen.«
»Wahrscheinlich wollen sie morgen nicht mit einem Kater durch den Wald torkeln«, mutmaßte Jadin grinsend.
Die Köchin blinzelte. »Wo bleibt eigentlich mein Mann?«
»Er hat Seine Lordschaft nach oben begleitet«, erklärte Eminda.
»Das ist gut. Ich hatte schon befürchtet, er trinkt den Whisky alleine. Er soll ihn morgen früh noch einmal anbieten. Die rechte Hand des Königs muss uns auf jeden Fall in bestmöglicher Erinnerung behalten.«
»Zwei Begleiter Seiner Lordschaft haben die Flasche an sich genommen.«
»Sie haben was?« Fast wäre der Köchin der Topf heruntergefallen, den sie gerade einölte.
Jadin blickte sich kurz um. Mit der Hand vor den Mund erklärte sie leise: »Um ehrlich zu sein, wirkte Lord Erredas nicht wie ein richtiger Herr auf mich. Die meiste Zeit saß er nur schweigend da und überließ seiner Gefolgschaft das Reden und die Entscheidungen.«
»Seine Leute duzen ihn sogar«, brachte Eminda ein, »und sprechen ihn mit seinem Vornamen an: Dhovan. Könnt ihr euch das vorstellen?«
Die Köchin schüttelte den Kopf. »Ungeheuerlich!«
In diesem Moment platzte der Wirt in die Küche. Die Frauen starrten ihn erschrocken an. Ohne ein Wort zu verlieren, riss er Tara den Teller aus der Hand, stellte ihn beiseite und wollte sie mit sich in Richtung Schankraum zerren.
»Was tust du da?«, protestierte seine Frau.
Er schüttelte ihren Arm ab. »Jetzt nicht, Weib! Mach hier sauber, sonst schläfst du heute auf Mehlsäcken.«
Die Köchin blickte ihm empört nach. Tara wollte sie um Hilfe bitten, da wurde sie bereits durch die Tür in den Schankraum hineingeschoben. Auf dem Tresen stand eine kleine Laterne mit einer brennenden Kerze, die kaum die Dunkelheit um sich herum vertrieb. Im Kamin glimmten die Reste eines Holzscheits.
»Bitte!«, flehte Tara leise. »Wirf mich nicht raus! Ich verspreche dir, mich zu bessern.«
Zu ihrer Verwirrung zerrte der Wirt sie in Richtung Treppe. In diesem Moment ahnte sie, was er tatsächlich plante. Sie versuchte, sich loszureißen, doch er hielt sie unbarmherzig fest.
»Du wirst dein Missgeschick bei Seiner Lordschaft wiedergutmachen«, verlangte er zischend von ihr und nahm die Laterne vom Tresen.
Sie starrte ihn entsetzt an. »Das kannst du mir nicht antun!«
»Denk lieber daran, was du uns angetan hast!«
»Ich …«
»Du hast den Met verschüttet.« Er verpasste ihr einen Stoß. »Geh schon!«
Tara presste die Kiefer aufeinander. Ihr Herz raste. Sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Wieso hat der Wirt den Wunsch Seiner Lordschaft nicht abgelehnt? Er sagt den Gästen doch sonst immer, dass das hier kein Hurenhaus ist. Sie dachte an ihren Vater, an ihr Versprechen, daran, dass sie Opfer bringen musste. Über den Lord würde sie vielleicht in die Nähe seines Gefolgmanns, Carrths Mörder, gelangen. Sie hatte gehört, dass es manchen Frauen gelang, zur Mätresse eines Adeligen zu werden und Macht zu gewinnen. Möglicherweise führte das Schicksal sie genau auf diesen Pfad. Sie schluckte. »In … in Ordnung. Ich mache es.«
Der Wirt nickte zufrieden. »Stell den Lord zufrieden, dann hast du es schnell hinter dir. Du weißt doch, wie das geht, nicht wahr?«
»Was?«
»Oder bist du noch Jungfrau?«
»Ich, äh …« Sie hoffte, dass er im Kerzenlicht nicht sehen konnte, wie sie errötete.
»Umso besser!«, erklärte er zufrieden. »Halt einfach still! Der Lord wird schon wissen, was ihm gefällt.«
Tara war zu aufgewühlt, um irgendetwas zu entgegnen. Ehe sie sich versah, schob der Wirt sie die Treppe hinauf. Den Tränen nahe versuchte sie nicht daran zu denken, was gleich passieren würde. An jenem schicksalhaften Frühlingstag vor drei Jahren, an dem ihr Vater ermordet worden war, hatte sie ihre Unschuld verloren. Damals war sie gestorben. Was spielte es für eine Rolle, wenn nun irgendein Mann sie entjungferte? Es handelte sich doch bloß um ihren Körper, nicht wahr?
Der Wirt blieb an der vorletzten Tür im Flur stehen und klopfte an.
Tara hielt den Atem an. Ihr Herz galoppierte so laut in ihrer Brust, dass sie befürchtete, alle im Haus könnten es hören. Sie wünschte sich, die Dielen unter ihren Füßen brächen durch, damit sie hinunterfiele. Hätte der Wirt mit seinem Körper nicht den Weg zur Treppe blockiert, wäre sie davongerannt.
Sie hörte Geräusche hinter der Tür. Was machte der Lord dort drinnen? Sie wagte nicht, sich vorzustellen, was ihr bevorstand. Stattdessen rief sie sich wieder und wieder in Erinnerung, dass sie all das für ihren Vater tat. Schritte näherten sich. Im nächsten Moment öffnete sich die Tür.
Tara starrte auf ein cremefarbenes Leinenhemd und ließ langsam ihren Blick an der schlanken Gestalt hinaufwandern. Im Schankraum hatte Lord Erredas deutlich breiter und größer ausgesehen. Als sie sein Gesicht sah, wich sie entsetzt zurück. Er! Sofort packte der Wirt sie an der Schulter. Sie erstarrte vor Angst.
»Verzeiht die späte Störung, Mylord«, begann der Wirt und versuchte, Tara in den Raum hineinzuschieben. Der Gast trat keinen Zentimeter beiseite. »Ich entschuldige mich noch einmal für das Missgeschick vorhin. Das hätte nicht passieren dürfen. Tara möchte Wiedergutmachung leisten, damit Ihr unser Gasthaus in bester Erinnerung behaltet.«
»Möchte sie das?«, erwiderte Erredas kühl, ohne die Frau auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen.
»Absolut. Wir wissen doch, dass Ihr eine lange und beschwerliche Reise vor Euch habt. Ein junger, warmer Frauenkörper wird euch die nötige Erholung verschaffen.«
Tara spürte, wie Übelkeit in ihr aufstieg. Im Schankraum hatte sie die falsche Person für Lord Erredas gehalten. Nicht der Hüne war es, sondern der Mörder ihres Vaters. Vor ihrem inneren Auge sah Tara bereits, wie er sein Hemd aufknöpfte und sie aufforderte, sich ebenfalls auszuziehen. Oder würde er ihr einfach das Kleid vom Leib reißen und wie ein Tier über sie herfallen? Sie spürte die Hitze seines Körpers, die ihr entgegenschlug – so heiß, dass sie glaubte, verbrennen zu müssen. Panik mischte sich zur Angst. Ihre Beine begannen zu zittern. Jetzt bloß nicht heulen! Da fiel ihr Blick auf den Dolch an seiner rechten Seite.
»Krankheiten braucht Ihr nicht zu fürchten«, pries der Wirt die Ware an. »Ihr wäret der erste Mann zwischen ihren Schenkeln. Was sagt Ihr dazu?«
Anstelle einer Antwort drückte Erredas abrupt die Tür zu.
Mit der Laterne in der Hand starrte der Wirt einige Atemzüge lang verblüfft auf das Holz vor seiner Nase. Offenkundig hatte er sich etwas anderes erhofft. Dann ließ er Tara los und verpasste ihr eine Ohrfeige. »Dumme Gans!«, zischte er. »Was ziehst du für ein Gesicht? Kein Wunder, dass Seine Lordschaft abgelehnt hat! Jetzt denkt er schlecht von mir, weil ich ihm so ein grässliches Weibsstück wie dich angeboten habe.«
Tara ballte vor Wut die Fäuste. Sie wollte sich verteidigen, doch ihre Stimme gehorchte ihr nicht. »Ich werde deinen verfluchten Lord töten!«, wollte sie ihm mit glühenden Wangen entgegenschreien.
»Du brauchst mich gar nicht so blöd anzuglotzen. Ich habe dich gewarnt. Morgen wirst …«
In diesem Moment ging neuerlich die Tür auf. Sofort verstummte der Wirt, setzte ein breites Lächeln auf und wandte sich dem Gast zu. »Eure Lordschaft, kann ich Euch irgendwie dienlich sein?«
Erredas starrte ihn kalt an. Seine Augen funkelten im Kerzenschein. »Ich kann dich durch die Tür hören.«
»Verzeiht meine Unachtsamkeit! Ich mache mir bloß Sorgen, dass Euch Euer Aufenthalt bei uns nicht gefällt.«
»Bislang war alles zu meiner Zufriedenheit.«
»Da bin ich aber erleichtert. Ich möchte wirklich nur das Beste für Euch, und wenn Ihr …«
»Das interessiert mich alles nicht«, unterbrach Erredas ihn unwirsch. »Ich wünsche Ruhe.«
»Ja, das verstehe ich. Ich möchte nur sichergehen, dass Euch nichts fehlt. Ich kann Euch auch eine andere Frau bringen, falls Tara nicht Eurem Geschmack entspricht.«
Erredas verzog das Gesicht. »Bietest du jedem Gast deine Bediensteten an?«
Der Wirt stutzte. »Nein, natürlich nicht! Ihr seid die große Ausnahme. Hätte die dumme Pute den Met nicht verschü…«
»Das ist längst vergessen. Geh jetzt besser!«
Unschlüssig starrte der Wirt sein Gegenüber an. Obwohl er den Lord um eine halbe Kopflänge überragte, wirkte er doch kleiner. Wahrscheinlich versank er in diesem Augenblick genauso vor Scham im Boden wie Tara.
