Cover

Seltsames Marionettenspiel. Kapitel 1-9 plus Geisterzug. Kapitel 1-11

 

Unheimliche Orte

 

Grusel-Geschichten

für Jugendliche

 

Story 1

-Seltsames Marionettenspiel-

 

Story 2

-Geisterzug-

 

Nach einer Idee der

 

Autorin

 

Marlies Hanelt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Format: ebook

Publikation: 18.05.2022

Copyrights: © Marlies Hanelt

Der Inhalt des vorliegenden Buchs als auch Text-Auszüge, dürfen nicht nach vorheriger Absprache mit der Autorin Marlies Hanelt kopiert und auf Blogs, Foren als auch Homepages/Websites/Social-Media-Plattformen, verwendet werden. Verboten ist ebenfalls das Einspeisen in elektronische Medien, die Übersetzung in andere Sprachen und Verfilmung. Bei Zuwiderhandlungen werden gerichtliche Schritte eingeleitet, die Sanktionen nach sich ziehen. Auf Anfrage kann man sich bei mir gerne eine eventuelle Zustimmung einholen.

Kontakt:

Marlies Hanelt

Weserstr. 52

12045 Berlin

Mail: ma-hanelt@t-online.de

Alterseingruppierung: 10+

Covergestaltung: Thorsten Azrael Perne

Homepage: http://www.azraelscoverwelten.at/

Zeichnungen: Ulrike Mazander

Homepage: https://ulrike-mazander.jimdo.com/

Verlag: BookRix

 

Inhaltsangabe

 

Es existieren in unserer Welt, der heutigen Zeitrechnung Örtlichkeiten, wo nur das Böse brachial agiert, niemals seinen angestammten Sitz verlassen wird, weil es sich hier pudelwohl fühlt. Einerseits plänkelt es uns etwas vor – will sich, ob seiner Boshaftigkeit, immerfort tarnen und sogar vermehren. Andererseits wollen wir es keinesfalls erkennen und so annehmen wie es sich darstellt, denn seit Menschengedenken führen das Gute als auch das Böse, einen erbitterten und fast aussichtslosen Kampf, bei dem nur 1 Sieger hervorgehen kann.

Ist dem wirklich so oder läuft das Spiel anders ab? Begleiten Sie, liebe Leser, die Autorin durch zwei Geschichten-Welten, wo das Finale generell nicht vorhersehbar scheint, denn wie so oft, kann das Ende ein willkommener Anfang für etwas Neues sein. Darum hereinspaziert in eine Welt der gruseligen Andersartigkeit. Auf geht es!

 

Information

Bald wird das vorliegende ebook auch als gedrucktes Buch via Mo Ko Verlag erhältlich sein.

 

 

 

 

 

 

 

 

Haftungsausschluss

 

Die zwei Geschichten sind frei erfunden. Eventuelle entstehende Ähnlichkeiten der Namen, jener hierin agierenden Protagonisten, mit lebenden als auch verstorbenen Personen, darum rein zufällig. Die Autorin Marlies Hanelt übernimmt demzufolge keine Haftung. Danke für das Verständnis.

Pelle Pålsson und seine ihm ebenbürtige

Marionette

 

 

 

 

 

Seltsames Marionettenspiel

 

Kapitel 1

 

Der exzentrische schwedische Zirkus “Circus maniska magi“, übersetzt: “Zirkus manischer Zauber“ aus Strömsund, ist für eine Woche in Berlin zu Gast. Gibt hier sein Debüt, und möchte das magische Puppen Programm mit tagtäglichen Vorstellungen der etwas anderen Art präsentieren. Abgefahren ist die Show allemal, denn hier wird man Akrobaten, lustige dumpfbackige Clowns, die sich gegenseitig Torten ins Gesicht werfen und pausenlos über ihre eigenen viel zu großen Schuhe stolpern, weinende Pierrots als auch Tiere, vergeblich suchen. Dieses wäre schlichtweg langweilig, da man derart schon viel zu oft gesehen hat. Die Besonderheit verbindet sich mit der Darbietung von verschiedenen Puppenakteuren, wie zum Beispiel Bauchrednern, die eben mit Bauchreden ihren kunstvoll, sehr kreativ und bunt gestalteten Puppen Leben einhauchen, ohne dabei die Lippen zu bewegen. Dem Zirkusbesucher wird somit etwas vorgetäuscht, was in der Realität eigentlich nicht stattfinden kann - denn Puppen haben keine Stimmen, oder doch? Immerhin besteht ihr Grundgerüst überwiegend aus Holz oder einem anderen Material, das man den mehr oder weniger steifen, kunstvoll erschaffenen, menschenähnlich wirkenden Puppen, mit stilgerechter fescher Kleidung versehen hat. Ich merke an, hinter oder in jeder Puppe steckt ein Mensch, der diesen Umstand erst möglich werden lässt. Die passende Geräuschkulisse eingespielt, zusätzliche Scheinwerfer, deren gleißender Lichtkegel gezielt auf die Puppen gerichtet wird, gibt dem ganzen Spektakel erst den richtigen gruseligen Touch, wenn der erwünscht ist. Eben eine trügerische Scheinwelt, in die man sich gerne abgleiten und treiben lässt, oder?

Ebenso kommen hier die Stabpuppen zum vollen Einsatz. Das Finale, zudem die Attraktion jener extrem anderen Puppenvorstellung schlechthin gehört, stellt eine ganz besondere Marionette dar. Vorab schon einmal als Abbildung auf Plakaten des Zirkus, überall in der Stadt verteilt und als Werbung ausgehangen. Ob dies allerdings genügend Geld in die Kassen spült, da niemand den Zirkus kennt oder jemals zuvor gesehen hat, bleibt offen. Zirkusdirektor Pelle Pålsson ist trotzdem voller Hoffnung und Zuversicht. Kann sich nichts anderes vorstellen, als mit jenen Puppen und Darstellern zu arbeiten, die ihm näher als seine Familie sind, die er nie kennenlernen durfte. Eben ein Waisenkind, das bis vor vielen Jahrzehnten nur in eigenartigen Kinderheimen Unterschlupf gefunden hat. Danach verwischen sich die Spuren - geben keinen Aufschluss auf seinen weiteren Verbleib. Bis …, tja, bis Pelle diese Idee eines Zirkus der “manischen Magie“ endlich aus dem Schädel drücken konnte, um ungehindert agieren zu können - nicht daran zerbrechen zu müssen. Ist er nun normal oder doch etwas chaotisch verrückt und manisch depressiv gewickelt? Somit wird schon jetzt klar, dass es ein unbedingter Erfolg werden muss, denn alles andere könnte Pelle nicht ertragen, nie und nimmer.

 

Ein verregneter Montag Berlins gestaltet das Aufbauen des fast winzig wirkenden Zirkuszeltes schon in aller Herrgottsfrühe um vier Uhr, nicht gerade einfach. Es gießt wie aus “Mollen“ - so jedenfalls nennt es der Berliner. Sechs hierfür angeheuerte dubiose Typen, deren Strafakte länger als eine Klorolle ist, werden bis auf die Haut durchweicht. Unbeeindruckt dessen, schuften sie wie die wilden Tiere, um ihren Frust abzubauen, der sich in vorab gut besuchten Gefängnissen aufzubauen schien. Was gibt es demzufolge Besseres, als eine zwar kräftezehrende, aber durchaus wirkungsvolle muskelaufbauende Arbeit anzunehmen - zum Beispiel in diesem Zirkus? Nichts spricht dagegen, oder? Endlich wird das regenundurchlässige bunte “Zirkuskleid“ über das Stahlgestänge hochgezogen und am Boden von fünf vorab eingepflockten dicken, riesigen Metallheringen, mit straff gezwirbelten Seilen, Schiffstauen nicht ganz unähnlich, festgezurrt. Von der Spitze des merkwürdigen, dreieckig gestalteten Zeltes, weht eine Fahne. Auf ihr hält diese gruselig wirkende Marionette ihre krumme Nase in den Wind, und schaut bösen Blickes auf alle zu erwartenden Besucher herab. Man gewinnt den Eindruck, als würde eine Seele in ihr wohnen, die nichts Gutes im Schilde führt. Pelles Seele?

Inzwischen haben es sich die Knastbrüder in ihrem etwas heruntergekommenen, alten Künstlerwagen aus Holz gemütlich gemacht und genießen einen heißen Grog. Nun ja, im weitesten Sinne, denn Gemütlichkeit sieht eben jeder anders. Pelle schläft noch, aber in seinem zweigespaltenem Gehirn gehen die ausufernden Fantasien ihrer eigenen Wege. Wohin sie wandern ist klar - in jene Lieblingsmarionette, der er auch die magische hinterhältige Stimme verleiht. Das Spiel beginnt seinen ungebremsten Lauf sehr viel später, als die Marionette lebendig und recht gefährlich zu werden scheint. Bilden sich das die nur dreißig Zuschauer ein? Denn mehr Plätze gibt der Innenraum des dreieckigen, unbeheizten kleinen Zeltes nicht her. Findet hier die Realität statt oder hält hier das Fantasiereich Einzug? Manchmal ist eine Vorstellung nur eine unrealistische Empfindung im Kopf, die alles erzeugt, was man sich teilweise wünscht. Auch das sieht jeder eben anders. Hier geben sich Gut und Böse den Schlagabtausch und kämpfen bis aufs Blut. Solange bis einer gewinnt und alles gefährlich aus den Fugen gerät. Eben “Kopfkino“. Manege frei und Vorhang hoch, damit sich das Menschliche in der Puppe frei bewegen kann. Hierzu noch teuflisch singt und ungehindert redet.

 

Kapitel 2

 

Inzwischen hat der wasserfallartige Regen etwas nachgelassen, ist in leichtes Tröpfeln übergegangen. Das noch freie Sandareal des Zeestower Weges in Berlin/Spandau ist um das Zelt herum fast völlig aufgeweicht - wirkt wie ein dunkel schimmernder Morast, der alles und jeden verschlingen will. Scheint offensichtlich kurz vor dem Platzen zu sein, um bereits zu viel aufgenommene Seelen der hier unlängst Verstorbenen widerwillig auszuspucken. Blubbernde Geräusche, Stimmen nicht ganz unähnlich, zeugen von einstigen Missetaten an diesem vom Pech verfolgten Ort. Nehmen Pelle Pålsson oder gar seine zu ihm passende Marionette hierauf Einfluss - eventuell auch beide? Sind es jene Seelen, die sich jetzt in beider Körper beständig aufhalten und sich austoben möchten, um einen Rachefeldzug zu führen?

 

So als würde auch der Regen beseelt sein, trippelt er unablässig auf das gewölbte Metalldach des alten ausgemusterten Bauwagens, der extra für Zirkusakteure hergerichtet worden ist. Schritten gleich, die auf sich aufmerksam machen wollen. Arne schmaucht derweil sein heißgeliebtes Pfeifchen, während sich aus dem Köcher kleine Qualmwölkchen empor kräuseln. Er liebt es eben, nach einer deftigen Mahlzeit hiermit zu entspannen. Schaut etwas gelangweilt aus dem einzigen Fenster, das es hier gibt. Lässt seine trüben Gedanken mit dem weißen aufsteigenden Dunst seiner Meerschaumpfeife irgendwohin fliegen. Plötzlich meldet sich Sven zu Wort, will das entsetzliche Schweigen seiner hier mithin arbeitenden fünf Knastkumpels brechen. Immerhin kennt seine Person sie noch aus alten Zeiten des oft langweiligen Gefängnisdaseins, da er mit ihnen die täglichen Hofrunden unter Wärteraufsicht drehen musste. Schön hintereinander, Gleichschritt Marsch im Kreis, und möglichst noch nicht einmal ansatzweise mit dem Vorder- als auch Hintermann quatschen dürfen. »Psssst, Arne! Höre mal auf zu Labern.« Arne dreht sich zu Sven um, schaut ihm irritiert ins Gesicht. »Wie bitte! Ich labere? Glaubst du doch nicht wirklich im Ernst, oder? Immerhin quatschst du doch mit mir und nicht umgekehrt.« »Ist mir jetzt völlig wurscht, Arne - glaube mir.« Svens Gesichtszüge entgleisen, wirken steinern, während sich darin ängstliche Leichenblässe zeigt. »Diese säuselnde Stimme musst du doch ebenfalls hören oder nicht? Spinne ich jetzt oder was geht hier ab, Arne?« Der lauscht wiederum angestrengt in die Stille hinein; versucht nachzuvollziehen, was Sven wohl damit meinen könnte. »Nö, nichts dergleichen«, zuckt mit den Schultern und will ein abwertendes Grinsen unterdrücken. Gackert urplötzlich wie ein eierlegendes Huhn los. Prustet, dass er beinahe am inhalierten Qualm erstickt wäre und winkt ab. »Lass‘ mal gut sein, du Oberspinner. Siehst Dinge und hörst sogar Stimmen. Ist ja widerwärtig!« Zeigt seinem Kumpel den “Tierischen Vogel“. Wie, als hätte sich Sven tatsächlich geirrt - ist nur einer vorübergehenden Audioattacke seines Innenohrs aufgesessen, erfolgt nichts mehr.

 

Pelle ist inzwischen aufgewacht. Hockt etwas gebeugt auf dem einzigen Holzstuhl seines privaten Künstlerwagens. Bedient zaghaft mit beiden Händen das Spielkreuz seiner ihm ebenbürtigen Marionette. Bewegt jene zu den unterschiedlichen Aktionen passenden Hölzchen, an denen die Fäden geknüpft sind. Redet mit hinterhältiger leiser Stimme und übt ständig für die erste Vorstellung. Hält ab und zu inne, lauscht tief in seinen ausgezehrten Körper hinein. Stellt sich vor, wie und ob später jene künstlerische Marionettendarstellung richtig auf das Publikum wirkt. Pelle will unbedingt alles im Griff haben, denn nichts anderes ließe er zu. Niemals! Plötzlich erhebt er seinen knochigen Körper. Das Spielkreuz in den Händen, mit der schlaffen Marionette daran baumelnd. Wie in Trance schreitet seine hagere Gestalt zu dem einzigen Bild aus der Vergangenheit, das auf einem Eckregal gut sichtbar steht. Auf ihm die Abbildung des Waisenhauses, in dem er unsägliche Jahre irgendwie ausharren musste. Blickt verachtend darauf, als Pelle von diesem “Gruselhaus“ regelrecht hypnotisierend angezogen wird. Irgendwie scheint es lebendig zu werden, ihn in jene als böse erlebte Vergangenheit hineinziehen zu wollen. Gehen die “Pferde“ mit Pelle durch oder gibt sich seine Wenigkeit nur der übersteigerten Fantasie hin, die ihn nicht mehr klar denken lässt? Es dauert kaum eine Sekunde, bis sein Körper von jenem Bild hungrig und nach ihm geifernd verschlungen wird. Schläft Pelle noch oder ist er bereits wirklich wach? Wird vielleicht von seiner Vergangenheit eingeholt, die ihn alles noch einmal durchleben lässt? Gibt es eine Zukunft und wenn ja, wie wird sie aussehen? Pelle befindet sich nicht mehr in der Gegenwart, sondern existiert erneut in diesem dubiosen Waisenhaus für elternlose Kinder. Jedoch ist Pelles Seele zuvor in seine heißgeliebte Marionette geschlüpft, die in der Zukunft jene einzigartige Wochenvorstellung des “Circus maniska magi“ übernehmen wird. Herrscht auf gefährliche Weise über dreißig jubelnde Zuschauer, die es nicht anders verdient haben. Treibt in diesem hölzernen Körper ein makaberes Spiel der wütenden Zerstörung.

 

“Ohrenbetäubende“ Stille in Pelles Künstlerwagen, der eigentlich für nichts mehr zu gebrauchen ist. Es sei denn, Pelle findet in die Gegenwart zurück, bis jene verblasst und ihn wieder durch ein imaginäres Tor zur Vergangenheit katapultiert. Dorthin schleust, wo er eigentlich wirklich zu Hause gewesen ist. Flippt pausenlos hin und her, wie in einer Endlosschleife oder eines Loopings der Achterbahn. Jedoch scheitert der dritte Versuch kläglich, denn Pelle verlassen die geistigen als auch körperlichen Kräfte. Versiegen, wie Wasser in einem langsam austrocknenden Flussbett, das man auch Wadi nennt. Sein gruselig anmutender Körper als auch die kranke Seele, sind für alle Ewigkeit gefangen in der Vergangenheit. Verbleiben dort und vegetieren eventuell vor sich hin, währenddessen Pelles heißgeliebte Marionette seinen täglichen Auftritt übernimmt und immer gefährlicher werdend agiert. Denn immerhin lebt jene Seele in ihr weiter und absolviert das tägliche Bühnenprogramm - genau so, wie es Pelle ebenfalls umgesetzt hätte.

 

»Hör mal Arne«, beginnt Sven, bricht erneut das entsetzliche Schweigen und wirkt immer noch reichlich angespannt. »Wir sollten endlich nach unserem Boss schauen. Mich beschleicht das grausige Gefühl, als wäre etwas mit ihm nicht in Ordnung - was meinst du?« Arne antwortet erst gar nicht, sondern verweist auf Jörjen, Ole und Torsten, die momentan Skat dreschen. Mats, der Sechste im Bunde, kümmert sich derweil um die richtige Ausleuchtung des Innenzeltes mit Spotlampen - stellt dreißig Stühle vor der dreieckigen Manege auf. Auch riesige, drei turmhohe Boxen für einzuspielende Geräusche, wollen exakt platziert werden. Mats ist eben der absolute Meister für alles Technische und liebt diese monumentalen Teile von Verstärker, mit jeweils zweihundert Watt abgöttisch - obwohl sie für das doch eher klein wirkende Zirkuszelt nicht von Nöten wären. Drei Spielverrückte sind dermaßen in ihr Kartenspiel vertieft, so dass sie jenes Drumherum nicht wirklich wahrnehmen. Der Realität abwesend entfliehen wollen, um einfach nur nach getaner Arbeit Spaß zu haben. Nichts spricht dagegen, oder? Urplötzlich wird Arne von übermächtiger Wut geschüttelt. Brüllt wie ein Ochse mit schrillem Timbre, das sich bedenklich mehreren keifenden Stimmen von jungfräulichen Furien nähert, während sein Gesicht die Farbe eines schlabbernden aufgeblähten Putenkropfes annimmt, dunkelrot einfärbt und keinesfalls abschwellen will. »Ihr gottverdammten Nichtsnutze. Drückt endlich die Knie durch und klappt eure Hacken zusammen.Macht schon!« »Genau, Arne!«, pflichtet ihm Sven bei. »Ihr drei Widerlinge solltet mal kurz nach unserem Pelle sehen oder was hindert euch daran - außer, das dämliche Skatspiel?«

 

Daraufhin keine Reaktion der drei Kumpels, die wie wahnsinnig beim “Reizen“ sind. »Torsten!«, jammert Ole. »Ich bin weg«, winkt ab. »Und du, Jörjen? Haste mehr als 27 zu bieten, Ekelprotz - oder biste auch weg?« Das geht nun eine ganze Weile hin und her, bis Jörjen bemerkt, dass Torsten vergessen hat, zwei Karten zu “Drücken“. Will seinen Unmut herauslassen, kommt jedoch nicht mehr dazu. Denn Arne haut mit der Faust auf den runden Holztisch, deren einst furnierte Platte schon bessere Tage gesehen haben muss. Genau jenes polternde Geräusch, reißt die drei Kumpels aus ihrer offensichtlich festgefahrenen Spielsituation. »Jetzt sollt ihr der Sache mit Pelle auf den Grund gehen, nicht irgendwann in 100 Jahren, versteht ihr das?« Torsten, Jörjen und Ole erheben sich daraufhin steif und hölzern von ihren einfachen Stühlen. Schreiten marionettengleich in Zeitlupe und wie ferngesteuert aus dem umgestalteten Bauwagen - Arne als auch Sven keines Blickes würdigend. Wieder diese dröhnende Stille, der man nicht wirklich etwas abgewinnen kann. »Schauen wir mal, Sven, ob die drei Lumpenhunde jemals wieder zurückkehren?« Sven wippt als Antwort mit den Schultern auf und nieder, da er es nun wirklich nicht wissen kann. Jedoch scheint sich Arnes Bauchgefühl in einer gewissen Vorahnungsphase zu befinden, die ihm etwas später Recht geben wird.

 

Torsten, Jörjen und Ole, schweben geradezu abwesend und nebeneinander über das sumpfig anmutende Areal des Zeestower Weges. Jener wird linkerhand von Bahnschienen abgegrenzt, auf denen vor langer Zeit noch Personenzüge entlang gedonnert sind. Heute liegen sie jedoch verwaist, Geisterschienen gleich und von reichlich Unkraut überwuchert, nur so da - kaum noch zu erkennen. Wollen sie etwas verschleiern, weil vor unsäglichen Jahren Schlimmes hier geschehen ist? In diesem Moment beginnt der dunkle Morast zeitgleich zu blubbern. Riesige stinkende Blasen wölben sich aus dem Schlamm, während knochige, vom Fleisch abgelöste bleiche Hände, einen bohrenden Veitstanz der dreckigen Masse vollführen. Nach Torsten, Jörjen und Ole greifen. Ziehen die drei einstigen Knastbrüder in das Unvermeidliche hinein, in dem nur der Tod regiert - für immer das letzte Sagen haben wird. Tiefe schauerliche Abgründe, in die man lieber nicht blicken sollte, da sich hier gute als auch böse Seelen den ständigen Schlagabtausch geben. Das feiste Gesicht des Waisenhauses auf dem Bild, sich immer noch auf dem Eckregal befindend, grinst dazu mit wohlwollender Grimasse. Denn Pelles böse Seele reicht nur bis dorthin. Teils verbunden und lebend mit dem Haus in der Vergangenheit, andererseits in jener Marionette agierend, die bald ein gefährliches Spiel beginnt. Und zwar sehr bald.

 

Derweil warten Arne und Sven auf die Rückkehr ihrer drei Kumpels. Arne hat sich seine Pfeife erneut mit wohlriechendem Tabak gestopft. Zündet ihn an, hofft auf positive Botschaft über den Verbleib ihres Puppenzirkusdirektors. Sven trommelt nervös mit den dreckigen Fingern auf der runden abgewetzten Tischplatte herum und wirkt abwesend. Wieder diese grausame Stille, vor der man sich hüten sollte, da sie nichts Gutes verheißt. Beider Nerven sind kurz bis vorm Zerreißen gespannt - drohen zu kollabieren. »Heiliges Kanonenrohr, wo bleiben die drei “Heiligen Könige“ aus dem Morgenlande eigentlich?! Sollten schon längt wieder zurück sein. Spielen die etwa auch im Freien mit Karten?« Sven muss daraufhin schallend losgrölen, da Arne das Wort “Heilig“ offensichtlich zu gefallen scheint. »Nichts ist mir heiliger, als mein Feierabed. Diese gottverdammten scheinheiligen Nichtsnutze können mich mal gewaltig am …«. Arne verschluckt sich am eigenen Speichel und hustet, da er wieder mal wütend wird und fassungslos zu überschlagen droht. Das facht natürlich Svens ansteigende gute Laune umso mehr an, weil Arne sich pausenlos mit jenem Wort wiederholt. Was für eine lustige Crew, oder? »Schau mal, Arne«, beginnt Sven zu labern, nachdem er sich von seinem Lachflash erholt hat. »Können wir etwas daran ändern? Ich meine, dann warten wir eben - haben doch sonst nichts weiter vor, oder?« Arne blickt indes, jetzt völlig von der Rolle, auf seine Timex. Schaut abwechselnd mal aus dem Fenster, dann wieder auf das immer noch intakte Erbstück seines unlängst verstorbenen Vaters. Die Zeiger wollen sich einfach nicht weiterbewegen. So, als hocke jemand darauf und will sie anhalten. »Sven, ich drehe gleich durch. Was soll eigentlich der Schwachsinn? Steige gleich in mein gemütliches Bettchen und lese noch etwas - reineweg zum Chillen. Richard Bachman wartet, Alter!«

 

Irgendwie scheint nun die Situation einen Entspannungsmodus zu fahren, als in diesem unpassenden Moment ein lautes Klopfen von der Bauwagentür ausgeht - den gesamten Künstlerwagen füllt. Sich hierzu dunkle Gewitterwolken am Himmel aufbauen, denen kräftiger Regen folgt. Das Areal mit Sturzbächen erneut fluten wollen. Arne und Sven stehen daraufhin vor lauter Angst wie steife Stöcke senkrecht. Zinnsoldaten gleich, um im Nachhinein am ganzen Körper wie Espenlaub zu zittern. Denn jenes ohrenbetäubende pochende Geräusch kennen sie keineswegs, da ihre Kumpels es so nicht drauf haben. »Sind bestimmt unsere “Heiligen Drei Könige“«, versucht sich Arne etwas vorzumachen. Schleicht darum vorsichtig in Richtung Holztür, um sie zaghaft zu öffnen. Zögert für den Bruchteil einer Sekunde und drückt die metallene Klinke herunter. Knarrend, ja fast widerwillig, öffnet sich das Portal des Grusels. Niemand steht davor, zumindest nicht körperlich. Es ist nur dieses extrem widerwärtige Gefühl von Beobachtet werden, das einem sämtliche Haare zu Berge stehen lässt. Kalte Luft, die mit Nässe vollgesaugt ist, dringt in den Künstlerwagen - breitet sich darin aus. Füllt ihn mit Pelles böser Seele, die während des ersten Flipp-Vorgangs versucht, Körperstrukturen anzunehmen. Aus jener Vergangenheit in die Gegenwart schnellt, damit seine ihm liebgewordene Marionette nicht alleine agieren muss. Zögernd, dann immer mehr Gestalt annehmend, steht Pelle letztendlich mit leerem Blick vor Arne und Sven. Beide können diese überdimensionale Situation nicht wirklich begreifen und etwas abgewinnen. Fühlen jene nur als übermächtigen Alptraum, der kein Ende zu nehmen scheint.

 

Arne schüttelt sich, will diesen Augenblick offensichtlich damit abstreifen. Denn was nicht sein kann, existiert niemals. Trotzdem wagt er die bekloppte Frage nach dem Verbleib von Jörjen, Ole und Torsten. Immerhin ist Pelle zurück, egal wie und vor allem warum. »Chef!« ,blökt Arne - will sich Mut anquatschen. »Haben dich die “Drei Heiligen Könige“ wohl doch gefunden, oder? Wo stecken die eigentlich, in deiner Jackentasche?“ Sven schmunzelt verhalten, da er ja immerhin Arnes köstlichen Humor kennt. Mit eben jenen hat sein Knastbruder schon so manche böse Situation zu bewältigen gewusst. Pelle antwortet nicht gleich, sondern bewegt zeitversetzt nur seine Lippen. Was will er Arne als auch Sven um Gottes Willen mitteilen? Die zwei hilflos dreinblickenden Freunde fühlen sich maßlos auf den Arm genommen. Vielleicht jene Art beginnenden Gesprächs auf einer anderen Ebene? Das Einzige was man in dieser geisterhaften Stille vernehmen kann, ist ein tobendes donnerndes Geräusch des Personenzuges, der auf unkrautüberwucherten Schienen des Zeestower Weges, ohne Ziel entlang rast. In ihm Abteile, die kein Ende nehmen wollen und zudem wie leergefegt sind. Währenddessen geifert schon wieder das Waisenhaus, in Pelles Wohnwagen auf dem Foto befindlich, nach seiner kaputten Seele - will Eins mit ihr und jenem kranken Körper werden. Pelles hölzernes Ebenbild hockt mit einem Ausdruck des flammenden Bösen auf dem Gesicht, genau davor. Sehnt sich ebenso danach, in die Vergangenheit mit zu flippen. Will mit ihrem Schöpfer geistig als auch körperlich verschmelzen. Jedoch legt sich in diesem Moment ein undurchdringlicher grauer Schleier über das Bild, der dieses Zeittor “Waisenhaus“ vorerst verschließt und unzugänglich macht. So lange, bis Pelle irgendwann den dritten als auch letzten Versuch des Flippens wagt und sein Abbild aus Holz für immer in die Vergangenheit mitnimmt. Eben dort, wo er mit ihm an einem anderen Ort agieren kann - ja sogar muss, da es so gewollt ist.

 

In diesem Moment des schier unglaublichen Wahnsinns, steht Mats wie in einem Zeitraffer herbeigezaubert, im Rahmen der immer noch offenen Künstlerwagentür. Hält die kurz zuvor benutzten Kreuz- als auch Schlitzschraubenzieher in der rechten Hand, während er mit der Anderen versucht, einige Metallschellen krampfhaft festzukrallen. Verzückt und gleichsam angewidert abgestoßen von dem, was sich ihm darstellt, fragt Mats dennoch nach.

»Pelle, du bist zurü…? Wo sind Jörjen, Ole und Torsten abgeb…?« Weitere stockende, nicht vollendete Fragen, kann Mats nicht mehr stellen - denn ihm schaudert. Einer Illusion gleich, die man sich einbildet, nimmt Pelle eine andere körperliche Struktur an. Verschwindet Stück für Stück von der Bildfläche. Gibt noch kurz ein tierisches Grunzen von sich, flippt ohne seine heißgeliebte Marionette in die Vergangenheit zurück. Mats, Arne und Sven schauen diesem Treiben mit großen ungläubigen Augen und weitgeöffneten Mündern zu. So, als wäre dies niemals geschehen oder die drei Seelen sind einer Fata Morgana aufgesessen. »Kann mir mal einer von euch erklären, was das eben gewesen ist? Also Pelle bestimmt nicht, oder? Vielleicht sein umtriebiger Geist oder sonst wer. Pelle liegt schon längst in seinem Schlummerbettchen und pennt. Hoffe nur, dass er bis zur Abendvorstellung wach ist und mit seiner Marionette das Debut geben kann.« Mats ist Gott sei Dank nicht der Typ, alles pausenlos ohne Ende zu hinterfragen, da es ihn weder kümmert, noch dass er verantwortlich für den Ablauf des Bühnenprogramms wäre. Darum interessiert es den Techniker Mats nicht die Bohne. »Hör mal, Mats«, beginnt ihn Arne aufzuklären. »Pelle ist offenbar wie vom Erdboden verschluckt. Selbst Jörjen, Ole und Torsten, unsere vernarrten “Skatbrüder“, spielen offenbar bereits in einer anderen Welt. Vielleicht der Hölle?« Arne lächelt müde. »Ich sage dir was, hier geht es nicht mit rechten Dingen zu, Mats. Nur damit du Bescheid weißt und was Fakt ist. Meine Person wird jedenfalls nicht weitersuchen - abgelehnt! Sven und ich eröffnen um 19 Uhr die Vorstellung - lassen vorab die Besucher herein. Mal sehen, ob sich Punkt 20 Uhr Pelle mit seiner Marionette blicken lässt.« »Und wenn nicht, wie gehen wir dann vor?« , wirft Sven die logische Frage ein. »Keine Ahnung, du Dumpfbacke. Wir reagieren spontan - wie auch immer. Machen uns dann ´nen Kopf, wenn es soweit ist, oder?«, entscheidet Arne mit schon wieder hochrotem Gesicht. Sven vertraut seinem Kumpel und trabt beruhigt aus dem Künstlerbauwagen. Mats folgt ihm.

 

Inzwischen hat der trommelnde Regen aufgehört, seine Aktion eingestellt. Die düsteren Gewitterwolken haben sich woanders hin verzogen oder existieren generell nicht mehr. Langsam ebbt auch das Geräusch des ratternden Personenzuges ab, ist kaum noch zu vernehmen - bis es letztendlich mucksmäuschenstill wird. Die Ruhe vor dem Sturm? Sven und Mats quälen sich durch den Matsch des Zeestower Weges, der noch nicht einmal ansatzweise trocknen will - eher immer morastiger und tiefer zu werden scheint. Eigentlich kaum passierbar. »Zur Hölle noch mal!«, wettert Mats wutentbrannt. Zieht immer abwechselnd seine bereits vor Schmutz klebenden Beine aus dem schwarzen Dreck, während sich der Hosenstoff pausenlos erneut mit Wasser vollsaugt. Ein Geräusch, als würde jemand schmatzen und nach Mats´ Körper gieren. Dennoch schafft es der Techniker mit letzter Kraft und verzerrtem Gesicht, endlich festen, ansatzweise trockenen Boden zu erreichen. Steht nur kurz wie eine Eins kerzengerade da, dreht sich in Richtung Sven um. »Wo bleibst du, Sven? Mach schon, folge mir endl…!«, schimpft Mats wie ein zeternder Rohrspatz und hält urplötzlich inne - da es ihn fast die Sprache verschlägt. »Sväääääään!« Nur noch ein letzter kläglicher Ruf nach ihm, durchschneidet die einsetzende kühle Luft - verhallt. Wieder jene unsägliche Stille, in der man glaubt, gleich einen Schrei hören zu müssen. Nichts! Sven ist und bleibt verschwunden. Für immer, oder erscheint er wieder bis zur Vorstellung? Schon wieder donnert der Personenzug mit den leeren, niemals enden wollenden Abteilen, schemenhaft über den Bahndamm des Zeestower Weges. Auf ihm jene vom Unkraut heftig überwucherten rostigen Schienen, die schier kein Ende anzeigen. Irgendwann gar nicht mehr zu erkennen sein werden. Verschwindet hernach in der finsteren Unendlichkeit, wo das Böse wohnt und regiert. Stille - beklemmende, ja schon fast herausfordernde Stille.

 

Arne hat es sich derweil in seinem Bett gemütlich gemacht - liest im Buch seines Horrorlieblingsautoren. Entspannt hiermit bis zur ersten Vorstellung der etwas anderen Art. Immerhin müssen noch drei Stunden irgendwie “totgeschlagen“ werden, egal wie und womit. Mats ist gerade dabei, den einzigen Scheinwerfer im Zelt als auch die zehn Spotlampen genauestens einzustellen - nachzujustieren. Denn die Lichtkegel besagter Lampen, setzen alle Akteure auf dem kleinen Bühnenpodest der dreieckigen Manege in den Brennpunkt - leuchten sie besser aus. Alles sollte eben zur vollsten Zufriedenheit Pelles ausfallen, wenn sein erster Auftritt erfolgt. Denn nichts fühlt sich für den Puppenzirkusdirektor schlimmer an, als ein unkontrolliertes Durcheinander von Vorabaktionen, die jene “helfenden Hände“ fehlerhaft umgesetzt haben. Vorprogrammiertes Chaos ist noch nie sein “Ding“ gewesen. Noch nicht einmal ansatzweise würde er es akzeptieren. Mats ist mit der Arbeit endlich fertig und hochzufrieden. Setzt sich auf den Holzschemel neben den riesigen Scheinwerfer, wartet gelangweilt auf Arne und Pelle.

 

Inzwischen schreitet Stunde um Stunde schleppend weiter, während sich in dieser Zeit bereits mehr als dreißig Menschen vor dem Zelt ausharrend, die Beine in den Bauch stehen. Jedoch blubbern keine Blasen aus dem sumpfigen Morast, da er offenbar verschwunden scheint. Wird sich irgendwann die gierige Hölle erneut auftun oder ist sie gesättigt? Brabbelndes Raunen der Zirkusbesucher schwebt übers Areal des Zeestower Weges. Umfängt das dreieckige Zelt mit ihren Stimmen, in dem Pelles Marionette bald ein geiferndes Wortspiel beginnt. Plötzlich steht Arne wie magisch hertransportiert hinter Mats. Klopft ihm auf die Schulter, schaut dabei reichlich überzeugend auf seine Timex. »Alterchen, es wird Zeit. Haste alles vorbereitet?« Eigentlich könnte sich Arne die Frage sparen, da er Mats´ akribische Arbeit vom Grund her zu würdigen weiß. »Kannst schon mal die Zuschauer hereinlassen und auf ihre Plätze verweisen, Dumpfbacke! Wer keinen Sitzplatz sein Eigen nennt, muss sich eben mit einem Stehplatz begnügen«, lächelt dabei hinterhältig. Mats erhebt sich, ohne ein rechtfertigendes Wort über diese klare Ansage zu verlieren, denn er schätzt jene Art von Befehlen. Langsam, ja schon fast schwerfällig, werden die Holzstühle von dreißig Gästen in Beschlag genommen. Setzen sich auf das knarrende Mobiliar aus längst vergangener Zeit, während der Rest einfach nur stocksteif dasteht und kaum zu atmen wagt. Wirken teilweise angespannt, andererseits wiederum leicht verstört, denn sie werden von der Aura des Innenraumes wachsend vereinnahmt. Was ihnen bevorsteht, lässt sich nur ansatzweise erahnen, da jene Zirkusbegeisterten ein mulmiges Gefühl beschleicht - das sich in ihren Gesichtern offenbart.

 

Gruselige Dunkelheit in der dreieckigen Manege. Plötzlich vernehmen die Besucher ein Trippeln von winzigen Holzfüßen, das sich bis tief in ihre Seelen bohrt. »Mach schon, Mats«, flüstert Arne ihm zu. »Knipse die Spotlampen an, vergesse nur nicht den Scheinwerfer einzuschalten, dämlicher Schwede«, gluckst vor Vergnügen über seine immer wieder neuen Wortkreationen. »Es ist endlich soweit, Pelle kommt«, raunt Arne mit einem merkwürdigen Unterton – verzieht sein Gesicht zu einer nachdenklichen Mimik. In diesem Moment überkreuzen zehn Spotlampen ihren aufflammenden Lichtstrahl. Leuchten heller als ein Stern, treffen Pelles Marionette mit voller Wucht. Nichts geschieht …, noch nicht. Offensichtlich wird das Spielkreuz, an dem die Fäden geknüpft sind, von niemandem gehalten - denn es scheint Bewegungen in Eigenregie zu vollführen. Das Gesicht der Marionette wirkt starr, da es sich immerhin um ein hölzernes Kunstwerk handelt, dem kein Leben innewohnt. Von einer Sekunde auf die Andere verändert jene Puppe ihr Erscheinungsbild, das Pelles immer ähnlicher wird. Schreit mit Leibeskräften wie ein Besessener, aus dem sich immer weiter öffnenden Mund. Tänzelt und hüpft herum, als wäre sie von abertausenden Wespen gestochen - einem Veitstanz nicht unähnlich. Eigentlich wollte Arne die Besucher vorab willkommen heißen und auf ein besonderes Puppenspektakel einstimmen, wozu er leider nicht mehr gekommen ist. Denn ab jetzt übernimmt Pelles gestörte böse Seele das Ruder, die sich langsam und steigernd in seine ihm ebenbürtige Marionette schleicht. Alles herauslässt, damit das Marionettenspiel gefährlich wirkt. Genau so, wie es vorab auf Plakaten angepriesen worden ist.

 

Rotglühende funkelnde Augen sprühen vor Hass, schauen mit wachsender Begierde auf die vor ihnen dummdreinblickenden Gäste. Einige wollen jetzt schon gehen, ja regelrecht vor dem fliehen, was sie noch erwarten könnte - sind jedoch vor quälender Angst als auch Ungewissheit, wie bleiern gefesselt. In diesem Moment, der sich gefühlsmäßig schier endlos hinzieht, beginnt Pelles Puppe das Publikum zu verspotten. Hüstelt nur kurz, redet wie ein Wasserfall - prügelt verbal auf die Besucher ein. Knüppelt sie mit Worten zu, dass einem die Spucke wegbleibt. Zieht vorab ein riesiges Jo-Jo aus seiner Jackentasche und lässt es gnadenlos in Richtung der Menschenmeute schnellen - hin und wieder zurück. Einigen knallt dieses runde Kinderspielzeug gezielt gegen die Stirn. Daraufhin erfolgt keine Reaktion der Betroffenen, da sie den Schmerz nicht zu spüren scheinen. Andere wiederum kümmert es offenbar genau so wenig - blicken nur wie gebannt auf die weiteren Aktionen der immer mehr gefährlicher werdenden Puppe. »Seid ihr auch alle da? Ha, ha, ha!«, zischelt sie mit fast menschlichem Gehabe. »He - du da, mit dem Zylinder auf der Birne!«, quakt es unaufhörlich weiter. »Ja - du, mit dem aufgeblasenen grauen Gesicht! Haben wir gerade Vollmond oder sieht deine Wenigkeit immer so aus?! Ach nein, wir erkennen ganz deutlich den “Geist von Canterville“ darin. Alter Schwede, an deiner Stelle würde ich mich erhängen. “Russisches Roulette“ ginge auch - heute frisch im Sonderangebot, für ganz Pfiffige!« Auf dem sprachlichen untersten Niveau angekommen, beginnt die Marionette andauernd zu niesen. Wischt sich den heraushängenden grünen Rotz mit dem Ärmel ab, schleudert ihn in Richtung des Herrn mit dem Zylinder. Hustet und spuckt zudem ihren sämigen Speichel dorthin, wo er auf der Wange eines anderen Besuchers landet und kleben bleibt. Erneut keine Reaktion jener wie Zinnsoldaten dastehenden Menschen. Sind sie überhaupt bei der Sache oder generell nicht wirklich im Zirkusdreieck vorhanden?

 

Unvermutet erscheint Pelle auf der Bildfläche. Baut sich, wie aus einer anderen Dimension kommend, hinter seiner innig geliebten Marionette auf. Bewegt fast synchron die Lippen zu dem widerlichen Gefasel des hölzernen Gesamtkunstwerkes. Immer noch gleißen die Spotlampen und nehmen die kleine dreieckige Bühne mit ihren intensiven Lichtstrahlen voll in Beschlag. Arne und Mats wollen irgendwie nicht hinschauen, müssen aber. »Psssst, Mats«, flüstert Arne ihm ins Ohr. »Schalte sofort sämtliche Beleuchtung aus, hörst du! Wer weiß, was noch kommt. Jedenfalls ist das jetzt schon nicht normal. Pelle oder wer auch immer dahintersteckt, hat sich ein ganz beschissenes Spiel ausgedacht. Schaue doch mal genau auf seine Lippen, Mats. Sie bewegen sich nicht zu dem, was die Puppe quatscht«. »Stimmt, Arne. Gebe ich dir total recht. Vielleicht will uns der Zirkusboss etwas mitteilen? Mutmaße, dass es immer dieselben Worte sind. Schaue auch du bitte nochmals hin, Arne. Er meint garantiert; “Helft mir bitte“.« Arne läuft zum hundertsten Mal puterrot an, wird wütend. »Fake, du Dumpfbacke! Hätte er uns doch vorab über sein Bühnenprogramm informieren können oder nicht? Gott verdammter Scheißdreck, diese Vorstellung geht mir gelinde gesagt auf den nicht vorhandenen Geist. Aaach was … - zum Kuckuck noch mal!« Mats dreht befehlsgemäß den Regler des Scheinwerfers herunter, der daraufhin erlischt. Drückt den Kippschalter der Spotlampen auf “off“. Dunkelheit flutet das dreieckige Zirkuszelt, in dem man noch nicht einmal richtig durchatmen kann, da die Luft stickig zu werden scheint. Arne und Mats vernehmen nur kurz die Trippelschritte jener sonderbaren Marionette, bis auch diese verstummen. »Puh - endlich, Mats!« Arne wirkt erleichtert. »Jetzt kannste den Scheinwerfer wieder hochfahren, du Dumpfbacke. Geb´ Speed, Kerlemann!« Ein kurzes Klacken, und der Innenraum des Zeltes erhellt sich - steht erneut unter Beschuss des Scheinwerferlichtes. Arne und Mats blicken auf etwas, das nicht mehr vorhanden ist. Keine Bühne, kein Pelle als auch seine Marionette. Null Publikum - reineweg gar nichts. Nur das langsam abschwellende pfeifende Geräusch, dieses über den unkrautüberwucherten Bahndammschienen entlang donnernden Personenzuges, ist noch ansatzweise zu vernehmen - bis auch das verstummt. Wieder jene dröhnende Stille, auf die unbedingt etwas folgen sollte …

 

 

 

Kapitel 3

 

Pelle Pålssons schlimme Vergangenheit im Waisenhaus Strömsund

 

Der Siebenjährige Pelle liegt in seinem angerosteten Metallbett und versucht einzuschlafen. Bittere Kälte schleicht durch das Mehrbettzimmer des Waisenhauses im schwedischen Ort Strömsund, in dem die elternlosen Kinder um erquickenden Schlaf ringen. Sich des Nachts oft um ihre eigene Achse drehen - es dennoch nicht schaffen, da sie frieren. Denn die Raumtemperatur steigt selten über zehn Grad plus, da nur noch wenige Heizkörper funktionstüchtig sind - dies eben nicht ermöglichen. Zudem haben hier alle untergebrachten Kinder nicht mehr, als ein dünnes Schlafhemdchen übergestreift - was den Zustand nicht wirklich angenehmer gestaltet, denn sie bibbern und zittern wie ausgetrocknetes Espenlaub, das vom kühlen Herbstwind vor sich her gefegt wird. Der Name “Barn Lycka“, was übersetzt so viel wie “Kinderglück“ bedeutet, wird dem Waisenhaus noch nicht einmal ansatzweise gerecht. Aber niemanden kümmert es in Strömsund, da seither nichts von den widerwärtigen Handlungen der Betreuer an die Öffentlichkeit dringen darf. Man stets bemüht gewesen ist, das Tuch des Schweigens darüber zu decken. Also scheint für die Strömsunder Bevölkerung alles im Reinen zu sein. Ist es das wirklich, oder trügt hier der Schein?

 

Pelles Bettchen steht am “nackten“ gardinenlosen Fenster, durch jenes der Vollmond sein kaltes Licht wirft. Direkt auf Pelles Gesicht, das genau dieselbe hellgraue Farbe aufweist. Mit weitgeöffneten Augen lässt er seinen Fantasien freien Lauf, da sie offensichtlich einen Weg aus der Misere, der im Waisenhaus herrschenden Zustände suchen und auch finden werden. Unter Pelles leicht schmuddeliger Bettdecke, hält er wie immer seine heißgeliebte Marionette vor den Blicken der sogenannten Erzieher schon lange gut versteckt, denn niemand darf hier ein Lieblingsspielzeug besitzen. Tagsüber legt er sie vorsichtig in die einzige Spielzeugkiste des Zimmers, und des Nachts nimmt er seinen “Doppelgänger“ fürsorglich ins Bettchen mit - eben so gut wie möglich getarnt. Ja, fast schon unsichtbar. Das soll auch so bleiben. Pelles Eltern, Inger und Nils, sind vor einigen Jahren bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen, und seitdem fristet er Seines in diesem “Barn Lycka“, ohne Hoffnung auf liebe Pflegeeltern, die einen psychisch gestörten Jungen wie Pelle ein ordentliches Zuhause bieten würden. Das Einzige, was ihn noch an seine Eltern erinnert, ist jene Marionette, die sie ihm zum Weihnachtsfest schenken konnten. Aber langsam verblasst diese, wandelt sich in übermäßige Wut, da sie ihn einfach unvorbereitet verlassen haben. Zusammengekauert und ausgezehrt, geht Pelle Stück für Stück einen abartigen Weg, der seine Zukunft bestimmen wird und hierfür vorab die Fantasien massiv hochkochen lässt.

 

Auf dem kleinen Nachttisch steht jenes Bild, das unverkennbar ein dreieckiges Zirkuszelt zeigt. Pelles Marionette ziert die Spitze der hochgezogenen Zeltplane, schaut finster auf kommende Besucher herab. So, als würde sie gleich zum Angriff übergehen. In Pelles Gehirn keimt nur noch ein Wunsch, irgendwann hier aufzutreten und seiner Gesinnung den richtigen Freiraum zu gewährleisten. Vielleicht sogar als Zirkusdirektor? Plötzlich verändert sich das Foto auf dem ansonsten kahlen Nachttisch, wirkt flüssig - während sich dunkle morastige Wellenlinien darin abzeichnen, die es wie unter Schlamm stehend erscheinen lassen. Das Tor der Gegenwart ist hier in diesem Waisenhaus langsam bereit, einen durchgängigen Tunnel für den weiteren Flippversuch in die Zukunft zu öffnen. Zwar irritiert, aber dennoch wie magisch angezogen, bewegt Pelle den knochigen Zeigefinger in jene Richtung, um das Zelt mit der krönenden Marionette darauf, zu streicheln. Irgendwie schmunzelt sie diebisch, in gieriger Erwartung seiner Person. Wie, als würde Pelle die Fingerkuppe in viel zu heißen Tee stecken, um die Trinktemperatur zu checken, zieht er sie heftig zurück - erschreckt. Wagt dennoch einen neuen Versuch und wäre um ein Haar völlig hineingezogen worden. Konnte gerade noch rechtzeitig einen Rückzieher machen und sich erst einmal aufs Bett plumpsen lassen. Immerhin wartet das Original jener hölzernen Marionette sehnsüchtig unter der Bettdecke, um mit Liebreiz und Kuscheleinheiten umfangen zu werden. Endlich schläft Pelle seelenruhig ein, die Puppe an Fäden des Marionettenkreuzes im Arm.

 

Während des traumlosen erquickenden Schlafes, heult der energiegeladene Herbststurm mit einsetzendem Regen um das Waisenhaus - will es offensichtlich vernichten. Dicke, fast schon dunkel wirkende Wassertropfen, werden gegen die dünnen Fensterscheiben gepeitscht - wollen sich mitteilen. Einer stimmlichen Nachricht gleich, die nur aus der Zukunft stammen kann. Eigentlich müsste Pelle hiervon wachgerüttelt werden, aber es ist jenes ballernde Geräusch der Zimmertür, die jeden gottverdammten Morgen pünktlich um 6 Uhr, von Magnus gegen die Wand gedonnert wird. Für Pelle schlechthin ein Alptraum, aus dem es kein Erwachen zu geben scheint. Einem Startschuss gleich, der regelmäßig aus irgendeiner Schrotflinte abgefeuert wird. Manchmal glaubt er, darin auch einen niedersausenden Psychohammer, in Gestalt des Erziehers Magnus zu hören, der den pädagogisch wertvollen Tag ankündigt. Pelle steht senkrecht wie eine lodernde Wachskerze im Bett - beginnt vor lauter Angst das Zittern am Leib. Da steht er nun, dieser Möchtegernerzieher Magnus, nimmt mit seinem muskelbepackten Körper fast den gesamten Türrahmen der Höhe als auch Breite nach, ein. Blökt in Feldwebelmanier immer dieselben Sätze. Am liebsten würde sich Pelle unsichtbar machen - im Boden versinken, oder gar durch das Tor flippen. Aber dazu kommt es nicht, denn Magnus hat ihn längst im Visier, wie eigentlich jeden höllischen Morgen.

»Aufstehen, ihr Bettnässer und Luschen - zack zack! Nichtsnutzige Bengelbrut!« , röhrt er wie ein Hirsch. Diese fast schon monotone Kasernenhofstimme, kann einem wirklich durch Mark und Bein gehen, wenn man so zartbeseitig wie Pelle ist. Darum hofft er inständig, dass Magnus diesmal die hölzerne Gerte nicht hinterm Rücken bereit hält, um sie auf seinem Hintern tanzen zu lassen. Würden Schläge das Denkvermögen steigern, wäre Pelle der intelligenteste Junge auf Gottes Erdenrund. Leider zeugen alte vernarbte Striemen, über einen langen Zeitraum hinweg ausgeteilt, von unsäglicher Wut seitens Magnus. Warum auch immer er so handelt, bleibt im Verborgenen seiner Jugend begraben - will jedoch ständig zu Tage befördert werden. Pelles Po ist demzufolge das ausgewählte Ziel, und das bekommt er jeden Tag erneut zu spüren.

 

»Macht schon!«, ergeht ein weiterer Befehl, dem immer dieselben folgen. »Ihr habt genau maximal fünf Minuten für den Toilettengang Zeit. Zwei Minuten räume ich euch fürs Zähneputzen ein. Eure Körper zu waschen, schafft ihr locker in zehn Minuten. Anziehen sollte nicht länger als eine Minute dauern. Ich erwarte euch geschniegelt und gebügelt im Speisesaal! Wer es schafft, früher zu erscheinen, bekommt eine Tasse Kakao extra und etwas Marmelade aufs halbe Brötchen - mehr ist nicht drin, damit das klar ist!« Während sich Pelles Zimmergenossen beeilen müssen, um dem Timing gerecht zu werden, zieht Magnus die Kiefernholzknute hinterm Rücken hervor. Drischt wie vom Wahnsinn besessen auf Pelles kleinen Po ein, dass es eigentlich jeder hören müsste. Leider sind die Zimmerwände viel zu dick, um auch nur ansatzweise etwas hindurch zu lassen. Der eingeschüchterte Junge erträgt dieses Spiel nur, wenn er seine Fantasien benutzt, die ihm eine gewisse Sicherheit bieten. Es ist jene Marionette, der er wirklich alles anvertraut - sei es auch noch so brutal. Des Nachts, wenn beide unter der Bettdecke vorab in einer anderen Welt weilen, die sehr viel später zum Zuge kommt. Gefüllt vom Sinnen auf Rache.

 

Derweil hat Pelles Hinterteil die Farbe eines tiefroten Pavian Pos angenommen und schwillt an. Alte Narben werden aufgerissen - während sich neue Striemenabdrücke dazugesellen und wie höllisches Feuer brennen. Um sich keine normale kindliche Blöße des Schmerzes zu geben, beißt er die Zähne so kräftig aufeinander, dass seine Lippen aufspringen und bluten. “Nur nicht schreien und Magnus damit anfeuern, denn sonst würde er niemals mit den brutalen Schlägen aufhören“, fordert sich der kleine Pelle auf. Noch nicht einmal Tränen vergießt er, da Magnus auch diese nicht mag - unterdrückt somit jedwedes Gefühl von Empfindungen. Dennoch ist sein Körper offensichtlich anderer Meinung und reagiert prompt. Ein Schwall des zurückgehaltenen Urins ergießt sich beständig über die ganze Matratze - wird von ihr aufgesogen. Jetzt kommt Magnus erst richtig in Fahrt, prügelt so lange auf seinen Unterleib ein, bis dass er unweigerlich aufhören muss - endlich vor Schmerzen aufschreit. »Du verdammter Bettnässer!«, zischelt Magnus mit entstellter Mimik. Will weiterschlagen, als es Gott sei Dank an der Zimmertür klopft. Magnus hält kurz inne, zieht die Knute durch seinen Gürtel und als Tarnung den alten Strickpullover darüber, den er offensichtlich kaum gewaschen hat - denn jener stinkt erbärmlich nach Schweiß. »Du kleiner Hosenpisser!«, setzt er noch einen drauf. »Frühstück gibt es für dich nicht. Kommst erst zum Mittagessen in den Speiseraum. Kannst dich schon auf den leckeren Erbseneintopf mit Fettbrocken freuen. Zwei Teller sind Minimum. Und wehe, du kotzt mir den wieder in den Teller zurück, dann frisst du deine gottverdammte Kotze, damit das klar ist!« Magnus grinst breit übers ganze Gesicht, fühlt sich allmächtig über die ihm anvertraute elternlose Kinderschar. Er hat eben alles gerne mehr wie im Griff, wofür ihm seine Holzgerte nur als nützliches Utensil und Beiwerk dient. Genauso wie das Zepter zu einem königlichen Regenten gehört.

 

Der neunjährige Björn Johansson öffnet die Zimmertür nur einen Spaltbreit und erblickt Magnus, der sich gerade umdrehen und gehen will. Daraufhin schließt Björn sofort unbemerkt jene Tür - wartet ab, bis Magnus verschwindet und sich außer Sichtweite befindet. Schaut, ob die Luft endlich rein ist und betritt das Zimmer, in dem es bestialisch wie auf einem Klo stinkt. »Mensch, Pelle! Was hat Magnus nur wieder mit dir angestellt, mein Freund? Irgendwann bringe ich den Kerl um, glaube mir.« Björn ist dermaßen angewidert von Magnus, dass er sein Vorhaben bestimmt auch irgendwann umsetzen würde. Wäre da nicht Pelle, der ihm einen anderen Vorschlag unterbreitet. »Björn, du bist der Einzige, dem ich vertraue. Kommst du mit auf eine Reise in die Zukunft?«, fragt er seinen besten Freund, mit gelassenem Ausdruck im Gesicht. »Zukunft, welche Zukunft, Pelle? Haben wir denn eine? Du bist ein Träumer, aber dafür mag ich dich ganz besonders. Deine Fantasien haben uns schon oft den Hals gerettet, mein Lieber.« »Pass‘ auf, Björn, ich zeige dir was«, entgegnet Pelle. »Mein Körper sieht abgezehrt und durchgepeitscht aus. Die Seele gesellt sich in gequälter Weise dazu. Bin einfach am Ende, verstehst du, Björn? Wir beide flippen in die Zukunft. Tauchen in dieses Bild ein, auf dem du dieses dreieckige Zirkuszelt sehen kannst. Meine Marionette ist schon dort - siehst du?«, deutet dabei auf das Foto.

 

»Pelle, ich liebe deine Fantasien, aber hier enden diese, meinst du nicht auch?«, zweifelt Björn an und lächelt zaghaft. »Nein, Björn, ich zeige dir mal etwas - schau nur.« Pelle legt seinen Zeigefinger vorsichtig auf das Bild. Plötzlich schwimmen kleine magnetische Wellen um die Fingerkuppe herum, wollen ihn stückchenweise vereinnahmen. So als würde man einen Stein ins Wasser werfen, der daraufhin versinkt. Pelle zieht ihn sofort zurück und gluckst siegessicher. »Siehst du, Björn, genau das meine ich.« Björn schaut irritiert auf das Foto und glaubt zu träumen. »Björn, wir haben keine Zeit zu vertrödeln. Nimm einfach meine Hand und lasse nicht los. Immerhin wollen wir gemeinsam in die Zukunft flippen.« Da er Pelle unendlich vertraut, ergreift Björn die Hand seines Freundes. Erneut legt - nein bohrt, Pelle den Finger in das immer flüssiger werdende Foto. Verschlingt Stück für Stück deren Körper, die sich hernach in einem schlauchähnlichen Kanal befinden, der von Glibber völlig ausgekleidet ist und grünlich schimmert. Zudem befinden sich unterschiedliche Zeitzonen darin - wie die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Darum ist es bitternotwendig, dass sich die beiden Freunde an Händen festhalten, denn sonst würden sie in diesem Zeittunnel verschiedener Wege gehen als auch unterschiedlich altern. Nur ein unbedachter Moment trennt sie kurz, denn Björn muss tierisch niesen. Lässt Pelles Hand los, um seine vor die rotztriefende Nase zu legen. Während Pelle von diesem klebenden Glibber weiter in die Zukunft geschleift wird, verbleibt Björn darum in einer Art von anderer Gegenwart, die ihn später und zwar sehr viel später, in der Zukunft, jene dann zur realen jetzigen Gegenwart auf dem Zeestower Weg Spandau wird, erscheinen lässt. Eben als Handpuppenkünstler und Bauchredner, mit Namen Björn Johansson. Um viele Jahre gealtert und auch körperlich nicht wiederzuerkennen. Was Björn allerdings in dieser etwas anderen Gegenwart erlebt hat, nimmt natürlich Einfluss auf jene Zukunft, die sich dann im Nachhinein logischerweise als Gegenwart darstellt. Pelle bemerkt erst viel zu spät, dass sein Freund Björn nicht mehr hinter ihm ist. Auch das unerbittliche Rufen seines Namens, holt ihn nicht mehr zurück, da es in diesem Zeittunnel andere Wege nimmt und verhallt. Vielleicht sehen sich die beiden Freunde sehr viel später wieder?

 

Unaufhörlich wird Pelle von diesem grünen Glibber immer weiter in die Zukunft gedrückt - altert um 30 Jahre. Erscheint exakt an jenem Dienstag, wo Björn inzwischen seinen abgefahrenen Gastauftritt im dreieckigen Zirkuszelt gibt, um den dreißig Besuchern etwas aus dem reichhaltigen Puppenrepertoire zu bieten. Pelle und sein Lieblingsspielzeug beobachten währenddessen die Vorstellung hinter der dreieckigen Manege. Denn von dort aus hat er einen guten Blick auf das Geschehen, um sich im Falle des Falles stimmlich einmischen zu können. Jedoch kommt es anders, als vorgesehen …

 

 

 

 

 

Kapitel 4

 

Ende aus Kapitel 2

Wieder jene dröhnende Stille, auf die unbedingt etwas folgen sollte …

 

… »Maaaaaaats!« , kreischt Arne urplötzlich mit ohrenbetäubender Stimme, um der nervigen Stille wenigstens etwas Volumen zu geben. »Kneif mich mal, du Edeldumpfbacke, ob das hier die Wirklichkeit ist! Fühle mich regelrecht wie tot oder nichtgeboren.« Schaut Mats dabei bittend und händeringend an. Der ist jedoch so heftig mit seiner körperlichen Schockstarre beschäftigt - versucht sie schleppend zu überwinden und kann darum weder reden, noch sich ansatzweise bewegen. Nun ja, die Situation ist ja immerhin auch kaum, bis hin gar nicht zu ertragen, oder? »Heiliges Kanonenrohr!«, bölkt Arne weiter. »Muss ich denn alles alleine auf die Reihe kriegen? Hilf mir lieber, als nur wie eine nichtsnutzige Salzsäule und Dumpfbacke herumzustehen. Aaaaaach was!« Winkt ab und labert weiter. »Frage mich grade, wenn die erste Vorstellung schon offensichtlich in die Hose gegangen ist, wie werden dann die restlichen Programme aussehen, Kerlemann. Sechs Tage stehen uns nämlich noch bevor, du …« Weiter will Arne nichts hierzu sagen, denn er hat die Nase im Moment gestrichen voll. Begibt sich energischen Schrittes in Pelles Künstlerwagen, um nach irgendeiner Programmvorlage zu suchen, die alles erklärt - Licht ins Dunkel bringt. Immerhin ist er der Zirkuschef, sollte sich vorab mit anderen Puppenkünstlern in Verbindung gesetzt haben, damit jenes Puppenprogramm reibungslos über die Bühne geht. Arne steht keuchend, nach Luft japsend, vor der Bauwagentür - als diese sich von alleine knarrend öffnet. Er ignoriert jedoch diesen kleinen Zwischenfall, da seine Wenigkeit ausufernd saurer wird. Stürzt Richtung Holztisch, der noch nicht einmal ansatzweise dem eines Bürotisches würdevoll entgegenkommt. Ein Wust von allen möglichen Formularen geifert ihn an, schreit nach Ordnung. Einige Papierblätter liegen bereits verstreut am Boden - so als stecke Absicht dahinter. Möchte eventuell Pelle dem Arne hilfreich unter die Arme greifen, obwohl er nicht wirklich körperlich anwesend sein kann?

 

Arne bückt sich schwerfällig, als er einen widerlichen Gestank fauligen Holzes wahrnimmt, der in einer unkontrollierten Welle über den gesamten Holzboden wabert. Wie der schleichende Tod dort entlang kriecht, den man tunlichst meiden sollte. Währenddessen hockt Pelles Marionette zusammengesunken und völlig regungslos vor dem Waisenhausbild, scheint es mit starrem Blick anzuschauen. Mit wachsender Begeisterung beginnt jenes Haus daraufhin diebisch zu schmunzeln, geifert unablässig nach Pelles hölzernem Kunstwerk. Nur kurz davon irritiert und abgelenkt, erhebt sich Arne schmerzvoll mit einem knackenden Geräusch seiner Wirbelsäule in die Senkrechte. Atmet aus, will schon den Bauwagen unverrichteter Dinge kurzerhand verlassen und hält dennoch inne. Ein besonderes Stück Papier im DINA4 Format flattert ihm bereitwillig und wie von Geisterhand gehalten, entgegen. Arne ergreift es ohne zu zögern, liest sich durch die Namen der noch vier teilnehmenden Puppenkünstler. Tippt unablässig mit dem Zeigefinger auf jeden einzelnen Puppenspielernamen, brabbelt dabei säuselnd vor sich hin.

 

»Montag: Pelle, ich selbst - Marionettenkünstler.

Dienstag: Björn Johansson - Handpuppenkünstler und Stimmenimitator.

Mittwoch: Nils Svensson - Bauchredner mit seiner zickigen Vogelpuppe.

Donnerstag: Allan Gunnmo - Stabpuppenkünstler.

Freitag: Jens Isvén - bläst Luftballons kunstvoll zu Puppenfiguren auf und verknotet sie.

Samstag und Sonntag: ? Ohne Namenseintrag.«

 

Arne versteht die beiden letzten Einträge fürs Wochenende nicht wirklich - schaut darum vom Papierbogen hoch, lässt jenen wirren Gedanken unkontrollierten Lauf. Erneut zieht Zornesröte über sein Gesicht, da er mal wieder kurz vorm Ausrasten ist. Bläht die Wangen auf und prustet ungehalten los - hält dabei immer noch den Papierbogen krampfhaft in der Hand. »Dieser gottverdammte Drecksack von Boss, kriegt nichts gebacken. Pah, ich hasse das ums Verrecken …!« Während Arne endlos vor sich hin wettert, wird ihm eisigkalt im Rücken, da die Holztür offensichtlich immer noch sperrangelweit offen steht - glaubt er zumindest. Vibriert vor Kälte wie eine Gitarrenseite und schüttelt sich heftig. Will seinem eigentlich gestählten Körper eine Kehrtwende verpassen, um für den Bruchteil einer Sekunde in diese Richtung zu blicken. Sich vergewissern, ob nicht alles erneut aus dem Ruder läuft - ihm sein langsam schmelzender, kaum noch vorhandener logischer Verstand einen Possen spielt. Völlig entgeistert, jedoch mit abschwellender Wut - begreift Arne, dass jene Künstlerwagentür verrammelt ist. Hat er sie geschlossen oder könnte eventuell Pelle die Holztür verriegelt haben? Eben genau in diesem Moment, als Arne vor Übereifer und total abgelenkt, nach der Künstlerliste gesucht hat? Ihm ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass Pelle mal wieder dahinter stecken könnte. Hastet darum zur besagten Tür - will sie öffnen. Dem entfliehen, was sich im besten Falle nicht gut anfühlt - da auch der ausufernde Wahnsinn etwas Erlösendes haben kann. Kurz hält Arne inne - zögert, ob er die Metallklinke überhaupt berühren sollte. Denn auf ihr bildet sich spontan eine glitzernde, krustenähnliche Schicht von Eiskristallen. Will jene metallene Oberfläche gänzlich wie eine Barriere einhüllen, um Arnes Flucht zu verhindern. Einer Warnung gleich, den Bauwagen nicht verlassen zu dürfen. Trotzdem drückt Arne sie nieder, kann nicht loslassen - da seine linke Hand daran kleben bleibt und zu schmerzen beginnt. Abertausenden Stecknadeln ähnlich, die das Fleisch durchbohren wollen. Arne schreit aus Leibeskräften, um diesem stechenden Schmerz Ausdruck zu verleihen.

 

In seinem Kopf nur noch ein Gedanke; “Ich muss Mats unbedingt das Künstlerformular zeigen, sonst …“. Eigentlich will Arnes Körper aufgeben und ihn ohnmächtig werden lassen, da der pochende Schmerz nicht abschwellen will - sondern eher auf einem Punkt angekommen ist, der sein Gehirn aufquellen lässt. Ja regelrecht aus der Schädeldecke zu heben scheint. In diesem Moment, wo man genau weiß, der Wahnsinn schreitet irgendwie voran, ertönt wieder das laute Pfeifen des Personenzuges. Rattert mit leeren Endlosabteilen und Höllengeschwindigkeit über den unkrautüberwucherten Bahndamm des Zeestower Weges entlang. Plötzlich erneut diese abgeschnittene Funkstille. Kein Geräusch und nichts weiter, was einen folgerichtigen Schluss auf Veränderungen zulässt. Außer, dass jene Türklinke immer noch von Arnes gefühlloser Hand umschlossen wird. Auf ihrer Innenseite weder die Spur von Gefrierbrand, noch eine andere Verletzung, die höllisch wehtut. Eigentlich könnte Arne jetzt die Flucht nach Vorn antreten und in Null Komma Nichts verschwinden. Aber irgendetwas hält ihn davon ab. Es ist nur wieder so ein bescheiden schönes Gefühl von Beobachtet werden, das einem die Haare zu Berge stehen lässt. Arne zögert kurz, dreht sich dann hastig mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend und rasendem Herzklopfen um. Unvermittelt baut sich Pelles Mund über dem halbzerfallenen Büroholztisch auf, will ihm offenbar etwas mitteilen. Jedoch anstatt flehender Worte, quillt nur frostiger Atem daraus hervor, der bald alles im Raum des Künstlerwagens vereinnahmt und mit einer dünnen Eisschicht bedeckt. Zuerst legt sich das kalte Böse über Pelles Marionette, friert sie ein. Dann folgt das wenige Mobiliar, und im Nachhinein wird Stück für Stück auch das Äußere des Bauwagens eingehüllt. Arne verbleiben nur noch wenige Sekunden, um sein klägliches Leben zu retten, bevor der Todesatem auch ihn erreicht. In würdelose Starre versetzt - alles aus dem Leib prügelt, was noch vorhanden ist.

 

Hektisch, wie von Sinnen, drückt Arne die Klinke herunter. Tritt mit dem Fuß gegen jene Holztür, die sich zuerst dagegen wehrt. Dann offenbar doch aufgibt und willenlos knarrend öffnet. Während er über das langsam, trügerisch austrocknende Areal hastet, schaut Arne kurz zurück. Sieht das Unvermeidbare in Reinkultur. Wo vorher noch Pelles Künstlerwagen gestanden hat, türmen sich kleine dreieckige Eiswürfel, ähnlich einem Zirkuszelt, auf. Nur eine Illusion oder doch der Effekt Pelles geschundener Seele, die sich auf eine erlösende Weise offenbart? Arne darf einfach keine Zeit verplempern, denn sie drängt. Gott sei Dank hält er immer noch die schon reichlich zerknüllte Programmliste in der Hand. Völlig außer Puste, betritt Arne endlich das Zirkuszelt. Mats hat indes sehnsüchtig auf Arnes Informationen gewartet und wissbegierig ausgeharrt. Begrüßt ihn darum mit freudigem Lächeln, als er ihm die aufgefaltete Liste zeigt und unter seine krumme Künstlernase reibt. »Mats, du glaubst nicht, was mir eben passiert ist. Pelles Wohnwagen ist zu dreieckigen Eiswürfeln mutiert. Frage mich bitte nicht weshalb, du Dumpfbacke. Verliere bald den Verstand, wenn das so weitergeht.« Tippt unaufhörlich mit seinem dicken Zeigefinger auf dem Stück Papier herum, während er sich den kalten Angstschweiß von der Stirn wischt. »Morgen am Dienstag ist Björn Johansson mit seiner Handpuppe dran. Nur gut, dass ich diesen Wisch retten konnte, bevor alles zu Eis erstarrt ist. Wenn du mir nicht glaubst, überzeuge dich doch selbst, Mats!« Der winkt jedoch ab und unterbreitet Arne einen herzerfrischenden Vorschlag zur Güte. »Eigentlich haben wir doch heute nichts mehr vor, oder? Niemand hier, der uns stören könnte. Wir zwei sollten endlich zur Ruhe kommen. Morgen ist auch noch ein Tag, mein Freund. Alles klärt sich auf, ich schwöre dir. Und das mit dem offenen Wochenende …, na ja, erledigt sich auch irgendwie. Warten wir es einfach ab, denn ändern kann man es ohnehin nicht, Arne.« Entspannten Schrittes laufen zwei Freunde in Richtung ihres Künstlerwagens, um heißen Earl Grey Tee mit reichlich Zucker zu trinken. Arne wird sich erneut sein Meerschaumpfeifchen mit dem wohlriechenden Tabak im Köcher anzünden, es genießen und die Gedanken mit dem aufsteigenden Qualm irgendwo hin fliegen lassen.

 

Langsam neigt sich der abgefahrene und ereignisreiche Tag gen Ende. Zeigt das mit einsetzender Dunkelheit, die alles zudeckt - so als läge ein schwarzes, schweres Leichentuch darauf. »Mats, du Dumpfbacke«, beginnt Arne das erleuchtende Gespräch, um der grausigen Stille entgegen zu wirken. »Schalte mal das Licht ein. Kannst auch ´ne Kerze anzünden, wenn der Transformator mal wieder zwischendurch ausgefallen sein sollte. Ach was, knipse einfach deinen Heiligenschein an - das reicht, oder? Haste den auch ordentlich geputzt und aufpoliert?« Peng!, da ist es wieder, dieses heißgeliebte Wort “Heilig“. Mats will gerade die bereits kaltgewordene Neige Earl Grey aus der Tasse schlürfen, verschluckt sich dermaßen - dass er wie irre hustet und prustet. Den Rest als Sprühnebel über den Tisch verteilt. Spuckt, krächzt und lacht schallend - immer abwechselnd. »So, so! Du denkst, mir schwebt ein Heiligenschein über dem Kopf? Dann sollte ich zuerst die Tarnkappe abnehmen, damit der sichtbar wird, mein Gutster«, quält und presst Mats mit tränenerstickter Stimme hervor. Kann sich vor Belustigung kaum halten - schwingt auf dem Holzstuhl wie ein Jo-Jo vor und zurück und hält sich den aufgeblähten Bauch. Furzt wie ein Walross, und verleiht dem Innenraum des Künstlerwagens eine spezielle Duftnote, der man kaum entfliehen kann - obwohl es unbedingt erforderlich wäre. Jetzt muss auch Arne lachen, denn die humorvolle Seite von Mats ist ihm bis heute verborgen geblieben. »Kerlemann!«, räuspert sich kurz geräuschvoll. »Ich denke, aus uns wird noch etwas, oder?« Klopft die Asche aus dem Köcher, in den antiken Zinnaschenbecher - schaut leeren Blickes aus dem kleinen Künstlerwagenfenster. Dass jener Eiswürfelberg verschwunden ist, findet keine Beachtung, denn Arne ist mit seinen Gedanken bereits bei der Dienstagvorstellung. Fragt sich, ob alles geordnet und wie vorgesehen, über die Bühne gehen wird. Mats ist derweil auf dem Stuhl selig eingepennt und schnarcht. Sägt ganze Nadelwälder in Stücke, was Arne nicht im Geringsten stört. Kennt er doch immerhin diesen lauten Entspannungsrhythmus des Sägetrainings, von den jetzt leider verschwundenen Skatbrüdern her - grinst bei dem Gedanken nur zustimmend in sich hinein.

 

Eigentlich sollte Arne ebenfalls schlafen, jedoch jagt ein Gedanke den Anderen - will ihn nicht wirklich loslassen. Zwar reichlich übermüdet, aber trotzdem nicht schlafwillig, flammt es pausenlos in seinem Hirn. Einer Glühbirne ähnlich, die einfach mit dem Brennen keinesfalls aufhören möchte. Demzufolge schaut er wieder aus dem kleinen Fenster des Künstlerwagens. Presst sein Gesicht dicht an die Glasscheibe, um noch ansatzweise etwas erkennen zu können. Atmet heftig ein und aus, so dass sich kurz Feuchtigkeit darauf absetzt, die zu winzigen Tautröpfchen mutiert. Undurchsichtigem, morgendlichem Nebelhauch gleich, der daraufhin verschwindet - alles erneut freigibt. Es ist eine verdammt gruselige Situation, da der momentane Vollmond sein fahles Licht auf das Zirkusareal wirft - alles darin eintauchen will. Arne schaut irritiert in die Richtung, wo noch kürzlich die dreieckigen Eiswürfel gelegen haben. Glaubt, fast an dem zu ersticken, was kaum noch vorhanden ist. Eine riesige Pfütze eiskalten Wassers, in die sich der Vollmond widerspiegelt - sie wie Speck glänzen lässt, wird unablässig vom scheinbar ausgetrockneten Boden gierig und schlürfend aufgesaugt. So, als würde sich jemand schadlos daran bedienen und keinesfalls wieder hergeben wollen. Spielt Arnes Übermüdung ihm einen Possen oder geschieht dies wirklich?

 

Für einige Sekunden kneift er darum die immer schwerer werdenden Lider zusammen, um dieser heftigen Vision zu entfliehen - hofft auf Erlösung, und öffnet erneut die brutal brennenden, ja schon fast schmerzenden Augen. Endlich wird sein Körper von einsetzender lähmender Müdigkeit durchflutet. Dreht sich um, wankt an Mats vorbei, der inzwischen seinen Kopf auf beide angewinkelten Arme abstützt. So, als dächte er angestrengt über etwas nach, während ihm die Tischplatte nur als Hilfe und Tarnung dient. Kämpft sich unermüdlich durch sämtliche Nadelhölzer der Welt - dabei fortwährend seinem Schnarchrhythmus folgend. Ohne sich auszuziehen, sackt Arne schlaftrunken auf seine Metallpritsche. Deckt sich noch nicht einmal zu, da er inzwischen im Land der Puppenträume weilt. Alles wirkt einschläfernd friedlich - jedoch der Schein trügt. Denn in diese Stille hinein, baut sich jenes ratternde Geräusch des Personenzuges auf, der über den Bahndammschienen des Zeestower Weges schwebend entlang rauscht. Mit leeren Endlosabteilen das Böse ankündigen will. Den noch vorhandenen einzigen Künstlerwagen mit einer dünnen Eisschicht einzudecken beginnt. Ihn wie einen umklammernden Gürtel einzwängt - stückchenweise vernichten möchte. Plötzlich wird Arne von einsetzender Kälte übergangslos geweckt, die seinen warmen Atem in der Luft gefrieren lässt - in winzige dreieckige, kristalline Eiswürfel formt. Kein einziger Gedanke im Hirn, der etwas daran zu ändern vermag. Nur Arnes ständiges Ein- und Ausatmen verhindert Schlimmeres. So, als ginge es ums nackte Überleben, geht er eben diesem natürlichen Mechanismus nach. Zögernd und mit Widerwillen, schmelzen jene Würfelchen, geben sich geschlagen - vorerst. Die Normalität hält Einzug, kehrt zurück - geht ihrer Wege.

»Heiliges Kanonenrohr, was für ein abgefahrener Alptraum. Allerdings ein ziemlich Realistischer!«, blökt Arne. Beginnt wie ein Aal zu zittern - da er ihn irgendwie immer noch nicht loslässt. Fragt sich, was der Schwachsinn überhaupt soll. Dass Mats mit aller Seelenruhe in jener Körperhaltung verharrt und schläft, nimmt er kaum zur Kenntnis. Will eigentlich etwas bitter notwendigen restlichen Schlaf nachholen, damit am Dienstagabend alles reibungslos über die Bühne geht. Immerhin trägt Arne jetzt jene Verantwortung, die eigentlich Pelle zustünde - der jedoch mit Abwesenheit glänzt, unauffindbar bleibt. Knallt seinen geschlauchten Körper erneut auf die fleckenbesudelte Zudecke und sinniert im Kopf über den Ablauf des bereits erwachenden Tages nach. Demzufolge ist an erquickenden Schlaf keinesfalls wirklich zu denken, noch nicht einmal ansatzweise.

 

Stunde um Stunde vergeht, während nichts weiter geschieht. Sich eben nur wieder diese unsägliche, kaum zu ertragende Stille ihr Plätzchen sucht und auch findet. Arne trägt es mit Fassung, da er hieran nichts zu ändern vermag - liegt einfach nur mit geschlossenen Augen da. Zu hören ist immer noch Mats´ musikalisches Schnarchkonzert, das ansatzweise an Leben erinnert und für bare Münze genommen werden kann. Ein leichtes Schmunzeln huscht über Arnes Gesicht, das seine Gedanken aufhellt - ihn entspannen lässt, von gewissen Qualen kurz erlöst. Denn nichts ist schlimmer, als sich keineswegs in der Wirklichkeit zu wähnen, in der die Dinge und Ereignisse anders empfunden werden. Also alles normal? Während Arne den Morgen herbeisehnt, um nicht doch noch durchzudrehen, zeigt der sich leider mit einer nebeligen Dunstglocke über dem Areal des Zeestower Weges - anstatt den Dienstag mit Sonnenschein einzuläuten. In diesem Moment des Zauderns, ob er aufstehen soll oder eben nicht, klopft es laut und energisch an die hölzerne Künstlerwagentür. Immerhin ist es der noch einzige vorhandene Bauwagen auf dem Zirkusareal, jener eben diese Möglichkeit hierzu bietet.

 

 

Kapitel 5

 

Irrwitzige Handpuppendarstellung. Björn Johansson lässt seine merkwürdigen Puppen tanzen

 

Arne öffnet zunächst das Eine, dann das andere Auge. Zumindest versucht er es angestrengt umzusetzen. Sie scheinen sich seinem Willen widersetzen zu wollen, zollen diesem quälenden Vorgang nur mit strichähnlichen Sehschlitzen, aus denen kleine getrocknete Körnchen quellen - die höllisch pieken. Fummelt mit einer Hand nach dem Wecker neben sich, um ihn dicht vor jene Sehschlitze zu halten - somit die genaue Uhrzeit ansatzweise ablesen zu können. Der jedoch fällt rappelnd zu Boden - liegt dort zerschmettert und verstreut in seine Einzelteile herum. Nach einigen Sekunden gelingt es Arne, seine Glubschen zu öffnen. Erhebt sich schwerfällig von der Pritsche, wankt hinter Mats‘ Stuhl vorbei und rempelt ihn heftig an. Der erwacht daraufhin aus einem fast traumlosen Schlaf und gähnt. Öffnet seinen Mund so weit, dass es ausschaut, als würde er nach irgendwelchen herum jagenden Fliegen schnappen wollen. Reibt sich jenen Schlaf aus den Augen und poltert gleich los. »Verdammter Sack! Du Ausgeburt der Hölle - was soll das?« Arne antwortet nicht, sondern stakt zur Holztür, um sie zu öffnen. Ein hagerer Typ, mit hohem, schwarzem Zylinder, gleichfarbigem zerschlissenem Hosenanzug als auch ziemlich ausladenden dreckigen “Quadratlatschen“, steht davor. Hält ein antikes Lederköfferchen in der Hand, das beidseitig von klaffenden Rissen regelrecht übersät ist - offensichtlich schon lange in Benutzung. Stellt seinen Puppenkoffer ab und zieht den riesigen Zylinder vom unbehaarten Schädel, um sich vorzustellen. Arne glaubt, dem Totengräber persönlich gegenüber zu stehen und lächelt unwillkürlich in sich hinein.

 

»Sie haben mich für Dienstag gebucht, oder? Ach ja, mein Name ist …«, kratzt sich verlegen am Kopf, überlegt kurz und fährt fort. »… Ähem - Björn Johansson, aus …«, gerät ins Stocken und will schon aufgeben. »Ystad!« Sabbert dabei dünne Speichelfäden, als könne er nicht anders. »Kennen sie den Ort?« Arne antwortet nicht, sondern bittet diesen irrwitzig aussehenden Typen kurzerhand hinein und auf einer der wenigen Holzstühle Platz zu nehmen. Genau ihm gegenüber, da er Björn direkt ins Gesicht blicken möchte, während er alles mit ihm bespricht. Man kann ja nie wissen, was noch Unvorhergesehenes geschieht, wenn Arne von irgendetwas abgelenkt wird. Derweil völlig aufgedreht, füllt Mats etwas Wasser aus einem Plastikkanister in den Kessel, damit er den Earl Grey frisch aufbrühen kann. Plötzlich wettert Arne im Feuereifer der Gefühle los; »Heiliger Strohsack! Geht es noch, du Dumpfbacke? Der Wasserkanister ist fast leer. Wie um Gottes Willen kommst du dazu, schon wieder Tee zu kochen, hä? Das reicht gerade mal für unsere Körperpflege, du Widerling! Ich jedenfalls hole kein Wasser mehr von der Pumpe und schleppe mir den Wolf.« Björn grinst daraufhin wie ein Honigkuchenpferd, äußert sich aber nicht weiter hierzu. Unbeeindruckt dessen, setzt Mats die Teeaktion trotzdem fort. Arne winkt angewidert ab und wendet sich Björn zu.

 

»Dann zeige mir mal die Puppen, Björn. Eine kleine Vorabpräsentation sollte schon sein, oder? Wenn möglich, gleich hier.« Er duzt den Handpuppenspieler, als würde er ihn schon ewig kennen. Ist es wirklich so oder trügt nur der äußere Anblick des gruselig angehauchten Puppenspielers? Will Arne etwas vormachen, das nicht wirklich vorhanden zu sein scheint? Erneut diese beklemmende Stille vor dem drohenden Unheil. Denn aus weiter Ferne rast der nahende Personenzug mit Endlosabteilen, unkontrolliert und schwebend, über den Bahndamm des Zeestower Weges. Pfeift immer lauter werdend, bläst pausenlos schwarze, stinkende Dampfwolken aus seinem Schornstein, die das Areal völlig vernebeln wollen. Als würde das Schicksal jene dreckigen Pfoten unkontrolliert im Spiel haben, verzieht sich für einen kurzen Moment Björns Gesicht zu einer hämisch grinsenden Maske, die Pelles ähnlich sieht - jedoch wieder sofort Björns Züge annimmt. Arne glaubt, dass ihn dieser Endlosalbtraum voll im Würgegriff hält und niemals loslassen will. Was ist nun Wirklichkeit und was eben Einbildung? Endlich öffnet Björn den alten Lederkoffer, entnimmt ihm Stück für Stück drei Puppen. Noch ist alles normal, bis er …, tja - bis er eine Handpuppe in Händen hält, die Pelles Marionette wie der eineiige Zwilling aufs Haar gleicht. Streift sie über die knochige Hand, redet zudem noch fortwährend mit Pelles Stimme. Woher kennt er Pelle und seine Marionette? Ist er ihm schon einmal begegnet, eventuell in der Vergangenheit? Ab jetzt nimmt das Spiel seinen ungebremsten Lauf, da Björn irreführende Fragen stellt. Arne hält in diesem Moment seine sonst übersprudelnde koddrige Schnauze und hört widerwillig zu. »Nun, Herr Pålsson, wie gefällt ihnen das? Kennen sie diese Puppe? Ich kann sogar Stimmen imitieren, bin also Bauchredner. Ein Künstler wie ich, sollte ein riesiges Repertoire drauf haben, meinen sie nicht auch? Gebe gleich eine Kostprobe meines Könnens. Sie entscheiden, ob es genehm für ihren Puppenzirkus ist oder eher fragwürdig.« Schaut Arne dabei so tief in die Augen, dass ihm schwindelig wird. Aber der will seine wahre Person vorerst nicht preisgeben, sondern das ungewollte Spiel einfach mitmachen. Sehen, was sich daraus ergibt, bevor Björn Lunte riecht und abhaut - da Pelle nicht Pelle ist, niemals sein wird.

 

Mats seiht währenddessen den fünf Minuten gezogenen Earl Grey Tee durch ein Sieb ab, der herrlich nach Bergamotte duftet. Gießt ihn von der gusseisernen Teekanne in drei Tontassen, mit buntem Blumenmuster bemalt. Greift nach der halbleeren Mürbekekspackung und stellt alles Stück für Stück auf den ramponierten Holztisch. »Dumpfbacke!«, bölkt Arne - schnippt dabei mit den Fingern wie wild herum. »Wo bleibt der Zucker, du armseliges Würstchen?« Diesmal ist es Mats, dem die aufsteigende Wut ins Gesicht steigt - es wie einen glutroten Sonnenuntergang wirken lässt. Mats antwortet nicht, sondern reicht Arne wie befohlen, die hierzu im Blütendesign passende Zuckerdose. Setzt sich dazu und verfolgt gespannt die Vorabpräsentation. Will einfach nicht glauben, was er zu sehen bekommt. Rührt währenddessen mit einem Silberlöffel abwesend im sich langsam abkühlenden Tee herum. Folgt eher konzentriert dem aberwitzigen Puppenspiel von Björn, der alles herausholt, was in ihm steckt. Befindet sich Mats ebenso längst in seinem eigenen Reich von Fantasien, die ihn genüsslich immer weiter in den blubbernden Morast ziehen wollen? Vielleicht steht auch die Wirklichkeit auf der Matte, wo man glaubt, wahnsinnig zu werden? Ihr entfliehen möchte, damit alles ein Ende hat?