Schließlich nickte er und trat zurück. In der nächsten Sekunde musste er der Tür eine gute Nacht wünschen.
Zurück im Erdgeschoss packte der Wirt Tara am Kragen. »Ein Wort zu meiner Frau, und du fliegst im hohen Bogen raus, verstanden?«
Tara nickte.
»Wie war das?«
»Ich sage kein Wort.«
»Sehr gut.« Er ließ sie wieder los. »Betrachte dies als die letzte Chance, die ich dir gewähre. Der heutige Tag war eine Katastrophe. Du trägst einen großen Anteil daran. Zur Strafe schläfst du in der Küche. Morgen früh stehst du als erste auf und erledigst alles, was heute liegen geblieben ist.«
Tara nickte erleichtert.
*
In der Nacht wagte Tara kaum, ein Auge zuzumachen. Zu sehr fürchtete sie, den Sonnenaufgang zu verpassen. Außerdem überfielen sie ständig Alpträume. In allen davon kam Lord Erredas vor. Wenn er nicht gerade versuchte, sie mit einem Schwert zu töten, drängte er sie in eine Ecke, um ihr andere Dinge anzutun. Zum Glück schrak sie immer im letzten Moment hoch, bevor er sich das Hemd vollends über den Kopf ziehen konnte.
Als der erste schwache Schein des Tages durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden schimmerte, wälzte sich Tara von dem Mehlsack herunter, auf dem sie gelegen hatte. Sie lauschte. Das Gebälk knarzte wie immer, doch sie glaubte, auch leise Schritte zu hören. Sie hoffte, dass ihr noch ein bisschen Zeit blieb, ehe die Köchin oder gar der Wirt in die Küche kamen.
Nachdem sie einen Schluck kalten Met vom Vorabend getrunken hatte, suchte sie sich einen Korb, in den sie ein Tuch, einen schrumpeligen Apfel sowie ein paar Brot- und Wurstreste legte. Mangels eines Trinkschlauchs packte sie auch einen der halb mit Wasser gefüllten Tonkrüge ein. Zum Frühstücken blieb ihr keine Zeit mehr.
Anschließend setzte sie sich auf den Schemel. Sie zog den Rock ihres Kleides hinauf und kontrollierte die Bänder, die die kleine Tasche mit ihren Ersparnissen an ihrem Oberschenkel hielt. Viel Geld befand sich nicht darin, doch das spielte nun keine Rolle mehr. Tara hatte den Mörder ihres Vaters längst gefunden. Nun musste sie ihn bloß noch töten. Allerdings konnte sie das nicht im Gasthaus tun, denn der Wirt würde sie garantiert nicht mehr in seine Nähe lassen. Deshalb wollte sie dem Lord im Wald überraschen.
Ihr Blick fiel auf ihr Lieblingsmesser, das sie so gerne für ihre Übungen benutze. Obwohl das schlechte Gewissen wegen des Diebstahls an ihr nagte, legte sie es in den Korb. An diesem Morgen stahl sie zum ersten Mal in ihrem Leben. Ein Teil von ihr redete sich ein, dass sie alles später zurückgeben würde. Der andere rechnete damit, dass sie den Tag nicht überlebte. Möglicherweise würde es ihr gelingen, den Lord zu besiegen, doch seine sieben Lakaien würden sie dafür bestimmt töten.
Ihr dunkelgrauer Wollumhang hing neben der Küchentür, die nach draußen führte. Sie zog ihn an. In die Dachkammer musste sie sich nicht mehr begeben, denn bis auf das, was sie am Leib trug, besaß sie nur noch ein mottenzerfressenes Ersatzkleid. So leise wie möglich schob Tara den Riegel zurück und zog die Tür ein Stückchen auf. Das Quietschen kam ihr furchtbar laut vor. Einen Augenblick lang lauschte sie. Nach wie vor schien sich nichts im Haus zu rühren.
Noch einmal kontrollierte Tara den Inhalt ihres Korbs, prüfte ihre Schuhe, ihr Kleid, ihren Anhänger sowie den Sitz des Umhangs.
Tara schlüpfte durch die Küchentür ins Freie. Eine Windböe zerrte an ihrer Kleidung und ließ sie frösteln. Sie blickte zum Himmel hinauf, der in einem blassblauen Ton den Beginn eines neuen Tages verkündete. Leise zog sie die Tür hinter sich zu.
*
Schwaches Licht fiel durch die Baumkronen, in denen der Wind rauschte. Die ersten Vögel zwitscherten bereits. Vorsichtig schritt Tara den Pfad entlang, den in einigen Stunden hoffentlich auch Lord Erredas – nein Dhovan! – nehmen würde. Sie weigerte sich, dem Mörder ihres Vaters auch nur eine Sekunde länger Respekt zu erweisen. In ihren Augen war er kein Adeliger, sondern ein mieses Schwein.
Alle paar Meter prangte ein geritztes X in der Rinde eines Baumes, das den Weg durch den Wald markierte. Sie folgte den Furchen, die die Karren im Laufe der letzten Jahre oder Jahrzehnte hinterlassen hatten. Zum Glück wies der Boden nur hier und dort matschige Stellen auf, sodass sie gut vorankam. Immer wieder schaute sie zurück, weil sie befürchtete, verfolgt zu werden. Sie drückte den schweren Korb eng an sich, um ihn besser tragen zu können.
Es ist nicht mehr weit, dachte sie.
In den Wintermonaten hatte sie bei ihren Schwertkampfübungen unter anderem diesen Teil des Waldes erkundet. Es gab eine Stelle, wo der Pfad sich zwischen zwei kleineren Hügeln hindurchschlängelte. Dort lag auch ein riesiger Ast mitten auf dem Weg, der Wanderer dazu zwang, langsamer zu werden. Der Ort eignete sich hervorragend für einen Hinterhalt.
Nach rund einer Stunde erreichte Tara ihr Ziel. Alles war noch genau so, wie sie es in Erinnerung hatte. Sie blieb stehen. Unschlüssig sah sie sich um. Sollte sie sich einfach auf den Ast setzen oder besser ein Versteck suchen? Sie entschied sich für letzteres und stieg über das Hindernis. Wenige Meter den Hügel hinauf wuchs eine mächtige Eiche. Von dort aus konnte Tara einen Teil des Pfades sehen. Sie stellte ihren Korb ab und ließ sich auf einer der Wurzeln nieder.
Ein lautes Knacken ließ sie erschrocken herumfahren. Mit weit aufgerissenen Augen sondierte sie die Umgebung. Das Zwitschern der Vögel klang merkwürdig fern. Um sich herum hörte sie vereinzeltes Rascheln und Räuspern, Knirschen und Knacken. Doch immer wenn sie hinsah, konnte sie den Urheber der Geräusche nirgendwo entdecken.
Vorsorglich legte sich Tara das Küchenmesser griffbereit in den Schoß. Um sich von ihrer Angst abzulenken, konzentrierte sie sich auf ihre bevorstehende Aufgabe. Wieder und wieder spielte sie ihren Plan im Kopf durch. Mit dem Korb wird Dhovan bestimmt glauben, dass ich lediglich Pilze sammele, überlegte sie. Er wird mich für harmlos halten. Auf diese Weise könnte ich dicht genug an ihn herankommen.
Unwillkürlich überfielen sie die Erinnerungen an die vergangene Nacht. Dhovan hatte keine zwei Schritte von ihr entfernt gestanden. Noch immer konnte sie die Hitze seines Körpers spüren, obgleich sie wusste, dass es sich um Einbildung handelte. Sie schämte sich für das, was geschehen war. Die erste Begegnung mit dem Mörder ihres Vaters hatte sie sich anders vorgestellt. Heroischer. Es machte sie wütend, so schwach zu sein.
Über sich selbst den Kopf schüttelnd biss Tara ein Stück von der Wurst ab. Gedankenverloren kaute sie darauf herum. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie sich fragte, was wohl geschehen wäre, hätte Dhovan das Angebot des Wirts angenommen. Wie hätte sie reagiert? Hätte sie alles über sich ergehen lassen? Sie wusste es nicht.
Obwohl sich nichts dergleichen ereignet hatte, fühlte sie sich, als hätte er sie in der vergangenen Nacht entehrt. Ihr Verstand gaukelte ihr sogar vor, sie hätte nackt vor Dhovan auf dem Flur gestanden. Wie konnte sie sich für etwas schämen, das gar nicht passiert war?