 

Erneut diese unheimliche Stille, wo man meint, ein Blatt Papier durch die Luft flattern zu hören. Unerwartet hält Björn inne, lehnt sich auf dem Holzstuhl zurück - schaut Arne mit zweifelndem Gesichtsausdruck an. »Hm! Pelle Pålsson? Kommt mir irgendwie bekannt vor.« Trommelt während des Überlegens pausenlos mit dem Finger auf der Tischplatte herum. Mats ist so langsam genervt davon, will schon aufstehen - bleibt Gott sei Dank sitzen. »Richtig, jetzt fällt es mir ein. Pelle, mein einstiger Freund aus dem Waisenhaus. Mensch Pelle, erkennst Du mich denn nicht? Ich bin‘s, Björn Johansson, dein Freund und Kupferstecher. Habe mich schon gewundert, warum du mich siezt und dann wieder duzt. Biste Dir wohl auch nicht sicher, mich betreffend, was? Verdammt, hast dich zwar ziemlich verändert - aber doch, du musst es sein. Der Name ist selten, und ich kenne keinen weiteren Typen, der so heißt.« Arne sitzt in der Zwickmühle und wie auf glühenden Kohlen. Sollte schnellstens reagieren, damit der wirkliche Umstand nicht ans Tageslicht befördert wird. Räuspert sich den festsitzenden Kloss aus dem Hals. »Lieber Herr Johansson, Sie haben mich ja gar nicht zu Wort kommen lassen, während ihres Redeschwalls. Unser Zirkuschef ist im Moment mit wichtigeren Dingen beschäftigt. Deshalb kümmere ich mich, als Stellvertreter um alles, während er …, nun ja, er sucht inzwischen nach weiteren Puppendarstellern fürs Wochenende«, lügt ihm Arne vor, ohne dabei rot zu werden und atmet erleichtert durch. »Willkommen in unserer Truppe, Björn Johansson. Ich bin der Arne - der Nachname tut nichts zur Sache. Nun ja …, okay - ich heiße … Arne Fältskoog. Recht außergewöhnlich, oder? Dann zeigen sie mal, was Björn noch so auf der “Pfanne“ hat.«Arne schaut entspannt und erwartungsvoll seinem Gegenüber tief in die Augen.

 

»Kein Problem für mich, Herr Fäl…«, hält wieder einmal kurz inne, da Björns Gedächtnis nicht mehr als zwei Kilobyte an Informationen speichern kann. »Fältskoog, Björn - einfach Fältskoog«, greift Arne hilfreich ein. »Genau, Fältskrug«, wiederholt Björn völlig falsch den Nachnamen - lächelt dazu gekünstelt und irgendwie verkniffen, da er sich wohl am besten kennen muss. »Ach ja, eine Frage hätte ich noch. Wann kann ich denn mit Pelle rechnen?« Arne denkt kurz nach, haut die Antwort wie aus der Pistole geschossen, raus. »Nun, Björn. Aus Erfahrung weiß ich, dass er spätestens heute Abend um zwanzig Uhr anwesend sein wird.« Warum ist Arne nur so felsenfest von seiner Aussage überzeugt? Immerhin ist dies keinesfalls sicher, dass er wieder um dieselbe Zeit auftaucht. Währenddessen hört Mats dieser Unterhaltung mit gemischten Gefühlen zu, glaubt inzwischen noch nicht einmal mehr an den Weihnachtsmann. Will kurzerhand aufstehen und klammheimlich den Künstlerwagen verlassen, um frische Luft zu tanken. »Heiliges Kanonenrohr, Mats! Du bleibst gefälligst hier. Könnte sein, dass ich dich hier noch benötige, armes Würstchen«, raunt Arne - drückt seinen Kumpel dabei mit Nachdruck auf den Stuhl zurück. »Dir entgeht sonst ein abgefahrenes Puppenspiel, mein Gutster.« »Nee, lass‘ gut sein, das kann ich mir heute Abend auch ansehen, Arne. Muss noch die Boxen erneut konfigurieren und die Leuchten ausrichten.« Winkt ab, hastet zur Tür, bevor ihn Arne nochmals wie einen Erstklässler auf den Holzstuhl verweist. Ohne sich umzudrehen, verlässt er schnellstens den Künstlerwagen, schreitet hernach gemächlich weiter zum Zirkuszelt, und atmet jene bereits kühler werdende Nachmittagsluft tief ein, die seltsamerweise nach faulen Eiern stinkt. So als würde sich die Hölle öffnen und ihren schwefeligen Gestank herausschleudern. Bevor Mats auch nur ansatzweise einen weiteren Gedanken fassen kann, blubbert unaufhörlich der schwarze Morast. Ein riesiges, grünlich schimmerndes Maul öffnet seine tödlichen Pforten. Aus ihm schnellt eine chamäleonartige Zunge, wickelt sich mit ihrer klebrigen Oberfläche um den entsetzt blickenden Mats - der keine Gegenwehr mehr unternehmen kann. Zieht ihn hinab in den morastigen Schlund und verschließt sich daraufhin sofort, während kühler Frühabendwind das Tuch der Ewigkeit darüber deckt.

 

Wieder jene anklagende Stille, auf die unbedingt etwas folgen sollte. Jedoch geschieht nichts, wirklich nichts? Man kann es regelrecht fühlen, wenn Bereitschaft hierfür besteht. Arne sitzt wie angewurzelt auf seinem speziellen Holzstuhl, der mit dunkelroter Farbe angepinselt ist. Schaut Björns bereits begonnener Präsentation weiterhin wie gebannt zu. Der hat sich inzwischen zwei der letzten Puppen über beide Hände gezogen, die alles Andere als normal und lustig ausschauen. Eine davon sieht aus, als wäre sie jener dickbäuchige, goldene Buddha höchstpersönlich, der seine flachen Hände betend aufeinanderlegt. Um ihn herum eine Aura, von der man magisch angezogen wird. Die Andere wirkt wie ein blutrünstiger Zombie mit krummen und fauligen Zähnen im Maul. Arne steht der Mund offen, während sein Gegenüber zu labern beginnt. Natürlich mit Pelles hinterhältiger Stimme und zwar für beide Puppen. Ein Szenario, dem Arne zu entfliehen sucht. Kneift darum beide Augen für gefühlte Sekunden zu und öffnet sie erneut. Dass eine halbe Stunde ins Land gezogen ist, nimmt Arne nicht wirklich wahr, da hier ohnehin Zeit als auch Aktionen keine Logik mehr besitzen. »Nun, wie hat ihnen meine Präsentation gefallen, Herr Fältskrug?«, fragt er ihn mit übersteigerter Hektik in der Stimme. »So ungefähr stelle ich mir heute Abend alles vor. Ist das in Ordnung für sie?«, bekommt Björn gerade noch so über die Lippen, als …, tja, als Arne aufsteht und zur Tür eilen will. Dabei wütend auf die Armbanduhr schaut, während nur ein Gedanke durch sein Hirn schwebt: “Verdammt, wo bleibt Mats, diese elende Dumfbacke? Ist bestimmt wieder mal im Zelt eingepennt, der alte Schnarchsack“. Dreht sich nur kurz in Richtung Björn um, fordert ihn auf, seiner Person zu folgen. »Björn, vergessen sie nicht ihren Koffer mitzunehmen, die Vorstellung beginnt bald!«

 

Arne und Björn zuckeln über das Gelände in Richtung Zelt. Inzwischen bläst ein eisiger Wind, der beider Gesichter fast einfrieren lässt. Mit einer unbändigen Wut im Bauch, da er Mats nirgendwo sichten kann, stolpert Arne über einen liegengelassenen Gegenstand, den seine Wenigkeit einfach geistesabwesend nicht wahrnehmen konnte. Kann sich Gott sei Dank noch rechtzeitig abfangen - wankt deshalb etwas unkontrolliert ins dreieckige Zelt, mit Björn im Schlepptau. Brubbelt dabei fortwährend irgendwelche schlimmen Worte, die man nicht wirklich verstehen möchte. Beide Männer werden von Dunkelheit umgeben, als plötzlich der Scheinwerfer und die Spotlampen mit einem lauten Klacken von selbst aufleuchten. Die Manege wirkt irgendwie anders, als vorher. Aufgehäufelter Sand befindet sich in der Mitte, aus dem ein widerlicher, fauliger Gestank wabert. Björn und Arne halten sich geistesgegenwärtig die Nase zu, schnappen über ihre Münder nach Luft, die hier wieder mal kaum vorhanden ist - da jener bestialische Todesatem diese aufzusaugen droht. »Björn, riechen sie das auch?«, fragt Arne ihn, rümpft dazu seine jetzt leicht blutende Nase. »Schon irgendwie, Herr Fältskrug. Aber es hat augenscheinlich …, irgendwie oder auch so ähnlich aufgehört, meinen sie nicht?« Arne antwortet sekundenlang nicht, sondern bläht sich erst wie ein Ballon auf, der geradewegs in die wenig vorhandene Luft aufsteigen will. »Ach was! Bin doch nicht des Wahnsinns kesse Beute oder auch irgendwie so ähnlich.« Beide schauen sich wie dumme Hühner an, müssen daraufhin irgendwie oder auch so ähnlich, tierisch losgackern. Was für eine sinnige Unterhaltung, der man stundenlang mit wachsender Begeisterung folgen möchte. »Wissen sie was, Herr Fältskrug, ich stelle mich einfach neben diesen jämmerlichen Misthaufen und ignoriere ihn, irgendwie oder auch so ähnlich. Was soll schon weiter passieren, außer dass ich ohnmächtig werden könnte. Ziehe in einer Stunde mein geniales Puppenprogramm durch, so oder auch ähnlich eben.« Arne und Björn steigern sich dermaßen in ihr Gegacker hinein, dass sie jene heftigen Trommelgeräusche nicht mitbekommen, die aus den bulligen Lautsprechern ertönen. Immer in regelmäßigen monotonen Abständen, wie bei einem kulturellen Stammesritual.

 

Dass sich Mats immer noch nicht einfindet, hat Arne erst einmal in die hinterste Ecke seines Hirns geschleudert und eingefroren, bis der Gedanke an ihn langsam auftaut und erneut meldet. Eben etwas später, so oder auch ähnlich. Endlich tauchen Björn und Arne aus ihrer ´Welt des Lächelns´ auf. Vernehmen das immer lauter werdende Trommelfeuer - Kanoneneinschlägen gleich, deren Ziel nicht auszumachen ist. Fanfaren gesellen sich hinzu, so als kündigen sie etwas Besonderes an, dem man sich keinesfalls entziehen sollte. Nur mit hoher Konzentration schafft es Björn, diesen nach Schwefel und verbrannten Gummi stinkenden Dreckhaufen zu ignorieren - so gut es eben geht. Beinahe wäre er nämlich an diesen lästigen Rauchschwaden jämmerlich erstickt und daraufhin kollabiert. Aber was ein richtiger Kerlemann ist, übersteht auch derart Situation, unbeschadet an Leib und Seele. Inzwischen wird Björn regelrecht umnebelt, kommt zudem noch in schwarzer, rußgefärbter Gestalt daher, dass er erneut wie ein skelettierter Totengräber wirkt. Ist er eigentlich ein Puppenspieler oder doch jemand, der Böses im Schilde führt?

 

Arne glaubt, schon wieder von aggressiven Alpträumen heimgesucht zu werden, möchte sich eigentlich irgendwie auflösen können, um diesem gruseligen Spiel ein Ende zu setzen. Schaut darum auf sein innig geliebtes Erbstück, das ihm immer noch die genaue Uhrzeit anzeigt. Jedoch ist das Zifferblatt völlig weiß und zudem ohne Zeiger, was in ihm ein mulmiges Gefühl, in Richtung Wahnsinn gehend, auslöst. Also doch ein abgefahrener Alptraum, aus dem Arne schleunigst erwachen sollte? Trotzdem läuft jene Zeit vorwärts, denn Zuschauer haben sich bereits eingefunden. Sitzen auf 30 Stühlen, während die restlichen Besucher hinter ihnen stehen. Dass es immer dieselben wie vom Vortag sind, fällt Arne nicht auf, da er zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Wütet endlich wieder in höchsten Tönen herum, um sich den Seelenschmerz aus dem Hirn zu prügeln. »Dieser unverschämteste und unzuverlässigste Lump auf Gottes Erdenrund! Wenn ich den zu fassen kriege, sorgt mein schmutziger Ego höchstpersönlich dafür, dass er …« Weiter kommt Arne nicht, denn aus dem Lautsprecher kreischt Pelles Marionette mit Fäkallauten vom Allerfeinsten. Füllt den dreieckigen Raum mit ihrer auffordernden Stimme, der man sich ebenfalls nicht entziehen kann. Hüpft dazu passend aus dem sich langsam auflösenden Misthaufen, so als wäre sie einem schlechtgewordenen Inhalt irgendeines Überraschungspaketes entsprungen.

Während sich Björn die makaber wirkenden zwei Handpuppen überstreift, agieren dieser “Buddha“ als auch jener “Zombietyp“ hierzu in Eigenregie. Vollführen einen seltsam anmutenden Tanz, der keine Wünsche offen lässt. Beim “Buddha“ wackelt der dicke Bauch auf und nieder, und dem “Zombietyp“ läuft nicht nur der Schweiß, sondern trieft zusätzlich Blut über die herabhängenden, schorfigen Lippen. Immer mehr, so dass es den Anschein hat, das ganze Zelt würde hiervon bald schwallartig überflutet. Hierzu bewegt er seine dürren Arme und Beine als auch überdimensionalen schwarzen, löchrigen Latschen. Wenn man genau hinschaut, vereinen sich hier Björn und der “Zombietyp“ zu ein und derselben Person, der man keineswegs zu entfliehen sucht - da sie einen gewissen magischen Reiz auf alle ausübt.

 

In diesem Moment des heillosen Durcheinanders von Puppenakteuren, straffen sich die Fäden des Spielkreuzes von Pelles Marionette wie von selbst. Hat er jene Fäden in der Hand? Aber wo befindet sich Pelle, wenn man ihn doch keineswegs sehen kann? Gefühlte Sekunden vergehen, bis diese erschlaffen und sein Lieblingsspielzeug ein Eigenleben beginnt. Pelle muss offenbar während eines erneuten Flippversuchs zur jetzigen Gegenwart, in einer völlig anderen Zeit gelandet sein. Nur kurzfristig hier, um im Nachhinein kraftlos im Raum-Zeit-Kontinuum festzusitzen. Vielleicht sogar für immer verschwunden, wie man es vom Bermuda Dreieck kennt? Urplötzlich hält Pelles Marionette mit geiferndem Blick inne, entnimmt aus einem ihr vom Rücken herabhängenden Köcher kleine Pfeile, deren Spitzen mit einem Tropfen Curare beträufelt sind. Wirft sie mit höllischer Geschwindigkeit in Richtung der Zuschauer, die es offensichtlich nicht im Mindestens zu interessieren scheint, da diese von ihnen abprallen und eine andere Richtung nehmen. Genau auf Arne, der sich noch blitzartig ducken kann. Sirren an ihm vorbei und auf Björn zu, der vor lauter Konzentration auf die Puppenaktionen, nichts mitbekommt. Erst, als es fast zu spät ist, wendet er sich mit affenartiger Geschwindigkeit in Richtung Ausgang und hastet in die rettende Freiheit. Will sich noch kurz vergewissern, ob ihn diese totbringenden Pfeile verfolgen, als … - sich der Tod erneut zeigt. In Form dieses grässlich stinkenden, blubbernden Morastes, dem niemand entkommen kann.

Riesige Blasen drücken sich durch die glänzende Schwärze - platzen und saugen mit schlürfendem Geräusch als auch sabbernden Mündern, den armen Björn in sich hinein. Ist auch er für ewig verschwunden oder weilt er ebenfalls in dieser Vergangenheit, die jene neue Gegenwart darstellt? Immerhin ist es möglich, dass sich hier in dieser Zeit alles wiederholt. Und wenn ja, an welcher Örtlichkeit? Das dunkle Tuch des Schweigens deckt sich hernach über die morastige Fläche des Zeestower Weges, verwischt zunächst sämtliche Spuren der Geschehnisse.

 

Arne schaut mit verzweifelter Mimik dorthin, wo die Puppen ihren makabren Veitstanz langsam einstellen. Pelles Marionette kriecht zurück in den stinkenden Misthaufen, der jetzt nach altem Leder duftet und genau so ausschaut - eben schwarz, vernarbt und reichlich abgenutzt. Irgendwie erinnert dieser Umstand an Björns Puppenköfferchen, wenn man es genau betrachtet. “Buddha“ und “Zombietyp“ hüpfen hinterher, während dieser Dreckshaufen die Form und Farbe einer übergroßen Tafel Schokolade annimmt, die zum Knabbern einlädt. Selbst die Zirkusbesucher verändern ihr Erscheinungsbild, das sich genialerweise hierzu anpasst. 30 kleine Tafeln eben, jene verlockend duften. Arne schließt seine Augen, um diesem Trugbild zu entfliehen. Öffnet nach einigen Sekunden die Gucklöcher und blickt in die Dunkelheit des Zirkusraumes. Hat es überhaupt eine Vorstellung gegeben oder ist es nur wieder mal ein widerliches Hirngespinst, dem Arne ständig entrinnen will? Reichlich bedröppelt und abgespannt, flieht er vor dem, was nicht zusammenpasst. Wankt in die nächste finstere Welt des Zirkusareals. Stolpert erneut über diesen am Boden liegenden Gegenstand, da er ihn wieder mal nicht sehen konnte. Bückt sich, damit das nie wieder vorkommt. Was er in Händen hält, lässt ihn nachdenklich werden, denn es handelt sich um den breiten Werkzeuggürtel von Mats. Immer noch befinden sich sämtliche Schlitz- als auch Kreuzschraubenzieher in ledernen Schlaufen darin - fein säuberlich nach Größen sortiert. Wo dieser Gürtel ist, kann Mats nicht mehr weit sein, denn ohne ihn kann er einfach nicht existieren. »Maaaaaaats! Verdammt noch mal, Maaaaaaats! Zeige dich, du Dumpfbacke!« Arne blökt sich die gebeutelte Seele aus dem kalten Leib, während seine Augen in die Finsternis blicken. In seinem Hirn wirbeln die Gedanken wie Blätter im Herbstwind herum, wollen sich keinesfalls ordnen lassen. »Scheiße, dieser elende Kerl und Versager. Einkriegezeck können wir später noch spielen, du alberner Wicht und Giftzwerg!« Arne versucht nur, sich Mut anzuquatschen, denn so ist er eben. Doch irgendetwas unterbricht und lenkt ihn von dem Gefasel ab. Das kleine Fenster des noch übriggebliebenen Künstlerwagens ist hellerleuchtet. Im harten Holz stecken jene Wurfpfeile, die offensichtlich ihr wahres Ziel gefunden haben. Wieder öffnet sich die Holztür mit einem lauten Knarren. Ein Mann mit seiner Vogelmarionette steht starr davor. Die Gestalt wird nur schemenhaft von der kleinen Laterne des Wagenrinnenraumes rückwärtig angestrahlt, wirkt darum wie ein Außerirdischer aus einem anderen Universum.

 

Zögernd, kaum noch zu einer weiteren Bewegung fähig, schleppt sich Arne dorthin. Den Werkzeuggürtel um den Hals geschlungen, spricht er diesen Typen an. »Mats, bist Du es? Lasse diesen Schwachsinn mit der Puppe. Kannst sie ohnehin nicht bedienen, Kerlemann.« Keine Antwort. Erneut vergehen Sekunden, bis der Typ mit krächzender Stimme endlich redet. »Sie müssen mich mit jemandem verwechseln, Herr … Mein Name ist Nils Svensson. Sie oder wer auch immer, haben mich für Mittwoch gebucht, wenn meine Wenigkeit sich recht erinnert. Und das ist die geschwätzigste und zickigste Vogelpuppe der Welt.« Hält sie genau vor Arnes Gesicht, während ihre Holzhand pausenlos auf seiner Nase herum stupst. »Wie ist eigentlich ihr werter Name?« »Arne … Arne Fältskog, um genau zu sein. Unser Zirkusdirektor ist momentan nicht präsent, da er neue Puppenspieler engagieren will. Ich regele inzwischen alle Modalitäten.« Arne zwickt sich ins Ohr, um den Schmerz zu spüren, der ihm die Wirklichkeit bestätigt. »Nun, Herr Svensson, heute ist erst Dienstagabend. Wo wollen sie eigentlich bis Morgen übernachten?« Arne möchte den Kerl nicht bei sich im Künstlerwagen wissen, da er ihm auf keinen Fall geheuer vorkommt. Verdutzt schaut ihn Nils an. »Nein, wo denken sie hin. Es ist Mittwoch später Nachmittag, Herr Faltsspuck. Wie kommen sie nur auf diese absurde Idee?« Arne fühlt sich, als würde ihn dieser seltsame Typ auf den Arm nehmen wollen. Schaut darum auf sein altes Erbstück am Handgelenk. Wieder nur das weiße Zifferblatt und keine Zeiger. Auch die Datumanzeige scheint ihren Geist aufgegeben zu haben. Arne spürt leichtes Unwohlsein in sich hochkriechen, als …

 

 

Kapitel 6

 

Nils Svensson - ein Bauchredner, der zu einem Puppenmonster mutiert, als …

 

… Nils in den Künstlerwagen zurück geht und Arne ihm auf Tuchfühlung folgt. Seine Vogelpuppe ohne zu fragen auf Arnes Bettgestell platziert und zu reden beginnt. Der ganze Körper dieses extravaganten Puppenkünstlers steckt in einem schwarzen Gummianzug. Irgendwie erinnert er an einen Taucher, nur eben ohne Taucherbrille vor den Augen und Sauerstoffflasche auf dem Rücken. Arne lächelt kurz, da er sich den Typen genau so plastisch vor seinem geistigen Auge vorstellt. »Nun, Herr Faltsspuck. Meine Puppe muss noch unbedingt mindestens zwei Stunden ruhen, um die heutige Vorstellung exakt zu präsentieren. Immerhin kann sie selbst reden und sich auch passend hierzu bewegen. Sie quatscht mit mir und auch dem Publikum. Irgendwie habe ich kaum noch Einfluss auf ihr Gehabe - wenn sie verstehen, was ich sagen möchte.« Nils setzt sich seine schwarze Hornbrille auf den buckligen Nasenrücken, schaut Arne verständnisvollen Blickes an. Dem ist es inzwischen völlig egal, wer oder was auf seinem Bett liegt, denn zum Schlafen wird er in nächster Zeit wohl nicht mehr kommen. Zumindest macht sich ein derartiger Gedanke in seinem langsam zerbröselnden Gehirn breit. Auch, dass man seinen Namen immer wieder falsch ausspricht, da er zu schwierig scheint. Ob nun Fältskrug, Faltsspuck oder was auch noch an Versionen kommen mag, denn es lohnt den Aufwand der pausenlosen Korrekturen und des Ärgers hierfür nicht wirklich.

 

»Tja, Herr Faltsspuck, ich kann nur hoffen, dass ihnen das Vogelprogamm, wenn auch nur ansatzweise, etwas zusagt. Gebe ja zu, dass es gelinde gesagt, ziemlich abgefahren ist. Aber genau dieses ist doch immerhin gewünscht, oder?« Näselt dazu und hofft auf eine Antwort Arnes. Spuckt aufgrund seiner feuchten Aussprache fast zielsicher in sein Gesicht - verfehlt es nur um wenige Zentimeter, so dass der suppige Schleim in Arnes üppiger Haarpracht hängen bleibt und teilweise herunter tropft. Somit bekommt der Name Faltsspuck genau jene Bedeutung, die keinen anderen Schluss zulässt. »Sagen sie mal, Herr Faltsspuck, was ist das eigentlich um ihren Hals? Sieht nach Schraubenziehern aus. Sind sie hier der Hausmeister oder wer?« Arne müsste lügen, wen er mit “ja“ antworten würde. Jedoch wird ihm in diesem Moment bewusst, dass er so ziemlich alleine auf weiter Spur, mit sich und den noch kommenden Puppenspielern sein wird. Ob sich Mats widererwarten doch noch einfindet, wünscht er sich zwar, aber jener Wunsch ist zum Scheitern verurteilt, da er immer mehr an Farbe verliert. Demzufolge ist niemand hier, der ihn genau kennt und maßregeln müsste. »Richtig, Herr Svensson, ich bin der Hausmeister und nebenher kümmert sich unsereiner um alles Technische. Eben das “Mädchen“ für fast Alles.« Beinahe hätte sich Arne auf die Zunge gebissen, da dies nur eine Halbwahrheit ist - also keine Komplettlüge, bei der einem schon mal das Herz bis zum Halse klopfen oder gar in die Hose rutschen kann.

 

Trotzdem wurmt es ihn wie wahnsinnig, dass man seinen Namen immer wieder verkehrt ausspricht - will es diesem Nils ordentlich heimzahlen. Nimmt ihn auf die Schippe, so gut es eben geht. »Wissen sie, Herr “Wennschon“, die Erziehung muss wohl an ihnen wie ein D-Zug vorübergerauscht sein, oder? Spucken mich voll, als hätte ihre Wenigkeit keine Zähne mehr im Mund. Verfluchter Dreck…!« Arne hält für Sekunden inne, da Nils seine übriggebliebenen Zahnstummel entblößt, die zudem noch schwärzlich eingefärbt sind und nicht gerade einladend wirken. Hinzu gesellt sich ein widerlicher Gestank von Fäulnis, Urin und Knoblauchdunst, der dem nach Ammoniak und Schwefelwasserstoff muffelnden Karbid in nichts nachsteht - zudem hochentzündlich ist. Jedes Mal, wenn Nils sein orales Speisezimmer öffnet, wabert jener ekelerregende Atem in Richtung Arne, der sich daraufhin die Nase zuhält - um nicht daran zu ersticken. »Jesus, das ist ja himmelerbärmlich, Herr “Wennschon“. Haben sie denn keine Ehre im Leib, auch nur ansatzweise?! Also wenn ihre komische Vogelpuppe auch so drauf ist, gibt es heute Abend keinen Auftritt, damit das mal klar ist!« Während Arne seinen Unmut mit klaren Ansagen kundtut, bewegt Nils´ Vogelpuppe, die irgendwie an einen längst ausgestorbenen Archäopteryx erinnert, ihren hohlen Körper. Richtet sich auf, stolziert wie ein König aus dem Künstlerwagen und in Richtung Zirkuszelt.

 

Genau in diesem Moment verändern sich nur flüchtig Nils´ Gesichtszüge. Auf ihnen die freundliche Mimik von Mats, jene daraufhin sofort verschwindet und erneut Nils´ kuriose Grimasse preisgibt. Will sich Mats nur kurz darin zeigen, da er hierzu körperlich nicht mehr imstande sein kann? Wie von Zauberhand bewegt, verschwindet auch Mats´ Schraubenzieher Gürtel, den Arne immer noch um den Hals geschlungen trägt. Mats hat nun endlich alles bei sich, was er in einer anderen Zeit benötigt, um dort locker als Techniker durchzugehen - denn nichts anderes wird er jemals arbeiten wollen. Vielleicht wieder in einem Puppenzirkus der besonderen Art? Eventuell sogar mit demselben Namen, aber an einer anderen Örtlichkeit? Nils wankt wie ferngesteuert seiner heißgeliebten Vogelpuppe hinterher. Folgt ihr auf Schritt und Tritt, damit alles eine gewisse Ordnung hat, die niemals aus dem Ruder laufen darf. Arne steht wie einbetoniert und fassungslos als auch stocksteif herum. Glaubt, schon wieder einem irren Alptraum aufgesessen zu sein. Findet sich kaum, bis hin gar nicht mehr anwesend. Irgendwie mehr tot, als lebendig.

 

»Verdammter Mist!«, brüllt Arne aus lauter Verzweiflung. »Bewege dich endlich, nun mache schon, du widerlicher Sack!«, feuert er sich pausenlos an. Nichts geschieht, als plötzlich ein ohrenbetäubendes Trommeln und Grunzen aus dem Zirkuszelt ertönt, das Arne aus der erschöpfenden Starre erlöst. Blitzschnell, wie von aberwitzigen vielen Voodoo Nadeln gestochen, düst Arne in Richtung Zelt. Bleibt abrupt stehen, und gerät erneut in diese fatale Schockstarre. Was er jetzt zu sehen als auch zu hören bekommt, lässt einem das Blut in den Adern zu Eiswürfeln gefrieren - ihm schaudert. Nicht nur, dass die Spotlampen in eine andere Richtung strahlen, als vorgesehen; nein, auch der riesige Scheinwerfer gleißt jetzt direkt auf die mehr als dreißig Zuschauer, von denen einige wieder stehen müssen. Offensichtlich dessen unbeeindruckt, wirken sie wie ausgestopfte Puppen oder Marionetten - an deren Fäden irgendjemand zieht. Vielleicht Pelle? Blicken fortwährend mit starren Gesichtern auf die dreieckige Manege, wo scheinbar der Leibhaftige erkennbar wird. Nils‘ unabhängige Puppe wächst zu einem monströsen, schaurigen Archäopteryx, dessen Schädel sich durch die Zeltkuppel drücken will. Grunzt dabei wie ein Urzeittier, der als rasanter Flugsaurier in die Lüfte steigen möchte. Zischelt zwischendurch mit Nils‘ krächzender Stimme, während dieser nur einfach dasteht und diesem teuflischen Spiel zuschaut. Eben so, als wäre dieses das Normalste der Welt.

 

»Unheil, gottverdammter Schiet!«, wettert Arne, kann sich kaum einkriegen. »Das muss aufhören. Lieber Gott - mache, dass das ein Ende nimmt!«, betet er inständig zum nichtvorhandenen Boss im Himmel, der ihn niemals erhören wird. Als wenn dies nicht genug wäre, öffnet der imposant wirkende Urzeitvogel der Lüfte seinen spitzen, langen Monsterschnabel. Redet widerliche Worte, jene man nicht mehr toppen kann. Flattert währenddessen mit seinen weit ausgebreiteten Schwingen, will zum Flug ansetzen. Arne ist inzwischen mit den Nerven völlig runter, steht darum kurz vor dem seelischen Kollaps. Verlässt die aus dem Ruder laufende Vorstellung, um im Freien kräftig jene sauerstoffgetränkte Luft zu tanken, die im Innenraum des Zeltes kläglich versagt. Es stinkt dort unablässig nach Schwefel, verbranntem Holz und heißem, dampfendem Bitumen, von dem graue Teerwolken aufsteigen. Genau in diesem Moment kündigt sich aus der Ferne das Rattern jenes Personenzuges mit den Endlosabteilen an, der bedrohlich immer näher kommt, die unkrautüberwucherten Schienen des Bahndammes vibrieren lässt. Das Areal des Zeestower Weges mit unüberhörbarem Pfeifen, Rumpeln als auch fiesen, schwarzen Dampfwolken zu fluten sucht. In einem der Abteile sitzen Mats, Pelle, Sven, Jörjen, Ole und Torsten als auch Björn. Wollen sie dem Zirkus nur einen kurzen Besuch abstatten, nach dem Rechten schauen oder steckt mehr dahinter? Arne nimmt das alles nicht wirklich wahr, da er hierfür viel zu erschöpft ist. Sehnt sich nach Ruhe und Ausgeglichenheit, die er eventuell erst mit dem Ende der Sonntagsvorstellung erfährt. Eben dann, wenn die Zeit für ihn gekommen ist - jedenfalls ist dieses sein größter Wunsch. Vielleicht hockt er dann ebenso neben seinen Freunden und Darstellern im Abteil, rast eventuell in diesem Personenzug der Zirkusvorstellung entgegen, die sich in einer anderen Zeit als auch Örtlichkeit wiederholt?

 

Die inzwischen reichlich eisig gewordene Luft lässt Arne frösteln. Er zittert wie Espenlaub und klappert mit den Zähnen. Wendet sich darum zurück ins Zirkuszelt, wo es wenigstens nicht frostig ist - eben nur leicht kalt. Hier tobt inzwischen der höllische Wahnsinn. Zwar haben sich die stinkenden Dämpfe endlich verzogen, geben dafür jedoch erneut einsetzenden Trommelgeräuschen den gewissen phonetischen Raum, der das Zirkuszelt erbeben lässt - gefährlich zum Einsturz bringen will. Arne möchte endlich Gewissheit, ob er wieder einer unsäglichen Täuschung erlegen ist oder sich doch in der Wirklichkeit befindet. Sucht darum nach Nils, der sie ihm bestätigen sollte. Und richtig, genau neben diesem widerlichen Archäopteryx, kaum erkennbar, steht Nils mit seinem hautengen, maßgeschneiderten Anzug, der wie eine zweite Haut wirkt und auf das irrwitzige Szenario scheinbar keinen Einfluss nimmt oder gar nehmen kann. Bewegt noch nicht einmal ansatzweise seine Lippen, da er ja immerhin Bauchredner ist. Jedenfalls kann man auf diese Entfernung nichts erkennen, was einen anderen Rückschluss zulässt. Aber wenn man genauestens hinschaut, formuliert Nils die Worte und ahmt Geräusche, mit leicht geöffnetem Mund im Rachenbereich nach. Arne fleht inständig, dass ihm Nils helfen möge. Wie auch immer oder womit, ist Arne völlig schnuppe - winkt darum Nils händeringend und wie wild gestikulierend mit fuchtelnden Armbewegungen zu. Nichts geschieht, was Arne natürlich völlig den letzten Verstand raubt. Überlegt sekundenschnell, ob er sich dem Puppenkünstler Svensson auf eine andere Weise mitteilen sollte, damit dieser ihn bemerkt. Brüllt darum aus Leibeskräften wie eine Horde wildgewordener Löwen, die zum Kampf übergehen will. Wie fügt es sich doch, dass in jenem Moment das Trommeln kurzfristig aufhört. Völlig verdattert blickt Nils auf und in Richtung Arne. Trotzdem scheint er ihn nicht wirklich zu sehen, weil der irrwitzige agierende Vogel eine Kehrtwende macht, sich genau vor Nils aufbaut und den Kontakt zu verhindern sucht. Spuckt bittere Gallesäfte, die auf Arne zielen. Der hat jedoch kaum Zeit, dem Sputum zu entfliehen - geht impulsiv in die Hocke, um Schutz zu suchen. Tatsächlich, der gallebittere, grüne Seim schießt über Arne hinweg und bleibt am Zirkuszelt kleben. Frisst sich wie Salzsäure durch die Plane, jene riesige Löcher hinterlässt - deren Ränder noch leicht qualmen und nach ätzender Batterieflüssigkeit riechen.

 

Langsam wird es offensichtlich, dass Nils absolut keinen Einfluss mehr auf seine wahnsinnig gewordene Puppe hat, die jetzt auch noch die Zuschauer bespuckt. Jedoch prallt der zähflüssige, nun graugrünlich schimmernde Sabber von ihnen ab, als wären sie aus irgendeinem Gummimaterial und wird in Richtung Arne katapultiert. Saust gezielt wie ein Geschoss auf ihn zu. Der nimmt rigoros seine “Beine“ in die Hand, und rennt wie vom Teufel gejagt über das Areal des Zeestower Weges, in Richtung des noch übriggebliebenen Künstlerwagens. Total außer Atem, fast dem Erstickungstod nahe, öffnet Arne die schon reichlich zersplitterte Holztür. Hastet hinein und schlägt sie polternd zu, um im Nachhinein seinen ausgemergelten Körper auf das rostige Metallbett zu knallen. Immer noch das Bild des gruselig spuckenden Archäopteryx vor dem geistigen Auge, versucht Arne regelmäßig ein- und aus zu atmen, damit in seinem Inneren endlich Ruhe einkehrt. Irgendwie will es ihm nicht so recht gelingen, denn die Nervenenden kribbeln so heftig, als würden abertausende Ameisen darin herumkrabbeln und bis zum Hirn vorstoßen wollen. Zwischendurch schaut er ängstlich zur Holztür. Will sich vergewissern, dass alles nur wieder mal ein Traum ist, der scheinbar nicht endet. Aber die Wirklichkeit gibt hier den momentanen Ton an, und beschert Arne ein noch nie dagewesenes Szenario, von dessen Existenz er vor einer Woche noch nichts ahnen konnte. Urplötzlich klopft jemand oder gar etwas, heftig und rhythmisch an die Holztür. Dreimal kurz und dreimal lang, einem SOS Hilferuf gleich. Immer wieder ergeht dieser pochende Schrei - fordert Arne auf, endlich zu öffnen. Vielleicht eine verschwunden geglaubte Seele, die um Einlass bittet?

 

Widerwillig erhebt sich Arne, um diesem hämmerndem Notrufsignal zu folgen. Einerseits möchte er nicht, andererseits muss er. Was ihn jetzt antreibt, ist nur ein Bauchgefühl, da das Hirn offensichtlich für einen kurzen Zeitraum ausgeschaltet ist. Schlurft wie ein alter Mann und mit zitternden Knien in Richtung Wagenpforte - bleibt stehen. Lauscht andächtig, ob noch etwas folgt, da das Klopfen genau in diesem Moment aufgehört hat. Unsägliche Stille, die nur von Arnes Frage durchbrochen wird. »Mats, bist du es, alte Dumpfbacke? Heiliger Bimbam, nun sage schon was!«, versucht er mit langsam einsetzender, lähmender Stimme hervorzubringen, die bereits bedenklich krächzt und versagen will. Unbehagen kraucht wie ein zeterndes, nervendes Monster durch seinen geschwächten Körper, in dem es vor lauter Angst höllisch brennt. Keine Antwort. Zögernd will Arne die Türklinke niederdrücken, aber hält inne. Stellt sich die Frage, ob er soll oder eben nicht. Die Antwort erübrigt sich von alleine, da besagte Klinke ein Eigenleben zu führen scheint, bewegt sich darum wie in Zeitlupe von selbst nach unten. Das Holz der Tür knarzt, während aus den Fugen Sägemehl bröselt, auf den Boden des Künstlerwagens rieselt und sich zu einem Häufchen formiert. Arnes Nerven vibrieren, liegen blank - in Erwartung dessen, was noch kommt. Können keinesfalls mehr Spannung erzeugen, da diese auf dem Gipfel angekommen ist. Sekundenschnell, so als könnte ein gewisser Jemand es nicht abwarten, wird die Tür heftig und geräuschvoll aufgestoßen. Was sich Arne jetzt darbietet, ist nicht von dieser Welt, sondern offenbar von einem anderen Planeten, der erst noch erfunden werden muss. Nils steht in völlig verkrüppelter Haltung vor ihm. Mit Beinen, die von dicken, schwarzen Schuppen übersät sind, sich teilweise überlappen - wie bei einem Schutzpanzer eines Archäopteryx. Lange Zehen an den Füßen, aus denen scharfe, spitze Krallen lugen und wie Dolche blitzen. Zudem ist sein Schädel nicht mehr menschlich, sondern passt haargenau zum restlichen Körper. Schwarze Augen verbergen Nils´ wahren Charakter, der sich mit dem eines Urzeitvogels vereint hat. Nur dieser enganliegende Gummianzug, der jetzt in Fetzen vom Vogelkörper herunterhängt, erinnert an den einstigen Nils Svensson. Unablässig speit der seltsame Vogel jene grüne, ekelige ätzende Flüssigkeit aus, die für Arne den sicheren Tod bedeuten könnte, sich jedoch vorerst zu einer brenzligen Situation auswächst - da er ihn mit dieser gallegrünen Spucke pausenlos verfehlt. Daher bekommt Arne noch eine klitzekleine Chance und sollte schleunigst darauf reagieren - also nicht wie der einsame Einfaltspinsel auf verlorenen Posten dastehen, damit es erst gar nicht hierzu kommt.

 

Arne bräuchte nur die Holztür zuschlagen, dann wäre alles gut. Erneut schnorchelt dieser monströse Vogel, in dem jetzt auch Nils´ Seele zu stecken scheint. Zieht weiteren Schleim hoch und will diesmal zielsicher in Arnes Gesicht spucken. Kurz bevor ihn der säurehaltige Sabber trifft, schlägt Arne die Holztür mit voller Wucht zu, so dass der Künstlerwagen bedenklich wackelt, jener doch nirgends eine Fluchtmöglichkeit bietet. »Puh, du elender Wurm eines Auswuchses der Urzeit. Habe ich dich geleimt, hä!« Arne läuft zu gewohnter Verbalakrobatik auf, die man von ihm gewohnt ist, denn er wähnt sich in Sicherheit. Normalerweise sollte sich das Sputum auch durch die Holztür geätzt haben, jedoch unterbindet der jetzt blubbernde Morast sofort weiteren Mengennachschub. Bläht sein schwarz schimmerndes Maul auf, schnalzt und leckt sich den Schlund. Geifert nach dem Archäopteryx, in dem Nils´ Seele haust. Zieht die Mutation aus Mensch und Tierpuppe in den sabbernden Tunnel hinein, wo es unerträglich heiß ist. Pausenlos verändern sich darin jene Zeiten, überlappen teilweise - bilden hier haargenau eine gewisse Beständigkeit. Erzeugen Hitze, wie man sie von reibenden Händen her kennt, wenn es einem kalt ist. Man könnte ihn auch als Zeitofen bezeichnen, der beständig geheizt wird, wenn man besagte Zeit als Zukunft fleißig nachlegt. Arne horcht andächtig in die Stille hinein, erwartet noch irgendeine Reaktion, die Gott sei Dank nicht mehr folgt. Will sich kurz vergewissern, ob das Biest noch vor der Tür lauert. Doch wird er in diesem Moment von bleierner Müdigkeit übermannt und sackt zu Boden. Schläft den Schlaf des Gerechten. Pennt er wirklich oder gaukelt ihm sein Hirn wieder einmal etwas vor? Auf alle Fälle sind Arnes Augen geschlossen, der Atem geht regelmäßig und zeigt dies mit einem passenden Heben und Senken des Brustkorbs. Arne ist regelrecht ausgeschaltet. Kein Gedanke im Kopf, wie es nun weitergehen soll. Das ist auch gut so, denn Ruhe hat er bitternötig. Währenddessen hat sich der blasenschlagende Sumpf beruhigt und vorerst zurückgezogen, als der Personenzug mit den Endlosabteilen aus der Ferne heftig pfeift, bedenklich donnernd näher rollt. Diesmal sitzt auch Nils darin - genau neben Mats, Pelle, Sven, Jörjen, Ole und Torsten als auch Björn. Wollen nur kurz nach dem Rechten schauen, wie es ab jetzt im dreieckigen Zirkuszelt weitergeht. Irgendwann holt er auch Arne, Allan und Jens ab, um ihnen in einer anderen Zeit und Örtlichkeit genau dasselbe widerfahren zu lassen. Aber bis dahin drehen sich die Zeiger der Uhr weiter oder bleiben auch ab und zu einmal stehen - ganz so wie es ihnen beliebt.