Nachdem sie ihr bescheidenes Frühstück beendet hatte, strich sich Tara die Krümel vom Kleid. Fürs erste war sie satt, doch woher sie ihre nächste Mahlzeit bekommen sollte, stand in den Sternen. Sie sah zum Himmel hinauf, der durch die Baumkrone hindurchblitzte. Mittlerweile dürften alle im Gasthaus wach sein. Bestimmt hat man auch mein Fehlen bemerkt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Mit dem Finger strich Tara behutsam über die zerkratzte Klinge auf ihrem Schoß. Sie erinnerte sich an ihren Vater, wie er gekrümmt im Gras gelegen hatte, das Hemd blutgetränkt. Die Halme um ihn herum hatten feucht geschimmert. Als sie seine Schulter berührt hatte, war er noch ganz warm gewesen, als ob er lediglich geschlafen hätte.
Während Tara an jenen Moment dachte, glaubte sie, die Sonnenstrahlen von damals zu spüren, die durch den Stoff ihres Kleides sickerten, ganz warm. Damals war er ihr so unwirklich erschienen, dieser Moment. Sie hatte sich zu ihrem Vater ins Gras gelegt und sich an ihn geschmiegt, hatte ihm dorthin folgen wollen, wo auch immer er sich nun befand.
Nun, drei Jahre später, lauerte sie allein im Wald seinem Mörder auf. Erstmals kamen ihr Zweifel an ihrem Plan. Würde sie überhaupt eine Chance gegen Dhovan haben? Was würde er mit ihr machen, falls sie ihn nicht besiegen konnte? Nervös knabberte sie an ihrer Unterlippe. Sie wünschte sich, ihr Vater würde zwischen den Bäumen auftauchen und ihr sagen, dass er gar nicht gestorben war, dass er überall nach ihr gesucht hätte, dass nun alles wieder gut werden würde. Ohne ihn fühlte sie sich so verloren.
Da bemerkte Tara mit einem Mal eine Bewegung vor sich zwischen den Bäumen. Als sie den Hals reckte, sah sie, dass eine Gruppe in ihre Richtung kam. Ihr Herz machte einen Sprung. Das muss er sein!
Leise erhob sie sich von der Wurzel und atmete tief durch. Unschlüssig biss sie sich auf die Unterlippe. Noch hatte Dhovan sie nicht bemerkt. Noch konnte sie ungesehen verschwinden. Sie blickte auf das Messer in ihrer Hand. So viele Jahre hatte sie auf diese Chance gewartet. Warum überkamen sie ausgerechnet in diesem Moment Zweifel? Insgeheim hoffte sie, dass sich dort jemand anders auf dem Weg befand. Sie brauchte mehr Zeit.
Bevor es zu spät war, gab sich Tara einen Ruck und hob den Korb auf. Wo sollte sie das Messer verstecken, ohne dass sie verdächtig aussah? Im Korb? Sie würde Bewegungsfreiheit brauchen, um zustechen zu können. In ihrer Vorstellung hatte bis vor kurzem alles Sinn ergeben, doch nun drohte ihr Plan an der Wirklichkeit zu scheitern. Kurz entschlossen legte sie das Messer in den Korb und stieg den kleinen Abhang hinunter.
Auf dem Weg angekommen blickte sie sich noch einmal kurz um. Sie wurde das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Wusste Dhovan etwa Bescheid und versuchte, sie in eine Falle zu locken? So ein Unsinn!, widersprach sie sich selbst in Gedanken. Niemand im Gasthaus oder im Dorf weiß von meiner Vergangenheit oder meinem Plan.
Tara setzte sich langsam in Bewegung. Ihr Herz raste vor Aufregung. Sie tat so, als ob sie im Korb herumwühlen würde. In Wahrheit hielt sie das Messer umklammert.
Wenige Sekunden später tauchte der hünenhafte Mann vor ihr auf, den sie am Abend zuvor fälschlicherweise für den Lord gehalten hatte. Hinter ihm folgten Dhovan und die übrigen sechs. Tara spürte die misstrauischen Blicke der Männer, wagte jedoch nicht, sie zu erwidern. Sie fürchtete, sonst erkannt zu werden. Niemand begrüßte sie, und sie schwieg ebenfalls. Der Hüne umrundete sie mit etwas Abstand, wobei er den schmalen Weg verlassen musste.
Als sich der Lord nur noch wenige Schritte von ihr entfernt befand, schleuderte sie den Korb beiseite. Blitzschnell stürmte sie auf den Mann zu. Kurz bevor sie ihm das Messer in den Bauch rammen konnte, wurde sie zu Boden gestoßen.
Als Tara die kalte Klinge eines Schwertes an ihrem Hals spürte, sah sie ihr Leben bereits enden. Sie konnte sich nicht rühren. Die Welt schien stehen geblieben zu sein, genau wie in jenem Moment, als ihr Vater gestorben war. Sie spürte, wie sich eine unsichtbare Klinge in ihr Herz bohrte.
»Dreh dich um!« Die Stimme hinter ihr ließ sie zusammenzucken.
Vorsichtig drehte Tara ihren Kopf. Sie schaute zu dem Hünen hinauf, der sie zornig anfunkelte, doch nicht er hatte gesprochen. Ihr Blick wanderte weiter und traf schließlich den des Dämons. Beschämt wich sie ihm aus. Noch immer kniete sie auf dem Waldboden. In der Hand hielt sie das Küchenmesser, doch der Mut hatte sie mit einem Mal verlassen.
»Du bist die Frau aus dem Gasthaus«, stellte Dhovan fest. »Weshalb hast du mich angegriffen?«
Sie musste ihre gesamte Kraft aufwenden, um nicht zu weinen. In den vergangenen Jahren hatte sie viel darüber nachgedacht, was sie dem Mörder ihres Vaters sagen würde, doch in diesen Sekunden war ihr Kopf wie leergefegt.
»Mach dein Maul auf!«, bellte der Hüne und drückte ihr die Schneide fester gegen den Hals. Er wartete nur darauf, sie auf Befehl seines Herrn in Stücke zu hacken.
»Lass sie!«, bestimmte Dhovan ruhig, woraufhin sein Gefolgsmann das Schwert zurückzog. »Tara, nicht wahr?«
Ihren Namen aus seinem Mund zu hören, ließ Übelkeit in ihr aufsteigen.
»Ich kann mir vorstellen, woher deine Wut rührt, doch mich trifft keinerlei Schuld. Geh einfach heim, und ich werde vergessen, dass du versuchst hat, mich zu töten.«
Sie wagte kaum, ihn anzusehen. Für sie existierte kein »heim« mehr. Er hatte es ihr genommen.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte er sich schließlich um und setzte seinen Weg fort. Seine Leute folgten ihm, wobei sie Tara mit feindseligen Blicken bedachten. Anscheinend gefiel es ihnen nicht, dass ihr Herr sie einfach so davonkommen ließ. Dennoch stellte niemand seinen Entschluss in Frage.
Aufgewühlt blickte Tara den Männern nach. Sie hätte heulen können. Wieso musste sie sich immer wieder aufs Neue vor dem Mörder ihres Vaters blamieren? Zu allem Überfluss verschonte er sie auch noch, anstatt sie von ihrem Elend zu befreien. Wollte er sie etwa demütigen, ihr zeigen, dass allein er über Leben und Tod entschied? Ich darf ihn nicht entkommen lassen!
Ohne weiter nachzudenken, raffte Tara sich auf und rannte Dhovan hinterher. Bevor sie auch nur in seine Nähe kam, packte der hinterste Mann sie und und stieß sie zurück. Sie richtete das Küchenmesser auf ihn.
»Wenn du das nicht sofort bleiben lässt, breche ich dir den Arm«, warnte er sie grimmig.
Endlich blieb auch der Rest der Gruppe stehen und drehte sich zu ihr um.
Dhovan stand ungefähr vier Meter von ihr entfernt, kam jedoch nicht näher. »Was willst du?«, fragte er. Seine Stimme klang nun deutlich weniger ruhig. »Verschwinde einfach!«
Auch seine Männer wirkten alarmiert. Misstrauisch sahen sie sich im Wald um, als ob sie einen Hinterhalt vermuteten. Offenbar glaubten sie nicht, dass eine Frau es allein mit ihnen aufnehmen wollte. Sie irrten sich.
Tara versuchte, sich aus dem Griff des Mannes zu befreien, der sie gepackt hielt. Erst als er ihr das Messer abgerungen hatte, ließ er sie los und trat einen Schritt zurück.
Wütend richtete sie sich ihr Kleid und reckte das Kinn. Allen Mut zusammennehmend verkündete sie: »Ich werde nicht eher gehen, bis ich dich getötet habe oder selbst getötet werde.« Ihr Herz klopfte so laut, dass sie sich nicht sicher war, ob sie überhaupt etwas gesagt hatte.
Die Männer starrten sie einen Augenblick lang ungläubig an, bis einer von ihnen losprustete. Alle bis auf Dhovan brachen in schallendes Gelächter aus.
»Und wie willst du das anstellen?«, fragte er Tara kühl. Der Blick seiner grünbraunen Augen schien bis in das Innerste ihrer Seele hinabzureichen.
»Ich will mit dir kämpfen.« Ihre Handflächen schwitzten, und ihre Knie fühlten sich so weich wie Hefeteig an. Sie hoffte, dass der Dämon ihre Angst nicht witterte. Wenn er sie neuerlich aufforderte, zu gehen, würde sie es ohne zu zögern tun.
Seine Männer grinsten breit, als hätte sie den Witz des Jahrhunderts gemacht. Dhovan hingegen wirkte alles andere als amüsiert. »Du weißt, dass du nicht die geringste Chance gegen mich hast, oder?«
Sie dachte an ihren Vater, an das, was sie verloren hatte. Fast vier lange Jahre hatte sie auf diesen Moment gewartet. So kurz vor dem Ziel durfte sie nicht aufgeben. »Das ist mir gleichgültig«, entgegnete sie und brachte sogar den Mut auf, Dhovans Blick standzuhalten. »Wenn nötig, werde ich dich bis ans Ende der Welt verfolgen.«
»Die Frau ist verrückt!«, bemerkte einer der Männer.
Tara ließ sich davon nicht verunsichern.
Ich werde ihn besiegen!
Dhovan stieß einen resignierten Seufzer aus. »Na schön, du sollst deinen Kampf bekommen. Gewinne ich, kehrst du ins Dorf zurück und behelligst uns nicht weiter. Bist du damit einverstanden?«
»Dhovan!«, beschwerte sich der Hüne. »Lass dich nicht auf dieses Theater ein! Das ist doch völlige Zeitverschwendung.«
»Bist du einverstanden?«, wiederholte Erredas eine Spur lauter, ohne Tara auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
»Das bin ich«, antwortete sie entschlossen.
»Gib ihr dein Schwert, Dreen!«
Der Hüne stutzte. »Was?«
»Dein Schwert. Gib es ihr!« Mit einer geübten Bewegung schnallte sich Dhovan seine Waffe vom Rücken. Er zog sie aus der Scheide, die er einem seiner Männer reichte.
Mit widerwilliger Miene legte Dreen sein Schwert auf den Boden und trat zurück. »Los, nimm es dir!«, forderte er Tara auf.
Misstrauisch sah sie erst ihn, dann Dhovan und schließlich die anderen Männer an. Sie konnte nicht fassen, dass der Lord tatsächlich in den Kampf eingewilligt hatte.
»Mach schon! Wir haben nicht ewig Zeit«, maulte der Hüne.
Ignoriere ihn! Normalerweise führen Frauen keine Schwerter. Er weiß nicht, dass du in den letzten Monaten geübt hast.
Entschlossen bückte sie sich und packte den Griff von Dreens Schwert. Er fühlte sich widerlich warm an. Fast hätte sie ihre Hand wieder zurückgezogen. Sie umfasste den Griff mit beiden Händen, spannte ihre Muskeln an und riss die Waffe hoch. Überrascht von dem leichten Gewicht hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren.
»Das ist ein Schwert, keine Bratpfanne«, kommentierte Dreen trocken.
Sie schoss einen giftigen Blick auf ihn ab.
»Fang an!«, forderte Dhovan sie auf, woraufhin seine Leute Platz machten.
Tara presste die Kiefer aufeinander. Sie fühlte sich wieder wie in jenem Moment im Baumhaus, als ihr Vater von mehreren Männern im Garten eingekesselt worden war: gelähmt und ängstlich. Damals hatte sie ihren Vater im Stich gelassen. Sie schuldete ihm, dass sein Mörder durch ihre Hand starb.
Tara atmete tief durch. Eine ungeahnte Kraft ergriff Besitz von ihr. Es kam ihr vor, als würde ihr Vater unsichtbar mit ihr das Schwert halten. Sie stürmte auf Dhovan zu, der viel zu langsam seine Waffe hob. Sie hatte ihn schon fast aufgespießt, da wich er mit einem Mal blitzschnell zur Seite aus aus und schlug ihr gegen den Arm. Tara geriet ins Stolpern. Das Schwert entglitt ihrer Hand und fiel zu Boden. Anstatt nun seinerseits anzugreifen, stand Dhovan bloß abwartend da.
Wütend und enttäuscht ballte sie die Fäuste. Nein, sie würde ihm definitiv nicht den Gefallen tun, aufzugeben! Sie würde bis zum bitteren Ende kämpfen! Entschlossen bückte sie sich nach dem Schwert. Sie hoffte, dass der Kampf nicht mehr allzu lange dauern würde.
Plötzlich bemerkte sie im Augenwinkel, wie die Männer um sie herum ihre Waffen hinter ihren Rücken hervorholten. Panik ergriff sie. Wollten sie sie jetzt etwa töten? Ihr Blick schnellte zu Dhovan hinauf, dessen Aufmerksamkeit längst nicht mehr ihr galt. Verwirrt sah sie sich um. Von allen Seiten kamen düster aussehende Gestalten mit gezogenen Waffen aus dem Unterholz.
Tara wollte das Schwert aufheben, doch Dreen stieß sie zur Seite und nahm es an sich.
»Wer von euch ist Lord Erredas?«, verlangte einer aus der Bande zu wissen, vermutlich der Anführer. Immer mehr seiner Leute kamen aus dem Unterholz, so schnell konnte Tara gar nicht zählen. Er deutete auf Dreen. »Du?«
Der Hüne antwortete ihm nicht.
»Was willst du von mir?«, fragte Dhovan nun. Seine Stimme klang merkwürdig gelassen.
Der Anführer der Räuber entblößte sein lückenhaftes Gebiss. »Los, Männer!«, rief er. »Tötet alle bis auf den Lord!«
Instinktiv ergriff Tara die Flucht. Sie drängte sich an Dhovans Männern vorbei. Keiner von ihnen schenkte ihr noch Beachtung. Sie wich zwei Räubern aus, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie sie oder doch die Gefolgschaft des Lords attackieren sollten. Weil der Weg blockiert war, rannte sie den Hügel hinauf. Ihre Schuhsohlen rutschten auf dem halb zerfallenen, nassen Laub, doch immerhin kam sie voran.
Plötzlich sprang vor ihr ein Räuber hinter einem Baum hervor. In seiner rechten Hand blitzte die Klinge eines Messers auf. »Wo willst du denn hin?«, fragte er mit einem hämischen Grinsen.
Ohne zu zögern, schlug Tara eine andere Richtung ein. Sie stürmte an den Bäumen parallel zum Kampfgetümmel vorbei und lief den Hügel abwärts, bis sie auf den freien Weg in Richtung des Dorfes stieß, und rannte weiter. Hinter sich hörte sie schwere Schritte. Plötzlich spürte sie einen heftigen Stoß gegen ihre linke Kniekehle, der sie bäuchlings zu Boden stürzen ließ. Ehe sie sich wieder aufraffen konnte, drückte etwas auf ihren Rücken und presste ihr die Luft aus der Lunge.
»Den ganzen Morgen habe ich mich schon auf dich gefreut«, raunte ihr der Räuber ins Ohr. Er begann, an dem Rock ihres Kleides zu zerren und ihre Beine zu entblößen. Seine schwieligen Hände rieben an ihrer Haut.
Tara versuchte, sich zu wehren. Mehr als mit den Armen und den Beinen strampeln konnte sie jedoch nicht. Sein Gewicht lastete nach wie vor auf ihrem Rücken. Die Kraft wich zusehend aus ihr. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie griff nach einem Stein, den sie nach ihrem Peiniger warf.
»Oh ja, wehre dich ruhig!«, grunzte der Räuber. »So gefällst du …«
»Krogg!«, rief jemand, der ihn für einen Moment innehalten ließ.
»Scheiße, was ist denn?«
»Hilf uns gefälligst!«
Krogg stieß einen entnervten Seufzer aus. »Komme ja schon!« Er drückte Taras Kopf auf den Boden und beugte sich zu seiner Beute hinunter, bis seine Nase dicht über ihrer linken Wange hing. »Du wartest hier schön auf mich«, flüsterte er und leckte mit seiner schleimigen Zunge über ihr Gesicht.
Tara kämpfte gegen die Übelkeit an. Ihr Herz raste wie verrückt. Regungslos wartete sie auf den richtigen Moment, um aufzuspringen und davonzurennen.
Endlich ließ der Mann ihren Kopf los. Er drückte ihr rechtes Handgelenk auf den Boden und verlagerte sein Gewicht. Im nächsten Augenblick spürte sie einen stechenden Schmerz in ihrer Hand. Mit einem spitzen Aufschrei warf sie den Kopf herum. Da sprang der Räuber auf und trat mehrfach auf den Schaft seines Messers, mit dem er ihre Hand am Boden festnagelte.
»Ich komme bald wieder«, versprach er Tara, die kurz darauf in Dunkelheit versank.
Hinter sich hörte Tara das Schlagen von Metall auf Metall, Stöhnen und Schreien von Männern. Sie riss die Augen auf. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie sich befand. Sie blinzelte den Nebel vor ihren Augen fort. Vor sich sah sie ihre aufgespießte Hand.
Sofort durchzuckte Tara ein pulsierender Schmerz, der von der Klinge abstrahlte. Sie wollte schreien, doch mehr als ein Stöhnen brachte sie nicht zustande. Vorsichtig schob sie ihren freien Arm unter sich und richtete ihren Oberkörper auf. Übelkeit kroch ihre Kehle hinauf.
Sie versuchte, den Schmerz mit Willenskraft zu verdrängen. Tatsächlich ließ er ein bisschen nach. Sie blickte zu den Kämpfenden hinüber, konnte die Männer jedoch nicht von einander unterscheiden. Ich muss hier weg!
Jemand kam auf sie zu. Er trug ein Schwert, von dem Blut tropfte. Sie ließ ihren Blick nach oben wandern. Mörder! Panik stieg in ihr auf. Sie versuchte, nach dem Messer zu greifen, das in ihrer Hand steckte, da zog ihr mit einem Mal jemand von hinten an den Füßen. Schmerzerfüllt schrie sie auf. Im nächsten Augenblick lag sie mit fast ausgestreckten Armen auf dem Boden. Sie strampelte, doch die Kraft verließ sie. Schwer atmend blieb sie liegen.