 

 

Kapitel 7

 

Allan Gunnmo, ein Stabpuppenkünstler auf holzigen Abwegen

 

Der Donnerstagmorgen wird mit einsetzendem Nieselregen eingeläutet, der noch bis zum Mittag anhält. Auch jene Eiseskälte der Nacht hat sich zurückgezogen, die vom Tag längst verdrängt worden ist. Arne befindet sich immer noch im Tiefschlaf, der für ihn erquickend sein muss - da er heftig abwechselnd schnarcht als auch wie ein Bär vor sich hin brummt. Wovon mag er wohl träumen? Keine drei Elefanten könnten ihn momentan von hier vertreiben. Es sei denn, sie stampfen mit ihren gewaltigen Säulenbeinen auf dem Wagenboden wie wild herum und veranstalten einen Riesenlärm, der bis in Arnes Traumwelt zu hören wäre. Klitzekleine Nieseltröpfchen rinnen in diesem Moment der Stille geräuschlos am dreckigen Wagenfenster hinunter - hinterlassen Schleifspuren, als es an der Künstlerwagentür pocht. Man könnte glauben, irgendjemand schwingt rhythmisch einen Monsterhammer, der fortwährend an das Holz besagter Tür geschlagen wird. Arne reißt es sofort aus dem Schlaf. Gähnt, reibt sich die noch geschlossenen Augen, um sie im Nachhinein sofort zu öffnen. Starre Blicke, die mit Angst gefüllt sind, heften sich an die Holztür - so als könnten sie durch jene hindurch blicken. »Mats, bist du es, alte Dumpfbacke?«, fragt er mit heiserer Stimme, die langsam zu erwachen scheint. »Kerlemann, das ist jetzt nun wirklich kein Scherz mehr. Zeige dich endlich, du wahnsinniger Techniker.« Der Wunsch nach Mats´ Anwesenheit keimt immer noch in ihm und will sich keinesfalls im Hirn löschen lassen. Keine Antwort. »Das wird mir jetzt langsam zu bunt, komischer Vogel.« Wieder nichts. »Verdammter Scheißkerl!«, blökt Arne jetzt stimmlich aufdrehend. Erhebt sich mit schmerzenden Gliedern vom Künstlerwagenboden - hält kurz inne. ´Was, wenn es immer noch der “Flattermann“aus der Urzeit ist?´, rast ein logischer Gedanke durch sein Hirn. »Ach was, der hat sich bestimmt zurückkatapultiert, speit dort weiter Gift und Galle«, brabbelt Arne vor sich hin. Aber Gewissheit kann er nur haben, wenn die Tür endlich geöffnet wird.

 

Erneut dieses blöde Gefühl, dass man etwas will, jedoch nicht wirklich umsetzen kann - da einen der Körper daran hindert. »Jetzt sage schon was, dämlicher Glomskopp, du einfältiger Sack!«, fordert Arne immer mehr ungeduldiger werdend auf. In diesem Moment der Stille ertönt eine piepsige Stimme, die durchaus einen weiblichen Charakterzug trägt. »Nun lassen ´se misch doch endelisch reie. Schtehe mia de Beene inne Booch!«, vernimmt Arne diesen entzückenden Dialekt, der ihm nicht bekannt ist. Öffnet daraufhin schwungvoll das Holzwagentor. Kann jedoch niemanden ausmachen.Wieder erklingt jene faszinierende Stimme mit diesem femininen Timbre. »Hia - hia undän«, winkt dabei mit seinen kurzen Knubbelärmchen in Richtung Arne hoch. Dieser glaubt einer Sinnestäuschung oder Zerrbild vom Feinsten aufgesessen zu sein. »Jesses, auch das noch - ein menschlicher Zwerg«, posaunt Arne zwangsläufig heraus und beginnt heftig zu Lachen. So herzhaft hat er schon lange nicht mehr gegrölt. Aber was bedeutet “lange“, wenn doch Zeit wieder einmal keine Rolle spielt. »´Se widalische Sujekt, isch binne keen Zwarg. Sonderen een Liliputanä!«, wehrt sich das kleine Männchen im bunten Jogginganzug. »Isch hees Allan Gunnmo, komme uff ihre Gehees. Daff isch reiekomme?«, fragt er höflich und verneigt sich hierzu. »Na dann kommen ´se mal reie, Herr Gunnmo«, plappert Arne in astreinem Dialekt nach, den man zwischen Holländisch, Schwäbisch als auch Sächsisch ansiedeln könnte. Jedenfalls versucht er es schon einmal, um bei dem winzigen Kerl bleibenden Eindruck zu hinterlassen. »Aber mal im Ernst. Ab jetzt plappern wir beide Deutsch, damit ich Sie verstehe, sonst geht der Schuss für mich nach hinten los, ist das klar, Herr Gunnmo!«, erteilt Arne die vollkommen logische Ansage. Bereitwillig hopst Allan in die Räumlichkeit des Künstlerwagens, deponiert einen schwarzen, großen Lederbeutel auf Arnes Metallbett. Armer Arne, er wird wohl erneut die kommende Nacht auf dem Wagenboden kampieren müssen, da sein Bett wieder einmal belegt ist - wenn auch nur von einem Lederbeutel, dessen Inhalt nicht zu erkennen ist. Inständig hofft er, dass wenigstens am Wochenende ein gemütliches Schläfchen in dieser metallischen Örtlichkeit möglich sein wird. Denn er liebt jenes altbackene Teil mehr, als sich selbst - auch wenn es langsam vor sich hin rostet. Dieser Wurzelgnom Allan hievt sich fast kletternd auf einen der Holzstühle, da sie allesamt zu hoch für ihn sind. Rückt sein Hinterteil zurecht, beginnt Fragen zu stellen.

 

»Sagen Sie mal, mit wem habe ich hier eigentlich das Vergnügen, Herr …?« Allan schnippt dabei mit den kurzen Knubbelfingern, die Arne irgendwie an Cocktailwürstchen im Glas erinnern. Schon wieder ist Arnes Gehirn unter Druck, muss sich etwas überlegen, das keiner Lüge gleichkommt. Eigentlich dürfte dies keineswegs mehr eine Rolle spielen, denn den bösen Lügen sind jetzt Tür und Tor geöffnet, da ihn niemand daran hindern kann. Aber von Kindesbeinen an hat man ihm beigebracht, niemals den Lügenbaron zu spielen - jedoch sind Notlügen hierbei nicht erwähnt worden. Dieser Umstand bietet Arne einen gewissen Freiraum, den er auch zu nutzen weiß - ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. »Nun, Herr Gunnmo«, räuspert sich geräuschvoll. »Ich bin Arne Fältskog«, räuspert sich abermals und hüstelt gekünstelt. »Direktor des kleinsten Puppenzirkus auf dieser Welt. Zudem noch zuständig für alle technischen Dinge.« Arne läuft noch nicht einmal ansatzweise rötlich an, sondern fühlt sich wahrheitsgemäß absolut im Recht. »Sehr gut, Herr Falzkorn. Dann zeige ich Ihnen mal etwas.« Lässt sich vom Stuhl gleiten, wackelt wie ein Dackel zum Bettgestell und grabscht nach dem Lederbeutel, der neben Allan wie ein Sack ausschaut - ihn fast überragt. Arne grinst in sich hinein, überspielt damit die hochkochende Wut, da man offensichtlich seinen Namen wieder einmal nicht korrekt aussprechen kann. Allan schlurft zurück, bleibt leicht keuchend vor dem Holztisch stehen, packt den Ledersack darauf und zieht eine hölzerne Stabpuppe heraus. Auf ihrem Haupt leuchtet jene rote Mütze, wie man sie auch von Rotkäppchen her kennt, nur eben mit einer schwarzen Feder aus dem Zipfel ragend. Ihr Gesicht ziert eine lange Nase, die man bei einer Lüge wie ein Teleskop ausfahren lassen kann. Per stufenlosem Regler - eben eine neue Technikerfindung von Allan, auf die er sehr stolz ist.

 

»Wissen Sie, Herr Falzkorn, wie ich sie nenne?« Arne schwant da etwas, antwortet jedoch nicht. »Sie heißt Pinozzio. Ist doch der Hammer schlechthin oder was meinen Sie?« »Tja, Herr Gunnmo, Sie mögen zwar ein Genie auf Ihrem künstlerischen Gebiet sein, aber von Kindergeschichten hat ihre Wenigkeit, um es mal mit Verlaub zu sagen, null Ahnung. Da habe ich wohl eher mehr Wissen über das perfekte Management eines Zirkus wie diesen oder etwa nicht?«, flötet Arne mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, Allan gegenüber. »Dieser Lügenjunge heißt nämlich Pinocchio und nicht Pinozzio«, korrigiert ihn Arne, während er seine Nase ´gen Wagendecke streckt und überheblich wirkt - hierzu die Arme besserwisserisch vor dem Brustkorb verschränkt. Jedoch kommt Überheblichkeit vor dem Fall, denn urplötzlich schiebt sich Pinocchios Nase aus dem tiefen, mittig im Gesicht befindlichen Loch. Zentimeter für Zentimeter, bis sie voll ausgefahren ist - die Länge von einem sagenhaften Meter annimmt. »Was soll das, Herr Gunnmo? Lassen Sie das gefälligst. Ich glaube Ihnen aufs Wort, dass diese Nase funktioniert. Eine Demonstration ist somit nicht notwendig«, ärgert sich Arne - ist wieder einmal tierisch sauer. »Herr Falzkorn«, beginnt Allan, nachdem er gefühlte Sekunden gestutzt hat. »Auch ich sage Ihnen mit Verlaub, an meiner Stabpuppe habe ich noch nicht herumgefummelt. Sie liegt einfach nur auf dem Tisch und …« Allan wird aus dem Versuch seines vermeintlich überzeugenden Gefasels herausgerissen, da Pinocchio erneut reagiert, aber ohne irgendein fremdes, körperliches Dazutun. »Jetzt hören Sie schon auf, Herr Gunnmo! Sie lügen ja wie der berühmte Baron Münchhausen schlechthin«, ereifert sich Arne. »Kann doch nicht sehen, wo sie momentan Ihre Hände haben - sind eben wurzelig viel zu klein und deshalb kaum zu erkennen, um den Handlungen folgen zu können.«

 

Während Arne noch herum zetert, hüpft die Stabpuppe Pinocchio gekonnt vom Tisch und steht einfach hölzern und flach herum, da sie als eben diese so gebastelt worden ist. Das Einzige was sich pausenlos bewegt, ist die lange Lügennase, jene ein- und ausfährt. So schnell, dass man ihrer Bewegung kaum folgen kann. Zu allem Unheil plappert sie auch noch - schimpft wie ein Rohrspatz. Gackert wie ein Huhn, grunzt wie ein Schwein, sabbert wie ein Baby und kaut zudem irgendein widerliches Zeugs, das nach verrottendem Fleisch und totem Hering muffelt. Arne als auch Allan sind mucksmäuschenstill, folgen dem irrwitzigen Spiel - wobei Allan verschmitzt in sich hinein grinst. Er kennt seine Puppenkreation eben besser, als irgendwer auf diesem Erdenrund. »Tritra, trullala - hoppsasa und valera, Pinocchio ist für Eure Lügen da«. Immer und immer wieder kreischt dieses Puppenungetüm denselben Reim, so als wollte es keinesfalls damit aufhören. Spuckt die durchgemampfte, schlechtgewordene Fleisch-Fisch-Masse zielsicher in Arnes Gesicht. »Gott, das ist ja ekelig und ätzend!«, wischt sich jenen breiigen Mischmasch mit beiden Händen von der spröden Haut, die ihn schon wohlwollend aufsaugen will. »Sehen Sie, Herr Falzkorn, so ist eben meine Puppe. Zeigt dem Lügner, was sie von ihm hält.« Arne weiß jetzt schon, dass die heutige Abendvorstellung nicht stattfinden wird, da ihn jene Situation irgendwie an den seltsamen Archäopteryx erinnert. »Nein, Herr Gunnmo! Und abermals nein - nie und nimmer treten Sie heute Abend auf!«, echauffiert sich Arne bis über alle Maßen. »Das mag ja für Sie cool sein, aber für mich ist es ein Traumata sondergleichen. Leide seit einiger Zeit unter einer Spuckphobie. Auch von Giftpfeilen habe ich die Nase gestrichen voll. Sabbern geht jetzt schon von mir keinesfalls zu akzeptieren. Schlagen Sie sich das also aus dem Kopf oder impfen dies ihrer Puppe ein. Mir egal, wie das umgesetzt wird - verstehen Sie?« Arne läuft zu Hochtouren auf, während Allan verzweifelt versucht, sich verbal zu wehren. Hebt demonstrativ den Zeigefinger in die Luft, so als würde er sich wie ein braver Schüler melden wollen, um ein Wort sagen zu dürfen.

 

»Aber, Herr Falzkorn, ich … - ich denke, es wird … - ich meine, Sie sollten ta…, tats…«, kommt leicht ins Stottern, läuft hemmungslos feuerrot an - schämt sich fast ein wenig. »Nix da, entweder die Puppe lässt das Spucken, auch während der Abendvorstellung oder Sie können jetzt schon Ihre drei Sachen packen und ohne Gage von dannen dackeln!« Würden böse Blicke töten und den kleinen Allan hiermit pfählen, fiele er jetzt tot um. Gott sei Dank überragt ihn Arne um mindestens drei Kopflängen und jene blieben daher in der Künstlerwagenholzwand stecken. »Bei allem, was mir lieb und heilig ist, Herr Falzkorn. Ich benötige das wenige Geld, sonst gibt es kein Weiterleben mehr für mich, wenn Sie verstehen«, schaut bedröppelt drein - steht kurz vor einer bemitleidenden Heulattacke. Plötzlich ist Arne wie ausgewechselt, wirkt lässig. Das Zauberwort “heilig“ hat aus ihm einen schnurrenden Kater gemacht, da er es bekanntlich wie irre liebt. »Gut, Herr Gunnmo, ich gebe Ihnen nur 1 Chance, keinesfalls mehr. Sollte es dennoch nicht klappen, mache ich Kleinholz aus Ihrer Puppe und werfe Sie achtkantig im hohen Bogen aus dem Zirkuszelt!«, lächelt dazu, weil Arne es nicht wirklich so brutal meint. In Allans Gesicht zeichnet sich leichte Blässe ab, da er weiß, dass Arne seine klare Ansage eventuell auch durchdrückt - sollte alles Widererwarten aus dem Ruder laufen. »Sehr gut, Herr Gunnmo. Ich sehe, wir verstehen uns. Folgen Sie mir und zwar unauffällig. Die seltsame Puppe bitte nicht vergessen.« Kurz bevor Arne eine Kehrtwende zur Tür macht, hastet Pinocchio dorthin und öffnet diese. Winkt die beiden, mit dünnen Holzstäbchen an seinen Armen, hindurch - die niemand dirigiert, sich völlig in Eigenregie bewegen. Springt, jampelt freudig zappelnd voran zum Zirkuszelt, wo ihn das pure Vergnügen erwartet, denn nie und nimmer hat er vor, normal zu agieren.

 

Allan, der verknubbelte Wurzelgnom schlechthin und offensichtlich eine Laune als auch Fehlentscheidung von Mutter Natur - wackelt neben Arne in Richtung Zelt. Versucht mit ihm Schritt zu halten. Spontan wirft ihm sein Gehirn jene Frage in den Vordergrund, die er bis jetzt unterdrücken konnte - sogar fast vergessen hätte, wäre es nicht zeitweise aktiv. ´Das soll der Zirkusdirektor sein? Habe den Kerl irgendwie anders in Erinnerung. Soll ich nachfragen oder besser nicht? Nur, was hätte meine Person davon, wenn er es keinesfalls ist?´ Allan entscheidet, es dabei zu belassen, so wie es sich momentan darstellt. Denn es ist die beste und sicherste Lösung, für die ohnehin verfahrene Situation. Arne und Allan verweilen noch kurz vor dem Eingangsbereich des dreieckigen Zeltes, während aus dem Innenraum lautes Pfeifen nach draußen schallt. »Sagen Sie mal, Herr Gunnmo«, möchte Arne nur noch kurz wissen, ignoriert dabei das höllische Getöse von Pfeiflauten. »Wieso halten Sie Ihr Schmuckstück Pinocchio nicht an den Stäben fest? Ist doch immerhin eine Stabpuppe oder wie sehe ich das?« Allan denkt nach. »Würde ich ja liebend gerne umsetzen, Herr Falzkorn. Nur seit ungefähr einer halben Woche steckt in ihr offensichtlich des Satans Seele. Habe null Kontrolle über mein Lieblingsspielzeug. Kaum dass ich die Stäbe ergreife und glaube, fest in Händen zu halten, flutschen sie mir einfach weg - als wären diese eingeölt. Pinocchio vollführt daraufhin nur seltsame Dinge, wie: Spuckereien, Grunzlaute und anderes Gehabe, auf das ich keinen Einfluss habe, auch nicht näher eingehen möchte. Selbst der grottenschlechte Versuch, ihn belehren zu wollen, hat nichts gebracht - glauben Sie mir doch!«, brüllt sich Allan den aufsteigenden Frust aus dem Minileib, der heftig zu vibrieren beginnt. Arne muss akzeptieren, was ihm Allan unterbreitet, da er ihn nicht näher kennt.

 

Endlich zieht Arne die Eingangsplane des Zeltes beiseite, während sich dabei erneut dieses mulmige Gefühl in der Magengrube aufbaut, das er nur allzu gut kennt. So als würde sich das Tor zur Hölle auftun, blicken beide konzentriert auf jene dreieckige Manege - wo das Grauen zu leben, ja regelrecht zu toben beginnt. Langsam füllen sich auch die dreißig Sitzplätze mit makaber aussehenden Zuschauern, während weitere wieder hinter ihnen stehen müssen. Auch wenn es dieselben wie am Vortag sind, haben ihre Körper inzwischen eine flache Form angenommen. Wirken wie ein Stück Holzbrett, auf das man einen dämlichen Spruch schreiben möchte. In ihren ebenso zusammengepressten Gesichtern zeigt sich der aufkeimende Wahnsinn, wo offensichtlich Pinocchios Seele übergesprungen ist. »Kneifen Sie mich mal, Herr Gunnmo«, bittet ihn Arne. »Nun machen Sie schon!«, schreit er, um das lästige Pfeifen zu übertönen. Will Allan dabei spontan auf die Schulter tippen, damit dieser reagiert. Leider hat der sich offenbar aufgelöst oder schnellstens versteckt, da er von momentaner Peinlichkeit mächtig überrollt worden ist. »Herr Gunnmo, wo sind Sie denn?!«, blökt Arne, schaut sich dabei hastig im Zelt um. Nichts - noch nicht einmal ein Hauch von Allan im gesamten Innenraum. Nur das hölzerne Publikum und Pinocchio, der ausgelassen wie ein Gaul wiehert, tierisch pfeift und massenhaft Speichel verteilt. »Verdammter Sack. Du hirnloser Spielverderber!«, ereifert sich Arne, läuft wieder zu Hochtouren auf. »Hilf mir lieber, als nur zu …!« Weiter kommt er nicht, denn Pinocchio hüpft wie ein Besessener über die dreieckige Abgrenzung der Manege - hat sich keinesfalls im Griff, da es nicht sein Naturell ist. Schwingt den platten Körper in Richtung Arne, der wieder einmal stocksteif vor Angst dasteht. Darauf wartend, was jener Kerl mit ihm vorhat. In Pinocchios tiefliegenden Augen ist es total schwarz - keine menschliche Regung zeichnet sich darin ab. Dafür jodelt das hölzerne Männchen gekonnt, im fortwährendem, schnellem Auf und Ab seiner Stimme - einem bayerischen Meisterjodler gleich. Schürzt die aufgeblähten Lippen, holt tief Luft, schießt die vorab reichlich gesammelte Spucke wieder in Arnes Gesicht und lacht hierzu spöttelnd. »Haha, Pinocchio ist für euch alle da!« Arne hat erneut kaum Zeit, dem widerwärtigen Getue zu entfliehen. Kneift sich mehrmals in den Arm, damit diese Körperstarre aufhört. Macht hernach Anstalten, um in Richtung Künstlerwagen zu fliehen. Bekommt nicht mit, wie es im Innenraum des Zeltes sekundenschnell dunkel wird. Alles wirkt so, als hätte dieses Puppenspiel gar nicht stattgefunden. Wäre nicht jenes schrille Gelächter Pinocchios, das Arne bis kurz vor dem tiefen Abgrund des zuvor blubbernden Morastes verfolgt, könnte dem durchaus so sein. Der hat jedoch die gierige Aktion unlängst eingestellt, da er sich bereits vorab an Allan bedient hat, also erst einmal gesättigt ist und genüsslich rülpst - was man an den platzenden Blasen deutlich vernehmen kann, jene einen gasähnlichen, modrigen und zudem sauren Gestank freisetzen. Genau in diesem Moment geschehen, als Allan vor dem ausufernden Spiel seiner Lieblingsstabpuppe weggerannt, die Flucht nach vorn angetreten ist und sich unbändig geschämt hat. Nur eine glänzende Moderschicht lässt ansatzweise erahnen, dass hier kürzlich ein sabberndes Monster zugeschlagen hat - bald darauf verschließt und das trockene Areal des Zeestower Weges zeigt. Vielleicht öffnet es abermals den Schlund, um das Werk zu vollenden?

 

 

 

 

 

 

Kapitel 8

 

Jens Isvén präsentiert eine explosive Ballonpuppen Show

 

Arne hastet zu seinem Künstlerwagen und will keinesfalls an den morgigen Tag denken. ´Ruhe, ich brauche Ruhe - nichts weiter als Ruhe´, hämmert es fortwährend im Hirn, das sich ziemlich taub anfühlt und ihn in den ersehnten Tiefschlaf schicken möchte. In diesem Moment der eisigen Stille, ertönt wieder das Pfeifen des blechernen Personenzuges mit den Endlosabteilen. Donnert näherkommend auf den unkrautüberwucherten Schienen des Bahndammes entlang und hält nur kurz vor dem dreieckigen Zirkuszelt. In einem der Abteile hocken jetzt Mats, Pelle, Sven, Jörjen, Ole, sowohl Torsten als auch Allan. Inspizieren das Zeestower Areal mit zufriedenen Blicken, während der Zug zu ruckeln beginnt und dem Wunschziel weiter entgegen rast. Wohin es geht, wird sich bald zeigen - sehr bald.

 

Total außer Atem und wieder einmal nach Luft japsend, öffnet Arne die Holztür des Künstlerwagendomizils, in dem gähnende Leere vorherrscht. Zudem muffelt es verdächtig nach Schimmel und anderen gefährlichen, vor sich hingammelnden Speisen - wie schlechtgewordenen Lebensmitteln, auf denen sich schwarze Pilzkulturen tummeln. Ihre Fäden kaum sichtbar dort hineingepresst und miteinander verknüpft haben, um ein Ausbreiten in Gang zu setzen. Nur noch der einstige Duft des aromatischen Earl Grey Tees lässt sich hier erahnen, der kaum noch vorhanden ist - langsam verfliegt. Ungeachtet dessen, knallt Arne seinen völlig überspannten Körper auf die rostige Metallpritsche, jene er kaum noch wahrnimmt. Fällt sofort in einen fast traumlosen Schlaf, der ihm den Verstand als auch das Verständnis für Zeit raubt. Denn es muss jetzt einfach sein, um neue Energien daraus schöpfen zu können, die Arne bitternötig hat. Ein kräftiges Schnarchen erfüllt den Künstlerwagen, dringt durch die hölzernen Wandlatten und flutet selbst das äußere Areal. Unendliche Zeit scheint indes zu vergehen, die man keineswegs in Sekunden, Minuten oder gar Stunden messen kann, als sich plötzlich ein rundes, aufgedunsenes Gesicht gegen das dreckige Wagenfenster presst. Über dem Augenpaar die Hand eines suchenden Blickes liegt, der etwas auszumachen versucht. Wäre es nicht bereits früher Morgen, könnte man meinen, der Vollmond ist aufgegangen. »Hallo! Ist da wer?«, fragt eine undeutliche kratzige Männerstimme, die kaum zu hören ist - belegt und etwas erkältet zu sein scheint. Ein erneuter Versuch folgt, da niemand antwortet. »Ist da jemand?« Der warme Atem des Fragenden gefriert augenblicklich an der Glasscheibe und bildet winzige Eiskristalle, die durch langsam einsetzende warme Strahlen der Morgensonne zögernd zu tauen beginnen.

 

Das “Mondgesicht“ löst sich von der Fensterscheibe, und man vernimmt ein Geräusch von schlurfenden Schritten, die sich um den Künstlerwagen herumbewegen - Zutritt desselben finden wollen. Immer im Wechsel eines humpelnden, nach sich ziehenden steifen Beines, das einem Hölzernen gleichkommt. Klock … Schlurf … Klock … Sch…: Urplötzlich ebben sie ab und verstummen, da das Ziel gefunden worden ist. Pam … Pam … Pam …, hämmert es dreimal an die hölzerne Künstlerwagentür. Arne befindet sich weiterhin im steilen Sinkflug eines beginnenden Horrortraumes, aus dem er abrupt gerissen wird. Erneut dieses grässliche, dreimalige Klopfen, dem man nichts abgewinnen kann - weil es sich keinesfalls normal anhört. Überdimensionalen Roboterfäusten gleich, jene monoton gegen die Tür donnern. Immer noch die dicken Pickel eines Traummonsters vor seinem geistigen Auge, aus dem sich fette, glitschige Würmer durch jede Pore des Ungeheuers drehen, will Arne keinesfalls aufstehen und die Holztür öffnen. Wer weiß, vielleicht steht genau dieses Horrorgeschöpf vor ihm, wünscht Arne mit Haut und Haaren zu verschlingen? Also ignoriert er das Pochen so gut es eben geht. »Ist denn niemand daaaahaaaaa?«, folgt die nochmalige Frage nach Anwesenheit. »Verdammt, Mats!«, flötet Arne. »Wenn das wieder ein Gag sein soll, kannst du den knicken, alte Dumpfbacke!«, meckert er, so langsam auf Touren kommend. »Mache dich auf was gefasst, du Kerlemann!« Während Arne unaufhaltsam vor sich hin wettert, wankt er zur Tür und öffnet dieses knarrende, fast aus den Angeln fallende Teil. Vor ihm steht ein kleiner Mann, der eigentlich gar nicht wie ein Künstler ausschaut. Aber welchem Puppenakteur sieht man das schon an?

 

Arne blickt in ein hochrotes, aufgeblasenes Gesicht, das von dicken Eiterpickeln nur so übersät ist und erschreckt. ´Lieber Gott, lasse es nur ein Trugbild sein, bitte´, fordert er sein immer noch etwas schläfriges Hirn auf. Der schleimige Typ beginnt zu reden und betritt ohne Aufforderung den Raum des Künstlerwagens. Zieht eine exzessive Dunstfahne von Schimmelpilzkäse und alten, ungewaschenen Socken hinter sich her, die sich mit dem Gestank des Wageninneren vermischt. »Ich bin Jens Isvén. Man hat mich für heute am Freitag engagiert.« Befreit sich sofort von dem langen, mottenzerfressenen Baumwollmantel - jener vor Dreck starrt und fast von selbst stehen könnte, würde er nicht von unsäglichen Löchern zusammengehalten werden. Schleudert diesen auf Arnes Bett, der daraufhin eine miefige Knoblauch- als auch Staubwolke freisetzt und hochwirbelt. »Heute ist Freitag?«, will Arne erfragen, da er glaubt, sich verhört zu haben. »Ganz genau. Und das noch bis null Uhr!« Jens grunzt dabei wie ein Schwein, wobei seine Nase diesen schnorchelnden Laut noch unterstützt, da sie in der Form genau so aussieht - eben wie eine Steckdose. Jens ist offenbar ein ungehobelter, ungepflegter und reichlich taktloser Kerlemann, der noch nicht einmal die gängigsten Umgangsformen beherrscht, da er meilenweit weg davon ist. Will gar nicht erst wissen, wie Arne heißt und was sich generell so geziemt, wenn man bei einem Zirkus auftreten soll. Gibt patzige und knappe Antworten, dass es Arne die Fußnägel aufrollen lässt. Der jedoch hat endlich die Nase wieder einmal gestrichen voll von absurden Puppenkünstlern. Stellt darum weder eine weitere Frage, noch will er diesen Typen Benimm beibringen - auch keinesfalls mit seinen sehr kreativen, dummen Sprüchen beikommen - da er sie bekanntlich heiß und innig liebt. Schluckt alles brav herunter, auch wenn es ihn noch so ärgert und zwirnt.

 

Jens lässt indes zwei aufgeplusterte, prallgefüllte Plastiktüten auf den Künstlerwagenboden fallen, aus denen einige längliche, nichtaufgeblasene Luftballons flutschen und sich verteilen. Holt tief Luft, so als wollte er zum weiteren Verbalschlag ansetzen. Fasziniert blickt Arne auf das vielfältige Sortiment von bunten Gummiballons, die ihn irgendwie an seine Jugend erinnern, als er daraus Wasserbomben gebastelt hat. Nur um Erwachsenen vom Balkon diese Teile aufs Haupt plumpsen zu lassen. Sie einfach damit zu ärgern - mehr nicht. Lausejungen machen das eben mit wachsender Begeisterung. »Mycket Jävlar!«, also ungefähr übersetzt - »Teufel noch mal!«, tönt Arne, da er mit diesen verkrumpelten Teilen heute nichts anzufangen wüsste. Ist nicht nur erstaunt, sondern fragt sich, was Jens wohl hiermit vorhat. »Sagen Sie mal, Herr Isvén«, entschlüpft Arne doch noch eine Frage, die ihm auf der Zunge brennt. »Wollen Sie gar nicht wissen, wann die Vorstellung beginnt? Ich meine, das wäre schon irgendwie wichtig oder wie sehe ich das?« Jens antwortet nicht, weil es ihn keinesfalls wirklich interessiert. Stattdessen dreht er die Tüten um, und die dünnen Gummis purzeln haufenweise wie schlaffe Waschlappen heraus, bis diese leer sind. Bückt sich schwerfällig, um nur einen aufzuheben und mit heftigen Atemstößen aufzublasen. Bläht die Wangen immer wieder erneut auf, damit Nachschub gewährleistet ist. Arne würde am liebsten das Spiel abbrechen, weil es ihm nicht geheuer vorkommt. ´Wenn dieser Jens so weiter macht, platzt der Gummi, ohne dass er irgendetwas Kreatives damit angestellt hat´, denkt er beiläufig. Genau in diesem Moment, als Arne zu Ende gedacht hat, gibt es einen ohrenbetäubenden Knall. Aus dem geplatzten Luftballon schießt eine Art roter Grütze, von Würmern durchsetzt, die an den Holzwänden kleben bleibt und in langen Fäden dickflüssig herunterläuft. Jene Würmer kriechen sofort auf Arne zu und wollen durch seinen Mund, hinein in den Körper wandern. Kurz bevor sie den armen Teufel Arne erreichen, lösen sich die ekligen Viecher auf. Der wischt sich sofort den kalten Schweißfilm von der Stirn und atmet erleichtert durch. Jens bückt sich derweil im Zeitraffertempo immer schneller, bläst mit horrender Geschwindigkeit fast die gesamten Luftballons auf. Einige verknotet er gekonnt mit seinen strammen Fingern, die auf der Gummioberfläche ein quietschendes und fiependes Mäusegeräusch erzeugen, als … Arne mag es kaum glauben, sehen Pelle zum Verwechseln ähnlich - während die Restlichen wiederum nur ansatzweise etwas von Mats´ Äußerem besitzen. Ein Gefühl von Faszination und gleichzeitigem Abgestoßen sein, durchströmt Arnes Körper, der wieder einmal kurz vor dem Kollaps steht.

 

Nacheinander folgen auch Archäopteryx, Buddha, Pinochhio und Zombietyp. Woher kennt Jens eigentlich diese abartigen Puppenkreationen? Ist er schon einmal in diesem besonderen Zirkus aufgetreten, wo nichts normal abläuft? Vielleicht in einer anderen Zeit und Örtlichkeit? Als der letzte Luftballon bis zum Bersten aufgeblasen ist, lässt er diese allesamt in Richtung Wagendach schweben, wo sie haften bleiben und für eine gefühlte Ewigkeit dort herumhängen. Sich nur kurz bewegen, so als würde ihre Gummikörper ein Lufthauch streifen, wäre hierfür das einzige Fenster im Innenraum geöffnet. »War’s das jetzt, Herr Isvén?«, stellt Arne doch noch eine Frage, die eigentlich überflüssig ist. Denn was sollte noch kommen? Keine Antwort seitens Jens, der es bevorzugt, mit Blicken zu agieren - in denen jetzt das Teuflische aufflammt. Seinen Ballons den irrsinnigen Befehl erteilt, sich von selbst weiter aufzuplustern. Solange, bis sie den Künstlerwagen fast völlig ausfüllen und dann platzen - einer nach dem Anderen. Aus jedem Einzelnen ergießt sich eine Flüssigkeit, die jedoch teilweise verklumpt ist und zu allem Übel bestialisch stinkt. Wie schwarzer Glibbermodder ausschaut, aus dem sich hilfesuchende Ärmchen dem völlig verdattert dreinblickenden Arne entgegenstrecken. Jens scheint verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Vielleicht schon längst im dunklen Morast abgetaucht, der ihn sehnlichst erwartet hat? Zeitgleich donnert erneut jener Personenzug über die unkrautdurchwucherten Schienen des Bahndammes. Kündigt mit lautem, durchdringendem Pfeifen sein Näherkommen an. In einem der Endlosabteile sitzen jetzt Pelle, Mats, Sven, Jörjen, Ole und Torsten als auch Nils, Björn, Allan sowohl Jens. Winken Arne bekräftigend zu, ihnen bald folgen zu müssen. Denn sie wissen ganz genau, dass dies bald zur bitteren Realität mutiert. Während das metallische Ross mit den Endlosabteilen weiter seinem angestammten Ziel entgegen rast und auch erreicht, wächst hinter ihm das ausgedörrte Unkraut zur vollen Höhe. Schlingt seine grauen Arme um die langsam vor sich hinrottenden Gleise, um sie zu zerquetschen. Niemals darf hier, in welcher Zeit auch immer, ein Zug entlang düsen, damit Arne hier einsteigen kann. Sein Weg wird ein anderer sein, der ihm bereits vorbestimmt ist - von dem er allerdings momentan keinen blassen Schimmer haben kann.

 

Wieder diese grausame, über Allem erdrückende Stille im Künstlerwagen, der Arne nichts abgewinnen will - obwohl dieser Spuk eigentlich vorbei ist. Er glaubt nicht, dass es jene Vorstellung gewesen sein soll, die erst normalerweise am Abend stattfindet. Fühlt sich reichlich auf den Arm genommen und denkt nach. ´Okay, du alter Schwede. Kannste endlich pennen gehen. Wer kann schon wissen, was mich am Wochenende erwartet´. Gähnt daraufhin herzhaft - beginnt den Entspannungsmodus zu fahren. Öffnet nur kurz das verschmierte Fenster, um den Gestank hinausfliegen zu lassen. Schließt es daraufhin und überprüft die Luft mit tiefen Nasenzügen. Stellt fest, dass sie zwar etwas Kühle erzeugt, aber dennoch irgendwie rein und sauber duftet. Vorerst jedenfalls. Springt wie ein angestachelter Bock in sein geliebtes Metallbett, das bedenklich quietscht und wackelt. Kein Gedanke in seinem Gehirn, was in diesem Moment auch gewünscht ist. Null Alptraum, der etwas Makabres ankündigt oder gar fieses Klopfen an der Wagentür. Also alles im Lot. Doch der Schein trügt, wartet schon des Nachts auf den drangsalierten Arne.

 

 

Kapitel 9

 

Sluted är en välkommen början - Das Ende ist ein willkommener Anfang

 

Irgendwo schlägt im verschlafenen Berlin/Spandau die Turmuhr einer kleinen Kirche - läutet Mitternacht ein. Die Zeit, in der Geister über den Bezirk schweben wollen, um ihr Unwesen mit den Menschen zu treiben. Exakt zwölf Schläge schallen in Richtung des Zeestower Weges - bohren ihren hämmernden Lärm durch den hölzernen Künstlerwagen. Rütteln Arne unvermittelt aus einem diesmal wirklich traumlosen Schlaf. Er schreit heftig auf, da seine Beine eingeschlafen sind und sich taub anfühlen. »Heiliger Bim Bam!«, jodelt Arne - was auch irgendwie zum Uhrengeläute passt. Reibt sich die Beine, um den nun einsetzenden, stechenden Schmerz weg zu rubbeln. Keucht und stöhnt wie ein alter Mann, der irgendeine Anhöhe bezwingen will. »Was soll der Mist, gottverdammter Schiet?« Urplötzlich vernimmt Arne die Stimme von Pelle, jene aus allen Richtungen zu kommen scheint. Merkt auf und lauscht angestrengt. »Hilf mir, Arne. Ich stecke hier fest! Mach schon, bewege dein Hinterteil und ziehe mich endlich raus!« »Pelle, bist du es? Wo steckt deine Wenigkeit eigentlich seit vielen Tagen?« Eigentlich ist er sich vollkommen sicher, dass es nur Pelle sein kann und sonst niemand. »Boss, jetzt zeige dich doch endlich!«, erbost sich Arne und dreht stimmlich auf. »Arne, ich bin im Zirkuszelt. Befinde mich in einer ziemlich prekären Lage. Mach schon, sonst …!« Abrupt endet der Hilferuf, und nur noch ein blubberndes Brabbeln ist zu vernehmen, das langsam abebbt. So, als hätten sich zwei Frequenzen eines Senders gegenseitig gestört, die zudem aus unterschiedlichen Zeitepochen stammen und in der hiesigen Gegenwart gefunden haben.

 

Arne wäre beinahe vor lauter Übereifer gegen die Holztür gedonnert. Hat sie dennoch flugs öffnen können. Ist jedoch blindlings mit der Stirn gegen den hölzernen Türrahmen geknallt. Sekundenschnell wächst aus besagtem Frontallappen ein riesiges Horn, das sich bläulich-rot einfärbt. Schmerzen spürt Arne keinesfalls, da sein Körper anderweitig beschäftigt ist. Nämlich mit dem Rennen zum Zirkuszelt, um seinem Boss aus irgendeiner fatalen Situation retten zu können. Wieder einmal völlig außer Puste, steht er fassungslos im Zelt, schaut gen Planenspitze, aus der ein Holzbein ragt - daraufhin ein weiteres folgt, an denen sogar ein Körper, Kopf als auch ein Spielkreuz hängen, die an Fäden bammeln. Wie bei der Geburt aus einem Vogelei, schlüpft Pelles Marionette sekundenschnell in die dreieckige Manege, vollführt zunächst eigenartige, hampelnde Bewegungen. Währenddessen versucht Pelle selbst, sich aus diesem Zeittunnel zu quetschen, der für jedermann unsichtbar ist. Bleibt leider eingezwängt hängen, so dass man nur seinen Kopf erkennt, der wie ein herbeigezauberter Geist erscheint. Zudem wollen große Augen aus ihren Höhlen quellen, da ihm stückchenweise die Luft zum Atmen genommen wird. Pelle krächzt wie ein Graupapagei, als er Arne erblickt. »Aaaaaarne, ziehe mich endlich hier raus, ich sterbe sonst. Mein dritter Flippversuch ist zum Scheitern verurteilt, verstehst du!« Arne kapiert zwar überhaupt nix, will aber irgendwie eingreifen. Nur wie, wenn doch keine Leiter vorhanden ist.

 

Arne kommt einfach keine Idee, wie er das Problem lösen könnte - da hier zudem die Zeit ein wichtiger Faktor spielt, der gegen Pelle ist. Also muss er zwangsläufig zuschauen, wie sein Zirkusboss langsam verschwindet, von diesem imaginären Zeitschlauch zurückgepresst wird - mit den Füßen voran. Dafür befindet sich Pelles Marionette in einer Art von Rede- und Bewegungsrausch, der Arne gilt - da kein Publikum anwesend. Eigentlich niemals war, ist und sein wird. In ihr die Seele von Pelle, jene zur Attacke übergeht, um den armen Kerl unbedingt bei sich zu wissen. In Gemeinsamkeit für die Ewigkeit? »Du gehörst für immer mir, Arne!«, schimpft sie mit verzerrter Mimik und glutrot unterlaufenen Augen, während der hölzerne Körper die Form eines fortwährenden drehenden Strudels annimmt. Arne in jenen Sog zieht, der hieraus entsteht. Für ihn besteht noch nicht einmal der Hauch von Möglichkeit, dem etwas entgegen zu setzen, indem er flüchtet - auch wenn er es noch so gerne möchte. Dieser Hilflosigkeit ausgeliefert, würde Arne zumindest Schimpfkanonaden herauslassen, aber auch das misslingt ihm. Somit lässt er sich willenlos treiben, da offensichtlich alles in seinem Hirn ausgeknipst ist.

 

Mit geschlossenen Augen als auch Ohren und Mund, rutscht Arnes Körper immer tiefer in den Zeittunnel - bekommt hiervon nichts mit. Auch nicht, dass nur wenig hiervon vergangen ist. In diesem Moment des Vergessens, endet der reißende Vorgang. Befördert den etwas langgezogenen Arne wie einen elendigen Wurm ans Tageslicht - der nur um wenige Tage jünger geworden ist. Langsam erwachen Arnes Körper und Sinne, da sein Herz wieder im Sinusrhythmus schlägt - warmes, sauerstoffgesättigtes Blut durch ihn pumpt. Steht senkrecht, reckt und streckt sich. Wie, als wäre er neugeboren, schaut sich Arne um. Erblickt ein reichlich durchnässtes Gelände, auf dem bereits einige hölzerne Künstlerwagen stehen. Hört Stimmen, die ihm bekannt vorkommen und völlig durcheinander quatschen. Wirre Befehle geben, während andere Typen sie umsetzen. Mats, Sven, Jörjen als auch Ole und Torsten, gehen ihrer zugeteilten Arbeit nach, während Pelle erneut in seinem Künstlerwagen die erste Vorstellung im Puppenzirkus “Circus maniska magi“ einstudiert. Auch diesmal hängt jene Marionette an straffen Fäden des Spielkreuzes, die ihm verblüffend ähnlich sieht. Wird sie auch genauso in dieser Zeit, an jenem Ort agieren? Während Arne irgendwie verloren dasteht und dem Treiben zuschaut, erhebt sich wie in Zeitlupe das dreieckige Zirkuszelt aus dem neuen blubbernden Morast. Irgendwo in Strömsund, unweit des Waisenhauses. Während es auf dem alten Areal des Zeestower Weges, von ihm mit schlürfenden Lauten hinein gerissen wird und verschwindet. Gleißende Sonnenstrahlen treffen hier den ausgetrockneten Sandboden, geben die Normalität preis. Nur in jener Vergangenheit, die zu einer anderen Gegenwart geworden ist, gießt es wie aus “Mollen“. »Hej, Arne!«, rufen sie ihm zu und winken. »Komm schon, helfe uns - wirst benötigt. Musst noch die Technik installieren, du Genius!« Lustiges Pfeifen, Liedchen trällern und Stimmengewirr begleiten ihre schwere körperliche Arbeit. Soll Arne folgen oder gibt es für ihn etwas Besseres zu tun, in einer anderen Vergangenheit, die ebenfalls hernach zur Gegenwart wird? Eines ist jedoch sicher, denn auch hier stehen erneut dieselben Puppenkünstler auf der “Matte“. Lassen ihre hölzernen Erfindungen so agieren, wonach ihnen der Sinn steht. Nils, Björn, Allan und Jens als auch Pelle, wollen es so.

 

 

Nachwort

 

Darum seid immer vorsichtig, wenn Ihr auf irgendwelchen freien Arealen herumtollt. Denn wer kann schon wissen, ob sich hier nicht auch dieser blubbernde Morast auftut, um Euch zu verschlingen?

 

 

 

 

ARNES Leib- und Magenspeise – so mag er es am Liebsten

Schwedisches Rezept ohne Nebenwirkungen

 

Köttbullar och Potatismos med Sås

(Fleischklopse und Kartoffelpüree mit Soße)

 

Was benötigt Ihr für das einfache Gericht

 

Spickzettel

• 500 -700g frisches durchgedrehtes Schweinemett vom Fleischer (Menge ist abhängig von der Personenanzahl)

 

• 2 gehäufter EL Butter (Smör) - möglichst Süßrahmbutter, wegen des milchigen Geschmacks. Zum Anbraten und späteren Verwenden des Bratenfonds für die Soße.

 

• Meersalz – nach Belieben

 

• Pfeffer aus der Mühle – ebenfalls nach Belieben

 

• ½ TL, eher etwas weniger, geriebene Muskatnuss (sorgt für den extravaganten Geschmack)

 

• 2-3 Freilandeier (sorgen für den Halt der Fleischmasse)

 

• 2 Brötchen, Semmeln, Wecken oder Schrippen. Ist bezeichnenderweise regionalbedingt

 

• 2-3 mittelgroße mehlig kochende Kartoffeln (pro Person)

 

• 1 gehäufter EL Vollkornmehl (Für die Bindung der Soße, als Mehlschwitze oder Einbrenne verwendet. Zudem unterstützt das Vollkornmehl die nachfolgende Bräunung der Soße.)

 

• Frische Vollmilch (Rahmstufe)

 

 

 

 

 

TIPP

 

Bitte den gesamten Fleischteig zubereiten, und dann hernach so viele geformte Köttbullar nehmen, wie gewünscht. Den Rest in einem Gefrierbeutel deponieren und ab für die Bevorratung ins Gefrierfach. Genau so handhabt man das mit der übriggebliebenen Soße. Jene wird dann in einen kleinen Tupper abgefüllt und wartet auf die nächste Verwendung, für die pikanten Fleischklopse oder auch ein anderes Gericht. Der Fantasie sind hierbei keine Grenzen gesetzt.

 

 

KÖTT-ZUBEREITUNG

 

Geben Sie den Fleischteig zunächst in eine große Schüssel. Dann die Freilandeier – hernach das Meersalz und den Pfeffer aus der Mühle als auch die geriebene Muskatnuss, hinzu.

Die 2 Brötchen aus Weißmehl, werden vorab nur mit so viel Vollmilch übergossen, bis dass sie diese völlig aufgesaugt haben. Final werden sie dem Fleischteig zugefügt und alles gut mit einer Gabel durchgeknetet. Jetzt sollte der Teig zugedeckt im Kühler mindestens 1 Stunde ruhen, damit sich alle Ingredienzien richtig verbinden und die optimale Konsistenz erzielt wird. Erst dann kann man, falls gewünscht – noch weiteres Meersalz, Pfeffer aus der Mühle, sowohl Muskatnuss, hinzufügen. Hinzuwürzen geht immer, aber Wegwürzen nicht.

Wenn Sie die kleinen Köttbullar geformt haben, werden diese auf ein Brettchen oder Teller platziert.

 

DIE SOßE ENTSTEHT

 

Die Mengenangabe für die Butter als auch des Mehls ist variabel. Wer mehr Soße benötigt, nimmt dementsprechend mehr von den beiden Zutaten.

  1. Butter in die Pfanne geben und schmelzen lassen.

  2. Vorgeformte Köttbullar hineingeben und auf kleiner Gasflamme oder Stufe 1 beim Elektroherd als auch einem Ceranfeld, rundum goldgelb anbraten. Hernach aus der Pfanne nehmen und zurück auf den Teller legen. (Vorsicht, die Butter darf nicht schwarz werden und anbrennen. Auch wenn es Einbrenne tituliert wird. Kleiner Spaß am Rande.)

  3. Jetzt wird das Vollkornmehl eingerührt und das Butter-Mehl-Gemisch goldbraun angeröstet. Die Aromen des vorgebratenen Kött sind bereits von dieser Mischung aufgenommen und bestimmen somit den grundsätzlichen Geschmack.

  4. Aufgegossen wird dann im Verhältnis ¾ Wasser und ¼ Vollmilch. So lange, bis die Soßenkonsistenz stimmig ist.

  5. Final noch etwas Gemüse- Rinder- oder Geflügelboullion aus dem Glas, im Körnerformat, hinzufügen. Aber nur, wer das auch möchte.

  6. Hernach werden die zurückgelegten Köttbullar in die Soße gegeben – simmern dann nur kurz darin, bis dass sie gar sind.

  7. FERTIG SIND DIE SCHWEDISCHEN KÖTTBULLAR

 

 

POTATISMOS (KARTOFFELMUS – KARTOFFELSTAMPF)

 

Die mehlig kochenden Kartoffeln schälen und in kleine Stücke schneiden. Bitte kein Salz ins Wasser geben, da dieses final in den gestampften Kartoffelbrei zugefügt wird. 20 Minuten köcheln, quasi garen lassen und abgießen. Hernach abdämpfen, um das restliche Wasser zu entfernen. Butterflöckchen nach Belieben hinzufügen und cremig stampfen. Vollmilch kann, jedoch muss nicht zwangsläufig beigemengt werden, wenn die Konsistenz bereits erreicht worden ist. Bitte auch kein weiteres Muskatgewürz untermischen, da dieses bereits genügend im Schweine-Kött vorhanden ist.

 

 

Dieses schwedische Gericht kommt mit wenigen Gewürzen und anderen Zutaten aus, da diese nur unnötig den Grundgeschmack des Schweinemetts beeinträchtigen und überlagern würden. Ein einfaches Rezept, das nicht wirklich geschmacksneutral daherkommt.

 

Eure Geschmackspapillen sehnen sich auch mal nach Grundsätzlichem. Wünsche -bon appetit- und gutes Gelingen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das schwarze Dampfross

 

 

 

 

 

 

Vater Johann und sein neuestes Buch

 

 

 

 

Geisterzug

 

Geisterzug

 

Kapitel 1

 

Vater Johann hat es sich hinter dem alten Schreibtisch aus Holz, seines mit vielen Bücherregalen ausgestatteten Arbeitszimmers gemütlich gemacht. Nur die kleine Leselampe ist eingeschaltet und wirft ihr klägliches, fahles Licht auf jenes mysteriöse Buch, das er fest in Händen hält. Johanns Gesicht wirkt zudem geheimnisvoll - ja, schon fast teuflisch verzerrt. Wie das eines Dämons, der Böses im Schilde führt. Auf dem Einband ist ein Zug abgebildet, den man kaum erkennt - irgendwie nicht wirklich vorhanden. Ein Geisterzug? Im Raum ist es dunkel und still. Nur das Ticken der Wanduhr aus Eichenholz hat etwas, das man mit Ruhe vor dem Sturm bezeichnen könnte. Wie ein mächtiger Wind, der sich in die Fantasie der Kinder zu einem Orkan entwickelt. Sein Sohn Peter, deren Freund Kaspar und zwei Nachbarskinder, Torsten und Jens, hocken auf Sitzkissen davor. Schauen ihn erwartungsvoll mit großen Augen an und sind ganz bei der Sache. Vater Johann liebt es, Kindern etwas Gruseliges vorzulesen, denn sie sind für ihn die besten kritischsten Zuhörer, die man noch begeistern kann. Immerhin ist es sein erstes Buch, das er als Autor extra für Jugendliche getippt hat. ´Mal sehen, ob ich sie davon überzeugen kann´, denkt er bei sich und schaut die Kleinen diebisch über den Rand der heruntergezogenen Brille an.

„Seid ihr bereit?“, fragt er mit rauer, aber dennoch leiser Stimme seine kleine Leserschaft, die es kaum abwarten kann. Langsam beginnt, nervös auf ihren Sitzkissen herumzurutschen. Einstimmig ertönt aus ihren Kehlen das langgezogene „Jaaaaaaa!“ Vater Johann schmunzelt und stellt noch eine große angezündete Kerze neben seinen Computer, deren Flamme Schatten an die Wand wirft und gespenstisch unruhig flackert. Die Wirkung lässt auch nicht lange auf sich warten. Ein verzücktes „Woooooow!“, lässt Johanns Herz höher hüpfen, denn er liebt Kinder über Alles. ´Wie wundervoll, wenn man sie mit Geschichten begeistern und verzaubern kann´, denkt Johann und beginnt die schaurige Erzählung vom Geisterzug, der Kinder immer nachts heimsucht und in eine andere Welt entführt. Sind sie für immer verschwunden oder nimmt er sich nur ihrer zarten Seelchen an? Vater Johann flüstert jetzt, um die Aufmerksamkeit der ihm ans Herz gewachsenen Kinder mit fast dämonisch aufgesetzter Stimme regelrecht zu fesseln. „Könnt ihr euch vorstellen, dass dieser Geisterzug auch euch holen wird?“ „Nein!“ verkünden sie lautstark und sind felsenfest davon überzeugt. „Warten wir es ab. Lasst euch überraschen. Man kann nie wissen.“ Johann stopft sich sein Pfeifchen und zündet den Tabak im Köcher an. Nimmt einen tiefen gelassenen Zug. Weiße Qualm Wölkchen steigen auf und lassen die Situation zusätzlich gruselig wirken. Entspannt lehnt er sich auf seinem alten ledernen Ohrenbackensessel zurück und liest. „Eine Frage hätte ich noch an euch. Glaubt ihr an Gespenster und geisterhafte Erscheinungen?“ Keine Antwort der Kinder bescheinigt ihm, dass sie eigentlich noch für alles offen sind. „Nun, selbst wenn ihr denkt, dass euch der Geisterzug niemals heimsucht, da es ihn nicht wirklich gibt, wird er für immer und ewig in euren Fantasien über die Gleise rattern. Versprochen!“

 

Bevor Johann den Titel der Geschichte ›Geisterzug‹ vorliest, um sie im Nachhinein vorzutragen, gibt er noch ein paar einleitende Worte zum Besten. „Stellt euch vor, dem lütten Sven ist es genau so ergangen, nur weil seine Fantasien mit ihm durchgegangen sind. Ihr wisst schon, was ich meine.“ Vater Johann hebt bedeutungsvoll nur kurz den Zeigefinger in Richtung Zimmerdecke und erzählt.

 

Kapitel 2

 

Der kleine Sven liegt in seinem warmen Bettchen. Hat die Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen und hält sie krampfhaft mit den winzigen Fäusten fest, denn ihm friert. In seinem nur mit wenigen Möbeln ausgestatteten Kinderzimmer ist es bitterkalt, da die Heizung oft ausgeschaltet bleibt. Seine Eltern müssen sparen und stellen sie nur tagsüber ein einziges Mal kurz an. Spätherbst lässt zudem viel Freiraum für Fantasien, die Sven leider im Übermaß besitzt. Der Vollmond wirft sein weißes Licht durch die nackten Fenster des Raumes, während die kahlen Äste des Kastanienbaumes pausenlos vom einsetzenden Sturm im Takt gegen die Glasscheiben gedroschen werden. Große Kulleraugen blicken starr und entsetzt zur Zimmerdecke. Er hat fürchterliche Angst, denn dieser Alptraum kommt inzwischen jede Nacht. Wie auf leisen Füßen schleicht er sich in sein Gehirn und lässt ihn einfach nicht los. Irgendeine übermächtige Kraft hält ihn an einer magischen imaginären Kette fest und will den lütten Sven in eine andere Dimension oder auch Welt ziehen. Der Teufel weiß, wo es ihn hin verschlägt. Niemand kann dem armen Sven jetzt helfen, da die Eltern nicht zu Hause sind. Wollten nur zu einer familiären Geburtstagsfeier gehen, auf der es sehr spät werden würde. Sie vertrauen ihrem Sohn und haben ihm klar gemacht, niemandem die Tür zu öffnen, wenn es klingelt oder gar das Telefon läutet. Man kann ja nie wissen, wer etwas, selbst um diese späte Uhrzeit, Schlimmes im Schilde führt. Denn das Böse kennt kein wirkliches Ende - niemals. Es ist immer und überall gegenwärtig. Verschlingt dich mit Haut und Haaren.

Für einen kurzen Moment hält Johann inne und schaut erneut über den Rand seiner Lesebrille. Vergewissert sich, ob die kleinen interessierten Zuhörer noch anwesend sind oder sich längst aus dem Staub gemacht haben. „Ihr wollt also wissen, was es mit dem Geisterzug auf sich hat?“, fragt Vater Johann kurz nach. Keine Antwort. Stumme Münder und gespannte Blicke aus weit geöffneten Kinderaugen benötigen auch keiner Worte, denn sie sprechen für sich. „Okay, ihr habt es so gewollt“, zischelt er, um dem Ganzen mehr Spannung zu verleihen und fährt fort.

 

***

 

Immer noch tobt der Sturm und pfeift unaufhörlich durch die Fensterritzen. Mal laut, dann wieder etwas leiser. Einer Dampflock nicht ganz unähnlich. Selbst das Kratzen der blätterlosen Äste, die inzwischen von glitzernden Eiskristallen übersät sind, hat zugenommen. Hört sich wie ein starkes Klopfen an. So als würde jemand hinein wollen - mit roher Stimmengewalt fordernd um Einlass bitten. „Öffne das Fenster! Ich will zu dir! Kannst mir vertrauen. Habe dir auch etwas mitgebracht, willst du es sehen? Mach schon - lasse mich herein!“ Sven zittert am ganzen Körper, so dass die Bettdecke mitwippt und es ihm gleichtut. Warum sollte er dieser Stimme Glauben schenken, wenn sie ihm doch Angst einflößt und kein Vertrauen?

 

***

 

Die Kinder tauchen in jene gruselige Geschichte so tief ein, dass sie das intensive Pfeifen förmlich hören können. Dazu die Qualm Wolken aus Johanns Köcher, und die Situation wirkt perfekt als auch ziemlich real. Fast kann man das Rattern der Lok Räder vernehmen, wie sie über die Gleise donnern. Der kleine Sven schließt für einen kurzen Moment die Augen, um der Wirklichkeit zu entfliehen. Ist er wach oder wieder erneut eingeschlafen? Immer lauter wird das Geräusch des Geisterzuges. Sven glaubt, dass er fast neben seinem Bett angekommen ist, denn er hört das Quietschen der Zugbremse und die Trillerpfeife des Schaffners. „Warum kann ich dich nicht sehen?“ fragt Sven mit angstvoller, zittriger, weinerlicher Stimme. „Öffne Deine Augen - schau her, was ich für dich habe!“ knüpft die Geisterstimme fordernd auf seine vorherige Frage an. Will sich bei ihm einschmeicheln.

„Ich kann nicht. Meine Augenlider sind so schwer“. Svens Stimme ist kaum noch zu hören, denn sein Herz hämmert wie eine Buschtrommel bis zum Hals hoch. Lässt ihn zudem kaum atmen. So als würde es Sven im Würgegriff halten. „Du hast die Augen geöffnet, mein kleiner, ängstlicher Sven. Es sind deine geistigen Augen, verstehst du!“ höhnt und dröhnt es fortwährend in seinem Gehirn. Sven versteht nicht wirklich, was die Stimme damit meint - reibt sich mit seinen winzigen Händen die Augenlider, beide sind geschlossen. Dunkelheit umgibt den kleinen Kerl, und er macht sich vor lauter Angst in die Hosen. Die Nässe durchdringt fast die ganze Matratze und lässt ihn zusätzlich frösteln. Es vergeht nur wenig Zeit als Sven glaubt, die Umrisse einer Lok zu erkennen. Streckt die kurzen Ärmchen nach ihr aus, um sie auch fühlen zu können. Jedoch geht der Griff ins Leere und gibt seinem Zustand nicht wirklich etwas Angenehmes. „Wo bist du?“ jammert Sven unaufhörlich. „In deinem Kopf, mein süßer Liebling. Du kannst mir nicht entkommen. Aber dein Geschenk wartet immer noch auf dich! Willst du es nicht sehen und endlich auspacken?“

Sven verspürt noch nicht einmal ansatzweise die geringste Lust, irgendwo hin zu folgen, um ein versprochenes Geschenk auszuwickeln. Eigentlich möchte er wach werden und sich aus diesem Alptraum wissen. Plötzlich greift eine Hand nach seiner Bettdecke und reißt sie ihm weg. Sven hält sich beide Hände vors Gesicht und glaubt, dann nicht mehr sichtbar zu sein. Wie Kinder das so umsetzen, wenn sie sich unsichtbar machen wollen. Eine weiche, warme Frauenstimme spricht mit zärtlichen Worten zu ihm. „Sven, mein kleiner Schnuckel, wir sind zurück. Du hast so entsetzlich geschrien, dass ich gleich zu dir geeilt bin. Das ist nur ein böser Traum gewesen. Weißt du was, ich werde dir einen süßen, leckeren, heißen Kakao kochen. Dann kannst du entspannt wieder einschlafen, und alles ist vergessen. Ich lese dir auch etwas aus einem Buch vor. Weißt du wie es heißt? Habe ich gestern erst von deinem Vater geschenkt bekommen. Warte mal, ich hole es“. Während Svens angebliche Mutter in Richtung Küche verschwindet und den Kakao zubereitet, blinzelt Sven durch den Spalt des gespreizten Zeige- und Mittelfingers. Das Lampenlicht blendet entsetzlich und bringt seine verweinten Augen zum Brennen. Nach kurzer Zeit kommt sie zurück und hält ein Buch in Händen. Nur undeutlich erkennt er auf dem Cover einen Zug, darauf in roten Buchstaben der Titel “Geisterzug“ steht.

In der Tasse dampft der heiße Kakao und verströmt einen wunderbaren süßlichen Geruch. „Das ist dein Geschenk, mein kleiner Kerl! Habe es extra für dich gekocht. Kannst ruhig mehr davon haben, wenn du magst!“ Die Frauenstimme hat sich sekundenschnell in die der Lokomotive gewandelt. Zieht ihn immer mehr in diesen niemals enden wollenden, widerlichen Alptraum hinein. „Habe dir doch versprochen, dass du mir niemals entkommen wirst, erinnerst du dich?“ Sven schreit aus Leibeskräften, wie er bisher noch nie in seinem Leben geschrien hat. „Mamaaaa, Papaaaaaaa, wo seid ihr? Kommt schnell und helft mir!“ „Niemand kann dir helfen, Du armes Würstchen. Ich nehme dich in eine fantastische Welt mit, denn dort wirst du noch anderen Kindern begegnen. Kannst auch mit ihnen spielen. Es gibt hier so viele Lokomotiven wie du nur willst. Alle warten schon sehnlichst auf dich. Glaube mir, hier gibt es nur Spaß!“

Die Stimme hat sich jetzt zu einer unüberhörbaren, kräftigen Männerstimme entwickelt und verheißt nichts Gutes. Krämpfe ziehen sich über den gesamten Bauch des Winzlings Sven. Drücken ganz fest zu und lassen erneut los. Immer wieder, und es nimmt einfach kein Ende. Der Kakao hat seine Wirkung nicht verfehlt, denn er besitzt magische Kräfte. Gekocht aus Wurzeln, Zauberkräutern und Süßholz. Mit Süßstoff verfeinert, ähnelt er nicht wirklich der eigentlich bitteren Kakaobohne. „Niemand kann dich hören, Du Schlingel, selbst wenn du noch so heftig schreist. Ich werde dich einfach mitnehmen, weil es mir gefällt. Wehren macht also keinen Sinn. Entspanne dich, und lasse die Heilkräuter wirken, dann fällt es dir leichter. Bald gehört ihr mir alle. Glaube doch endlich!“ Unaufhörlich redet die Stimme auf den kraftlosen Sven ein. Jedoch will und kann er sich nicht treiben lassen, da die Angst ihn immer noch fest im Griff hält. Eine völlig normale Reaktion seines ausgezehrten und kraftlosen Körpers.

„Du bist ein Schwächling, kleiner Sven. Gehörst nicht in diese Welt. Mache dich bereit für etwas anderes. Ich werde dir die Kraft geben, die du in deiner alten Welt unbedingt brauchst. Dauert nur eben seine Zeit. Wirst sehen!“ Die Männerstimme wechselt plötzlich in eine sanfte weiche Frauenstimme. Sven wird es warm um sein kleines krankes Herz, und er fühlt endlich tiefe Ruhe, die ihn gleich einschlummern lässt. Schläft er wirklich und träumt oder wirkt der Zaubertrank? Svens Atem geht regelmäßig aber flach. Der Geisterzug pfeift deutlich und laut. Die Räder setzen sich nur langsam in Bewegung - werden immer schneller. Rotieren unaufhörlich um sich selbst, bis man sie nicht mehr erkennen kann. Der gewaltige schwarze Zug rattert über die Schienen und nimmt den kleinen schüchternen Sven in eine andere Welt mit. Hier gibt es nur Spaß, Frohsinn und viele Lokomotiven. Nur ein Trugbild oder doch Wirklichkeit?

 

Kapitel 3

 

Vater Johann nippt am Wasserglas, das er immer gut gefüllt neben dem Computer zu stehen hat. Vorlesen macht eben durstig und trocknet aus. Wieder blickt er gespannt über den Rand seiner Lesebrille und leckt sich dabei kurz mit der Zunge über die Lippen, um sie anzufeuchten. Wartet die Reaktionen der Kleinen ab. Kaspar steht der Mund offen, und Peter weint dicke Krokodiltränen. Sämiger Schleim trieft aus seinen Nasenlöchern - direkt über den neuen Strickpullover, auf dem die schwarze Dampflok eingestickt ist. Irgendwie passt das. „Nicht doch - nicht doch, ihr Beiden“, versucht Johann mit Flüsterstimme die Kids zu besänftigen. „Die Geschichte ist noch gar nicht zu Ende. Lasst euch überraschen, was dem kleinen Sven ereilt. Ihr werdet sehen, alles wird gut“. Nachdem Vater Johann seine kleinen Freunde beruhigen konnte, setzt er mit passender leiser Stimme fort. Knüpft an, und nimmt einen weiteren tiefen Zug aus der Kirschbaumholzpfeife.

Wieder ist das Rattern des Geisterzuges in den Köpfen der Kinder. Er hat Fahrt aufgenommen, denn die Zeit drängt. Sven liegt immer noch in seinem warmen Bettchen, und wälzt sich von einer auf die andere Seite. Ihm ist unwohl und speiübel. Nur seine überspannte Fantasie sitzt in einem der vielen Abteile und lässt sich in ein gefülltes Reich tragen, das nur von dieser lebt. Der kleine Bub hat beide Beine dicht zusammengepresst und schaut erwartungsvoll aus dem Fenster. Unheimliche Dunkelheit wird durch vorbeiflitzende Gesichter unterbrochen, die ihn böse angrinsen und von Zeit zu Zeit am Abteilfenster festkleben. Öffnen und schließen unaufhörlich ihre riesigen Mäuler, in denen spitze Zähne erkennbar werden. Kratzen daran herum, so als wollten sie den kleinen Sven mit Haut und Haaren verspeisen. Plötzlich schaltet sich die raue Stimme des Zuges ein. „Jaaa, so ist es gut. Mache nur weiter so. Lasse deine Fantasien heraus. Baue Dir deine eigene Welt auf. Nur in meiner wirst du frei leben und denken dürfen. Du weißt doch, es wartet noch ein Geschenk auf dich!“ Die Stimme verstummt, und nur das monotone Rattern der Räder ist zu hören. Durchschneidet die Stille, um sich erneut zu melden. Diesmal fordert sie etwas ein.

„Wenn ich dir etwas gebe, musst du mir auch etwas von dir schenken!“ In diesem Moment bohrt sich eine geöffnete, pechschwarze Hand durch die geschlossene Scheibe. Streckt seine langen dürren Finger nach Sven aus. „Du trägst eine goldene Kette mit Anhänger. Gib sie mir!“, fordert ihn die böse Stimme auf. „Wenn du es nicht machst, werden dich meine Freunde vertilgen. Hast sie doch gesehen oder nicht?!“ Sven hält sich die kleinen Finger vor das Amulett, um es zu schützen. „Nein! du bekommst es niemals. Hier wohnen Papa und Mama. Ich trage sie immer bei mir - Tag und Nacht“. „Das glaubst nur Du, mein dummer kleiner Sven. Sie sind meilenweit von dir entfernt!“ lacht die Stimme mit einem dämonischen Gehabe. Sven kauert sich auf der Abteilbank zusammen und wirkt noch kleiner. Hält krampfhaft jene wertvolle Kette fest. Die knochige Hand kommt immer näher und reißt das Amulett samt Goldkette mit einem Ruck von seinem Hals. Daraufhin schließt sie sich zu einer Faust und verschwindet in der Dunkelheit außerhalb des Fensters. In der geschlossenen Hand das Amulett haltend, das dem Geisterzug als Pfand dient.

Totenstille herrscht im Abteil und wirkt wie ein stummes Tuch, das alles erdrückt. Immer weiter fährt der Zug und donnert nur scheinbar über Gleise, die nicht wirklich vorhanden sind. Irgendjemand bläst in die Trillerpfeife als sich erneut diese Stimme meldet. „Hallo mein kleiner Sven. Wir sind angekommen. Das heißt, du bist angekommen, denn ich bin überall. Weißt doch, entkommen kannst du mir niemals“. Wie aus dem Nichts kommend, schwirren plötzlich hunderte, knochige Hände durchs Zugabteil. Fliegen herum wie Pfeile, die ihr Ziel suchen und auch finden. „Wehre dich, Sven! Verdammt, halte die Hände auf. Sie wollen dich töten, verstehst du denn nicht?“ Von irgendwo her redet eine andere sanfte, aber trotzdem alles übertönende Stimme pausenlos, eindringlich auf den armen Kerl ein. Will das Böse regelrecht übertrumpfen und mundtot machen. „Setze deine Fantasie ein - wünsche dir, dass sie einfach nicht mehr da sind“, versucht sie ihm klar zu machen. „Ich kann nicht!“, schreit Sven aus Leibeskräften als in diesem Moment seine Stimme beginnt, leiser zu werden. Kaum noch hörbar ist und jammervoll klingt. „Alles tut mir weh“, ist das Letzte, was er noch über die Lippen bekommt - diese dann hernach völlig versagt.

Stumm und regungslos sitzt Svens fantasievolle Seele nur da und wartet die nächste Attacke ab. In seinem Kopf rauscht und tost es regelrecht. Er möchte sich wehren und kann es irgendwie nicht. „Verdammt, was ist nur los mit Dir?“, raunt die sanfte Stimme und will den Jungen anfeuern, seinen Verstand einzusetzen. „Dein Körper hat aufgegeben, aber deine Fantasie ist hellwach. Also, setze sie ein - sonst wird es dir schlecht ergehen“. „Ha, ha, ha, ha …“, geifert die Lokstimme. „Er gehört mir, ganz alleine nur mir. Sein Amulett gibt mir Kraft, und ich werde ihm dafür etwas schenken, das viel wertvoller ist. Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen. Aber erst wird er eine Runde mit den kleinen Lokomotiven und den anderen Kindern spielen. Das macht Spaß und wird ihn belustigen. Glaube mir doch“. Erneut wieder diese entsetzliche Stille und Ruhe vor dem Sturm. Die knochigen Geisterhände versuchen sich immer noch durch sein zartes Kinderfleisch zu bohren und wollen ihn pfählen. „Schaue ihn dir doch an. Was für ein erbärmlicher Schwächling. Er hat es einfach nicht drauf!“, poltert die Zugstimme der Sanften entgegen. Die jedoch meldet sich nicht. Hat sie schon aufgegeben, bevor alles richtig angefangen hat?

In diesem Moment der unerträglichen Stille hält der Geisterzug ruckartig an. Bremsen quietschen alles übertönend. Die Trillerpfeife des nichtvorhandenen Schaffners meldet sich erneut durchdringend und schrill. Das Pfeifen dröhnt unaufhörlich auf Svens Trommelfell. Will sich bis in sein Gehirn hinauf zwängen und dort festigen. „Du hast keine Zeit mehr, armer Sven“, wagt die gute Stimme den letzten Versuch, um ihn aus dieser misslichen Lage zu befreien. „Alles ist nicht wirklich hier. Eben nur deine Fantasien, die den Ton angeben. Also verdammt noch mal, wehre dich. Du kannst das. So glaube mir doch endlich“, fleht sie unerbittlich. Sven bekommt unerträgliche Kopfschmerzen. Gedanken als auch Fantasien rasen wie ein Schnellzug durch seinen langsam kalt werdenden Verstand. Verschmelzen zu einem Durcheinander, das eigentlich nichts mehr zulässt. „Traue dich einfach - ordne sie!“ fordert die helfende Stimme Sven auf. „Denke an etwas Positives und Gutes. Du erlebst nur einen abgefahrenen Alptraum. Befreie dich davon“.

„Ich weiß nicht mehr wie das geht. Ohne mein Amulett bin ich hilflos“, jammert Sven, und seine Seele weint riesige kristallklare Tränen, denen ein Funkeln inne wohnt. Sie leuchten richtig, und durchfluten das Abteil so heftig, dass es hell darin wird. Dem grellen Lichtschein einer intensiv blendenden Lampe gleich. „Lasse das, Sven. Du teuflischer Winzling. Ich halte das nicht aus!“ wehrt sich die Lokstimme mit schrillem Unterton. „Höre endlich auf damit. Du musst jetzt aussteigen, um dein Geschenk auszupacken. Willst doch hoffentlich mit den anderen Kindern und Lokomotiven spielen oder nicht?“ fragt die garstige Stimme der Lok und will den verängstigten Sven damit in seinen Bann locken. „Solange ich dein Amulett besitze, gehörst du mir - vergesse das niemals!“ Was jetzt in Svens Kopf abgeht, wird zur fast unerträglichen Folter. Fantasien wirbeln darin herum - wie Blätter, die sich ein Sturm einfach nimmt, um sie unkontrolliert durch die Gegend zu wehen.

„Entspanne dich, du lieber Kerl, dann ordnen sich die Fantasien von ganz alleine. Denke einfach an deine Eltern und wünsche dir das Amulett zurück. Dann seid ihr wieder vereint“. Das Gute mit der sanften Stimme in Svens Gehirn nimmt jetzt den ganzen Raum des Abteils ein, in dem seine zarte Seele sitzt. Sie zittert nicht mehr und hat auch keine Angst. Richtet sich auf und will fliegen. Sich gegen alles wehren, was böse ist. Beginnt sich aufzubäumen, und erteilt der schwarzen teuflischen Lokstimme klare Ansagen. „Lasse das endlich. Du fügst mir Schmerzen zu“, stichelt die Geisterstimme und zetert herum. „Töte mich bitte nicht. Werde dich dort hinführen, wo es nur Spaß, Geschenke und ganz viele Lokomotiven gibt“, versucht sich die Lokstimme ein letztes Mal in Svens Gedanken zu schleichen. „Nein!“ kommt es wie aus der Pistole geschossen. „Du existierst nur in meiner Fantasie. Wenn ich es will, gibst du mir auch mein Amulett zurück“. Ein allerletzter Aufschrei der Geisterzugstimme lässt das Dunkel der Abteilscheiben hell werden. Sonnenstrahlen durchfluten das kleine Areal und erhellen Svens Seele. Bäume, Seen und Häuschen mit roten Ziegeldächern, sausen daran vorbei - alles wirkt wieder normal.

Auch das goldene Amulett hängt erneut glänzend um Svens Hals und zeigt sich von seiner schönsten Seite. Funkelt regelrecht mit der Sonne um die Wette. Der Geisterzug steht, und das permanente Rattern hat schon lange aufgehört. Stille macht sich breit. In Svens Seele ist warme wohltuende Ruhe eingekehrt, die sich bei ihm in feurigen Kinderaugen widerspiegelt. Zaghaft, aber mit entspannten Fingern, öffnet Sven den Anhänger. Darin befindet sich nicht mehr das Bild seiner geliebten Eltern, sondern Sven selbst. So wie er in späteren Jahren aussieht. Mit festem Blick und Selbstbewusstsein im Gesicht. Erhobenen Hauptes schaut er drein und wirkt unheimlich selbstsicher. Trotz seiner Fantasien, die er niemals aufgeben wird, hat er sich voll im Griff. Niemand der ihm sagt, was er zu tun und zu lassen hat. Eben jetzt klare Ansagen gebend. Nur manchmal geht Sven auf jemanden ein, der es gut mit ihm meint. So fühlt es sich wirklich lebendig an, für den einst in sich gekehrten, schwächelnden Sven. In ferner Zukunft wird er sein Leben meistern können.

 

Kapitel 4

 

 

Vater Johann schließt das Buch, auf dem der Geisterzug jetzt klar zu erkennen ist. So sieht er eben in der Realität aus, denn in der Fantasie wirkt er eher schemenhaft und wird weiterhin über die nicht vorhandenen Gleise rattern. Der Schaffner bläst in die Trillerpfeife, und die Lok setzt sich in Bewegung. Nimmt Fahrt auf, und auch diese dunkle Geisterstimme ertönt. Versucht sich in die Köpfe der Kinder zu drängen. Lasst es nicht zu und folgt keinesfalls ihren Befehlen. Werdet niemals hörig, sondern wehrt euch gegen unsinnige Aufforderungen. Johann nimmt die Lesebrille ab - schaut in blasse Kindergesichter, die vor lauter Angst starr wirken, während sie erneut auf ihren Sitzkissen nervös herumrutschen. Nicht wissen können, wie es denn nun weitergehen soll. „Hat euch die Geschichte gefallen?“, fragt er mit leiser Stimme und kann die Antwort fast nicht abwarten. „Habe euch doch versprochen, dass alles gut wird. Vielleicht konntet ihr etwas daraus mitnehmen? Ich würde mich freuen, wenn dem so ist“.

Daraufhin meldet sich Kaspar artig wie ein Erstklässler - erhebt beschwörend den Zeigefinger. Mit fester, kindlicher und selbstbewusster Stimme, der offensichtlich mehr Erfahrung inne zu wohnen scheint als bei so manch einem Erwachsenen, gibt er seine Sichtweise zum Besten. „Ich werde niemals alles machen, was man mir sagt. Niemals! Ich bin eben ich. Kaspar, mit seinen eigenen Gedanken und Fantasien. Das haben mir meine Eltern so beigebracht“. Eine klare Ansage, der man einfach nichts mehr hinzufügen möchte. Unmissverständliche Worte zaubern ein zufriedenes Lächeln auf Vater Johanns Gesicht. Inzwischen ist auch seine Kirschbaumholzpfeife, mit dem aufgerauchten Tabak darin, kalt geworden. Aus dem Köcher als auch dem Schornstein des Geisterzuges, kommen keine Qualm Wölkchen mehr, denn er hat aufgehört über die Gleise zu rattern. Die Wirklichkeit hält Einzug. Nur wer sich vom Guten abwendet und in der bösen Fantasie treiben lässt, wird ihm erneut begegnen. Alles ist dann auf Anfang gesetzt. Lebt euer spezielles Leben und lasst euch nicht von bösen Menschen beeinflussen. Denn nur die Guten haben auch die richtigen Worte. Helfen mit eben diesen, in und mit jeder Situation fertig zu werden. Somit steht ihr auf einem festen Lebensfundament und trotzt jedwedem Feindseligen.

Zufrieden mit seiner Geschichte, lehnt sich Vater Johann wieder entspannt zurück in den Sessel. „Peter, du kannst wieder das Decken Licht einschalten“, fordert er seinen Filius auf, während seine Wenigkeit die kleine Lampe ausknipst und jene fast heruntergebrannte Kerze auspustet, die hernach fürchterlich zu blaken beginnt. Das Büro mit wundervollem, schon fast rauchähnlichem, weihnachtlichem, anmutendem Wachsduft erfüllt. „Wenn Ihr alle verstanden habt, ist mein Werk gelungen. Habt ihr?“, fragt Johann in die Viererrunde der kleinen Leserschaft. Alle nicken wohlwollend mit den Köpfen, während staunende Augen auf ihn gerichtet sind. „Fein“. Die Jungs klatschen Beifall, und Johann fühlt sich so als wäre er in einer Lesung. Nur eben, dass hier Kinder vor ihm sitzen und keine Erwachsenen. „Wenn ich euch etwas fürs Leben mitgeben konnte, soll es mir Genugtuung verschaffen. Das Ziel ist erreicht. Ach ja, einiges wird es von mir noch zu lesen geben. Demnächst tippe ich an einem neuen Buch. Wollt ihr wissen, wie der Titel heißt?“ „Jaaaaaaa!“, kommt es wieder einstimmig aus den Kinderkehlen, die jetzt nach Keksen und heißem Kakao verlangen. Zuhören macht eben auch durstig und hungrig. Vater Johann hat bereits vorgesorgt und reicht den Kindern das, wonach ihnen jetzt der Sinn steht. So ist er eben, der Johann. Kinderlieb und einfühlsam.

Energisch streckt seine Autorenwenigkeit den Zeigefinger in die Luft. Schaut in die glänzenden Kinderaugen und wartet noch einen kurzen Moment, bevor Vater Johann den Titel mit wispernder Stimme kundtut. Der Moment scheint sich endlos lang zu ziehen als er spricht. „Ich nenne ihn einfach “Fluch des Labyrinths“. Jugendlichen erwartet das schier Böse, in Gestalt eines schwarzen Mannes, der dort in des Labyrinths unterirdischem Gewölbe sein Unwesen treibt und nicht wirklich gestorben ist. Ein Fluch hat von ihm Besitz ergriffen. Es oder Er lauert im Keller, und lässt das leer stehende, fast zerfallene Herrenhaus sich ständig verändern. Wie in einem Labyrinth gefangen, versuchen die Kiddis heraus zu kommen. Sie wollten doch dort nur spielen und ein wenig Kind sein. Ob es ihnen gelingen wird oder nicht, werdet ihr erfahren, wenn ich das Buch fertig getippt habe. Ihr könnt euch schon einmal auf das Unerwartete vorbereiten“. Den vier Kindern steht der Mund offen, und niemand bekommt auch nur ein Wort über die Lippen, da sie hiervon schon jetzt fasziniert und verzaubert sind.

Gespenstische Stille macht sich in diesem Moment breit als es an der Zimmertür pocht und unaufhörlich stark klopft. „Möchte jemand von euch öffnen?“ fragt er die ängstlich werdende Lesermannschaft. Niemand antwortet oder erhebt sich auch nur ansatzweise von ihrem ledernen Sitzkissen. Wer weiß, wer da fordernd um Einlass bittet. Vielleicht der schwarze Mann, der es einfach nicht abwarten kann, die Kinder in sein Labyrinth zu entführen? Langsam und knarrend öffnet sich die Tür. Niemand steht dahinter. Nur kalte abweisende Dunkelheit dringt vom Korridor ins Zimmer herein und lässt nichts Gutes erahnen. Schon wieder geht die Fantasie in den Köpfen der Kinder auf ihre eigene Reise. Sich wehren macht jetzt keinen Sinn mehr, denn sie stecken schon viel zu tief in der Handlung drin. Das undurchdringliche Schwarze hält ihre Fantasie voll im Würgegriff und umklammert diese mit ungeahnter Kraft. Wird die finstere Macht erst loslassen, wenn Vater Johann das Ende seines neuen Buches vorgelesen hat? Bald ist es soweit. Sehr bald.

 

Kapitel 5

 

 

Torsten, der Spitzbube und Willensstärkere unter den vier Freunden, besitzt die schlimmsten Fantasien. Er will unbedingt den Geisterzug zurück. Kann sich nichts Schöneres vorstellen als in ihm zu sitzen. Möchte dieser teuflischen Dampflok zeigen, wer das eigentliche Sagen hat. Klar, dass in diesem Moment, gedanklich der Zug aus dieser Dunkelheit rattert und Torstens Seele zum Spielen in das Lok-Reich mitnimmt, wo es nur Spaß und andere Kinder gibt. Torsten schließt die Augen und lässt sich treiben. Wie ein Zauberer, der mit Magie fast alles erreichen kann und dazu noch mit seinem Zauberstab wild herum wedelt - den passenden Zauberspruch aufsagt, und schon erscheint oder verschwindet das, was er sich sehnlichst wünscht. Träume können also wahr werden, je intensiver man sich ihnen widmet. Wie schön, dass der immer noch tosende Sturm die blätterlosen Äste hierzu geräuschvoll gegen die Fensterscheiben von Vater Johanns Büro peitscht. Niemals damit aufhören wird, solange die Kinder ihren manchmal düsteren Fantasien nachhängen.

Von einer Sekunde auf die Andere dröhnt das Rattern des Zuges aus der dunklen, schwefligen Hölle und rauscht schemenhaft an Torsten vorbei. Im Zimmer ist es fast genau so finster, wie in Torstens Seele, und das gefällt dem Geisterzug über alle Maßen. Er fühlt sich mit diesem Kind geistig auf gleicher Höhe, und das bedeutet für ihn einen regelrechten Kampf, bei dem nur wieder der Stärkere gewinnen kann. Jedoch nicht Stärke im Sinne von körperlicher Kraft, sondern willentliche Überlebensstärke. Der Gewinner wird dann auf dem Siegertreppchen stehen, mit einem Lorbeerkranz auf seinem Haupt und einer Gold-Medaille am seidenen Band um den Hals geschlungen. Was für ein toller Gedanke, welch erhabenes Gefühl. Das Zimmer ist leer, denn alles Drumherum ist gedanklich ausgeblendet. Nur Torsten und der Geisterzug geben sich ab jetzt einen unerbittlichen Schlagabtausch.

„Hallo Torsten, du kleiner Hitzkopf. Willkommen in meinem Lok Reich!“, begrüßt ihn die Lokstimme und scheint stimmlich hämisch zu grinsen. „Du willst also Spaß haben und mit Kindern spielen? Das kannst du haben. Aber du musst mir ebenfalls etwas geben, was dir lieb und heilig ist, sonst habe ich keine Macht über dich. Ach ja, ein Geschenk wartet auf den widerspenstigen Torsten. Solltest es abholen und auspacken. Wie wäre es mit einem Schlückchen von diesem Zaubertrank? Er hilft dir, dich entspannen zu können“. Die Stimme wirkt fest und männlich. So als würde sie genau wissen, worauf das Ganze abzielt. „Sicher doch, du alte schwarze Lok. Ich habe keine Angst vor dir. Will nur spielen, nichts weiter“, antwortet Torsten mit einer ebensolchen festen, markigen, aber immer noch kindlichen Stimme, der Liebreiz nun wirklich nicht inne wohnt. „Ich mache nur das, worauf ich wirklich Lust verspüre. Eben spielen ohne Ende. Wenn es genug ist, gebe ich rechtzeitig Bescheid. Steige aus diesem Spiel einfach aus und verlasse das Abteil“. Der Geisterzug lässt sich hiervon nicht beeindrucken und setzt die Räder in Bewegung. Zuvor ertönt die Trillerpfeife des Schaffners, und los geht die Fahrt in ein Reich, dass sich völlig anders darstellen wird.

Wie aus dem Nichts schnellt diese knochige Hand hervor. In ihr eine gut gefüllte Tasse des Zaubertranks. Torsten nimmt sie entgegen. Führt diese zu Munde. Lässt den Inhalt langsam und gut versteckt vor dieser Geisterhand, in seinen Ausschnitt des dicken Strickpullovers laufen, der diese ekelige giftgrüne Zauberbrühe sofort aufsaugt. „Du gefällst mir, kleiner Torsten. Hätte ich nicht gedacht, dass du diesen würzigen Tee nur mit einem einzigen Schluck hinuntergewürgt bekommst. Scheinbar bist du doch ein richtiger Kerl. Wenn auch klein, jedoch Manns genug, das alles irgendwie zu packen. Lege es nicht darauf an, mir mehr von deiner Charakterstärke zu zeigen, sonst! … “ „Jaa, was sonst? Nun sag schon, du verdammte dreckige Lok, was passiert dann?“ Torsten lacht, wie er in seinem ganzen Leben noch nie gegackert hat. So wie ein Huhn, das gerade dabei ist, ein riesiges Ei zu legen. „Du willst mich prüfen, oder?“, stammelt die Lokstimme und ist etwas entsetzt. „Wenn du es schaffst, mich auszuschalten und deinen eigenen Weg gehst, muss ich sterben. Das werde ich wohl zu verhindern wissen, glaube es mir.“

Torstens unbändige Seele und die Lokstimme stehen sich geistig gegenüber und schauen ziellos umher. Wollen nicht wirklich den Blick in die Augen wagen. „Kann es sein, dass du mir nicht Stand halten kannst?“ fragt die Zugstimme Torstens Seele, die sich keineswegs einschüchtern lässt. „Ach nee, du kannst es offensichtlich auch nicht, oder?“ poltert Torstens Seele missmutig zurück. Urplötzlich und blitzschnell wenden sich zwei gesichtslose Stimmen als auch Seelen zu. Sehr lange verharren sie so, und es ist gespenstische Stille im Abteil. Wie in einem Duell, bei dem die Kontrahenten jeden Moment darauf warten, dass der Gegenüberstehende den entsicherten Colt aus der ledernen Holster-Tasche zieht und abdrückt. Unterbrochen wird die Lautlosigkeit nur vom Rattern der Lok Räder, die schnell rotierend über die nicht vorhandenen Gleise donnern. Kaum noch zu sehen sind.