Dhovan ging neben ihr in die Knie und legte sein blutiges Schwert hin. Er packte sie bei den Haaren, riss ihren Kopf hoch und zwang sie, ihr Gesicht in seine Richtung zu drehen. »Das war ein großer Fehler, Tara.«
Schwarze Kreise tanzten vor ihren Augen. Ihr gelang es kaum, ihren Blick zu fokussieren. »Ich habe nichts damit zu tun«, presste sie hervor, auch wenn sie nicht genau wusste, was er meinte.
»Du behauptest also, dass es sich um puren Zufall handelte, dass uns die Räuber an genau derselben Stelle überfallen wollten wie du?«
»Lass mich los!«
»Beantworte meine Frage!«, verlangte er mit Nachdruck und verstärkte seinen Griff.
»Ja, Zufall!«
Dhovan sah zu jemandem hinüber, der sich irgendwo hinter ihr befand.
»Es könnte stimmen«, sprach eine ihr unbekannte Stimme. »Wenn sie zusammengehörten, warum sonst sollte einer der Räuber sie mit einem Messer am Boden festnageln?«
»Da fallen mir einige Gründe ein«, hielt ein anderer Mann dagegen.
»Zum Beispiel?«
»Die Räuber haben ihr gewiss verschwiegen, dass sie im Anschluss über sie herfallen wollten. Als sie floh, stellten sie kurzerhand sicher, dass sie bis zum Ende bleiben würde.«
»Es könnte genauso gut sein, dass sie eine ahnungslose Frau uns ablenken ließen, während sie uns umzingelten. Sämtliche Nachbardörfer wussten, dass wir heute diese Stelle passieren würden. Sie liegt strategisch günstig für einen Überfall auf Durchreisende.«
»Also brauchten sie für ihre Pläne keine Helferin.«
»Hätten die Räuber sie vorher überfallen, hätten wir die Spuren gesehen und wären gewarnt gewesen.«
»Trotzdem halte ich es für unglaubwürdig, dass uns eine einzelne Frau überfallen wollte. So töricht kann niemand sein.«
Dhovan musterte Tara einige Sekunden lang nachdenklich, ehe er fragte: »Hat der Wirt dich entlassen?«
»Nein«, antwortete sie.
Erneut tauschte er einen Blick mit seinen Männern aus, dann ließ er ihr Haar los. Ihr Hinterkopf kribbelte. Sie ließ ihre Stirn einen Moment lang auf dem Boden ruhen, dann versuchte sie, sich das Messer aus ihrer Hand zu ziehen.
Dhovan hielt ihren Arm fest. »Das solltest du besser nicht tun. Du würdest bloß Erde durch die Wunde ziehen.«
Tara schüttelte seine Hand ab und schluckte den Speichel herunter, der sich in ihrem Mund gesammelt hatte. Sie verspürte zu große Schmerzen, als dass sie noch groß Widerworte geben konnte. So gerne sie vor dem Mörder ihres Vaters stark erscheinen wollte, ihr fehlte einfach die Kraft. Erschöpft legte sie die Stirn wieder auf den kalten Waldboden. Warum konnte diese Bestie ihrem Leben nicht einfach ein Ende setzen?
»Bartek, hilf mir mal kurz!«, wies Dhovan einen seiner Männer an.
Im nächsten Moment drückte etwas Schweres auf ihren Rücken. Sie versuchte, sich zu befreien, doch ihr Peiniger ließ nicht von ihr ab. Tränen schossen ihr in die Augen vor Schmerz, Wut und Verzweiflung. Sie wollte sich nicht von dem Mörder ihres Vaters demütigen lassen. Sie wollte, dass er sie in Ruhe ließ. Was ging es ihn an, ob Schmutz in ihre Wunde kam?
Neben ihr ging ein Mann in die Hocke. Einen Augenblick lang sah er sie mitleidig an. Dann zog er ihre Hand mit einem Ruck samt Dolch vom Waldboden ab. Mit einem Tuch säuberte er die Klinge von der blutigen Erde. Jemand reichte ihm die Whiskyflasche aus dem Gasthaus.
Tara wollte protestieren, da schüttete er bereits die teure Flüssigkeit über ihre Hand. Gequält schrie sie auf. Ihr gelang es, ihren Arm loszureißen, doch Bartek packte ihn sofort wieder.
Der Hüne trat neben ihn. »Warum haltet ihr euch mit dieser Frau auf? Wegen ihr haben wir bereits kostbare Zeit verloren.«
»Halte doch einfach ihren Arm fest, dann dauert es nicht so lange!«, schlug Bartek vor.
»Ich könnte auch das Messer nehmen.«
»Dann eben das.«
Bevor Dreen die Klinge vollends aus ihrer Hand ziehen konnte, versank Tara neuerlich in Dunkelheit.
*
Als Tara wieder erwachte, war es im Wald deutlich heller als zuvor. Sie lag direkt neben einem Baum und schaute am Stamm entlang in das Geäst hinauf. Die Blätter raschelten im Wind. Alles wirkte so friedlich. Da beugte sich mit einem Mal ein Schatten über sie. Nach und nach schälten sich Details heraus: ein freundliches Gesicht, dunkelblonde Locken. Bartos? Barek? Der Mann half ihr, sich aufzurichten und setzte ihr einen Trinkschlauch an die Lippen. Als sie danach greifen wollte, verzog sie vor Schmerz das Gesicht.
»Tut ganz schön weh, was?«, fragte er. »Ich könnte dir etwas von dem Whisky bringen, wenn du willst.«
Schweigend betrachtete Tara den rechten Ärmel ihres dunklen Kleides. Am Saum war er fast schwarz. Ihre Hand steckte in einem dicken, blutdurchtränkten Verband.
»Du wirst es überleben«, meinte Bartek. Sie erinnerte sich wieder an seinen Namen. »Und jetzt trink!«
Vorsichtig nahm sie den ledernen Schlauch mit ihrer gesunden Hand. Sie ließ ein paar Tropfen auf ihre Lippen fallen. Dann gab sie das Gefäß Bartek zurück. Sie wollte nicht, dass dieser Mann ihr half.
Er hob die Augenbrauen. »Du brauchst nicht bescheiden zu sein.«
»Ich bin nicht durstig.« Aus dem Augenwinkel sah sie jemanden auf sich zukommen. Sie ahnte bereits, um wen es sich handelte. Am liebsten wäre sie vor Scham im Boden versunken. Als Dhovan neben ihr in die Hocke ging, unterdrückte sie den Impuls, von ihm fortzurücken. Stattdessen wandte sie ihr Gesicht ab. Er sollte sie nicht in diesem Zustand sehen. Obwohl er sich in gebührlichem Abstand zu ihr aufhielt, spürte sie die abstoßende Hitze, die sein Körper abstrahlte.
Ohne es zu wollen, ballte sie die Fäuste, nur um es sofort zu bereuen. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn. Sie schluckte und versuchte, ihre rechte Hand zu entspannen. Warum musste sie bloß alles falsch machen?
Vermutlich ergötzte sich der Lord gerade an ihrem Elend. Immerhin hatte sie versucht, ihn umzubringen, und erhielt nun ihre gerechte Strafe.
»Wenn du es wünschst, begleitet dich Bartek ins Dorf zurück«, bot er ihr überraschend an.
Im ersten Moment wusste sie nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie konnte nicht ins Dorf zurück, doch das wollte sie ihm nicht verraten. »Ich will dein Mitleid nicht.«
»Wer spricht von Mitleid?«, entgegnete er gelassen.
»Ich hasse dich und werde dich umbringen.«
»Du willst ernsthaft weitermachen?«
Tara funkelte ihn kampflustig an. »So ein kleiner Kratzer hält mich nicht auf.«
Dhovan lächelte abschätzig. »Wenn du meinst … Deinen Mut in allen Ehren, aber ich lasse mich nicht von dir töten. Du hast den Kampf verloren. Geh nach Hause!«
Sie schnaufte. Nach Hause? Deinetwegen habe ich keines mehr. »Der Kampf ist noch nicht entschieden.«
»Nicht?«
»Ich werde dich so lange verfolgen, bis sich mir eine Gelegenheit bietet, dich zu töten.«
»Spiel dich nicht so auf, Weib!«, brummte Dreen. »Hör lieber auf seinen Rat! Wenn es nach mir gegangen wäre, würdest du jetzt noch da liegen.«
Obwohl sich die Gefühle in ihr überschlugen, versuchte Tara möglichst gleichgültig zu wirken. »Ich habe euch nicht um Hilfe gebeten.«
»Ein bisschen Dankbarkeit würde dir gut stehen.«
Schließlich zuckte Dhovan mit den Schultern und erhob sich. »Mach was du willst! Wir werden allerdings nicht auf dich warten.«
Verdutzt schaute sie zu ihm hoch. Sie hatte erwartet, dass er sie an der Verfolgung hindern würde. Immerhin hatte sie ihm gedroht, ihn umzubringen. Ihr hatte sich auch noch keine Gelegenheit geboten, sich richtig zu erklären. »Willst du denn gar nicht den Grund erfahren?«
»Den Grund wofür?«
»Weshalb ich dich töten will.«
Mit einem knappen »Nein« drehte er sich um und ging. Seine Männer folgten ihm.