Vor dem Abteilfenster rasen währenddessen riesige uralte Tannen und grüne Weiden vorbei, auf denen schwarz weiß gefleckte Kühe genüsslich am Gras rupfen, es pausenlos widerkäuen. So als würden sie es nicht wirklich mögen. Einige zucken ständig herum und vertreiben mit ihren wedelnden und schlagenden Schwänzen die lästigen Fliegen und Stechmücken. Eigentlich ein Bild für Götter, über das man wirklich lachen kann. Immer wieder erscheint dieselbe Situation. Verschwindet, um sich erneut aufzubauen. Einem Film gleich, den man kurz anhält und dann weiterlaufen lässt. Erneut stoppt, zurück dreht und wieder fortsetzt. Immer dieselbe Handlung baut sich vor dem Fenster auf. Die Zeit scheint für Torstens Seele irgendwie still zu stehen, da alles auf Anfang gesetzt wird, sich nicht wirklich weiter bewegt. Nur ein Trugbild von Torstens übersteigerter Fantasie, die dem Geisterzug ein Schnippchen schlagen will, damit er niemals für immer in die andere Welt kommt? Und wenn, dann nur zum Spielen mit Loks und Kindern?

Obwohl Torsten dieses froschgrüne Gesöff nicht wirklich getrunken hat, wirkt er trotzdem ziemlich entspannt. Hat sich voll im Griff, und genießt das Treiben vor dem Abteilfenster. Auch wenn es immer das gleiche Bild zeigt. Schnell wird Torsten aus dem Trugbild herausgerissen, denn die Scheibe verdunkelt sich in diesem Moment und wirkt nicht wirklich einladend. Fressende Kühe, grüne Weiden und riesige Tannenbäume, wechseln in abschreckende Finsternis. Die Lok nimmt immer mehr Fahrt auf und will ihn schnell ins Reich ziehen, wo es nur Spaß, Geschenke und lustige Kinder gibt. „Warte nur, bis meine übelgelaunten Freunde zu dir kommen. Bedienen sich deiner Armbanduhr. Weißt doch, es steht noch ein Geschenk für mich aus. Ein Talisman, der mir Macht über dich verleiht“, geifert die Lok. „Netter Versuch, du Monsterkind. Auch wenn du dich noch so anstrengst, gehört der kleine Torsten bereits jetzt schon mir, glaube es. Gib endlich auf und lasse dich treiben“, dröhnt die feiste kalte Zugstimme. „Nein, ich gebe nie auf. Erst dann, wenn ich mein Ziel erreicht habe. Die Uhr kannst du haben, aber sie wird dir nichts nützen. Ich konnte sie von meinem Taschengeld zusammensparen. Kann mir jederzeit eine neue kaufen. Niemand, der mich an dieses Ding erinnert. Keiner wohnt dort drin, niemand. Noch nicht einmal Bildchen meiner Eltern, hörst du!“ Mit stolz geschwellter Seelenbrust brüllt er förmlich die klare Ansage und fühlt sich ziemlich selbstsicher.

„Du bist ein ganz schön harter Brocken, sturer Torsten. Meinst, dass deine spöttelnde Seele es mit mir aufnehmen kann. Mache nur weiter so. Das endet nicht gut für dich - böser, böser Torsten.“ Mit zittrigem Timbre und einem schwindenden männlichen Unterton, ist die Geisterstimme kaum noch zu hören. Wirkt so, als würde sie aufgeben wollen. Nur der letzte Versuch, Torstens Seele mit Worten den Garaus zu machen. Jedoch scheitert er kläglich, denn plötzlich verstummt diese, und nur das unaufhörliche Rattern der Räder dringt durch das Abteil. Kurz ruckelt der Zug und stoppt von einer Sekunde auf die Andere. Torstens Seele wird nach vorn geschleudert und landet auf dem dunklen Abteilboden - verfehlt die gegenüberliegende Sitzbank. Schmerzen empfindet sie nicht, denn körperlosen Seelen wohnt eben dieser nicht inne. Wälzt ihr kindliches Dasein nur herum und dreht sich um die eigene Seelenachse. Will sich erheben, kann jedoch nicht auf die Seelenbeine kommen. Die Kräfte sind einfach nicht mehr vorhanden. Werden vom Geisterzug förmlich aus ihr herausgezogen. Ein weiterer Schachzug dieser teuflischen Lok will Torstens Seele zu sich holen. In das endlose Reich der lustigen Gören, wo es nur Spaß, Spiel und nimmer enden wollende Freude gibt. Existiert dieses Spektakel dort wirklich oder ist die Welt nur dunkel und geheimnisvoll? In ihr die Kinderseelen für immer fliegen und nicht wissen wohin es geht?

Urplötzlich, so als hätte Torstens Armbanduhr seiner kindlichen Seele erneut Kräfte verliehen, bäumt sie sich auf. Bereit, den schier endlosen Kampf gewinnen zu wollen. Reckt und streckt sich - wirkt größer als zuvor. „Verdammtes schwarzes, rollendes Ungetüm eines Blechrosses!“ poltert Torsten mit unüberhörbarer Stimme durchs Abteil, das kleiner zu werden scheint. Ihn massiv droht einzuengen, um im Nachhinein seinen Körper zu vernichten, in dem die starke Seele wohnt. „Endlich habe ich dich, du Stuhr-Kopf. Gib endlich auf, denn ich habe hier das Sagen! Warum will Deine Wenigkeit dies nicht verstehen, Du unwilliges Monsterkind?“ ereifert sich die düstere Lokstimme, denn sie will Torstens Seele unbedingt in dieser trügerischen, immerwährenden Fantasiewelt bei sich wissen, damit er ein versprochenes Geschenk auswickelt. Nur leider versucht sie verzweifelt, sich Torstens Armbanduhr zu bemächtigen - was nicht so einfach, ja fast aussichtslos scheint. Immer wieder schnellen die knochigen Lokfinger aus der Dunkelheit hervor, und wollen nach der Uhr greifen. Zerren und reißen brutal daran herum. Jedoch bleibt sie dort, wo ihr angestammter Platz ist - an Torstens Handgelenk. Funkelt dermaßen hell - wie Sterne, die niemals vor haben auf Wanderschaft zu gehen. Hält seine Seele dieses prachtvolle Stück an seinem Körper fest, da sie mit ihm verbunden, ja regelrecht verflochten ist? Denn nur in einem starken Körper ist es ihr möglich, auch dort für immer wohnen zu können.

„Nein!“ echauffiert sich Torsten. „Habe dir schon einmal erklärt, dass du meine Uhr nie und nimmer in Beschlag nehmen kannst, nur weil du es so willst! Es sei denn, ich gebe sie dir freiwillig. Doch das wird niemals geschehen“, wehrt sich Torsten, erteilt der schäbigen Geisterlok klare Ansagen. „Du bist ganz schön hartnäckig und frech, Torsten. Glaube mir, ich bin der Klügere von uns zweien!“ hämmert es in Torsten Gehirn. „Wozu dieses sinnlose Aufbäumen deinerseits, hä?“ „Ich wiederhole mich nur sehr ungerne, du alte blecherne Dampflok. Habe eben nur vor, mit Kindern zu spielen, will Spaß in Unmengen genießen und einfach nach Herzenslust herumtollen. Dein versprochenes Geschenk kann mir gestohlen bleiben, du widerliches Irgendetwas!“ flötet Torsten - bringt sich in nicht zu stoppende Rage und Fahrt, die ihn noch mutiger werden lässt. Kann einfach nicht damit aufhören, denn dieser Umstand verleiht ihm unsägliche Kräfte. Ein kaum zu ignorierendes, schrilles Jaulen und Kreischen schallt in diesem Moment der Stille durch das Abteil, welches so langsam schier unerträglich wird. Daraufhin die kaum noch vorhandene Lok-Seele spontan von Torsten ablässt. Jene hart getroffen scheint und sich vorerst zurück zieht. Aber der Kampf ist für Torsten noch immer nicht ausgestanden, denn eine neue Attacke seitens der Lok steht bevor. Erst einmal atmet Torstens Seele merklich durch, um sich zu erholen. Bereit für den nächsten unausweichlichen Schachzug?

Erschöpft sinkt Torstens Seele auf die Sitzbank des Zugabteils, in dem es merklich heller, aber auch heißer geworden ist. Es duftet nach verbranntem Holz, Tannenzweigen und schwelenden Kohlen, was nur einen Schluss zulässt - Feuer, wo auch immer es herkommt, kann Torstens Seele nicht orten. Aber sie ist auf der Hut und wieder hellwach. Immerhin gilt es, diesen Kampf zu gewinnen und dem Teuflischen den Garaus unterzujubeln. Denn wer aufgibt, hat schon im Vorfeld verloren. Ein Thor, wer glaubt, dass dem nicht so ist.

 

Kapitel 6

 

Wie versteinert hockt Torstens Seele auf dieser Sitzbank und ist zu keinerlei Regungen fähig, denn Wachsamkeit erfordert ein hohes Maß an Konzentration. Sie muss die Seelenaugen zusammenkneifen, da das gleißende Licht höllisch in ihnen brennt. Zwar können Seelen weder etwas fühlen, sehen, hören, noch schmecken, da sie körperlos sind, jedoch ist Torstens Seele anders gepolt. Jene stellt sich allen Widrigkeiten entgegen, wirkt taff - gleichsam hart und unangepasst. Aber tief in ihrem Inneren fühlt sie den körperlichen, kindlichen Schmerz umso stärker. Manche Kinder besitzen in ihrer Innerlichkeit eine weiche Empfindungswelt, während sie nach außen hin dem Umfeld ein hohes Maß an Erwachsensein vorplänkeln. Eben zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein können. So ist eben Torsten auch gewickelt. Wehrt alles, möglichst nach sämtlichen Regeln der Kunst ab, wenn man ihn anfeinden will. Seine Seele weint, jammert bitterlich, indes der Körper sich aufbäumt und dagegen unerbittlich kämpft.

Während Torstens Körper unverdrossen und kräftig wirkend, auf dem Sitzkissen von Johanns Büro, zwischen den anderen Freunden hockt, scheint seine Seele inzwischen aufgeben zu wollen. Benötigt unbedingt Hilfe, die sie nur aus ihrem angestammten Sitz, also Zuhause, schöpfen kann. Denn nur in einem gesunden als auch starken Körper, existiert eine ebensolche, sich wohlfühlende Seele. Sie wirkt ausgeglichen.

In ihm jene unerträgliche Hitze des Abteils, die diesen innerlich fast zu verbrennen droht. Torstens Körper wehrt sich - gibt nicht vorschnell auf. Überträgt seine übermächtige Willenskraft der fast schon sterbenden Psyche, um dem nahenden Bösen Pari bieten zu können. Wie bei guten Freunden, die sich untereinander für ewig helfen. Langsam und stetig wachsend, erholt sich Torstens Seele - beginnt ein regelrechtes Aufbäumen, damit er seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen kann. Eben nur mit Kindern spielen als auch unendlich Spaß zu haben. Ganz so, wie es ihm gefällt und sonst nichts weiter. Erwartet das Unerwartete, das sich schwebend den langen, schmalen Abteilgang entlang bewegt. Eine graue Rauchwolke, ausgestoßen von des Geisterzugs Schornstein. Dringt massiv ins Abteil, und bleibt wie eine immer dunkler werdende, undurchdringliche Mauer vor ihm stehen. Es stinkt jetzt widerlich nach verbranntem Gummi.

„Du kleiner, unerbittlich kämpfender Torsten. Unangepasstes Gör!“ geifert die fast blechern klingende Lokstimme. Man könnte nahezu den strafenden Winke-Finger erkennen, wäre er vorhanden. „Lasse Dich doch endlich treiben, unartiges Kind!“ fordert diese in einer monotonen, immer wiederkehrenden Abfolge auf. Selbst das Rattern der Räder auf den nichtvorhandenen Gleisen wird hiervon übertönt. „Gib mir endlich Deinen Talisman, Du widerwärtige Ratte. Diese gottverdammte Armbanduhr, weißt schon!“ krächzt sie weiter. Torstens Seele denkt nicht im Mindesten daran, diesem ungeheuerlichen Befehl zu folgen, denn sie ist eine Garantie, um ins Reich der immerwährende Freude zu gelangen, nur für das vergnügliche Treiben mit lustigen Kindern. Nichts weiter will hier Torstens Seele veranstalten. Denn jenes aberwitzige, versprochene Geschenk will sie nicht wirklich auspacken müssen.

Wie ein Pfeil auf der Sehne, schnellt urplötzlich ein überdimensionaler Magnet aus der inzwischen schwarz gewordenen, gruselig wirkenden Wolkenmauer hervor, die das helle Licht im Abteil schluckt, da der riesige Magnet es aufsaugt. Will sich an Torstens Uhr zu schaffen machen - zieht mit mächtigen Energien daran herum. Jedoch verweilt dieses originell wirkende Schmuckstück an Ort und Stelle. Torsten und seine Uhr ergeben eine Einheit, die niemand zu trennen vermag. Schon gar nicht eine düstere Lok, die nur Böses im Schilde führt. Immer weiter donnert der Geisterzug über die nicht zu sehenden Gleise, dem Spielparadies entgegen. Bald wird es so weit sein, dass auch Torstens Seele, ganz nach Wunsch, dort Frieden und Spaß findet. Ist dem wirklich so oder endet es für sie anders?

Jedenfalls will sich die Geisterlok vorerst zurückziehen - scheint aufzugeben und Torstens sehnlichsten Wunsch nach spielendem Frohsinn zu akzeptieren. Seine Seele empfindet dies als wohltuend, bleibt aber trotzdem in Alarmbereitschaft. Einerseits fühlt es sich gut an, andererseits bleibt das mulmige Gefühl in der Magengrube, das er vor jeder Mathematikarbeit als Streberschüler empfindet, da seine Person immer perfekt sein will. Bedächtig, aber immer noch pechschwarz, verschwindet die Qualm-Wolke in ihr angestammtes Reich des kegelförmigen Schornsteins zurück. Mit ihr die Seele des teuflischen Dampfrosses. Plötzlich, von einer Sekunde auf die Andere, ruckelt das düster wirkende, rollende, böse Teufelsgeschoß und hält quietschend an. Nichts geschieht. Torstens Seele umgibt zwar wieder diese gleißende Helligkeit, aber sie lässt sich hiervon keineswegs beeindrucken. Was ihr wirklich zu schaffen macht, ist jene unsägliche Stille, der etwas Trügerisches inne wohnt. Wie die Ruhe vor dem mächtigen Sturm, der man nicht wirklich trauen sollte.

„Steige endlich aus, Torsten!“ schaltet sich des Geisterzugs Stimme ein. Poltert regelrecht herum und will ihn einschüchtern. „Nun mach schon, bewege Dich, Du schleimiger Schüler!“ Die Stimme krönt ihre Befehle mit höhnischem, abgehacktem Gelächter, das zeitweilig von Schnalzkanonaden unterbrochen wird. So als würde dieses schwarze Biest nach ihm sabbern und vernaschen wollen. „Du hast nicht viel Zeit!“ mahnt sie an. „Ich gebe Dir maximal zwei Stunden für den Ausflug. Dann ist Deine Wenigkeit wieder hier im Abteil - klare Ansage!“ ´Wie gut, dass ich meine Uhr trage. Sie gehört zu mir, wie das Salz zur Suppe´, denkt sich das Seelchen und schmunzelt diebisch. Hüpft auf ihren Seelenbeinen, mit geschlossenen Seelenaugen, aus dem Abteil. Entflieht dem düsteren Geisterzug mit einer Inbrunst, dass es nur so eine wahre Freude ist. Man möchte sie umarmen und liebkosen, was ja eigentlich auch nicht schwer sein sollte, oder?

Torstens Seele beginnt die Flügel auszubreiten, und fliegt auf den kindlichen Schwingen in eine rosarote Welt, die man auch als Paradies bezeichnet. Vor ihr ein Schild aus Holz, auf dem nur jener Willkommensgruß in Pastellfarben und riesigen Buchstaben zu lesen steht. “Zutritt für freie Kinderseelchen, Willkommen!“ In diesem Paradies der Glückseligkeit existieren keine Grenzen, wo man vorab ein Ticket kaufen muss - nur um dort eintreten zu dürfen. Jedenfalls nicht für gute Kinderseelen, die noch unbedarft und zugänglich für Spielereien jedweder Art sind. Tja, womit sollte hier auch bezahlt werden, wenn Geld gar keine Rolle spielt, da hier der Obolus ´FANTASIE´ von Bedeutung ist? Dieses besondere Fantasiereich wird somit nur diesen speziellen Seelchen für immer zugänglich sein, denn Erwachsene werden hier ausgeschlossen. Würden sie es trotzdem jemals versuchen, müsste vorab ein Test abgelegt werden, der unter Umständen nicht bestanden wird. Es sind eben andere Seelen, mit speziellen Fantasien, die hier nichts zu suchen haben. Auch der Geisterzug kann hier nicht so agieren, wie er möchte. Böse ist und bleibt Böse. Immerhin existiert hierfür jene rosarote ´Scheinwelt‘ nur als Parallelwelt für dieses schwarze Höllenmonster. Hier warten noch sehr viele Geschenke auf Kinderseelen, die von ihnen ausgepackt werden wollen. Darum ist Vorsicht geboten, wenn euch jemand auffordert, ein merkwürdiges, versprochenes Päckchen auszupacken. Es sei denn, Ihr könnt diesem ´schwarzen Biest´ etwas entgegenhalten. Wie wäre es mit Charakterstärke? Schon alleine das simple Wörtchen “NEIN“, hat es voll in sich. Ja Sager leben demzufolge auf gefährlichem Fuß, oder nicht? Einen Versuch ist es allenthalben Wert.

Torstens Seelenaugen blicken in Richtung einiger Kinderkarusselle, auf denen allerlei hölzerne Tiere zum Aufsitzen einladen. Auch eine kleine Achterbahn, mit kunstvoll geschwungenen Schienen, die irgendwie an Lokgleise erinnern, baut sich ziemlich eindeutig auf. Hat sich hier etwa dieses verdammte schwarze Monster mit seinen dunklen Fantasien, unbefugten Zutritt verschafft, ohne dass es jemandem aufgefallen ist? Immerhin wird das Spiele Paradies von einem rosafarbenen König, namens ´Manon´ regiert. Vielleicht ist dieser sagenumwobene, rosa getünchte Königsmonolith, nur kurz dem Tiefschlaf verfallen gewesen - konnte somit die düstere Lok Seele nicht rechtzeitig abwehren? Denn immerhin muss auch ein hartarbeitender Regent mal schlafen, damit er neue Energien für diesen Job sammelt. Es sei ihm durchaus gegönnt, oder? Trotzdem birgt jener Abwesenheitsmoment eine gewisse Gefahr für das Paradies. Sei es auch nur für einen klitzekleinen Moment, dem man, wie in diesem Falle, keine wirkliche Beachtung schenkt.

Aber Torstens lütte Seele wollte sowieso nicht mit der kleinen Höllenbahn, für die es nur zwei einsitzige Wagen gibt, fahren - da er sie hasst. Das ständige Auf und Ab, dann wieder beabsichtigte, kurvenreiche Strecken - nichts für ihn, dem hierbei auch in der Wirklichkeit permanent übel wird. Jedoch wohnt körperlosen Seelen selbst dieses Gefühl nicht inne. Trotzdem will es das Seelchen nicht darauf ankommen lassen, und beschäftigt sich lieber mit dieser Spiele Bude, die so einiges anbietet. Holz-, Würfel- als auch Kartenspiele, die noch nie jemand zuvor gesehen hat. Zudem duftet es extrem nach süßen Kinderverführungen. Riesige Bratäpfel mit rotem, glänzendem Zuckerguss. Lebkuchenherzen, auf denen ein witziger Spruch aus ebenfalls aufgespritztem Guss aus Zucker zu lesen ist. Zuckerstangen, die das herkömmliche Maß völlig überschreiten. Wirken geradezu wie der allseits bekannte Rohrstock, den Lehrer noch vor Jahrzehnten gerne benutzen, um gewissen Schülern zu zeigen, wer hier das Sagen hat - wenn sie sich nicht gehorsam und gesittet fügen. Ein Zuckerparadies, dem Kinderseelen sehr zugetan sind. Sie können zwar auch keine Gerüche wahrnehmen, aber Torstens Seele ist hierzu in der Lage. Warum auch immer das so ist. Das spitze Dach der dreieckigen, kleinen Zuckerbude, die neben der Spiele-Bude fast zu schweben scheint, wird von einem watteweichen Dach aus weißer, aufgebauschter Zuckerwatte gekrönt, die es glitzern lässt. Selbst der verschlungene Weg durch das Spiele-Paradies führt über Kieselsteine, die - wie soll es auch anders sein, von Zuckerkristallen übersät ist. Würde man mit Schuhen darüber laufen dürfen, täte es heftig unter den Sohlen knirschen. Gott sei Dank fliegen hier alle, und Schuhe kommen logischerweise nicht zum Einsatz. Alles wirkt hier friedvoll und gelassen. Weder Jahrmarktschreier, noch laute Leierkastenmusik als auch Volksjubeln sind hier hörbar. Mucksmäuschenstille eben. Ihr wisst schon, Seelenohren besitzen keinen Empfang, für welche Geräusche auch immer. Die Ruhe vor dem Sturm?

Torstens Seele ist in diesem Moment reichlich überfordert. Wo soll sie zuerst spielen? Vor allem fasziniert und lockt auch der vor ihr stehende bunte Clown, der alle möglichen Kapriolen veranstaltet, um jener zu gefallen.

Nur kurz wird das Seelchen für einen Moment abgelenkt, da sich eine dunkle Stimme in ihr Seelengehirn schleicht und heftig meldet. Ein unüberhörbares, lautes Trillern aus einer Pfeife ertönt und gesellt sich hinzu. Vor ihrem geistigen Auge steigt auch wieder dieser grässlich stinkende Qualm aus dem höllischen Lokschornstein auf, der die Weiterfahrt anzukündigen scheint. „Torsten, Deine Spielzeit ist gleich abgelaufen, Du unartiges Kind!“ ´Das kann einfach nicht sein´, denkt sich das völlig irritierte Seelchen und hakt nach - nicht ohne vorher auf die Armbanduhr zu schauen. Die Zeiger sind stehengeblieben. Dies kann nur bedeuten, dass hier im Spiele-Paradies, jener keine Bedeutung zugemessen wird. Eben Freude, lustige Kinderseelen und Spielereien ohne wirkliches Zeitmaß. Es ist vielmehr so, dass jene aufhört zu existieren, wenn sich Kinderseelen hinter diesem Willkommensschild aufhalten. Denn für Fantasien, die ohnehin fliegen, gibt es kein wirkliches Ende als auch maßvolles Miteinander, das man in Zeit messen könnte. Darum, Willkommen in einem besonderen Reich der zeitlosen Unendlichkeit, wo sich Seelen nach Gutdünken treiben lassen können, ohne dabei gestört zu werden.

„Nein, es ist noch längst nicht für mich vorbei, Du schwarzes Ungetüm!“ blökt Torstens Seele und setzt sich heftig zur Wehr. „Im Fantasieland bin ich so frei, wie es mir gefällt. Du kannst mich mal am …, da wo ich schön geformt und rund bin!“ meckert sie selbstbewusst in einem fort. Jubelt geradezu, da ihr hier der Geisterzug nichts anhaben kann. Tja, eigentlich - aber erstens kommt es anders als man zweitens denkt. „Weist doch, niemand von Euch kann mir jemals entkommen, Du Satansbraten Torsten!“ grummelt höhnisch des Geisterloks Stimme. Wähnt sich schon jetzt am Ziel der selbstsüchtigen Wünsche zu sein. „Das versprochene Geschenk muss immer noch ausgepackt werden!“ zischelt sie hemmungslos weiter. In diesem Moment, da man glaubt, nichts würde wirklich geschehen, verändert sich, wie von Geisterhand bewegt, die Position des Holzschildes. Verschwindet hinter Torstens bübischer Seele, um in eine neue Richtung zu schwenken. Baut sich hernach vor ihr auf. Jetzt ist sie hilflos diesem Dampfross ausgeliefert, und besitzt nicht den Hauch einer Chance, irgendetwas dagegen zu unternehmen. Vielleicht doch, wenn Torstens Seele sich spontan mit reichlich Fantasie etwas vorstellt, das jene Situation zum Kippen bringt? Denn Fantasien wohnt eine unbändige, fast endlose Kraft inne, wenn man diese aktiviert. Inzwischen hat auch der Clown seine drehenden, durchaus witzigen Pirouetten Aktionen eingestellt. Steht jetzt ganz weit weg, fast am Ende des zuckerübersäten Spiel-Paradies-Weges und winkt Torsten zu. Ein Abschiedsgruß? Er lächelt - wie immer.

Plötzlich bewegen sich auch wieder die Zeiger auf Torstens Armbanduhr weiter, sind dem Stillstand entrissen. Im Sekunden-, Minuten- und Stundentakt. Unaufhörlich, da hier wieder jene Zeit das Maß aller Dinge ist. Immer noch schallt das sich langsam steigernde Geräusch des Schaffners Trillerpfeife zu Torstens Seele herüber - bohrt sich in den nicht vorhandenen Gehörgang hinein und bis zum Gehirn hinauf. Recht so, denn die Zeit geht auf bedrohliche Weise dem Ende zu. Zwei Stunden sind knapp vorüber und können keinesfalls wiederholt werden, denn ein Zurück gibt es nicht - nie und nimmer ist das möglich. Die Gegenwart wird wahnsinnig schnell zur Vergangenheit. Nur was die Zukunft bringt, kann man, wenn auch nur für einen kurzen Moment, selbst entscheiden. Die ferne Zukunft rückt zumindest vorab nicht in greifbare Nähe, da hierfür noch genügend Zeit verbleibt, um Entscheidungen treffen zu können. Genau so fühlt es sich wirklich gut an.

Wie bei einem Zeitraffer eines zu schnell abspulenden, alten Zelluloid Filmes, hockt Torstens Seele erneut auf der harten Sitzbank des offensichtlich einzigen Zugabteils und schwitzt. Hat es scheinbar mit dem Spielen etwas übertrieben. Obwohl Seelen generell diesen lästigen, nässenden Zustand nicht erzeugen können, neigt Torstens Seele trotzdem dazu. Auch jene unerträgliche Helligkeit nimmt wieder massiv zu und füllt das Abteil mit gleißender Intensität. Gott sei Dank prangt Torstens Armbanduhr immer noch an seinem Handgelenk und strahlt heller denn zuvor. Leuchtet so kraftvoll als würde sie niemals damit aufhören wollen. In diesem Moment, da man glaubt, alles wäre halbwegs überstanden, wandelt etwas Unsichtbares im Abteil auf und ab. Trippelnde Schritte nehmend - so, als bewege sich hier ein Kleinkind leichten Fußes, das es auf Torsten abgesehen hat. Nicht vorhandene Augen, aus denen ihn gierige Blicke streifen und regelrecht aufzufressen scheinen. Erst zaudert, da es sich noch nicht seiner Handlungen schlüssig ist. Merkwürdig, dass man jenes unerträgliche Permanentrattern der Lok-Räder nicht mehr hört. Dieses Dampfross scheint sich offenbar geräuschlos und schwebend in Richtung Parallel Kinderparadies fort zu bewegen, wo es nur Spaß ohne Grenzen, lustige Kinder und scheinbar immerwährende Spiele gibt. Stille macht diese Situation nicht gerade entspannter und besser, denn das Seelchen fühlt sich veralbert, getäuscht und wie auf den ´Arm´ genommen.

Unerwartet, aus dem Nichts kommend, spricht ein zartes Stimmchen mit Torsten. Wie der Seelentröster aus einer anderen Welt? Etwa dem rosafarbenen Spiele Paradies?

 

Kapitel 7

 

 

„Torsten“, beginnt es mit sanfter, kaum hörbarer Seelenstimme zu hauchen. „Du siehst mich nicht - noch nicht. Nur wenn sich der liebe Torsten anstrengt und seiner Fantasie Flügel verleiht, wird er mich Stück für Stück wiedererkennen. Ich bin es, das Kind mit dem weißen, sternenbesetzten Tüllkleid, aus der puderzuckerbestreuten, schwebenden Lebkuchenbude des Spiele Paradieses. Kannst Du doch wohl nicht schon vergessen haben, oder?“ Nur sehr langsam lichten sich die Seelennebel in Torstens Gehirn, vollführen einen Freudentaumel, der sich nicht stoppen lässt. Ja, wozu auch, denn Erleichterung hat das Seelchen jetzt bitter nötig, da es in diesem Moment total verwirrt und überfordert wirkt. „Weist Du, es ist nun einmal so, dass wir Kinder aus dieser rosagetünschten Welt, nur im unsichtbaren Zustand überall hin fliegen können“, setzt es wohlwollend fort. „Ich habe gleich gespürt, dass du meine Hilfe benötigst und bin dir darum flatternd gefolgt. Ab jetzt gehöre ich dem Torsten als Schutzengel, wenn du verstehst“, säuselt es und lässt ein leises, glucksendes Lachen ertönen.

„Übrigens, Torsten“, spricht das Stimmchen weiter. „Es wäre besser, wenn du mir diese Armbanduhr zur Verwahrung gibst. Immerhin könnte sie dir genommen werden - wer kann schon wissen, ob diese Lok dir einen erneuten Schabernack spielt und hinters Licht führen will“. Für einen kurzen Moment überlegt Torstens Seelchen, ob es wirklich so geschehen könnte. Kann es diesem dubiosen Kinderstimmchen überhaupt Glauben schenken, da sich Torsten keinesfalls an ein Kind im weißen Tüllkleid, in der schwebenden Süßigkeiten Bude erinnern kann? Vielleicht konnte er es vor lauter Spieldrang nicht sehen, da seine Gedanken voll auf das Clown Szenario gerichtet gewesen sind? Während sich Torstens Seelengedanken voll auf eine Entscheidung konzentrieren, zieht das schwarze Höllenmonster die Trumpfkarte aus dem Ärmel, nutzt die Gunst der schwindenden Minuten. Auf ihr ein schemenhaft rollender Geisterzug abgebildet, der geradewegs über nicht vorhandene Schienen, in Richtung dunkler, teuflischer, imaginärer Heimatgefilde donnert. Hält diese vor Torstens weitgeöffneten Augen, in denen das schier blanke Entsetzen steht. „Schaue, was ich in meinen knorrigen Händen halte, Du dummer Torsten“, ertönt die ihm durchaus bekannte Lokstimme, mit einem gewissen Unterton diebischer Freude. „Deine Fantasien sind einfach nicht auf Touren gekommen, Du Hänfling und Möchtegernschüler!“ höhnt, dröhnt und zetert es in Torstens Gehirn, das langsam zu schmerzen beginnt. „Du Jammerlappen eines Häufchen Elends!“ setzt die tierisch dunkle Stimme noch einen drauf, und hält sich dabei den nicht vorhandenen Wanst. Torstens Kopf wirkt jetzt wie ein aufgeblasener Ballon, in dem es tost und braust. So als würden seine Fantasien einem heftigen Orkan ausgesetzt sein. Braunen, ausgedörrten Herbstblättern ähnlich, die von ihm herumgewirbelt werden, denn das parallel einsetzende Knistern und Rascheln passt hierzu. Vielleicht ist es auch anders, da irgendjemand in diesem Abteil viele großformatige Bögen Papiers zerknüllt und in eine der vier Ecken wirft - denn Geräusche lassen nicht immer den folgerichtigen Schluss zu, worum es sich wirklich handelt?

Das arme Seelchen befindet sich in diesem Moment total in der Klemme. Will dem absolut genialen Schachzug des schwarzen Biestes etwas entgegensetzen - ist jedoch gefühlte Minuten nicht dazu in der Lage. Irgendwie scheint die Zeit generell gegen Torstens Seelchen zu sein. Demzufolge sollte eine schnellstmögliche Lösung folgen, damit die Armbanduhr erneut dort prangt, wo sie hingehört - nämlich an Torstens Handgelenk. Denn ohne eben jene wäre es dem Geisterzug wehrlos ausgeliefert. Bedeutet, ihm dorthin folgen zu müssen, egal wohin es geht. Jedenfalls nicht in die rosafarbene Paradies Welt, sondern einer dunklen, fantasielosen Parallelwelt, wo kegelförmige, monumentale Schornsteine wie wahnsinnig schwarze Dreckwolken ausspeien. Die Luft kaum zu atmen geht, da es ihr an lebensspendendem Sauerstoff mangelt. ´Beeile Dich, Junge´, denkt das Seelchen - will sich Mut eintrichtern, denn des Zuges schwarze Seele ist dabei zu verschwinden. Langsam die Gefilde des kegelförmigen Zugschornsteins ihr angestammtes Plätzchen einzunehmen. Urplötzlich ertönt des Schaffners unerträgliche Trillerpfeife. Das Dampfross will sich, wenn auch zögernd, in Bewegung setzen. Sekundenschnell, ohne die Zeit mit unnützen Gedanken zu verplempern, klopfen energiegesättigte Fantasien in Torstens müder Seele an. Werden hineingelassen und vollführen einen Veitstanz, der keine Wünsche mehr offen lässt.

Reißen und zerren kraftvoll an Torstens Talisman herum - so lange, bis er sich aus den knochigen Fingern des schier unerschöpflichen Bösen löst, abspringt und geräuschlos zu Torstens Seele segelt. Denn an ihrem Handgelenk wirkt die Armbanduhr wie ein göttliches Omen, das golden glänzt und mystisch funkelt, da nur das Gute an dieser persönlichen Örtlichkeit zum Ausdruck kommt. Also doch ein Talisman mit besonderem Wert, der etwas von idealistischem Reiz besitzt - mit keinem Geld der Welt zu bezahlen ist? Inzwischen hat auch das Knistern und Lärmen in Torstens Gehirn aufgehört. Wohlige Ruhe breitet sich aus, und versetzt das Seelchen in eine Art von wohlwollendem, traumlosen Schlafes - denn es schließt die Seelenaugen. Wie aus weiter Ferne kommend, vernimmt es noch den letzten, begehrenden Aufschrei des schwarzen, rollenden Ungeheuers, der sich wahrlich kläglich anhört, da es dem Sterben geweiht ist. Jedoch nur für diesen Moment, um später eine Wiedergeburt zu erfahren.

Torsten öffnet die Augen und sitzt wieder körperlich in der Vierrunde seiner Freunde. In ihm das Gefühl von Überlegenheit, jedwedem Bösen gegenüber, denn es wird niemals mehr seine knorrigen, spindeldürren Finger nach ihm ausstrecken. Genau so soll es sein, da die Welt voll davon ist.

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 8

 

Vater Johann gönnt sich noch etwas Ruhe, bevor er erschöpft, aber trotzdem sichtlich befriedigt, von seinem Ohrenbackensessel aufsteht. Johanns Magen knurrt wie ein übellauniger, hungriger Wolf - fordert Nahrung ein. Demzufolge schleicht er sich in die Küche, um etwas für seine Wenigkeit und die Kinder zu kochen. Na ja, nicht wirklich kochen - sondern nur den gestrigen Gemüseeintopf, bestehend aus Wirsing, Kartoffeln und geschnipseltem Suppengrün erwärmen wollen. Noch fünf Paar deftige Würstchen dazu, und fertig ist eine leckere, durchaus gesunde Mahlzeit, der man mit Genuss frönen kann. Tja, wer groß und stark werden möchte, sollte öfters Gemüseeintöpfe verzehren. Nebenbei gesagt, dem ist wirklich so, denn ich erzähle euch keinen Nonsens - nie und nimmer. Probieren ist hier angesagt, bevor man sich eine Meinung bildet. Erst probieren, dann studieren, klare Ansage!

Während sich Vater Johann dem rührseligen Erwärmen des schmackhaften Eintopfes zuwendet, sitzen sein Sohn Peter, dessen Freund Kaspar und die zwei Nachbarskinder Torsten als auch Jens, wie stocksteife Schachbrettfiguren auf jenen runden, ledernen Sitzkissen. Wirken wie Zinnsoldaten, denen gerade etwas Fürchterliches wiederfahren ist. Eigentlich sind hiervon nur Peter und Torsten betroffen, die schon vorab mit dem Geisterzug vorlieb nehmen wollten - besser gesagt, mussten. Kaspar und Jens lässt die Erwartung auf das geisterhafte, rollende Geschoss, regelrechte brettharte Starre in ihre Leiber treiben. Sie können immerhin noch nicht wissen, was ihnen bevorsteht. Jedoch werden es die beiden mit dem schwarzen Metallross aufnehmen und ihn eventuell besiegen? Auf alle Fälle möchten sie es gemeinsam angehen, denn nur in einem Team kann man viel erreichen.

Immer noch liegt das Buch, dessen Inhalt das absolute Grauenhafte heraufbeschwört, zugeklappt auf Johanns Schreibtisch. Darauf abgebildet jener Geisterzug, der deutlich zu erkennen ist. Jedenfalls stellt er sich für Peter und Torsten so in der Realität dar, denn sie sehen ihn nicht mehr als bedrohlich an, da ihre Fantasien ausgeknipst sind. Das Ziel ist also erreicht? Für die beiden Kinder fühlt es sich jedenfalls genau so an. Nur Kaspar und Jens stehen noch einige Abenteuer bevor, von denen sie zum aktuellen Zeitpunkt nichts ahnen können. Angefacht von ihrer kindlichen Neugierde, lassen sich die zwei Jungen einfach treiben und geben eben jener den Vorrang, wollen es dem schwarzen Ungeheuer so richtig zeigen. All´ ihre Fantasien einsetzen, damit das Vorhaben auch klappt. Erst einmal geschieht reineweg gar nichts. Das Buch liegt einfach da, so als wäre es auf der Oberfläche des Schreibtisches festgeklebt. Niemand darf sich eventuell dieses Werkes bemächtigen, da nur Vater Johann als Autor hierauf Zugriff hat.

Stille im Zimmer kündigt das greifbare Böse an, lässt die Atmosphäre temporär massiv aufladen und knistern. Kribbelnde Unruhe gesellt sich in Kaspars und Jens‘ Körper hinzu, die es den Jungs nicht gerade einfacher gestaltet. Das Gefühl, ein nichtisoliertes Stromkabel befände sich in ihren Leibern, breitet sich auf brutalste Weise aus. Währenddessen sitzt Vater Johann auf einem der vier hölzernen Küchenstühle. Beobachtet gedankenverloren und mit einem frisch gestopften Pfeifchen aus dem Mundwinkel hängend, den zugedeckten Kessel, in dem der Eintopf zu brodeln beginnt - fast angebrannt wäre. Nein, nicht fast, denn sonderbare, stinkende Dampfwölkchen steigen unter dem bereits bedenklich vibrierenden Kesseldeckel hervor. Werfen ihn im Nachhinein scheppernd zu Boden. Das Eingangsszenario für den Geisterzug, langsam schemenhafte Konturen anzunehmen und die sich steigernden Fantasien der beiden Jungs auf ihren Seelenflügeln ins Endlosparadies mitzunehmen. Dass hier nur schwarze, rauchende, kegelförmige Lokschornsteine existieren und keine spielenden Kinder als auch Frohsinn, gibt jenes metallische Dampfross vorerst nicht preis. Warum auch, denn das Vortäuschen falscher Tatsachen gehört zur Taktik des noch ungezähmten, schwarzen Ungetüms.

Peter und sein Freund Torsten erheben sich von ihrem Sitzkissen, folgen Vater Johann mit neugierigen Gesichtern in die Welt des Kochreiches, das inzwischen völlig vor dunklen Dampfschwaden kaum noch zu erkennen und darum auszumachen ist. Wollen schauen, was es denn Deftiges zu präpeln gibt. Irgendwie wirkt die Situation nebulös und ziemlich unwirklich, denn jene Dampfwolken verharren wie eine undurchdringliche Mauer an Ort und Stelle - lösen sich keineswegs auf, so wie man es logischerweise von extremen Kochdünsten gewohnt ist. In diesem Moment, da man glaubt, es würde nichts mehr passieren, geschieht das absolute Unfassbare. Der auf dem Cover befindliche Geisterzug wölbt, quält sich regelrecht heraus, wird zu einem schwarzen Hologramm - donnert an Kaspar und Jens schemenhaft vorbei. Vater Johann hockt währenddessen immer noch auf dem Küchenstuhl und frönt seiner zweiten Leidenschaft, dem Schmauchen des Lieblingstabaks. Aus dem Köcher der Pfeife wabern große, aufgeplusterte Qualmwolken durch die Küche und verbinden sich mit den schwarzen Dampfwolken des verschmorten Eintopfes, der jetzt eher an schwarze Kohlen erinnert. Der gesamte Raum ist regelrecht rauchgeschwängert und lässt keine Blicke hindurch. Sitzt Johann überhaupt noch auf seinem angestammten Platz oder befindet er sich in einer anderen Welt, die eigentlich nur dieser Dampflok vorbehalten ist? Seine Autorenwenigkeit könnte durchaus schon viel zu tief in dieser Geschichte stecken, da er sie immerhin selbst getippt hat. Jedoch ist und bleibt das dunkle Fantasiereich nur Kindern vorbehalten, die hier immerhin Geschenke auspacken sollen. Zutritt für Erwachsene natürlich auch hier strengstens verboten. Vielleicht spielt Vater Johann die Rolle des Lokführers? Kann es sein, dass er eventuell die Seele des Geisterzuges persönlich ist, also das Dampfross nur existiert, weil Johann es so will?

Peter und Torsten bekommen es mit der Angst - verlassen schnellstens die höllische, stinkende Hexenküche, um ins Büro zu fliehen. Hier liegen Kaspar und Jens bereits auf dem kühlen Boden und halten ihre Hände ineinander verschränkt fest - lassen sich treiben und steigen mental in das für sie reservierte Abteil ein. Dunkelheit umgibt beide Seelen. Trotzdem sind sie guten Mutes für einen Zugtrip der besonderen Art. Immerhin muss dieses Biest unbedingt für die Ewigkeit besiegt werden, damit Kinder in der real existierenden Welt, für immer ihren positiven Fantasien frönen können. Denn das Böse ist bezwingbar, wenn man es wirklich will.

In der Realität sitzt Vater Johann noch immer entspannt in seinem ledernen Ohrenbackensessel und liest den Kindern die Geschichte vom ´Geisterzug´ vor. Zumindest hören ihm jetzt erneut Peter und Torsten interessiert und mit weitgeöffneten, leuchtenden Augen zu. Jedoch folgen sie Johanns Lesung mit einer gewissen Unsicherheit, ob sich nicht doch wieder jene schreckliche Dampflok in ihre Gehirne drängt. Nein, keine Chance - denn beiden Jungs kann das schwarze Höllenmonster nichts mehr anhaben. Für sie ist alles ausgestanden, was sich für Kaspar und Jens erst einmal keinesfalls so darstellt. In der surrealen Parallelwelt läuft die Zeit eben anders. Mal halten die Zeiger der Uhren an, um dann im Nachhinein langsamer oder auch schneller jene voranzutreiben. Gleichwohl stellen sich die Dinge reichlich verzerrt dar, da Lügen hier das Maß aller Dinge sind. Plänkeln den Kinderseelen etwas vor, was vom Verstand her unlogisch ist und demzufolge keinen Sinn ergibt.

Kaspars und Jens´ Seelen unterscheiden sich nicht wirklich wesentlich voneinander, sind darum das geniale Team schlechthin, diesem schwarzen, imaginären Ungetüm die Stirn bieten zu können - den virtuellen Kampf unter Umständen sogar zu gewinnen. Kaspars Seelchen ist konsequent stark, während es bei Jens ab und zu wankelmütig, also nicht unbedingt entscheidungsfreudig daherkommt. Es gibt leider Zeiten, in denen seine Seele mit nur wenigen positiven, ausschweifenden Fantasien gefüllt ist, da ihn seine strengen Eltern genau dann fest im Griff haben. Nicht zulassen, dass er die kindliche Naivität ausleben darf. Dennoch werden jene fantastischen Gedanken in immer kürzeren Abständen übermächtig und drängen an die ´Oberfläche´ des doch kindlichen Daseins.

Händchenhaltend, so als würden beider Seelen nur auf diese Weise verknüpft sein, sitzen ihre Seelchen auf der harten Holzbank des kleinen, fast einzwängenden Zugabteils und blicken mit den Seelenaugen in die Dunkelheit. Grausame Stille gesellt sich hinzu, will ein Gefühl von Hilflosigkeit in ihnen erzeugen. So als wäre vorab schon alles verloren, bevor es überhaupt begonnen hat. In diesem grausamen Moment der trügerischen Lautlosigkeit, werden die zwei Seelen von einem sich plötzlich öffnendem Augenpaar angestiert, in dem die schwarze Iris vor Boshaftigkeit nur so brennt. Kleine, kaum erkennbare Flämmchen umrahmen diese und züngeln - kündigen das an, was sich keineswegs vermeiden lässt. Unweigerlich ertönt auch wieder diese dunkle, krächzende Geisterstimme, etwas einfordernd und zwar jenen Talisman - den sie unbedingt vorhat, abluchsen zu wollen. Besser gesagt, zwei Talismane, auf die jenes Augenpaar verzückt starrt.

Die dunklen, ja schon fast schmachtenden Biestaugen haben es auf Kaspars und Jens´ goldene Ohrringe abgesehen. Wie vom Wahnsinn gepackt, blicken sie darauf - heften sich wie Kleister daran fest und wollen nicht loslassen. Genau zu dieser gruselig wirkenden Situation, bauen sich parallel schwarze, wulstige Lippen auf, über denen markige, in Stereo geformte Worte hallen. So als würde man in einem riesigen, leeren Raum stehen. Irgendwie wirkt alles makaber, und man könnte durchaus lachen, wäre hier nicht eine gewisse Vorsicht geboten. Sekundenschnell replizieren, also verdoppeln, vervierfachen sich die Lippen, können nicht damit aufhören, bis sie bald das kleine Zugabteil vereinnahmen. Wollen das Seelenteam fast hartnäckig erdrücken. Aber es kommt anders, als man denken könnte.

Kaspars Seele bäumt sich auf, während Jens´ zaudert. In diesem Moment der misslichen Lage nicht entscheiden kann, wie sie vorgehen soll. Immer noch halten sich beide Jungs an den Händen. Zwar krampfhaft - dennoch stark genug, um nicht loslassen zu müssen. „Wenn du nicht genau weist, was jetzt geschehen soll, mache es mir einfach nach, Jens. Nur gemeinsam sind wir stark!“, fordert Torstens Seele seinen Freund auf, feuert ihn regelrecht an.

Obwohl sich jene Lautlosigkeit erneut geisterhaft aufbaut und das Ekelige nicht mehr zu erkennen, also scheinbar verschwunden ist, hört man aus der Ferne trotzdem das unablässige Geräusch des Schaffners Trillerpfeife. Kündigt eine Bahnfahrt an, bei der man nicht genau wissen kann, wohin sie führt. Setzt sich der Geisterzug überhaupt in Bewegung oder steht er still auf den nichtvorhandenen Gleisen? Vielleicht schwebt er einfach nur lautlos über diese hinweg? Ist es möglich, dass des Geisterzugs dunkle Seele den beiden Jungen wieder etwas vorplänkelt, um sie zu irritieren? Denn jedwede rhythmischen Geräusche von rollenden Rädern als auch richtungsziehender Vorwärtsbewegung des Zugkurses sind einfach ausgeblendet, da es die Lok so will. In Wirklichkeit rattert das Ungetüm schon längst dorthin, wo es spielende Kinder, Geschenke und schwarze, rauchende, stinkende Schornsteine gibt - die unablässig qualmen. Genau wie aus Vater Johanns Pfeife, die er immer wieder mit frischem Tabak stopft, wenn dieser aufgeraucht ist.

Genau in diesem Moment, da man glaubt, die Situation würde keine Wende nehmen - schaltet sich des Geisterzugs raue Stimme ein. „Sieh mal einer an, Kaspar und Jens halten sich Händchen, so als könnten sie nicht anders. Glaubt wohl, das wird euch helfen oder was soll der Unfug, hä?“ lästert das schwarze Monstrum - wirkt jetzt schon siegessicher. Kann nicht damit aufhören, das Zweierteam langsam in die völlige Raserei zu treiben. Absicht oder macht es ihm einfach nur Spaß, da hier teuflisches Necken angesagt ist? „Zeige Dich endlich! Gegen unsichtbare Feinde kämpfen wir nicht. Und wenn, dann nur mit telepathischer Taktik. Eines sollte dir klar sein, wir geben nicht auf, bevor alles durchgestanden ist, du widerlicher Zug“, zischelt Kaspars Seele und Jens´ zieht jetzt rigoros mit. Wirkt resoluter und entschiedener. Einfach toll, wenn man guten Freunden bedingungslos vertraut, da sie es ehrlich meinen und in jedweder Situation ihre Hilfe anbieten. Egal, ob es Tag oder Nacht als auch in diesem grässlichen Geisterzug ist.

Unvermittelt verstummt des bösen Zuges Gerede. So als hätten sich seine Stimmenlippen völlig verkrampft und lassen keinen Atemzug mehr hindurch. Nur der widerwärtige Geruch von Ruß und Qualm, der nach faulen Eiern stinkt, hängt permanent in der knappen Luft des Abteils. Zeugt eben von der Anwesenheit des schwarzen ´Geschosses´. Beide Seelen sind bis zum Äußersten gespannt - erwarten den nächsten Angriff, der alsbald erfolgt. Währenddessen rauscht das blecherne Biest geräuschlos ins Paradies, wo noch genügend Geschenke auf Kinder warten, die von ihnen unbedingt ausgepackt werden sollen. Kommen sie überhaupt dort an oder ergreifen beide Kinderseelen die Initiative, damit sie diesem gruseligen Paradies entgehen können? Wie aus dem Nichts kommend, baut sich urplötzlich erneut dieser widerwärtige Mund auf - aus dem eine lange, pickelübersäte Zunge schnellt und fortwährend schnalzt. Rollt sich langsam zusammen - sammelt Muskelkraft, um hernach in Richtung der Ohrringe zu schießen. „Her mit euren Talismanen - sie gehören mir als Pfand. Versucht erst gar nicht, euch zu wehren, hört ihr!“, posaunt es fortwährend in den Ohren der beiden Seelen. Obwohl, Ohren sind jetzt nicht ganz richtig, da sie keine haben. Seelen besitzen weder einen Körper mit Extremitäten, noch Sinne mit der dazugehörigen Hardware. Das ist eben meine sehr spezielle Fantasie zu dieser Geschichte.

 

 

Kapitel 9

 

 

Kaspars und Jens´ Seelenärmchen sind inzwischen regelrecht zusammengewachsen, so dass niemand die Jungs zu trennen vermag. Auch der Geisterzug nicht? Vielleicht doch, wenn sich das schwarze Monster wieder etwas einfallen lässt, damit es die Oberhand gewinnt und zudem behält? „Kaspar“, beginnt Jens urplötzlich mit seinem Freund zu reden. „Findest du nicht, dass wir ihm die Ohrringe einfach geben sollten? Ich meine, mich würde wirklich einmal interessieren, was uns im Spiele Paradies der etwas anderen Art erwartet. Immerhin können wir Geschenke auspacken, Spaß haben und mit Kindern spielen. Vielleicht gibt es dort auch tolle Kinderbücher?“, fragt sein zartes Stimmchen, haucht geradezu in Kaspars Ohr. „Sollte es uns nicht gefallen, können wir immer noch unsere Fantasie einsetzen und uns die Talismane zurückerobern. Meine Gedanken zu deinen, und deine Fantasien zu meinen. Zusammen packen wir das auf alle Fälle - bin mir dessen total sicher, Kaspar. Na, was hältst du davon?

„Hm, eigentlich hört sich das völlig logisch an, Jens. Aber was machen wir, wenn der Versuch nicht klappt, hä? Was können wir dann unternehmen?“ Kaspar spürt eine leichte Unruhe in seinem Seelenkörper aufsteigen - schüttelt sich, um sie abzustreifen. „Egal, Kaspar, wir können es durchaus wagen - später entscheiden wir dann ganz spontan. Uns wohnt das ´Zeugs´ hierzu inne oder etwa nicht?“ Jens räuspert sich kurz, während seine Seelenaugen zu blitzen beginnen. „Mann, Du kannst dich vielleicht ausdrücken, Jens. Bis heute ist mir das entgangen, dass deine Wenigkeit so viel Überzeugungskraft besitzt, ganz ehrlich!“, grölt er seinen Freund an, so als wäre er schwerhörig. „Gib mir alle Fünf, Du Genius. Wir besiegeln hiermit unsere totale Freundschaft“.

Beide Seelen entledigen sich mit ihren freibaumelnden Händen der glänzenden Ohrringe. Halten sie an ausgestreckten Armen in den geöffneten Handflächen, so als würden sie etwas feilbieten. Unvermittelt erscheint diese knorrige Hand im Abteil, greift hastig nach den Talismanen und zieht sich mit höhnischem Gelächter geschwind zurück. „Habe ich euch überrumpelt, ihr zwei Gutgläubigen? Wie würde Jens jetzt sagen - ausgetrickst?“ Kaspar ist sich wirklich sicher, dass es vorab Jens´ auffordernde Stimme gewesen ist, die ihm jenen logischen Ratschlag unterbreitet hat. Wieder einmal konnte das schwarze Biest sich der Talismane auf hinterlistige Weise bemächtigen, indem es Jens´ Stimme einfach imitiert hat. Grandioser Schachzug seitens des geisterhaften Zuges. Vielleicht schaffen es Kaspar und Jens dennoch später eine geistige Trumpfkarte zu ziehen, um aus der ihnen bevorstehenden, gruseligen Situation heraus zu kommen - wenn sie derer überdrüssig werden? Erst einmal gilt es Spaß haben, mit Kindern spielen und eventuell sogar gute Kinderbücher lesen zu dürfen als auch Geschenke auspacken. Gott sei Dank können die beiden Seelen noch nicht wissen, was sie dort wirklich erwartet. Übergroße, stinkende und qualmende Schornsteine, die nur eines verheißen - hier wohnt des Geisterzuges Seele, denn es ist ihr Refugium und angestammtes Reich des dunklen Bösen. Kann sich für immer zurückziehen, um von dort aus dubiose Spielchen zu treiben. Werden es Kaspar und Jens schaffen, sie daraus zu vertreiben, damit sich jene andersartige Welt auflöst? Die nahende Zukunft wird es bald zeigen.

Erneute Eiseskälte und dröhnende Stille im Abteil. Eigentlich kann man nichts hören, aber irgendwie schallen nicht vorhandene Geräusche durch die kleine, einzwängende Räumlichkeit. Wenn ihr genau hinhört, vernimmt man Kinderlachen und gleichzeitig weinerliche Stimmen, die auf Erlösung hoffen.

Kaspars und Jens´ Seelenkörper beginnen leicht zu vibrieren, da diese grausame bittere Kälte im Abteil sie frösteln lässt. Ist es nur die eisige Luft oder doch eine gewisse Angst vor der Ungewissheit? Was mag wohl jetzt kommen, und wie geht es weiter? Beider Blicke, in denen sich die pure Angst widerspiegelt, heften sich spontan an das Abteilfenster, welches nur pechschwarze Dunkelheit freigibt. Erstarren regelrecht - wollen sich zweifelsohne hindurch bohren, um kurz entfliehen zu können. Wie bei einer Erkundungsfahrt, der daraufhin die logische Entscheidung folgt. Nichts geschieht, da jene Scheiben diese Aktion nicht wirklich zulassen. Urplötzlich und fast übergangslos, visualisieren Kaspars und Jens´ Seelenaugen ein gruseliges Erscheinungsbild, das sich außerhalb der Abteilscheibe festigen und durch jene offensichtlich hindurchdrücken will. Heulende, bettelnde Kinderaugen, in vor Schmerz verzerrten Gesichtern und weitaufgerissenen Mündern. Das kindliche Lachen verstummt, während nur entsetzliches, jämmerliches Kreischen durch das Abteil tönt und anzuschwellen droht. Sich steigert, bis Kaspars und Jens´ Seelenohren es fast nicht mehr ertragen können. Wären beinahe aus dem kuriosen Geisterzugspiel ausgestiegen. Wenn … tja, wenn sie nur nicht ihre Ohrringe freiwillig hergegeben hätten. Ohne diese sind die Jungs nämlich dem Geisterzug wehrlos ausgeliefert. Müssen ihm zwangsläufig dorthin folgen, wo es angeblich nur Spaß, jubelnde Kinder, Bücher, Spielzeugloks und natürlich Geschenke zum Auspacken geben soll. Ob sie jemals, wenn auch nur kurzfristig, in die gutartige, zeitentrückte Parallelwelt des rosa getünschten Spiele Paradieses gelangen, bleibt hier erst einmal offen. Zunächst gilt es immer noch, die dunkle, etwas andersartige gestaltete Lok Welt zu erkunden. Kinder wollen einfach alles austesten, weil es ihr Spieltrieb so einfordert. Selbst das Unmögliche, da es eine gewisse Anziehungskraft ausübt, der man nichts entgegenzusetzen vermag. Das Neue lockt - in Form von qualmenden, bestialisch stinkenden Schornsteinen, in denen des Geisterzugs dunkle Seele zu Hause ist und sich wohlfühlt. Kaspars und Jens´ Seelenkörper haben immer noch keine Ahnung, was sie dort vereinnahmen wird. Das ist auch gut so. Erwartet auf alle Fälle das Unerwartete, und folgt mit euren Fantasien den beiden Träumern, deren Seelen trotzdem gefestigt scheinen.

Endlich kommt Torstens Seele wieder langsam in Schwung - löst sich aus der Angststarre, bäumt sich erneut auf und gibt klare Ansagen. „Jens, mein Freund - das darf uns nicht noch einmal passieren, hörst du? Wenn du mir irgendetwas sagen möchtest, dann nur mit einer Art von körperlichem Passwort als ´Zeichen´, das man nicht nachahmen kann. Ich würde meinen, du bewegst einfach deinen rechten Seelenzeh, wenn Kommunikation zwischen uns stattfinden soll. Züge besitzen nämlich keine Füße, an denen Zehen angewachsen sind. Auch keine Arme, an deren Ende, Hände mit Fingern daran wachsen. Lok Räder geben das keinesfalls her. Müsste mich irren, wenn dem so wäre“. Jens findet diese Idee einfach brillant und willigt mit einem kurzen Wackeln des Zehs ein. Da dies mehr als komisch wirkt, müssen beide Jungs daraufhin tierisch lachen. Entspannter können ihre Seelen jetzt nicht sein, und sie freuen sich unbändig auf das zu erwartende Abenteuer im Spiele Paradies, von dem sie noch keine wirkliche Ahnung haben, wie es dort ausschaut.

Obwohl es noch immer bitterkalt im Zugabteil ist, füllen sich ihre Seelenkörper daraufhin mit wohliger Wärme, die alles vergessen lässt - da sie spontan Kraft aus dieser antreibenden Energie des Lachflashs tanken. Einer Quelle gleich, die schier unerschöpflich scheint. Eben Kraft durch Frohsinn. Sekundenschnell ruckelt der Zug und hält urplötzlich an. Die Bremsen quietschen ohrenbetäubend, und auch des Schaffners schrille Trillerpfeife ertönt heftig. Nichts weiter geschieht, da sich die Lokstimme keinesfalls einschaltet, um klare Anweisungen zu erteilen. Eine wirklich gruselige Situation, auf der etwas folgen sollte - nur was könnte das sein? Jens wackelt mit seinem rechten Zeh als Zeichen des beginnenden Redeschwalls von Fragen. Kann einfach nicht damit aufhören, und beinahe wäre dieses Körperteil vor Überanstrengung kollabiert, also hätte gekrampft. „Kaspar, sind wir angekommen? Können wir aussteigen? Kommst du auch mit?“ Die letzte Frage beantwortet sich von selbst, da die beiden Freunde mit zwei ihrer Seelenärmchen untrennbar verbunden sind. Demzufolge gehen sie gemeinsam ins Abenteuerland der Spiele. Kaspar schnippt als Antwort mit den Fingern. „Jens, wir probieren es einfach aus. Schwingen unsere Seelenbeine aus diesem Abteil und schauen, was uns erwartet. Was auch sonst sollten wir unternehmen, hä?“ Recht hat Kaspar, und die beiden Seelenfreunde fliegen auf den Schwingen ihrer Fantasien aus diesem einzigen Abteil des bösen Geisterzuges. Hinaus in eine noch nicht erkundete Spiele Welt, die allerdings gewisse Gefahren birgt, denn sie könnte sich durchaus trügerisch verändern. Die dunkle Seele des klobigen, schwarzen Ungeheuers wird schon dafür sorgen.

Zwei unzertrennliche freie Seelen flattern durch einen offensichtlich endlos wirkenden Tunnel, der nichts weiter als undurchdringliche Schwärze hergibt. Sind sie wirklich frei oder fühlt es sich nur so für die beiden abenteuerlich gewickelten Jungs an? Irgendwie schon vogelfrei, aber trotzdem auf der Hut vor dem Unerwarteten. „Riechst du das?“, fragt Kaspar und schnippt dazu nervös mit den Fingern. „Ja, es stinkt nach Ruß und …“. Kurze Redepause: „Irgendwie nach Schwefel“, ereifert sich Jens und wackelt dabei so heftig mit seinem Zeh, dass dieser bald vor ständigem Rotieren um sich selbst abgefallen wäre. „Was zur Hölle geht hier vor? Das kann doch wohl nie und nimmer ein Spiele Paradies sein, oder? Schon gar keines, wo man freudig winkende Kinder erwartet“. Beide Stromer öffnen ihre Seelenaugen so weit sie können, um besser zu erkennen. Spähen jedoch weiterhin durch das dämonische Dunkel jener Röhre, die offensichtlich enger zu werden scheint. Ihre Seelen einzuzwängen droht, damit sie nicht mehr fliegen dürfen. Wie, als würde jemand neben den Seelen stehen, ertönt eine laute, unüberhörbare, geisterhaft angehauchte Stimme, die jener des schwarzen Höllenmonsters ähnelt. „Guzretsieg, Guzretsieg …“, immer wieder in monotoner Abfolge. „Jetzt habe ich euch gelinkt, ihr Dumpfbacken! Versucht mal einen Gegenschlag, ha! Gebt einfach auf und folgt mir in mein großzügiges Reich, wo es nur lustige Kinder, Spielzeugloks und auch Bücher …“. Sekundenschnell verstummt die Stimme, und erneut breitet sich unsägliche Stille aus, die man wirklich nicht einschätzen kann.

Kaspar schnippt pausenlos mit zwei Fingern, während sich Jens´ Zeh rhythmisch dazu dreht. Sie betreiben jetzt eine Unterhaltung, bei der die Worte nur so herumwirbeln. Keiner kann den Anderen richtig verstehen - klar, wie sollte auch, da sich in ihren Seelenkörpern eine gewisse knebelnde, beklemmende Hektik breit macht. Nach gefühlten zwei Minuten, weil die Zeit hier nicht wirklich logisch existiert, werden jene komisch ausschauenden, heftigen Bewegungen langsamer. Kaspar und Jens erhalten nur kurzfristig, dank ihrer Fantasien, die Kontrolle über das momentane, über allem deformierende Geschehen des immer noch dunklen Tunnels ohne Ende. Einer Korsage ähnlich, deren Schnüre gelockert, als dann stramm zugezogen werden können. Man kann nur nicht wissen, wann jener Effekt erneut erfolgen wird. Wer weiß, wohin sich beide Freunde treiben oder offensichtlich widerstandlos, quälend ziehen lassen müssen? Haben sie denn eine Wahl?

„Jens“, beginnt Kaspar mit verständlich geordneten Worten die folgenden Sätze. „Wenn wir weiterhin unsere Fantasien gemeinsam einsetzen, gibt es bestimmt einen Ausweg. Dieser dämliche Schlund zieht alles in sich hinein, was nicht niet- und nagelfest ist. Ich meine, wo führt es uns hin? Verdammt, wir wollen doch nur spielen, Spaß haben, Bücher lesen und einfach herumtollen“. „Natürlich, was auch sonst!“, entgegnet Jens mit fester Stimme, und zappelt währenddessen mit dem Zeh, der langsam feuerrot werdend anschwillt und zusehends immer dicker wird. Aber wie wir ja alle wissen, können Seelen hier keinen Schmerz empfinden, da sie körperlos sind. „Nein, Kaspar, mir wird so langsam klar, dass wir eventuell nichts ausrichten können. Dieses entsetzliche Zurren und Ziehen geht mir, gelinde gesagt, auf den Zeiger“. Jens empfindet unsägliche Trägheit und Leere. So als würde jemand seiner Seele pausenlos Energien abzapfen, die sich nicht erneuern können. „Riechst du das auch, Kaspar?“ schnüffelt dabei mit entstellter Grimasse herum, während sich aufkeimendes Ekelgefühl in ihm aufbaut. „Schon, mein Freund. Du solltest dich beherrschen lernen. Hast wohl einen kräftigen Anal Wind fahren lassen, oder?“ Kaspar muss daraufhin so was von irre lachen, während Jens nur glucksen kann. Aber langsam kehren wieder Energien in seine Seele zurück, damit der gemeinsame Kampf gegen den schwarzen Feind fortgesetzt werden kann, da sie es so wollen.

Plötzlich und ohne jedwede Vorwarnung, krümmt sich der immer noch finstere Tunnel zu einem 45 Grad Winkel. Versucht erneut die Passage der Jungs zu verhindern, indem sich die Innenwände genau an dieser Stelle verengen und gleichsam krampfen. Es stinkt grauselig nach Fäkalien - wie auf einem Rieselfeld. „Kaspar, so langsam denke ich, dass wir durch irgendeinen Darm geschleust werden, der uns mit seiner Eigendynamik in peristaltischer Weise vorwärts knetet. Von wegen, ich hätte hier ordentlich “Dampf“ abgelassen, hä! Nicht wirklich“. „Hm, glaubst du, dass Dampfloks so ein Organ besitzen, um die Kohlenschlacke über diesem Wege zu entsorgen?“, lässt Kaspar die sinnige Frage einfach so im dunklen Raum hängen. „Woher soll ich das wissen, Kaspar - bin doch keine Lok“.

In diesem Moment der wirklich gefühlvollen Unterhaltung, ruckelt es ziemlich heftig. Die beiden Jungs stoßen unbeabsichtigt mit ihren Seelenköpfen gegen irgendeine gummiartige Wand vor der Winkelkrümmung, die sie regelrecht abprallen und wie auf des Katapultes Sehne weiter nach vorn schnellen lässt, während die pressende Bewegung des Schlauches in heftige Zuckungen ausartet. Eben wie ein Darmkrampf, der Altlasten als Müll hinausbefördert, die hier nichts zu suchen haben. Will das metallische Böse die beiden Seelen auf diese Art loswerden, damit sie nicht in jenes qualmende Reich des Geisterzuges gelangen, um es mit ihren Fantasien zu zerstören? Nun, um an ihre Talismane zu gelangen, müssen die zwei Bubenseelen leider dorthin, damit sie derer habhaft werden. Denn diese befinden sich in nur einem der unzähligen, mächtig stinkenden Schornsteine und produzieren unablässig schwarze Dreckwolken. Der dunkle “König“ wacht hierüber mit seinen riesigen, runden Adlerlampen Tag und Nacht. Das Ziel heißt also andersartige Parallelwelt, in der es eigentlich nur spielende fröhliche Kinder, lustiges Miteinander als auch Unmengen von Büchern zu lesen gibt. Ob sich das alles auch so für die beiden Bengels darstellt, kann man nur hoffen. Jedoch gilt es erst einmal die Talismane zu suchen als auch sich derer zu bemächtigen, um dann mit den kindlichen Fantasien das schwarze Reich des Geisterzuges letztendlich der Auflösung anheimfallen zu lassen. So lautet jedenfalls jener Auftrag, der leider noch etwas Zeit benötigt, obwohl diese hier absolut keine Rolle spielt. Es muss einfach sein, da Kaspar und Jens in erster Linie unbändigen Spaß erleben wollen. Manchmal ist die Zeit nur etwas Fiktives. Sie existiert zwar, kann und sollte aber richtig verteilt genutzt werden. Genau das nehmen sich die Rangen auch vor. Erst das Vergnügen, dann die Arbeit oder doch eher umgekehrt?

Noch immer ist kein Ende des Endlostunnels abzusehen oder kündigt dieses in irgendwelcher Weise an. Ein klitzekleines Fenster, durch das Tageslicht fällt, wäre immerhin schon etwas. Stattdessen kriechen jetzt nudelartig gedrehte Bandwürmer durch die immer noch krampfende Tunnelgegend. Ihre ekeligen, glänzenden Leiber voll mit Phosphor aufgetankt, der den schlauchartigen Kanal grünlich schimmernd aufhellt. „Ihhhhhgitt!“, kreischt Jens´ Seele vor blankem Entsetzen - wackelt dabei tüchtig und rigoros mit dem Zeh, der fast aus seiner Gelenkpfanne gerissen wäre. Wie bei einem Korken, den man aus dem Flaschenhals ziehen möchte. „Mensch, Kaspar - lass‘ dir endlich etwas einfallen, du Genius. Dieser Hokus Pokus soll sofort aufhören!“, fleht Jens seinen Freund an. „Sofort, mein Gutster. Befinde mich gerade noch im Schock-Moment“, worum Kaspar auch nicht mit den Fingern schnippen kann, da sein Seelenkörper in komischer Starre verharrt. „Akzeptiert - dann übernehme ich das Fantasieruder“, bietet sich Jens logischerweise an. Auch in einem Seelenteam ist es wichtig, dass sich jeder einbringt. Kneifen ist hier höchst ungünstig als auch nicht gewünscht. Denn nur gemeinsam kommt man zum Ziel.

Jens stellt sich in diesem Moment grelle blaue Blitze vor, um das grüne phosphorisierende, sich windende Gewürm damit zu vernichten. Kaum, dass jener fantastischer Gedankenimpuls zu Ende gedacht ist, zucken blaue, künstlich erzeugte Blitze, wild durcheinander umher. Immer wieder, um das erlauchte Ziel zu treffen. Herumwirbelnde, energetische Kräfte stechen wie Dolche mit aller Macht in ihre Leiber hinein, damit diesem überflüssigen Pack der Garaus gemacht wird. Könnte in diesem Moment jene, dem Tode geweihte und sich vor Schmerzen krümmende Würmer Bande schreien, würde man es deutlich vernehmen. Aber aus ihren winzigen, stumm wirkenden Würmer Mündern, ertönt kein einziger Laut. Sekundenschnell erlöschen ihre grünen, schmierigen, aufgedunsenen Körper - geben einfach auf. Sind sie wirklich tot oder wohnt doch noch Leben in ihnen? Leben, das genügend Kraft freisetzt, um etwas anderes entstehen zu lassen? Erneut umgibt beide Jungs jene abartige, unerträgliche Finsternis, die immer noch voll mit diesem fauligen Gestank getränkt ist.

Jens ist zwar mit diesem Ergebnis nicht wirklich einverstanden - aber die Zeit drängt, obwohl sie in diesem Tunnel nicht wirklich wichtig ist. Denn jene läuft und vergeht unentwegt nur in den Köpfen der Seelenabenteurer.

Kaspar, der sich endlich aus seiner Körperstarre lösen konnte, mahnt seinen Freund Jens zur Eile an. „Das hast du irre hinbekommen“, lobt er ihn. „Wir fliegen einfach weiter. Mal sehen, was uns noch passiert. Ich liebe das Unerwartete, da es hoch interessant ist“, lässt er Jens gegenüber verlauten. Der jedoch zuckt mit den Schultern und zieht eine Flappe.

Weiter rauschen ihre Seelenkörper durch den gummiartigen, schier endlos wirkenden Tunnel, der sich fortwährend krampfhaft verbiegt. Immer wieder stoßen Kaspar und Jens mit den Seelenköpfen gegen die Gummiwand, bevor sich eine nächste Biegung im rechten Winkel ankündigt. Wie bei einem Zickzack Kurs eines Betrunkenen, der es einfach nicht mehr drauf hat, richtig koordiniert zu laufen. Heftig zurückgeworfen und in vorwärtsziehende Richtung geschleust, endet urplötzlich der rasante, eigenartige Flug, da Kaspars und Jens´ Seelenkörper von einer Art Mauer rigoros gestoppt werden.

 

 

Kapitel 10

 

„Verdammt, Kaspar!“, grölt Jens wutentbrannt. „Hört dieser Spuk denn nie auf!“, kreischt seine Wenigkeit unentwegt weiter. „Wer weiß, ob wir auf diesem Wege überhaupt dorthin kommen, wo es nur Spaß, Frohsinn und …“. Weiter kommt er nicht, denn die blecherne Stimme des schwarzen Höllenmonsters unterbricht ihn. „Na, ihr zwei Lause-Jungs, habe euch doch versprochen, dass ihr höllischen Spaß haben werdet. Ich sehe das eben etwas anders, dieses mit dem ›Spaß“, höhnt und dröhnt es durch den gesamten Tunnel. Hallt so stark von den Wänden und jener schwarzen Mauer wider, dass es einfach nicht aufhören will - ansatzweise schwächer wird. „Ich bestimme, wann ihr zwei Lümmel in das meinige Spiele-Paradies fliegen dürft. Nichts Anderes lasse ich zu. Leider müsst ihr noch einige Tests bestehen, bevor es dorthin geht. Vielleicht erwecke ich nochmals diese tot geglaubten, fiesen Nudelwürmer, nur um euch zu ärgern? Ihr solltet einen Zahn zulegen, macht schon hinne. Der Bessere mit noch tolleren Gegenideen, um mich austricksen zu können, gewinnt. Immerhin winkt danach das tierische Vergnügen schlechthin. Der Gewinner erhält von mir ein besonderes Paket als Geschenk, das er höchstpersönlich auspacken darf. Meine Fantasien gegen eure. Seht zu, dass ihr das hinbekommt, sonst …!“ Die letzten Sätze des abartigen Monsters sind kaum noch zu verstehen, wirken wie abgehackt. Werden dauernd von den Gummiwänden und dieser kaum zu durchdringenden Mauer zurückgeworfen, umher gewirbelt und wie Spiele Würfel in einem ledernen Becher durcheinander geschüttelt. Der Effekt ist ein Kauderwelsch, das niemand so recht versteht. Eben eine Art von Wörter Mix, der erst sortiert werden muss.

Genau so dringt jener Mischmasch bis in Kaspars und Jens´ Gehirne, beraubt beider Freunde ihrer Sinne und kurzfristig auch Fantasien. Gefühlte zwei Minuten vergehen, bis es erneut mucksmäuschenstill wird, sie sich endlich wieder geistig orientieren können, falls es in dieser Finsternis überhaupt machbar ist. Unvermittelt schnüffelt Kaspar mit weit geöffneten Seelennasenlöchern wie wild herum. „Riechst du das auch, Jens? Es duftet herrlich nach Schokolade und allem Süß Kram dieser Welt. Ist doch mal eine andere Variante als dieser abscheuliche Gestank, oder?“ Jens rümpft seine Nase, kann jedoch nichts derartig geruchsähnliches feststellen. „Nö, nix. Nun ja, wenn du meinst, dass dem so ist, fressen wir uns einfach kurzerhand durch eine, ähm …“ , schnippt mit den Fingern: „Schokoladentafel?“ , fügt er wie selbstverständlich hinzu. Beide müssen daraufhin schallend lachen, da Jens sein Seelengesicht passend wie ein herumalbernder Clown hierzu verzieht. „Jens“, wirft Kaspar nur kurz ein. „Du weißt schon, dass Seelen keinen Hunger verspüren können, oder?“ Zwei Seelenburschen agieren heftig mit ihren Extremitäten herum, da sich die Unterhaltung zu einem Wörterschlagabtausch auswächst. Kaspar schnippt unentwegt mit den Fingern, während Jens dem Rotieren seines Zehs nachkommt. Ulkig schaut das schon irgendwie aus, aber da dies so abgesprochen gewesen ist, muss es sein.

„Nun ja, ich vermute, dass die dunkle Mauer eine Schokoladentafel sein könnte, denn das Aroma strömt aus dieser Richtung, Kaspar“, zeigt mit seinem kurzen Seelenfinger dorthin und stößt auf Widerstand. Kratzt und polkt solange mit dem Fingernagel daran herum, bis wenige Schokoladensplitter herausfallen. Wie kleinste Zahnstocher rückwärts durch den finsteren Tunnel sausen. „Schon gut, Jens. Schon gut! Des Beweises genug. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir so durch die Schoki-Mauer kommen, ohne dabei an Zeit zu verlieren?“ Jens lässt unablässig die Schulterblätter auf und nieder wippen - äußert hiermit sein Nichtwissen. „Vor allem, wie dick wird die Schokowand wohl sein, hä? Sich hindurch zu nagen, macht wohl eher nicht so den Sinn. Ich setze einfach meine Fantasien ein, so einfach ist das. Wirst schon sehen, du Dumpfbacke!“, erzürnt sich Kaspar. „Ich beginne, und du folgst mir, okay?“ Jens kann dem nichts hinzusetzen, hört demzufolge auch mit der Wackelei seines Zehs auf.

In diesem Moment, der nur von fantasievollen Kindern als auch Jugendlichen begriffen wird, die sich ihnen hingebungsvoll widmen, bauen sich bunte leuchtende, noch nicht aufgeblasene Luftballons auf. An deren Ventil sitzen messerscharfe spitze Zähne, die sich jener harten Schokowand bemächtigen. Knabbern solange daran herum, bis ihre Gummileiber voller Schokolade prall gefüllt sind. Jene Mauer ihr klägliches Dasein in deren Inneren fristet. Gebläht bis zum Anschlag, rollen und rumpeln ihre nun aufgedunsenen, harten als auch schwach illuminierten Körper vorwärts durch den Tunnel. Fliegen ist ihnen in diesem satten Zustand wohl kaum möglich, oder? Plötzlich scheint ein dumpfer Aufschlag das Ende des schwarzen Gangs anzukündigen, worauf Kaspar und Jens beinahe vor Freudentaumel bäuchlings auf den Gummiboden gefallen wären. Zumindest hämmern die beiden Freunde mit ihren Seelenfäusten, jener Erleichterung Freiraum gewährend, auf besagtem Untergrund herum, der sie dann wie Geschosse rauf und runter schnellen lässt. Pausenlos und immer wieder. Was für ein filmreifes Spektakel, das es mal wieder voll in sich hat.

Jens ist offensichtlich der Klügere und Verständigere. Äußert in dieser Situation der Sinnesfreude, also unpassendsten Moment, seine Bedenken. Meldet Zweifel an, die durchaus eine gewisse Berechtigung finden. „Kaspar, denkst du, dass wir gleich ins Spiele Paradies kommen und uns nach Herzenslust austoben können? Schiet auf das versprochene Geschenk. Ich traue diesem schwarzen Ungeheuer keinen Millimeter über den Weg. Vielleicht will es unsere Seelen erneut täuschen und auf die Probe stellen?“ Wieder schnippt Kaspar unüberhörbar mit den Fingern, während Jens seinen Zeh in die schon vorab erwähnte Rotation bringt. „Jens, wenn wir es nicht versuchen, werden unsere Seelen es niemals erfahren, oder? Sollte es uns dort widererwarten nicht gefallen, holen wir uns einfach die Talismane zurück. Egal, wo dieses Monster sie versteckt hält. Ich meine, so schwierig kann das doch nun wirklich nicht sein. Immerhin sind wir zwei Seelen, die gemeinsam an einem Strang ziehen“, erklärt Kaspar die völlig logische Abhandlung seiner Denkweise. „Kaspar, stimme dir hundertprozentig zu. Vertraue deiner Seelenwenigkeit, obwohl du von uns beiden der Waghalsigere bist. Oder sollte ich sagen, Abenteuerzugewandtere?“ Nur kurz huscht ein Lächeln über Jens´ Seelengesicht und lässt es aufhellen.

„Jens, ich schlage vor, wir fliegen einfach weiter. Folge mir mit einem gewissen Abstand, da ich zunächst die Lage erkunden möchte. Streckt meine Seelenwenigkeit den dicken Daumen in die Höhe, ist alles rogerli. Wenn nicht, solltest du mir trotzdem auf dem Fersen bleiben. Nur eben ohne Sicherheitsabstand, damit wir hautnah besser agieren können. Unsere Kernkompetenzen, also individuellen Fähigkeiten, können demzufolge besser genutzt werden. Was mir nicht möglich ist, ergänzt du mit deinen Fantasien. Nur gemeinsam gehen wir ins Ziel, ist doch klar“.

Jens fühlt sich in Kaspars Nähe keineswegs unbeholfen als auch zurückgesetzt, sondern angenommen und aktiv. Darum strömen immer wieder neue Energien durch seinen Seelenkörper und machen ihn unangefochten stark. Wohlige Stille herrscht in diesem Moment der Eintracht vor. Nichts und niemand, der jene stören könnte - wäre nicht ab und zu dieses dumpfe Gefühl von Ausweglosigkeit in beider Seelenmagengrube. Jeder der beiden Freunde versucht es auf seine Weise so gut als möglich zu ignorieren, um den Seelenfluss der Fantasien hiermit nicht zu stören. Denn wer weiß, was sie noch im sogenannten vorgespiegelten Spiele Paradies erwartet? Alles scheint eben machbar, was vorher fast unmöglich gewesen ist. Die nahende Zukunft wird es zeigen.

Kaspar setzt zum finalen Seelenflug an, der sich noch recht komplikationslos darstellt - zumindest fühlt es sich so an. Jens folgt ihm wie ein Spion mit gebührendem Abstand der Vorsicht. Eigentlich dürfte den Jungs jetzt nichts mehr Böses widerfahren, wenn da nicht …, tja, wenn nicht dieses seltsame überlaute Rumpeln ihre Sinne verwirren würde. Denn Seelenohren sind extrem empfindlich und reagieren auf jedes noch so feinste Geräusch. Demzufolge verharren die beiden Seelen erneut in Starre, so als wären sie eingefroren. Auch das Fingerschnippen und Zeh Wackeln ist nicht mehr möglich. Schlussendlich findet auch keine selbstschützende Unterhaltung mehr statt, auf die der Geisterzug möglichen Einfluss nehmen könnte. Eben diese Vorsichtsmaßnahme, um ein lockeres abgeschottetes Gespräch zu führen. Zwar ist das Tunnelende absehbar, zeigt sich jedoch nicht wirklich, da es von bunten und herannahenden, rollenden monströsen Pfefferkörnern blockiert wird. Schier abertausende Körner gehen zur Attacke über. Wollen den zwei Seelen jenen Ausgang versperren, der ins andersartige Spiele Paradies führt. Dort, wo es nur stinkende rauchende und meterhohe Schornsteine gibt. Kaspar und Jens wissen immer noch nicht darum, doch werden sie alsbald Bekanntschaft mit ihm machen. Das schwarze Böse wartet, um von zwei engen Freunden besiegt zu werden. Zuvor gilt es jedoch, sich der Talismane zu bemächtigen, damit das möglich wird.

Es ist jenes intensive Aroma der heran rollenden Pfefferkörner, das durch die Seelennasen des Zweierteams strömt und sie aus dieser grausamen Körperstarre erlöst. Seelennasen sind ebenfalls empfindlich, reagieren aber etwas anders als Seelenohren. Menschliche Sinnesorgane besitzen so ihre unterschiedlichen Fähigkeiten und Eigenarten, was ja auch völlig logisch ist. Man bedenke den fast quälenden Niesreiz, der unser Riechorgan Nase befällt, wenn man an Pfefferkörnern schnuppert. Zudem tränen auch die Augen, aber wir sind hernach irgendwie erfrischt und hellwach. Genau dieser Effekt wirkt sich auf beider Jungs merklich aus - erzeugt in ihren Seelenkörpern erneuten Antrieb, der sie weiterhin frischen Mutes agieren lässt.

„Kaspar“, setzt Jens das Gelaber fort - muss sich massiv darauf konzentrieren. „Eines erschließt sich mir keinesfalls. Wieso müssen wir pausenlos irgendwelche Tests bestehen, nur um in ein freudvolles Spiele Paradies zu gelangen? Entweder ist es uns erlaubt oder eben nicht“. Kaspar verspürt nicht die geringste Lust darauf zu antworten, da die Pfefferkörnerhorde bedrohlich näher rollt. „Jens, ich weiß es auch nicht - tut mir Leid. Was spielt das für eine Rolle, wenn erneute Gefahr droht!“ schimpft er wie ein Rohrspatz, flattert dazu mit seinen Seelenärmchen als wollte er davonfliegen. In letzter Konsequenz auch ohne Jens. „Denke gerade an eine Waffe, die alle Pfefferkörner vernichtet. Klinke dich einfach ein und hilf mir, bevor es zu spät ist. Wollen wir nun spielen, lesen und Spaß haben oder wie?“ Eine Antwort erst gar nicht abwartend, materialisieren sich sekundenschnell vier übergroße Hämmer und beginnen ihr zerstörerisches Werk. Schlagen wie auf metallene Ambosse ein, dreschen peitschenmäßig auf die harten Leiber der Pfefferbrut herum. So lange, bis sie pulverisiert daherkommen und als bunter Nebel hinter den beiden Kinderseelen auf nimmer Wiedersehen verschwinden.

„Fantastisch!“, ereifert sich Kaspar, atmet mit seinen Seelenlungen erleichtert durch. Jens zieht dementsprechend nach. „Jens, es wird höchste Eisenbahn“, zischelt Kaspar nervös - muss bei dem Wort “Eisenbahn“ schmunzeln, da es irgendwie hierzu sensationell passt. Beide Freunde lassen erneut heftig ihre Extremitäten agieren. Kaspar schnippt unentwegt mit den Fingern, Jens dreht pausenlos seinen bereits dick angeschwollenen und rötlich verfärbten Zeh. Wie ihr ja bereits wisst, nur eine Sicherheitsmaßnahme der besonderen Art. Vergleichbar mit einer virtuellen Firewall, die den Computer als auch Laptop vor fiesen Eindringlingen schützen soll. Die zwei Seelenfreunde möchten sich nämlich nicht vollends diesem schwarzen Dampfross ausgeliefert wissen - darum haben sie jene wirkungsvolle Taktik immerhin ausgetüftelt. Ist der Hammer schlechthin, oder? Genau in diesem Moment, da ich das Wort “Hammer“ niederschreibe, fällt mir der “Hammerzeh“ ein. Nur kann ich diesen nicht in meiner Story verwerten. Vielleicht später in einer anderen Geschichte? Wer kann das schon wissen. Aber nein, auch meine Fantasien rufen mir spontan etwas vors geistige Auge. Jens rotiert mit seinem rotangeschwollenen Zeh so lange, bis er einem Hammerzeh gleicht. Angesichts dieser Form, wirkt der hammerartige Zeh auch enorm. Nur mal kurz humorvoll eingefügt, das genügt.

„Jetzt geht die Luzie ab, Jens. Freiflug für uns beide. Nur so ein Seelenbauchgefühl, mein lieber Freund!“ Winkt Jens ganz nah zu sich heran, damit er ihm auf Tuchfühlung folgen soll. Wie ihr ja schon wieder einmal wisst, vertraut Jens seinem Freund über alle Maßen, und das ist auch gut so. Immer noch hält die Finsternis im schlauchartigen Tunnel an. Gepaart mit dieser allesübertönenden Stille, wirkt das Ganze recht gruselig. Kommt noch etwas oder folgt jetzt der fast übergangslose Eintritt ins etwas andere Spiele Paradies? Immerhin können die zwei Seelen nicht wissen, wie es dort wirklich ausschaut, denn ihnen gelüstet es nur nach … na, ihr wisst schon, warum sie unbedingt dorthin fliegen wollen oder sogar müssen, falls ihnen jene Spiele Welt nicht zusagt.