Tara blieb noch einen Moment lang an den Stamm gelehnt sitzen. Alles in ihr schrie danach, einfach die Augen zu schließen und zu schlafen, doch sie wusste: Wenn sie sich nicht sofort aufraffte, wäre alles vorbei.
Vorsichtig stemmte sie sich auf die Beine. Sofort wurde ihr schwarz vor Augen. Sie stützte sich am Baum ab und atmete ein paar Mal tief durch. Zum Glück ging es ihr rasch besser – vom pulsierenden Schmerz in ihrer rechten Hand abgesehen. Ich schaffe das. Ich schaffe das.
Sie schaute sich um. Erst einige Sekunden später konnte sie allmählich wieder klarer sehen. Wenige Meter von ihr entfernt lagen Dutzende Leichen auf dem Pfad. Erschrocken hielt sie den Atem an und ließ ihren Blick über die Toten schweifen. Deren Kleidung schimmerte dunkel und feucht. Die Luft stank nach Blut und Fäkalien.
Tara würgte. Sie umrundete das Schlachtfeld mit einigen Schritten Abstand. Aus irgendeinem Grund befürchtete sie, dass einer der Toten aufspringen und sich auf sie stürzen könnte. Dass sie vor wenigen Minuten nicht vergewaltigt worden war, verdankte sie einem Zufall.
Nachdem sie ihren Krug geholt und auf den Arm genommen hatte, kehrte sie auf den Pfad zurück. Bald holte sie Dhovans Gruppe ein und hielt sich einige Schritte hinter ihr. Niemand drehte sich nach ihr um. Sie wusste selbst nicht, was sie erwartet hatte. In ihren Gedanken hatte alles so einfach gewirkt.
Warum habe ich das Schwert nicht fester gehalten?, grübelte sie. Dhovan hat es mir einfach aus der Hand geschlagen. All die Monate des Übens waren vergebens. Ich habe mich komplett lächerlich vor ihm gemacht! Bestimmt hat er auch beobachtet, wie der Räuber über mich hergefallen ist, und wahrscheinlich hat er sogar meine nackten Beine gesehen! Sie schlang die Arme enger um den schweren Krug. Warum habe ich mich bloß dazu hinreißen lassen, ihm zu sagen, ich würde ihn verfolgen? Wenn ich jetzt umkehre, nimmt mich niemand mehr ernst. Vater, sieh nur, wie tief ich gesunken bin!
*
Tara wusste nicht, wie viele Stunden sie bereits durch den Wald wanderte. Ihr ganzer Körper schmerzte, ganz besonders aber ihre Füße. Glücklicherweise legten Dhovan und sein Gefolge etliche Pausen ein, sodass es ihr immer wieder gelang, aufzuholen.
Keuchend und schwitzend erklomm sie den Hügel, hinter dem die Männer soeben verschwunden waren. Sie wusste nicht, weshalb sie vom Weg abgewichen waren, doch es kümmerte sie auch nicht weiter. Sie folgte ihnen einfach.
Als sie endlich oben ankam, entdeckte sie einen Bach, der sich in der Senke hinter dem Hügel entlangschlängelte. Dort füllten Dhovan und seine Leute gerade ihre Trinkschläuche mit Wasser auf. Sie hoffte, dass sie lang genug verweilen würden, damit auch sie etwas trinken und sich ein wenig ausruhen konnte. Mit trockener Kehle stolperte und rutschte sie den Hügel hinunter. Sie hielt einige Meter Abstand zu den Männern.
An einer Stelle am Bach tauchte sie ihren leeren Krug ein und trank ein paar Schlucke. Das eisige Wasser vertrieb die Schmerzen und den Hunger. Verstohlen beobachtete sie, wie Dhovan seinen Trinkschlauch auf seinen Beutel legte und zu Dreen hinüberging. Die Sachen waren nun unbeaufsichtigt.
Als Tara ihren Krug wieder aus dem Wasser ziehen wollte, entglitt ihr der Griff. Um ein Haar wäre sie ebenfalls in den eiskalten Bach gestürzt. Sie konnte sich gerade noch rechtzeitig mit ihrer verletzten Hand an einer Wurzel festhalten. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihren gesamten Arm. Sie verzog das Gesicht und stöhne leise auf. Einen Moment lang wurde ihr schwarz vor Augen., doch zum Glück klärte sich ihre Sicht sofort wieder. Mit zusammengebissenen Zähnen kontrollierte sie ihren Verband. Es schoss kein Blut darunter hervor.
Mit der linken Hand versuchte sie erfolglos, den Krug aus dem Wasser zu ziehen. Dieser war inzwischen ein Stück weitergerollt. Sie erreichte ihn gerade einmal mit den Fingerspitzen.
So ein Mist! Ich komme nicht mehr dran.
Sie trocknete ihre Hand am Umhang ab und sah zu den Männern hinüber. Natürlich würde sie keinen von ihnen um Hilfe bitten. Mit ihrem Blick suchte sie nach Dhovan, konnte ihn jedoch nirgendwo entdecken. Auch von dem Hünen fehlte jede Spur. Sie sah nur Bartek, der sich gerade neben dem Gepäck niederließ.
Wieso habe ich mir keine flachere Stelle gesucht, um Wasser zu schöpfen? Alles läuft schief!
Nachdem sie sich einen Moment lang über sich selbst geärgert hatte, kam ihr mit einem Mal eine Idee. Sie ging zu Bartek hinüber.
Er schaute fragend zu ihr hinauf. »Kann ich etwas für dich tun?«
Sie lächelte zaghaft. Ihr Herz schlug wie wild in ihrer Brust. Sie hoffte, dass er nichts davon bemerkte. »Mein Krug ist in den Bach gefallen.«
»So etwas gehört auch nicht auf Wanderschaft.«
»Ich hatte nichts anderes.«
»Willst du nicht lieber ins Dorf zurückkehren? Wenn du dich beeilst, könntest du noch heute Abend dort ankommen.«
»Ich werde nicht gehen.«
»Das ist ziemlich töricht von dir. Wieso tust du dir das alles an? Du weißt genau, dass du Dhovan niemals besiegen wirst.«
»Er hat mir alles genommen!« Nur mit Mühe konnte Tara ihren aufkommenden Zorn unterdrücken.
Bartek blieb ruhig. »Er hat das Angebot des Wirts abgelehnt, oder irre ich mich?«
Sie errötete. »Darum geht es gar nicht.«
»Nicht?«
»Nein.«
»Warum willst du ihn dann töten?«, fragte Bartek verwundert.
Sie schwieg. Zum einen wusste sie nicht, ob er damals im Garten dabeigewesen war, zum anderen hatte sie schon seit Jahren niemandem mehr von ihrem Vater erzählt. Dhovan interessierte sich nicht einmal für den Grund, weshalb sie ihn angegriffen hatte. Seinem Begleiter konnte ihre Geschichte erst recht egal sein. Wozu sollte sie also ihre Worte verschwenden? Damit sich irgendjemand über sie lustig machen konnte?
Bartek schien zu merken, dass sie nicht darüber reden wollte und hakte auch nicht weiter nach. »Was auch immer zwischen euch vorgefallen ist: Meines Erachtens übertreibst du es mit deiner Rachelust. Warum gibst du dich nicht mit einer Ohrfeige zufrieden? Darauf hätte sich Dhovan vielleicht eingelassen, und deine Ehre oder was auch immer wäre wieder hergestellt.«
Tara presste die Kiefer aufeinander. Sie überlegte, ob sie ihn korrigieren sollte, verwarf die Idee jedoch wieder. »Was ist jetzt mit dem Krug? Hilfst du mir bitte?« Sie deutete den Bach hinunter, wobei sie absichtlich ungenau blieb. »Dort drüben ist er mir hineingefallen.«
»Könntest du mich vielleicht hinführen?«, fragte Bartek.
Sie hob mit bedauernder Miene ihre verletzte Hand, die bereits seit geraumer Weile schmerzhaft pochte. »Ich möchte mich kurz ausruhen. Mir ist schlecht.« Das war nicht einmal gelogen.
Verständnislos schüttelte er den Kopf. »Du solltest wirklich nach Hause gehen.«
»Ich habe keines mehr.«
Seine Gesichtszüge wurden weicher. Offenbar bemitleidete er sie. Zwar gefiel ihr das nicht, doch immerhin erhob er sich nun. Er drehte ihr den Rücken zu und trottete den Bachlauf entlang. Der Anflug eines schlechten Gewissens überfiel sie, weil sie seine Gutmütigkeit ausnutzte. Rasch verscheuchte sie es und blickte sich verstohlen um.
Als sie sich sicher war, nicht beobachtet zu werden, ging sie neben dem Gepäck in die Hocke. Sie klemmte sich Dhovans Trinkschlauch zwischen die Beine und entfernte den Korken. Anschließend zog sie sich die Halskette vom Kopf. Ihr glückte das Meisterstück, den Anhänger mit ihren Zähnen zu öffnen, ohne sich etwas von dem Pulver in den Mund zu schütten. Mit zittrigen Händen kippte sie das erdbraune Gift in das Wasser, drückte den Korken in die Öffnung, schüttelte den ledernen Schlauch vorsichtig und legte ihn auf den Stoffbeutel zurück. Zum Schluss warf sie ihre Kette fort.
Hastig schaute Tara sich um. Sie fürchtete, beobachtet worden zu sein, doch niemand schenkte ihr Beachtung. Als Bartek ihren Krug aus dem Bach zog, stand sie schnell auf, setzte sich aber nicht auf die Wurzel, sondern ging ihm mit rasendem Herzen entgegen.
Er runzelte die Stirn und blickte sie an, als ob er Verdacht schöpfen würde. »Alles in Ordnung?«
Sie nickte und nahm dankend ihren Krug entgegen. Fast wäre er ihr aus dem Arm gefallen.
»Das Teil sollte im Gasthof sein«, stellte Bartek fest, »nicht auf Reisen.«
»Ich habe leider nichts anderes gefunden.«
»Hast du ihn gestohlen?«
Tara schürzte die Lippen.
»Und das Messer auch?«
Sie wich seinem Blick aus.
»Kein Wunder, dass du nicht zurückwillst«, bemerkte er mit einem Seufzer. »Uns zu verfolgen bringt dich allerdings auch nicht weiter. Schau dich an! Du bist kreidebleich im Gesicht. Wahrscheinlich setzt spätestens morgen das Fieber ein. Und dann? Von uns kannst du keine Hilfe erwarten, das weißt du.«
Tara zuckte mit den Schultern. Netterweise vertiefte er das Thema nicht weiter, sondern widmete seine Aufmerksamkeit dem Gepäck.
»Wo ist eigentlich mein Messer?«, fragte sie schnell, um ihn von dem Wasservorrat abzulenken. »Ich hätte es gern zurück.«
»Frag Dhovan!«
»Er ist nicht da.«
Bartek seufzte resigniert und ließ sich wieder am Baumstamm nieder. »Ich weiß nicht, wer es hat, und ich würde dir empfehlen, dich lieber auszuruhen, anstatt deine letzte Kraft auf diese Weise zu verschwenden. Du bekommst es sowieso nicht wieder.«
»Es ist aber meins.«
»Das sieht der Wirt vermutlich anders.«
Tara versuchte, Barteks Alter zu schätzen. Er konnte höchstens zwei, drei Jahre älter als sie sein, genau wie die anderen Männer einschließlich Dhovan. Wieso ernannte ein König einen so jungen Mann zu seiner rechten Hand? Oder gab sich der Mörder ihres Vaters bloß als Lord Erredas aus? Woher wollten die Leute im Dorf überhaupt wissen, dass es sich bei dem Besuch tatsächlich um einen Adeligen handelte und nicht etwa um einen Hochstapler?
»Ist noch etwas?«, hakte Bartek nach.
Tara stand immer noch hinter ihm mit dem Krug im Arm. Sie schüttelte den Kopf. Einige Meter weiter setzte sie sich an einen Baum und trank sie ein paar Schlucke. Für einen Moment schloss sie die Augen. Mit der linken Hand berührte sie ihre Stirn, die sich zum Glück kalt anfühlte. Bis auf den Schmerz unter ihrem Verband ging es ihr den Umständen entsprechend gut. Den Gefallen, krank zu werden, würde sie niemandem tun.
*
Tara fiel immer weiter zurück. Mit jedem Schritt fühlten sich ihre Füße schwerer an, als ob Bleigewichte daran hängen würden. Irgendwann stellte sie ihren Krug zwischen zwei Wurzelstränge am Wegesrand. Vielleicht würde sie ihn zu einem späteren Zeitpunkt wieder abholen.
Als sie zurückblickte, kam ihr der Wald mit einem Mal still und unheimlich vor. Wie weit entfernt mochte sie nun vom Dorf sein? Lauerten zwischen den Bäumen Räuber?
Sie dachte an den Widerling, der sich an ihr hatte vergreifen wollen. Fast wäre es ihm gelungen. Was würde geschehen, wenn ein weiterer aus dem Unterholz sprang? Ohne Waffe würde sie sich nicht wehren können. Würden Dhovan und seine Männer zurückkommen, um sie zu retten?
Nein, dachte Tara, sie würden es nicht einmal bemerken, weil sie längst weitergezogen sind. Niemand wartet auf mich.
Kurz überlegte sie, doch ins Dorf zurückzukehren, bloß sprachen dagegen viele Gründe. Sie musste ihr Versprechen gegenüber ihrem Vater einlösen. Davon abgesehen würde der Wirt sie garantiert nicht mehr ins Gasthaus lassen. Womöglich hackte er ihr sogar die Hand wegen Diebstahls ab oder hängte sie am nächsten Baum auf. Wer sollte ihn daran hindern?
Sie konnte nicht zurück.
Ohne den schweren, unhandlichen Krug auf dem Arm lief es sich leichter, sodass Tara die Männer nach einiger Zeit wieder einholte. Ein paar drehten sich kurz nach ihr um und murmelten irgendetwas zu den anderen. Einzig Bartek wirkte irgendwie erleichtert, sie wiederzusehen. Zaghaft lächelte sie ihm zu. Möglicherweise war es von Vorteil, sich nicht bei dem gesamten Trupp unbeliebt zu machen, bloß weil sie seinen Herrn hasste.
Allmählich wurde es kühler und dunkler im Wald. Neigte sich der Tag bereits dem Ende zu? Schwerfällig setzte Tara einen Fuß vor den anderen. Mittlerweile tat ihr nicht mehr bloß die Hand weh, sondern auch ihre Beine sowie ihr Rücken. Langsam fiel sie zurück, immer weiter und weiter.
Irgendwann erlaubte sie sich eine kurze Pause. Sie setzte sich auf den Stamm einer umgestürzten Buche und schloss die Augen. Wie gut das tut!, dachte sie, während sie den Geräuschen des Waldes lauschte. Am liebsten hätte sie sich hingelegt, die Augen geschlossen, nur für einen Moment …
Ein stechender Schmerz in ihrer Hand riss Tara aus dem Halbschlaf. Wimmernd drückte sie sich den Arm an die Brust. Sie biss die Zähne aufeinander und zwang sich, mehrmals tief durchzuatmen. Das Pochen ließ ein wenig nach. Dafür stieg nun Übelkeit in ihr auf. Ängstlich betrachtete sie den Verband. Er glänzte feucht, roch metallisch und nach Erde.
Hoffentlich ist die Wunde nicht wieder aufgerissen! Warum nur musste mir das mit den Räubern passieren? Es scheint, als würde mich das Pech verfolgen.
Sie rutschte vom Stamm herunter und folgte weiter dem Weg. Sie musste unbedingt aufschließen, bevor die Nacht hereinbrach, ansonsten würde sie die Männer endgültig aus den Augen verlieren – vielleicht für immer. Dann wäre diese ganze Tortur völlig umsonst gewesen.
Nachdem Tara mehrere Minuten lang zügig gelaufen war, begann sie allmählich zu verzweifeln. Sie konnte Dhovan und sein Gefolge nirgendwo entdecken.
So lange habe ich doch nicht auf dem Baumstamm gesessen, oder etwa doch?
Immer mehr bereute sie ihre Entscheidung, das Gasthaus verlassen zu haben. Sie wusste schon gar nicht mehr, wann und wie sie auf die absurde Idee gekommen war, acht bewaffneten Männern mit einem Küchenmesser aufzulauern. Und warum war sie ihnen überhaupt weiter gefolgt, obwohl sie den Kampf gegen Dhovan verloren hatte?
Erschöpft und niedergeschlagen kauerte sich Tara an einen Baum. Sie zog ihren Umhang fester zusammen, um sich vor dem Wind zu schützen. Wie es nun weitergehen sollte, wusste sie nicht. Sie wusste überhaupt nichts mehr.
»Was machst du da?«
Erschrocken riss Tara die Augen auf und schaute in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
Wenige Schritte von ihr entfernt stand Bartek auf dem Weg. Er schmunzelte. »Du bist zu weit gegangen.«
Misstrauisch beäugte sie ihn. Was wollte er von ihr? Die anderen Männer konnte sie nirgendwo entdecken. Er würde doch wohl nicht …
»Hast du nicht auf die Fußspuren geachtet?«, fragte er.
Sie presste die Lippen aufeinander. Mit einem Mal fühlte sie sich ziemlich dumm.
»Wir haben ein Lager für die Nacht aufgeschlagen. Es wird allmählich dunkel. Komm!« Er tat einen Schritt auf sie zu.
Unschlüssig starrte Tara auf seine ausgestreckte Hand. »Was soll ich da?« Sie dachte an das Gift, das sie heimlich in Dhovans Trinkschlauch geschüttet hatte. Wenn der Lord vor den Augen seiner Männer qualvoll verendete, wollte sie nicht unbedingt dabei sein.
»Dich am Feuer aufwärmen«, schlug Bartek vor.
»Ich habe deinem Herrn gedroht.«
»Und?«
Sie runzelte die Stirn. »Hast du keine Angst, dass ich einen von euch im Schlaf erdolchen könnte?«
Er lachte auf. »Nein.«
»Warum hilfst du mir überhaupt?«
»Wir sind keine Unmenschen.«
»Ach nein?«
»Wir hätten dich vorhin einfach deinem Schicksal überlassen können.«
Tara zog den Umhang enger und murmelte: »Ich werde hier draußen doch sowieso sterben.«
»Wenn du da sitzen bleibst, ganz bestimmt.«
Nervös biss sie sich auf die Unterlippe und sondierte die unmittelbare Umgebung hinter Bartek. Die Aussicht auf ein wärmendes Feuer klang zwar verlockend, aber Dhovan sollte bloß nicht glauben, dass sie zu ihm angekrochen käme. »Ich danke dir für das Angebot, doch ich bleibe lieber hier.«
Mit einem Seufzer ließ sich Bartek neben Tara nieder.