„Zur Hölle!“, tobt Kaspars Seele. „Es stinkt schon wieder penetrant nach faulen Eiern und allem, was mir nicht gefällt“, echauffiert sich seine intelligente Wenigkeit. „Bist du überhaupt noch hinter mir oder gibt deine Seele schon auf?“ Dreht sich währenddessen kurz um. „Was treibst du da überhaupt?“ Kaspar glaubt zu halluzinieren, denn hunderte von Sprayflaschen sondern einen Sprühnebel ab, der ihm die Sicht auf seinen Freund Jens nimmt. Zudem riecht es jetzt nach Moosen, Farnen, Tannen und anderen Nadelbäumen, die den abartigen Kohlengestank der langsam in Sicht kommenden schwarzen Paradies Welt völlig überlagern. Dummerweise verdichten sich jene feinen Nebel Tröpfchen immer mehr, bis sich schlussendlich eine undurchdringliche graugrüne Wand vom Feinsten formiert. Kaspar und Jens sind nun voneinander abgenabelt. Müssen ihre Fantasien ankurbeln, damit dieses Dilemma ein Ende findet. Denn nur gemeinsam können die beiden Jungs das dreckige Mist Vieh besiegen. Wieder mal ein fantastischer, ausgeklügelter Schachzug der Geisterlok, um die Seelenrangen von ihrem Vorhaben abzuhalten? Vielleicht sogar der Letzte?

Jens ist sich sicher, dass sein Seelenfreund auf der anderen Seite dieser dicken Nebelwand bereits die Fantasien in Bewegung bringt. Er vertraut ihm bis aufs Blut - so wie es bei Blutsfreunden eben völlig normal ist. Wartet demzufolge auf eine Aktion seinerseits, damit jene dicke aufgedunsene Wand verschwindet.

Kaspar ist derweil nicht untätig. Fantasiert zwei riesige Haartrockner, auch Föne genannt, die an monströse Schnecken erinnern. Diese selbsterfundenen Geräte bauen sich auch übergangslos auf. Kaspar dreht den Hitzeregler auf die höchste Stufe, und richtet die Gebläse auf jene Wand. Ist ja immerhin mit zwei Seelenärmchen durchaus umsetzbar. Fast wären die Heizspiralen durchgebrannt - jedoch sind diese Föne etwas Besonderes, da sie der Fantasie entspringen. Bieten mehr Leistung und setzen viele Heißluftenergien frei. Nur sehr langsam, fast wie in Zeitlupe, beginnt sich die Sprühnebelwand Stück für Stück aufzulösen. Wird erst zu Minitröpfchen, die hernach den Zustand einer Flüssigkeit annehmen, die gen Gummiboden rauscht. Fließt rückwärts den dunklen Tunnel entlang, da es die Schwerkraft offensichtlich so will. Erhellt mit ihrer graugrünen Farbe für einen kurzen Moment jenen Schlauch und verschwindet auf nimmer Wiedersehen. Erneut Dunkelheit, in der man sich eigentlich nicht zurechtfindet. Aber die beiden Seelen sind wieder vereint, greifen sich an den Händen und verhaken sie erneut. Auf geht es zum Endspurt.

 

 

Kapitel 11

 

Kaspars und Jens´ Seelenkörper sind beschwingter als je zuvor, denn sie spüren den Hauch eines Luftzuges. (Bitte lasst euch von mir diesmal nicht wieder mit dem doppeldeutigen Wort “Luftzug“ in die Irre führen, denn es heißt wirklich so. Da der Geisterzug offensichtlich über nichtvorhandene Schienen zu schweben scheint, benennt man jene Doppeldeutigkeit auch eine Metapher.) Streben diesem entgegen, obwohl immer noch diese arge Finsternis vorherrscht. Sie verlassen sich eben auf ein instinktives Gefühl, dem man durchaus trauen kann, da es aus dem eigenen Inneren stammt. Wer kein Vertrauen in sich selbst aufbauen kann, ist eigentlich ein armer “Teufel“, möchte ich meinen. „Kaspar“, beginnt Jens die Unterhaltung - rotiert, diesmal etwas weniger heftig mit dem Zeh. „Wir sollten jetzt wirklich einen Zahn zulegen, meinst du nicht?“ Kaspar antwortet erst gar nicht, da er genau dieses vor hat. Breitet die Seelenflügel aus und zieht Jens mit aller Macht hinter sich her. „Seelenbrüderchen“, schaltet sich Kaspar ein. Schnippt wieder unablässig mit den Fingern durch die dunkle Gegend, fuchtelt wie ein Irrer damit herum. Wedelt als gäbe es kein Morgen mehr. „Sehe etwas, das du nicht siehst“, lacht sich dabei in sein einziges Seelenfäustchen, da er mit dem Anderen verknüpft ist.

„Langsam scheinen wir in die dunkelgrauen Gefilde zu kommen, denn es wird zunehmend heller. Woooooow! Hellgrau und jetzt …“, Kaspar hört auf zu labern. Ihm stockt der Atem, da er eventuell einer Sinnestäuschung auferlegen ist. Muss kurz die Seelenaugen schließen und irritiert wegschauen. Öffnet sie, und lässt einen Redeschwall ab, der nicht von schlechten Eltern ist. „Es wird Aschgrau - nein, Eierschalenweiß. Oh je, Perlmuttweiß, geradezu astreines Weiß. Ach, was sage ich da, die ganze Schwarz Weiß Palette rauf und runter. Steingrau ist auch noch im Angebot. Himmel Herr Gott, Jens, das muss man gesehen haben. Ich glaube, mich beißt ein …“. Weiter kommt er nicht, da Kaspar von einem Lachflash geprügelt als auch überrumpelt wird, der kaum noch zu stoppen geht.

„Jetzt höre schon auf, du Fantast!“, ereifert sich Jens. Ist nicht sonderlich erbaut von Kaspars Aussagen und völlig abwegigen Visionen. „Ich muss dir vertrauen, da unsereiner ja doch nichts erkennen kann. Bist doch nicht durchsichtig, oder?“ Kaspar wird immer noch von heftigen Lachkrämpfen geschüttelt, während Jens sich hiervon letztendlich mitreißen lässt.

Mit Humor rauschen die zwei Seelen unaufhaltsam dem Ausgang des Tunnels entgegen. Hinein in das Reich des “Schwarzen Königs“, der sie schon sehnlichst erwartet. Geifert nach ihren Seelen, die noch immer nicht wissen können, was sie hier wirklich erwartet. Schmaucht indessen ein deftiges Pfeifchen, mit reichlich Kohle gestopft. Passenderweise füllt sich auch Vater Johann in der realen Welt sein Kirschbaumholzpfeifchen mit wohlriechendem Tabak und entzündet ihn. Qualm- als auch Dampfwolken kräuseln aus beider Köcher empor. Ist nun Johann der Geisterzug oder nicht? Hat er das Fantasieruder in der Hand und “pullt“ heftig, damit das Ziel schnell erreicht sein wird? Bald werdet ihr es erfahren - sehr bald.

Lachenderweise sausen die zwei Seelenbuben dem heißersehnten Reich entgegen. Hinaus aus dem widerwärtigen dunklen Tunnel - hinein ins etwas abartige Spiele Paradies, wo es nur stinkende, rauchende und kegelförmige Schornsteine gibt, die ihren lästigen Qualm herausblasen. Eine dicke, schwarze Dreckschicht bedeckt den Boden, so dass man hier nicht laufen, sondern zwangsläufig nur fliegen kann. Denn könnte man derart Bewegungsaktionen umsetzen, wären auch Fußspuren der dort schon bereits vereinnahmten Kinderseelen deutlich zu erkennen. Wieder mal ein ausgeklügelter, vorausschauender Gedanke dieser fiesen Dampflok? Aber sicher doch, denn wer als Sieger aus jenem Spiel hervorgehen will, muss schon recht fantasievoll sein. Kaspar und Jens mangelt es keinesfalls daran, und somit ist immer noch ein Funken Hoffnung am Ende dieser Geschichte. In absehbarer Zeit begeht “Der schwarze Teufel“ Gott sei Dank einen gravierenden Fantasiefehler, der nicht mehr korrigierbar ist. Genau diesen wissen die beiden Seelenrangen auch für sich zu nutzen.

„Puhhhhhh, das stinkt ja schon wieder nach faulen Eiern!“, brüskiert sich Kaspar. Ekelt sich dermaßen vor diesem widerlichen Gestank, dass ihm speiübel wird. Verzieht sein Seelengesicht zu einer tollkühnen Grimasse, die eigentlich einen erneuten Lachschwall erzeugen müsste. Leider haben sich die zwei Rangen dermaßen ausgelacht, dass hierfür keine Reserven mehr zur Verfügung stehen. „Mann, ich könnte kot…“, jammert Kaspar und ist kurz davor, dem Kotz-Drang nachzugeben. Würgt und schluckt immer abwechselnd. “Kaspar, reiß dich endlich zusammen, du tollkühner Kerl“, fordert ihn sein Gehirn in aller Seelenruhe auf. Genau dieser Befehl scheint zu funktionieren, denn Kaspar wirkt zusehends entspannter. „Kaspar“, schaltet sich Jens ein, während sein Seelenzeh erneut ins Rotieren kommt. „Glaubst du, dass man in diesem dunstigen, vernebelten und bestialisch stinkenden Reich überhaupt auf Kinder trifft? Ich meine, auch das Spielen dürfte hier aussichtslos sein, oder? Vielleicht haben wir in diesem komischen Tunnel nur den Abzweig verpasst, um in die richtige Spiele Welt zu flattern? Komm, wir fliegen noch einmal kurz zurück“, fleht Jens seinen Seelenfreund an. Bettelt in einer Weise herum, dass Kaspar wutentbrannt den Flug stoppt und sich ihm zuwendet. „Nie und nimmer, Jens. Nicht noch einmal diese komischen Mutproben, die hängen mir nämlich so langsam zum Hals heraus. Wer weiß, vielleicht ändert sich das Klima noch, und wir können doch noch Spaß ohne Ende haben? Alles ist möglich, du Pessimist.“ „Wenn du meinst, Kaspar, vertraue dir.“ Mit reichlich bedröppeltem Gesicht, wird sich Jens auch weiterhin Kaspars Fantasien unterwerfen müssen, da sein Hirn hiervon fast wie leergefegt ist.

Kaspar setzt den Tiefflug weiter fort, denn seine Seelenwenigkeit möchte unbedingt erkunden, wo es hingeht. Ein Optimist wie er, gibt nicht gleich auf - nur weil die Situation ausweglos scheint. Nein, jene stachelt ihn regelrecht an, lässt darum seine kindliche Seele zum unumstößlichen Kämpfer mutieren. Das irgendwie unverständliche, fiese Schwarz Weiß Spiel will offenbar kein Ende nehmen. Erneut wechseln schier makabere, trügerische Nuancen jener Farbpalette - lassen keinen Schluss auf irgendein Spiele Paradies zu. „Na ja, Jens“, meldet sich Kaspars Seelenstimmchen etwas zaghaft zu Wort. „Vielleicht hast du recht, und wir sollten ´ne Kehrtwende machen. Aber unsere Talismane müssen wir trotzdem suchen und finden - das sollte dir klar sein, oder?“ Jens nickt nur zustimmend, denn wie ihr ja schon wisst, vertraut er seinem Seelenpartner. Während ihrer Unterhaltung bewegen zwei Freunde die Extremitäten so heftig, damit sie auch wissen, dass es nur ein Gespräch unter ihnen ist. Keiner, der sich hier aufschalten und ihre Stimmen vortäuschen will. Kaspar schnippt unablässig mit den Fingern, während Jens seinen wunden, dicken Zeh …, na ihr wisst schon. Jetzt schnippe ich mal mit meinen Fingern, und ihr ergänzt den Satz.

Im schier unpassendsten Moment, den man nicht wirklich benötigt, wird dem rasanten Fliegen ein Ende gesetzt - rigoros von einer schwarzen Wand gestoppt. Auf ihrer Oberfläche erscheinen erneut jene verzerrten Kindergesichter, die um Erlösung winseln. Aus deren weitgeöffneten Mündern schallt ein unaufhörliches, jämmerliches Klagen und Betteln, das man einfach nicht überhören kann. „Holt uns hier heraus. Wir wollen frei sein. Der Geisterzug hält …!“ Von einer Sekunde auf die Andere verstummt das Gejaule - beklemmende Stille kehrt ein. „Kaspar, hier geht es nicht mit rechten Dingen zu. Wir sollten schleunigst unsere Talismane suchen und zurück in die reale Welt kehren“. Kaspar ignoriert den Befehl seines Seelenkumpels - will mit aller Macht seiner Fantasien diese Wand durchdringen. Plötzlich, wie von magischen Kräften erzeugt, entsteht ein kleines Loch in der tiefschwarzen Mauer, das immer größer wird. Schlussendlich dieses gruselige, Einhalt gebieterische Gebilde nicht mehr vorhanden ist. Die Sicht auf jene dunkle Welt der schwarzen, paffenden, kegelförmigen Schornsteine freigibt. Es stinkt intensiv und himmelerbärmlich, wie in des Teufels Höllenküche nach Schwefel. Selbst verfaulte Eier geben diesen Gestank keinesfalls her.

Beide Seelenknaben müssen sich die Seelennasenlöcher zuhalten, um nicht daran zu ersticken. Atmen darum über den Mund ein und aus. „Jens“, beginnt Kaspar auf humorvolle Weise zu labern. „Vielleicht befinden wir uns doch in einem Spiele Paradies? Zwar nicht einem Rosaroten, sondern Pechschwarzen, wo Räuchermännchen wie behämmert ackern? Spielen kann man hier mit …“. Kaspar kratzt sich am Seelenkopf, auf dem logischerweise keine Haare wachsen - schaut dumm wie Bodenstroh drein. „Kohle, Räucherstäbchen, Räucherkegel. Eben alles, was mit Räucherwaren zu tun hat, Kaspar. Leckereien wie Süßigkeiten Kram, finden wir zwar nicht, dafür aber Räucherwurst, Räucherkäse und geräucherten Schinken“, ergänzt Jens, Kaspars unvollendeten Satz. Grinst breit über alle Seelenwangen wie ein Honigkuchenpferd. Beide Seelenracker haben in diesem Moment nichts Besseres zu tun, als ein fröhliches Liedchen über das Räuchern schlechhin zu trällern, was sich natürlich entspannend auf deren Befinden auswirkt. Bereit, um den Rest der abartigen anmutenden Fantasiereise anzugehen. Immerhin gibt es hier nicht wirklich etwas, womit man auch nur ansatzweise Spaß haben könnte. Keine Kinder, null Bücher als auch irrwitzige versprochene Geschenke, die auf Enthüllung warten.

Mit einer gewissen Vorsicht, fliegen zwei Seelen weiter. Dringen tiefer in das Reich des “Schwarzen Königs“ ein, der sie schon sehnlichst erwartet. Immerhin wähnt sich jener Teufelszug bereits jetzt schon siegessicher, worum er keine weiteren Fantasieanstrengungen mehr unternimmt. Denn was soll schon geschehen, wenn bisher alles zu seiner vollsten Zufriedenhit gelaufen ist. Der Rest erledigt sich von alleine, oder nicht? Wer weiß, wer weiß, ob diese Denkweise nicht ein fataler Irrtum des Dampfrosses gewesen ist. Tückische Dunkelheit wechselt in ein monotones Grau, das die kegelförmigen Schornsteine schemenhaft erkennen lässt. Kaspar zählt sie durch, kommt auf die Anzahl von ungefähr 100 pausenlos qualmender, scheinbar aus Steinkohle erbauter Türme. Einen mehr oder weniger, dürfte kaum eine übergeordnete Rolle spielen, denn dadurch würde die Situation keinesfalls besser.

Jens hält sich etwas zurück - lässt lieber seinen Seelenfreund agieren. Irgendwie hat er alles besser im Griff. Ist eher in der Lage, den Moment überschauen zu können. „Mich beschleicht das mulmige Gefühl, als würden wir beobachtet werden, Kaspar“, wispert Jens hinter vorgehaltener Seelenhand und fühlt sich merklich unwohler. Beginnt schon im Vorfeld mit dem heftigen Rotieren seines Zehs, so dass man ihn überhaupt nicht mehr erkennen kann. Kaspar schnippt passenderweise hierzu mit den Fingern herum, damit die beiden Jungs ungestört ein internes Gespräch führen können. Albern ist und bleibt albern, aber das macht durchaus einen Sinn. Nun ja, ihr wisst schon worum es geht, oder?

Als würde Jens Recht behalten, erscheint wieder dieses böse dreinblickende Augenpaar, um dessen Iris blutrote Flämmchen züngeln. Betrachtet eine Zeit lang intensiv das junge Seelenteam, obwohl jenes Zeitmaß nicht wirklich existiert. Beginnt mit blecherner, zischelnder Fistelstimme zu labern. „Willkommen in meinem Spiele- Paradies, ihr zwei Möchtegernabenteurer. Hier kann man Spaß haben, mit Kindern spielen, und es ist unglaublich - sogar Bücher lesen. So viele ihr wollt. Habt doch schon Bekanntschaft mit meinen Kinderseelen gemacht. Sie brauchen eure Gesellschaft.“ Des schwarzen Dampfrosses Zischeln wechselt in aberwitziges Glucksen. Will etwas damit vortäuschen, um die beiden Seelen ansatzweise zu irritieren. Ein letzter Versuch? Kaspar und Jens fühlen sich angewidert und gleichermaßen angezogen als auch vereinnahmt, von der Seelenanwesenheit des düsteren Ungetüms. Kaum noch fähig, irgendeinen logischen Gedanken zu hegen. So als hätte der “Schwarze Dampfmagier“ ihre Seelen hypnotisiert. Wen wundert es, dass Kaspars Finger und Jens‘ Zeh dem Kollabieren nahezu preisgegeben sind, denn deren Bewegungen sind durch das unablässige Rotieren nicht mehr auszumachen.

„Verdammter Mist!“, haut Kaspar mit unüberhörbarer Stimmenkapazität heraus. „Ich glaube diesem Monster kein einziges Wort, Jens. Wir suchen unsere Talismane, und dann flattern wir einfach in die Realität zurück - egal wie, verstehst du?“ Jens‘ leichenblasses Seelengesicht lässt nur einen Schluss zu. Nämlich, dass er total einwilligt.

Erneut vergeht etwas von dieser nichtvorhandenen Zeit, der hier absolut keine Bedeutung beigemessen wird. Widererwarten schnellt jene knochige Hand aus dem gräulich eingefärbten Paradies hervor. Hält ein sonderbares, fast schwarzes Paket, vor die Seelenaugen der feisten Abenteurerrangen. „Packt es aus, macht schon!“, ergeht die Aufforderung. „Das versprochene Geschenk von mir. Ihr habt es euch ehrlich verdient.“ Urplötzlich verschwindet des Geisterzugs Seelenbild, zieht sich in den höchsten Kohlenturm zurück. Das ominöse Paket saust währenddessen gezielt gen Boden. Liegt dort einfach herum, will ausgepackt werden. „Weißt du was, Jens?“, fragt Kaspar seinen Seelenbusenfreund. Erwartet jedoch nicht wirklich eine Antwort. „Du schaust nach, was sich darin befindet, während ich etwas überlege. Kann ja eigentlich nichts Böses passieren, oder?“ Jens neigt seinen Seelenkörper über besagtes Paket, denn das unerschütterliche Vertrauen in Kaspar hält immer noch an. Reißt nervös den Deckel herunter - blickt mit weit geöffneten Seelenaugen auf den makabren Inhalt.

„Was ist, Jens? Nun sage schon!“ „Junge, ich sehe etwas, das du nicht siehst.“ Jens muss lachen, möchte aber gleichzeitig weinen. Kohlen auf einem gutgepolsterten Ruß Bett, geben ein Bild der besonderen Verarsche ab. „Hätte mir klar sein müssen, dass uns hier keine Bücher entgegen purzeln, Kaspar“, räuspert sich geräuschvoll. „Bin gespannt, was noch kommt“. „Hm“, bemerkt Kaspar nachdenklich. „Erinnerst du dich noch an die weinenden und bittenden Kindergesichter auf dieser Wand? Ich meine, wenn das Fröhlichkeit in Reinkultur sein soll, sind wir hier verkehrt. Furchtbar, wenn Kinder jämmerlich heulen, denn sie sollten lächelnde Gesichter zeigen. Aber vielleicht wollen ihre Seelen uns etwas mitteilen, Jens? Ich sage dir was. Der verdammte Zug hält sie gefangen, so simpel ist das.“ „Stimme dir zu, Kaspar. Ist ja erst vor wenigen Minuten geschehen. Ein Bild, das man niemals vergisst, sich nicht aus dem Gehirn drängen lässt. An Grausamkeit kaum zu überbieten geht …“. „Ich hab‘s, Jens.“ Schlägt sich dabei, Kraft seiner übersprudelnden Fantasie, vor die Seelenstirn und unterbricht Jens‘ Redeschwall. „Erkennst du den großen Turm? Der hebt sich nämlich von den restlichen Schornsteinen total ab.“ Deutet mit seinem Seelenfinger in die Richtung, da er wieder langsamer schnippt. Dadurch bedingt etwas deutlicher zu erkennen ist.

Währenddessen hockt des Geisterzugs böse Seele wirklich in jenem monströsen Kohlenturm, aus dem widerwärtiger Qualm steigt und intensiv das Areal verpestet. Wähnt sich am sicheren Ziel seines einzigen Wunsches, neue Kinderseelen bald im “Schwarzen Reich“ Willkommen zu heißen, dem sie niemals mehr entfliehen können. Denn es soll beständig wachsen, wobei ihm die unbelasteten Seelen einfach nur als Spiele Futter für sein trügerisches Paradies dienen. Aber ohne ihre Talismane, über die er akribisch wacht, ist ihnen eine Flucht vorerst nicht möglich. Einzig und alleine jene zündende Idee seitens Kaspars, bringt die Erlösung. Auch für die bereits vereinnahmten Kinderseelen, die auf Kaspar und Jens hoffen. Denn nur jene Hoffnung erweckt neues, befreites Weiterleben und ist ein Garant für das Leben schlechthin.

Das schwarze Monster klopft die Asche der verbrannten Kohle aus dem Köcher. Füllt ihn erneut mit dem “Schwarzen Gold“ seines widerlichen Reiches - entzündet es mit den blutroten Flämmchen. Riesige, kaum zu übersehene Qualmwolken, verlassen den größten aller Schornsteine und steigen gen Himmel, der hier nicht wirklich existiert. Reibt sich dabei diebisch seine langen, knochigen Finger. In Erwartung der Seelen von Kaspar und Jens. Hätte er doch besser das Qualmen sein lassen, denn jener unerträglicher Rauch weist genau auf den Stammsitz des Geisterzugs Seele hin. Fatal für ihn, aber gewiss gut für die zwei Seelenabenteurer. „Kaspar!“, schreit Jens vor lauter Freude und Übermut. „Ich sehe etwas, das du nicht siehst. Kannst du es auch erblicken?“ Kaspar reißt seine Seelenaugen bis zum Anschlag auf. Kann nicht glauben, dass die Reise doch einen Sinn macht. „Jens, das ist es, mein Freund. Unsere Talismane und auch die der anderen Kinderseelen, werden dort von diesem qualmenden Dampfross bewacht. Kann nur so sein, wenn ich logisch denke.“ „Wir beide sollten jetzt alle energetischen Fantasien einsetzen, damit der Spuk endlich ein Ende hat, Kaspar. Also ich bin bereit, du auch?“

Zwei Freunde, die enger miteinander nicht verbunden sein können, stehen momentan zwar mächtig unter Fantasiedruck. Jedoch für diesen letzten aufbäumenden, erlösenden Moment, wirkt er nicht ganz so belastend auf ihre zarten Seelchen. „Lasse mich nur machen, Jens. Du klinkst dich einfach in meine Gedanken ein, dann funktioniert das auch“. Jens und Kaspar schließen ihre Seelenaugen, während Kaspar ein plätscherndes Geräusch von sich gibt, das zu einem ohrenbetäubenden Rauschen anschwillt. Jens gesellt sich hinzu, und das seltsame Blubbern steigert sich dementsprechend zu einem tosenden Wasserfall, der einen steilen Berg hinunter rauscht. Riesige nicht zu bändigende Wassermassen donnern gleichsam unkontrolliert über das Reich des bösen Monsters. So als hätten sich Schleusentore widererwarten geöffnet, fluten sie es in wenigen Minuten, obwohl auch diesmal jene Zeitangabe keine wirkliche Rolle spielt. Verschlingen eine schwarze Fantasiewelt und löschen sie im wahrsten Sinne des Wortes aus. Das, was vorher widerlich stinkend, qualmend und verrußt dahergekommen ist, muss sich einer neuen Macht beugen. Nämlich die des Elements Wasser. Geisterhafte Stille über der totalen Vernichtung des “Schwarzen Reiches“. Kein Schreien, Jammern und Wehklagen oder gar der verzweifelte Ruf nach Erlösung. Ist das jetzt ein Neubeginn, den einzig und alleine nur fröhliche Kinderseelen mit positiven Fantasien fortsetzen können? Eben solange als auch so oft ihnen danach ist?

„Jens“, beginnt Kaspar das erlösende Gespräch. „Wir haben es geschafft. Fühlt sich irre gut an, mein Freund. Was meinst du?“ In diesem Moment hört auch das pausenlose Schnippen von Kaspars Fingern auf. Jens rotiert nicht mehr mit seinem wundgewordenen Zeh. Wozu auch, denn ab jetzt können sich die beiden Seelenfreunde wieder normal und in voller Lautstärke unterhalten. Niemand, der sie hierbei beeinflussen könnte. Jens ist vor lauter Freude die Spucke weggeblieben. Bekommt kein einziges Wort heraus. Nickt nur kurz als Bestätigung seiner Gefühle. Er hat zwar eine eigene Meinung, vertraut nichtsdestotrotz weiterhin seinem Seelenfreund Kaspar. Das ist auch gut so. „Kaspar, eine Sache hast du nicht beachtet“, gibt Jens zu bedenken. „Was ist jetzt mit unseren Talismanen und denen der anderen Kinder? Schaut Kaspar dabei fragend ins entspannte Seelengesicht. „Jens, jetzt denke einfach mal logisch nach. Wo sollten sie wohl sein, wenn das “Schwarze Reich“ vernichtet ist, hä?“ „Weggespült, unter Wassermassen begraben, dem Nass preisgegeben …“, würgt Jens als Antwort mit erstickter Seelenstimme hervor. Möchte weitere Optionen kundtun, die ihm nur so aus seinem Seelenmund sprudeln, aber aufgrund eines Heulkrampfes nicht mehr zu Potte kommen. Flennt unaufhörlich, da für ihn der Verlust jener Ohrringe nicht korrigierbar ist. Eben ein Geschenk seiner verstorbenen Mutter, die Jens bis heute nicht vergessen kann.

„Natürlich sind alle Talismane vom Wasser unauffindbar verschlungen worden. Wir benötigen sie einfach nicht mehr. Kaufen uns einfach vom angesparten Taschengeld neuen Schmuck. Tod dem feurigen, schwarzen Ungeheuer, Jens. Sieg für alle dort einst gefangengehaltenen Kinderseelen. Wir sind jetzt frei - seelisch und körperlich. Das ist es doch, was zählt oder etwa nicht?“ Jens hat sich daraufhin etwas beruhigt. Letzte durchsichtige Kullertränchen rollen langsam sein Seelengesicht hinunter und benetzen den jetzt … Nein, der rußbedeckte Boden ist verschwunden, dem klaren Wasser gewichen, das alles bedeckt. Darum fallen jene glasklaren Tropfen ins köstliche Nass. Erzeugen kleine Kreise, die sich schier endlos ausbreiten, bis sie letztendlich ihre Aktion einstellen.

Aus der Ferne vernehmen Kaspars und Jens´ Seelen das befreite Lachen herumtollender Kinderseelen. Akkordeon- als auch ohrenbetäubende Orgelmusik, zu der irgendein Erwachsener das passende Liedchen falsch trällert. Das Rauschen und Pfeifen einer Achterbahn, die über nichtvorhandene Gleise donnert, unterbricht zwischendurch sein Gejaule. Die Jahrmarktsmenge jubelt mittendrin und klatscht tosenden Beifall, der einem Jongleur gilt. Köstlicher Duft von Lebkuchen, gebrannten Mandeln, kandierten Äpfeln und frisch gekochtem Kakao, wabert über das immerwährende Wasserreich, das in bunten Farben des Regenbogens schimmert. Alles widerspiegelt, was Kinder sich wünschen.

Kaspar und Jens sehen und empfinden es mit Wohlwollen, denn ihre Seelen sind endlich ausgeglichen. Ein wenig Zauber und Magie wirken wie ein Jungbrunnen, dem sich wohl niemand entziehen kann, oder? Eben wie der Seelentröster schlechthin.

Nur für einen kurzen Moment erscheinen jene lachenden Kindergesichter vor den Augen der Seelenrangen. Bedanken sich auf ihre eigene Weise. “Danke“, wollen sie hiermit ausdrücken, denn hierfür bedarf es keiner Worte. Oft ist ein liebgemeinter Blick oder Ausdruck der Mimik mehr, als auch noch so viele Worte sagen können. Winkend fliegen die Kindergesichter dorthin, wo sie es für immer gut haben werden. Nämlich zu ihren Familien, die sie schon sehnlichst wartend in die Arme schließen. Nicht nur für den Augenblick, sondern ein Leben lang.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

***

 

Inzwischen neigt sich der Tag langsam gen Abend zu. Die vier Kinder sitzen wieder gemeinsam nebeneinander und völlig entspannt auf den Sitzkissen. Vater Johann klappt indessen das Buch geräuschvoll zu, auf dem der Titel “Geisterzug“ deutlich erkennbar ist. Auch das einst schwarze Ungetüm selbst, macht hiervon keine Ausnahme, denn es wird sich für immer niemals mehr verändern und schemenhaft daherkommen. Die Fantasien und Seelen von Kindern in das Reich der schwarzen, rauchenden Schornsteine entführen, da jener Geisterzug weder in der Realität, noch in der surrealen Welt über die nicht vorhandenen Gleise donnert. Eben seine Existenz nur auf der Vorderseite von Johanns neuem Werk in Erscheinung tritt. So fühlt es sich einfach gut an. Es sei denn, ihr wollt dieses dunkle Monstrum mit euren Fantasien erneut zum Leben erwecken, um einfach nur in ein anderes Reich abtauchen zu können. Vergesst jedoch nicht, vorher gänzlichen Schmuck abzulegen, denn er könnte dem Höllenzug als Talisman dienen. Ach ja, Geschenke zum Auspacken gibt es in diesem sogenannten Spiele Paradies nicht wirklich, denn sie entstammen nur meiner teuflischen Fantasie.

Vater Johann blickt zufrieden mit sich selbst, über den Rand der heruntergezogenen Lesebrille, und genießt das Leuchten in den Augen seiner geliebten, treuen Leserschaft. Im Köcher des Pfeifchens befindet sich nur noch die Asche des aufgerauchten Tabaks. Keine Qualm Wölkchen, daher auch nirgends ein Zug in Sicht. Allerdings bestünde weiterhin die Gefahr, dass er sich ein frisches Pfeifchen mit dem wohlriechenden Tabak stopft und im Köcher anzündet. Wenn dem so wäre, seid ihr herzlich eingeladen, auch ohne Bahnticket mitzufahren. Natürlich nur mit euren überspannten Fantasien, denen man immer frönen sollte. Macht einfach das Beste daraus, um auch wirklich ins richtige rosarote Spiele- Paradies zu gelangen. Nehmt keine Umwege in Kauf, da ihr sonst wo landen könntet. Versprochene Geschenke gibt es zudem nur in der Familie, die euch bestimmt hiermit nicht in die Irre führen will.

Der kühle Abendwind hat sich zu einem langsam einsetzenden Sturm entwickelt. Lässt die blätterlosen Äste des Baums vor Johanns Bürofenster gegen die Scheiben knallen. Hierzu gesellt sich geisterhaftes Pfeifen von heftigen Böen, die sich durch jene alte, fast lackfreie Fensterholzeinrahmung quälen. Der letzte Aufschrei des Geisterzuges dringt an die Ohren von vier Kindern, die es mit Wohlwollen aufnehmen, denn er stirbt einen jämmerlichen Tod, der ihm gebührt. Das Böse ist besiegt - wird niemals mehr zurückkommen. Vier Augenpaare schauen auf das tosende Treiben vor Johanns Fenster und wirken zufrieden mit sich selbst - währenddessen am dunklen Himmel silberne Sterne prangen und mit den Augen der Kinder um die Wette strahlen. Greifen mit ihren viel zu kurzen Kinderärmchen danach - wollen diese erhaschen und sich verzaubern lassen. Ist das die Ruhe vor dem nächsten einsetzenden Sturm, der sie mit seinen Turbulenzen in das böse Reich treiben will? Sekundenschnell endet das stürmische Szenario und beschert die Normalität.

Zwar ist Johann entsetzlich müde, aber irgendwie trotzdem maßlos zu neuen Taten bereit. Vielleicht Morgen, Übermorgen oder auch etwas später? Nur noch schnell ein Pfeifchen gestopft, den Tabak im Köcher angezündet, und der Gruselzug lässt keinesfalls lange auf sich warten. Eine zweite Kerze steht schon bereit, damit der Docht und die Fantasien erneut angefacht werden können. Eben ein weiteres Spiel, das auch erneutes Glück verheißen kann, wenn man es richtig angeht. Denn einige, wenn auch wenige Plätze, sind im Zugabteil wieder frei. Nur für Euch! Jedenfalls hat mir das der Geisterzug mit grinsender Grimasse versprochen. Er wartet!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ausführliche Vita

der Autorin

Marlies Hanelt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es war einmal im Jahr 1953 in der wunderschönen Stadt Berlin – und zwar am 4. Dezember, so um die Mittagszeit. Das Ungewöhnliche warf seine dominanten Schatten voraus. Schuf daher die Voraussetzung für ihr sehr viel späteres Autorendasein. Marlies, die damals noch den elterlichen Geburtsnamen Gülle trug, wurde einfach so in die schnöde Welt katapultiert, ohne dass man sie danach fragte, ob es ihr genehm war. Unglaublich, aber wahr! Eigentlich hätte man den Urknall auf der Geburtsstation des damaligen Krankenhauses Westend Pulsstraße hören müssen. Jedoch stellte sich zu jener Zeit, genau an diesem Tag, für viele Geburten-Neuzugänge dasselbe Geräusch auch so dar, worum man ihren Startschuss nicht wirklich wahrnahm; ihn von allen anderen deutlich unterscheiden konnte. Massenurknall?

 

Die nachfolgende Kindheit als auch Jugend verlief in geordneten Verhältnissen, was zu damaliger Zeit, jene sich für alle Menschen mit großem Verzicht darstellte, somit überwiegend Gang und Gäbe war.

Sobald sie auch nur ansatzweise lesen konnte, vergrub sich Marlies in Bücher, die sich überwiegend mit der griechischen Mythologie beschäftigten. Zum Beispiel ›Ilias und Odyssee – die Irrfahrten des Odysseus‹. Was gab es zudem Besseres, als auch mal selbst ein kleines Büchlein auf der väterlichen Schreibmaschine zu tippen, in hellblaues Leinen über Pappe geklebt, einzubinden und die Seiten mit Zwirnsfaden zu befestigen. Es entstand ein Unikat, das es nirgends auf der Welt gab, gibt und geben wird. Ihr favorisiertes Genre, Horror – natürlich.

Die unsäglichen Jahrzehnte flossen wie Wasser eines Flusses fast sinnlos dahin. Bis …

Tja, bis sie sich endlich entschied, das schreibende Ruder selbst in die Hände nahm.

Zu Beginn gestaltete sich das Schreiben ziemlich schwierig. Demzufolge wirkten

Die Texte holprig und quasi tölpelhaft geschrieben, wie es bei einem Anfängerschreiberling oft üblich ist. Wortdopplungen als auch Logik und pennälerhafter Schreibstil, stachen hervor. Dennoch ließ sich die angehende Autorin keineswegs hiervon entmutigen, sondern baute und feilte so lange an diesen Makeln herum, bis sie final da angekommen war, wo sie heute ist. Eben eine lässig schreibende Autorin und Bloggerin, die sich in fast allen Genres tummelte und weiterhin tummeln wird. Ausgenommen Love-Stories, Western als auch Historie und Fantasy; da sie hier nur Müll tippen würde. Ihr Fokus lag und liegt immer noch - in den Genres Horror, Thriller, Science-Fiction, Persiflagen, Erotik und Kindergeschichten.

Die Horror-Autoren Stephen King, H.P. Lovecraft als auch Edward Lee und Graham Masterton, prägten die Autoren massiv. Es entstanden dadurch bedingt eigenwillige Geschichten, jene sie in ihren mannigfaltigen Manuskripten niederschrieb.

 

Die erste Publikation im Genre Horror/SF erfolgte 2015 über den Mondschein Corona Verlag Plochingen. Titel: Durch Zeitstrudel in andere Epochen; ausweglos.

Die Zweite im Genre Erotik mit Horrorelementen, über Redlight Publishing, ein Label des MVC. Titel: Der perfide schwarze Leuchtturmwärter.

Auch hier schrieb die Autorin in diversen Anthologien mit, die überwiegend für Kinder angedacht waren.

Weitere Kurzgeschichten in Anthologie-Mitschreib-Projekten beim Karina Verlag Vienna, folgten.

Da die Autorin Marlies Hanelt immer für Neues offen ist, brachte sie beim MoKo-Verlag, in Zusammenarbeit mit dem Inhaber Markus Kohler, dort ihre 1. Publikation auf die Online-Wege. Erscheinungsmonat Februar 2019. Erhältlich beim Verlag im Shop-Bereich.

Titel: Fantasievolles Farbenschauspiel. Kurzgeschichten, die sich der facettenreichen Farbvielfalt als auch den hieraus resultierenden menschlichen Empfindungen widmen.

Dem Inhaber Markus Kohler war es auch zu verdanken, dass sich die Autorin hernach an der 48-bändigen Anthologie-Horror-Sammelbandreihe -ANGST-, mit insgesamt 6 Bänden beteiligte.

 

Für die Autorin und Bloggerin wird das Schreiben eine Obsession bleiben, da sie beständig unter Strom steht; und das ist auch gut so.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zwei weitere Geschichten mit Grusel-Faktor, befinden sich noch im ›Rohbau. Demzufolge seid und bleibt gespannt. Wünsche Euch auch weiterhin ein wohliges Kribbeln auf der Haut.

 

Titel: Fluch des Labyrinths

Snippet zum Aufwärmen.

 

Kapitel 1

 

 

September - die Zeit, in der heftige Herbststürme ihr langsam steigerndes, bis auf den Zenit gipfelndes, zerstörerisches Spiel treiben. Bäume ihrer einst grünen Blätterpracht berauben, die ihnen der Sommer geschenkt hat. Fegt sie über den Bürgersteig, Fahrdamm als auch Gruften des Friedhofs von Broderingen, einem unscheinbaren Ort in Schleswig-Holstein. Hebt ihre jetzt kunterbunten, fast eingetrockneten toten Blattleiber erneut in die Lüfte, um diese wehrlosen Florageschöpfe herumzuwirbeln. Äste werden wie dünne Streichhölzer geknickt. Brechen von ihrem angestammten Platz - sausen knackend zu Boden - bedecken fast das gesamte Areal. Dies ist genau jene Jahreszeit, in der sich längst vergangene und vor Urzeiten ausgesprochene Flüche in menschlichen Gehirnen breit machen und neu geboren werden. Das heute marode, einst hochherrschaftliche Gemäuer des fast zum Palast erhobenen Hauses, mit dem wohlklingenden Namen ›Grey Flannel‹, wartet auf zarte Seelen von Kindern, die es schon seit Anbeginn seiner Existenz ausgesucht hat. Denn es benötigt energetischen Seelennachschub und will auch dann weiterleben, wenn der ›Graue Graf‹ längst nicht mehr existent ist. Dieser widerliche kauzige Graf soll vor ungefähr 50 Jahren auf merkwürdige Weise umgekommen sein, so erzählt man sich jedenfalls hier in Broderingen. Aufgeknüpft in seinem Kellergewölbe, wo heute die Nässe von den inzwischen glitschigen, bemoosten Steinwänden wie Rinnsale geräuschvoll gen schlammigen Boden pieseln. Quiekende Ratten rennen durch den Gewölbegang, auf der pausenlosen Suche nach Nahrung - während Spinnen versuchen, es sich in ihren dünnen, wehenden und dreckigen Netzen bequem zu machen. Hier stinkt es nach Tod und Verwesung. …

 

Snippet

Titel:

Die Rache des Pharaos

 

Alles besitzt einen Anfang

 

Sengende Hitze flutet jenes Tal der Könige, das sich zwei Kilometer von Luxor entfernt ausbreitet - lässt die Luft flirren, quält und unterjocht es bis heute. Extreme ausgetrocknete Wüstensandflächen wechseln sich hier mit unterschiedlichen, bis fast gen Himmel ragenden, langsam zerfallenen Steinhügeln ab, die immer noch Eindruck schinden wollen und darum königlich wirken. Darunter liegen tief vergrabene, ägyptische Schätze verborgen - decken diese mit einem geheimnisumwobenen, hellbraunen Leichentuch zu. So lange, bis sie ausgegraben, an die Oberfläche geholt und sich offenbaren werden. Für Menschen der undenkbarste Ort des langen Verweilens, denn kaum jemand kann diesem eigentlich verheißungsvollen Ort die Stirn bieten. Zudem befinden sich hier immer noch viele unentdeckte Gräber, in denen einbalsamierte Mumien der einstigen regierenden Pharaonen Ägyptens ruhen. Aus unterschiedlichen hierarchischen Dynastien, seit mehr als zweitausend Jahren in Würde als auch steinernen Sarkophagen ein immerwährendes Weiterleben führen. Denn es ist dem Sonnengott Ra geweiht. Umgeben von Grabbeigaben der angrenzenden Kammern, die jene Regenten auch im Reiche Anubis - des Schakal-köpfigen Gottes und Einbalsamierens, benötigen.

Bis heute, im Jahre 2017, ist das Grab des Pharaos Djoperteses Gott sei Dank noch nicht gefunden worden, da es von Sand- und mehreren Schuttschichten unsichtbar in der tiefen Wüstenerde schlummert. Die Seele des einst brachial herrschenden Königs der 18ten Dynastie wartet darauf, erweckt zu werden, um den damals begonnenen Rachefeldzug vollenden zu können. Der Tod ist nicht immer das Ende, sondern ein willkommener Neubeginn.

 

Das geheimnisvolle Artefakt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wenn ich mit diesem Buch Euren Lese-Nerv getroffen habe, könnt ihr Euch auf die nächsten zwei Geschichten freuen. Auf alle Fälle sind es erneut Örtlichkeiten, an denen man noch nicht einmal kurzfristig verweilen möchte. Spannung ist demzufolge garantiert.

 

Darum … willkommen in meinem Schreib-Reich der

unheimlichen Orte.

Impressum

Texte: Marlies Hanelt
Bildmaterialien: Ulrike Uhlmann (Mazander)
Cover: Torsten Azrael Perne
Lektorat: ohne Lektorat
Korrektorat: ohne Korrektorat
Übersetzung: keine Übersetzung
Satz: Marlies Hanelt
Tag der Veröffentlichung: 18.05.2022

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich bedanke mich bei Torsten Azrael Perne für das tolle Cover. Desweiteren auch bei Ulrike Uhlmann (Mazander) für die zwei sensationellen Zeichnungen im Buch.

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