»Was machst du da?«, fragte sie irritiert.
»Mich neben dich setzen.«
»Warum?«
»Warum nicht? Vielleicht möchtest du ja über irgendetwas sprechen.«
Befremdet kniff sie die Augen zusammen. Weshalb zeigte dieser Mann mit einem Mal solch ein großes Interesse an ihr?
Mit einem entwaffnenden Lächeln hob Bartek die Schultern. »Ich bin bloß neugierig.«
»Worauf?«
»Auf dich, Tara. Deine Wut auf Dhovan muss gewaltig sein, dass du diese Strapazen auf dich nimmst. Was genau ist zwischen euch vorgefallen?«
»Er …« Die Worte blieben ihr im Hals stecken.
»Hat es etwas mit dem Gasthaus zu tun?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Womit dann?«, wollte Bartek wissen. »Weiß Dhovan überhaupt, worum es dir geht?«
»Sollst du mich aushorchen?«
»Nein, ich dachte bloß, dass wir vielleicht eine friedliche Lösung für dein Problem finden könnten. Du bist sehr mutig – mutiger als viele Männer, die ich kenne. Ich fände es schade, wenn du dein Leben in einem aussichtslosen Kampf aufs Spiel setzt.«
Tara wollte ihm gerne glauben, doch er kannte sie überhaupt nicht. Warum sollte es ein Fremder schade finden, falls sie starb? Als hätte sie es geahnt, fügte er kurz darauf hinzu: »Natürlich möchte ich auch nicht, dass du Dhovan etwas antust.«
Er sah sie so merkwürdig an, dass sie befürchtete, er hätte am Bach beobachtet, wie sie das Gift in den Trinkschlauch seines Herrn geschüttet hatte. Nein, das kann nicht sein. Er wäre sofort eingeschritten und hätte den anderen Bescheid gegeben.
Schließlich wandte er sich ab und rieb sich fröstelnd rieb die Oberarme. »Ganz schön kalt. Wir sollten zum Lager gehen, bevor wir gar nichts mehr sehen. Ich möchte mich nur ungern verlaufen.« Er stand auf und streckte seinen Rücken durch. »Kommst du jetzt mit?«
»Lass mich einfach allein«, lehnte Tara ab. Nach allem, was er ihr gesagt hatte, fühlte sie sich nun elendiger als zuvor.
»Könntest du dich bitte mal entscheiden?«
»Das habe ich doch«, antwortete sie verwirrt.
»Eben nicht«, entgegnete Bartek. »Erst behauptest du, du wollest Dhovan töten. Du verfolgst ihn sogar trotz deiner Verletzung den ganzen Tag durch den Wald. Und am Abend wirfst du deine Pläne urplötzlich über den Haufen und willst lieber erfrieren? Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Weil du es nicht verstehst!«, wollte sie ihm entgegenschreien, doch sie verstand es nicht einmal selbst. Sie fror, war hungrig und erschöpft. Ihre Hand schmerzte furchtbar. Sie wollte einfach nur, dass es aufhörte.
»Kommst du?«, fragte Bartek erneut.
Schweigend starrte Tara auf ihre Knie. Dann schloss sie die Augen. Sie dachte an gar nichts mehr. Um sie herum existierte nichts mehr.
Bartek seufzte. »Muss ich ernsthaft Dreen holen?«
Entsetzt riss sie ihre Augen auf. »Den Hünen?«
»Genau den.«
»Wozu?«
»Dhovan will, dass ich dich zum Feuer bringe.«
»Dhovan?«, entfuhr es Tara.
»Überrascht dich das?«
»Aber ich wollte ihn töten!«
Bartek zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Das wollten schon etliche vor dir.«
»Frauen wie ich?«
»Kampferfahrene Männer.«
Tara presste die Lippen aufeinander. Immer wieder zuckte ihr Blick kurz zu dem lockenköpfigen Mann. Sie begriff immer noch nicht, weshalb er sie so freundlich behandelte. »Was will Dhovan von mir?«
»Das müsstest du ihn fragen.«
»Er hat gesagt, ihr würdet nicht auf mich warten.«
»Wir rasten unabhängig von dir, keine Sorge.«
»Dann verstehe ich nicht, warum er mir seine Leute hinterherschickt.«
»Ich glaube, er will morgen früh bloß nicht über deine Leiche stolpern.«
Tara schnaubte. »Ich wäre nicht die erste auf seinem Weg.«
Er seufzte entnervt. »Wo liegt eigentlich dein Problem? Willst du ernsthaft ein paar Meter neben unserem Feuer erfrieren?«
Sie brachte kein Wort über die Lippen. In ihr tobte ein Kampf. Ihr Verstand riet ihr, mit Bartek zu besagtem Lager zu gehen, doch alles andere in ihr sträubte sich davor, die Hilfe anzunehmen. In den vergangenen vier Jahren hatte sie hinreichend gelernt, dass ihr niemand etwas schenkte. »Dhovan … Hat er irgendetwas über mich gesagt?«
»Was sollte er denn sagen?«, gab Bartek zurück.
»Keine Ahnung, irgendwas.«
»Er hat uns jedenfalls nicht verraten, was zwischen euch vorgefallen ist.«
»Vielleicht erinnert er sich nicht mehr.« Dhovan war ihr so oft in ihren Albträumen begegnet. Irgendwann hatte sie angefangen zu glauben, dass auch sie in seinen erschien. Dabei wusste sie gar nicht, ob er sie damals überhaupt im Baumhaus gesehen hatte.
»Besprich das doch einfach im Lager mit ihm!«, schlug Bartek vor.
»Ich möchte nicht mit ihm reden.«
»Dann lass es eben bleiben.« Er reichte ihr neuerlich seine Hand. »Los jetzt! Ich bin müde, und du bestimmt auch.«
Einen Augenblick fühlte sich Tara geneigt, doch noch einmal Widerworte zu geben. Sie begriff jedoch, dass er mit seiner Drohung, Dreen zu holen, ernst machen würde. Das wollte sie nicht riskieren.
*
Das Lager befand sich hinter einem Hügel und war vom Weg nicht zu sehen. Der Lord sowie vier Männer aus seinem Gefolge saßen an zwei kleinen Feuern. Als Tara sich näherte, sah Dhovan nicht einmal auf. Dreen hingegen stierte sie feindselig an. Am liebsten hätte sie sofort wieder kehrt gemacht, doch Bartek schob sie von hinten weiter zu einem freien Platz.
Dort ließ er sich nieder und klopfte neben sich auf den Boden. »Los, setz dich! Wir sollten uns deine Wunde ansehen.«
»Nicht nötig«, behauptete sie und setzte sich. Das Feuer wärmte so schön, dass sie für einen Moment all die Wut in sich vergaß. Bartek griff nach ihrer Hand. Halbherzig versuchte sie, ihm diese wieder zu entziehen, gab ihren Widerstand jedoch schnell auf. Sie wollte bloß noch schlafen.
Vorsichtig entknotete Bartek den Verband und wickelte ihn ab. Fasziniert und angewidert zugleich betrachtete Tara die Naht. Blut quoll aus dem angeschwollenen, pulsierenden Hügel hervor und füllte ihre Handfläche. Erstaunlicherweise tat es kaum weh. Als Bartek jedoch unvermittelt darauf drückte, riss sie ihre Hand mit einem schmerzerfüllten Aufschrei zurück.
»Zeig sie mir noch einmal!«, verlangte er.
Sie presste ihren Arm an ihre Brust.
»Ich möchte bloß sehen, ob die Wunde eitert.«
Tara fühlte sich angestarrt. Sie wagte nicht, ihren Blick zu heben. Bestimmt freuten sich die Männer über ihr Leid.
»Tara?« Bartek sah sie auffordernd an.
Widerwillig gab sie ihm ihre Hand. Diesmal biss sie die Zähne aufeinander, als er schon wieder damit anfing, am Rand der Wunde herumzudrücken.
»Kein Eiter«, stellte er nach einer Weile fest. »Das ist ein gutes Zeichen, nehme ich an.« Sein Sitznachbar reichte ihm den Whisky. Er trank einen Schluck aus der halbleeren Flasche. »Auch was?«, bot er Tara an, doch sie schüttelte bloß den Kopf. Daraufhin goss er etwas Alkohol über die Wundöffnungen.
Tapfer presste sie die Lippen aufeinander, während sie stoßweise durch die Nase atmete. Diesmal gab sie keinen Laut von sich. Da sie sich vor einigen Stunden noch selbstsicher als Kämpferin aufgeführt hatte, durfte sie nun nicht herumheulen. Sie wollte sich nicht zum Gespött dieser Leute machen – vor allem nicht vor Dhovan –, auch wenn sie vermutete, dass es dafür längst zu spät war.
Bartek versorgte ihre Wunde mit einem sauberen Verband. »Chardoem sollte sie morgen früh bei Tageslicht etwas gründlicher reinigen.«
Tara wusste zwar nicht, wen er mit Chardoem meinte, doch insgeheim war sie froh, dass er nicht »Dreen« gesagt hatte.
»Willst du wirklich keinen Schluck?« Bartek bot ihr neuerlich die Flasche an. »Der Alkohol vertreibt die Schmerzen.«
»Nein, danke.« Tara befürchtete, betrunken zu werden und ihre Situation mit unbedachten Worten oder gar Handlungen zu verschlimmern. Davon abgesehen mochte sie keinen Whisky.
Tag der Veröffentlichung: 13.11.2018
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