ich habe eine nacht und einen tag verloren, einmal mond und einmal sonne, ebbe und flut finden in meinen augen statt, salzwasser fließt aus ihnen heraus, in meine mundwinkel hinein. es tropft von meinem kinn auf mein kleid, einen ganzes meer habe ich verloren doch ich habe mich an das verlieren gewöhnt. jeden tag such ich mein telefon, meinen geldbeutel und meinen schlüssel, jeden tag verliere ich alles, gewöhne mich an den verlust und finde dann sämtliche dinge wieder.
das lächeln, der geruch, alles – jeden tag will ich dich vergessen, doch dann finde ich dein liegengelassenes wieder; all die kleinigkeiten um deine person, eine sonnenbrille, ein hemd, eine cd, deine socken, n bisschen pep im kühlfach. ich weiß noch wie wir das zeug abgepackt haben, mit einer waage die ständig zu viel oder zu wenig angezeigt hat. am schlimmsten der beißende geruch. trotzdem habe ich es genossen neben dir zu sitzen, dich über dich reden zu lassen, ich wollte dich kennenlernen, mit dir sein. gelacht hast du während du die plomben gemacht hast und mir erklärt, junkies seien alle gleich: verstehste? erst machen sie dein scheiß schlecht und dann versuchen sie den preis zu drücken. ich verstand nicht. bis ich süchtig wurde – nach dir. bis wir den preis um uns nicht länger zahlen konnten.
ich will mich genauso verloren machen wie der sinn um deine person, ich werde tanzen um mich an uns zu erinnern und trinken um dich wieder zu vergessen. werde eine melodie finden in der ich mich verlaufen kann und bleib dann lichtjahreweit weg. versprochen. eine flasche hennessy in der hand, wird mich die stadt heut nacht finden? die strasse ist bereits da – und durchdringend, ihr puls ist fühlbar nah – und doch nirgends.
über mir blinkt eine neonreklame in pink: geöffnet! und ich schau zum türsteher, unentschlossen, war ich schon drin gewesen? oder wollt ich erst rein? er ist groß, ich muss mein kopf in den nacken legen um seine augen sehen zu können. ich weiß: ich kenn ihn, doch es sind zu viele drinks her. schließ die augen. riech seine lederjacke, sein aftershave, sein schlechtes gewissen. du kannst da nicht stehen bleiben, sagt er, du blockierst den eingang. entweder rein oder raus.
ich zieh mein kleid zurecht und lauf ein paar schritte weiter. nimm einen schluck henny. will sehen, was das für menschen sind, die rein oder raus gehen. sicher scheint nur, dass niemand bleibt. inzwischen hat sich vor dem club eine schlange gebildet und da stehen sie in reih und glied. rein oder raus. rein geht eine frau im arschkurzen kleid, ausgeladen wird ein junger mann, er blutet aus der nase. es scheint alles auf einmal zu passieren, als hätte man die zeit in scheiben geschnitten und sie übereinander gelegt.
auf einer bank bleib ich sitzen. überleg mir, wie ich die zeit zerbrechen und neu zusammenfügen könnte. wäre unsere vergangenheit begehbarer als es unsere zukunft gewesen ist?
ich kenne diese bank. irgendwann in den letzten tagen bin ich blind auf sie zugesteuert. eine frau saß dort, ihr haar war zerzaust. zu ihren füssen eine plastiktüte in der eine vodkaflasche zu sehen war. ist sie auch aus ihrem leben gegangen worden? rein oder raus.
ich kenn das mit den männern, lachte sie, erst sagen sie: hey baby, und dann klatschen sie dich. um dann wieder hey baby zu sagen. aber eins sag ich dir, sie war plötzlich näher gerückt, sie hören nie auf damit, nie.
ich schaute sie an, gib mir n schluck vodka. war doch klar dass man sie schlagen musste. allein dafür für wie häßlich sie war.
was wusste sie schon? bei uns war das anders. überhaupt war alles anders. ganz anders. du hast mich doch nur vor mir selbst gerettet. so war das. ganz genau. die erste ohrfeige hat nicht weh getan. die zweite und die dritte auch nicht und auf die vierte hatte ich mich bereits gefreut. immer noch trag ich meine wunden stolz zur schau. sieht alle her: ich bin von dir gezeichnet.
der polizist hatte behauptet, jemand habe gesehen wie du mich getreten hast. das kann nicht sein. er lügt, sie lügt, alle lügen, du würdest mir das nie antun. niemals.
mein schädel explodiert gleich in tausend teile. will sehen wie die scherben durch die luft fliegen, endlich zu dir, dich schneiden, du sollst so weh tun wie ich.
merk plötzlich wie mein po nass und kalt wird, dass die bank keine richtige bank ist sondern so n gitterding, dass die frau mit dem zerzaustem haar längst weg, dass die strasse winter geworden ist. trotzdem bleib ich sitzen.
laut einstein ist der blick in den himmel zugleich ein blick in die vergangenheit. keine ahnung wieso mir das jetzt in den sinn kommt, wenn ich hochschau sehe ich grosse graue gebäude. keinen himmel, keine sterne, keine begehbare vergangenheit. hochhäuser aus beton von deren dächern aus man warscheinlich nicht mal die wolken kratzen kann. nein. mit sicherheit. habs ja versucht. stand mal ganz oben, über den dächern meiner stadt und wollt nach den sterne greifen. bis es dann interessanter wurde was sich in den fenstern der anderen abspielte. ich tauschte sterne gegen stars aus, die nicht einmal wussten dass sie sich in meiner show in szene setzten. kamera eins: gib mir eine menschenmenge, kamera zwei: liebende, kamera drei: eine leiche.
du sagtest mal: wenn du dich in einem wald verläufst und angst kriegst, umarme einen baum. aber hier gibt es keinen wald, hier gibt es grünanlagen und bebaute flächen. für gedämpftes licht sorgen die strassenlampen über mir, für atmosphäre die schaufensterdeko um mich herum. immer wieder deine worte in meinen gedanken. rein oder raus.
durch eine fensterfront seh ich sie. ihre augen glänzen hinter einer schwarzen maske, von dunklen schmuckfedern geziert. die silberglänzenden seidenblätter und glasperlen an ihrem kleid flackern wie aufsteigende himmelslaternen.
wie gern würd ich sie anfassen, ihr über die wange streicheln, es kommen bessere tage, versprochen, du musst nur genug wollen. ihre hand in meine nehmen und wegrennen, uns für das asphaltlabyrinth unsichtbar machen. ich erhebe mich, strecke meinen arm nach ihr aus und fühl statt dessen das kalte glatte glas. langsam beuge ich mich vor bis ich das weiß in ihren augen sehe, bis meine lippen die scheibe berühren. kalt.
plötzlich eine warme hand auf meinem oberarm, eine harte stimme in meinem ohr, gefällt sie dir? ich schau auf die hand, sie ist groß. ich reiß mich los, fass mich nicht an, nicht mit mir.
weiter vorn seh ich ein ampelmast. erleichtert lauf ich ihm entgegen, schlinge meine arme um ihn und reib meine wange an ihm. es gibt hier also doch bäume. doch dann schaltet er von grün über gelb auf ein leuchtendes rot, die strasse ist herbst geworden, wo ist der frühling, wo war der sommer geblieben?
es ist wohl inzwischen früh am morgen – menschen treten aus den schatten der häuser hervor und wirken geschäftig in ihren dunklen hosenanzügen. geweckt wurden sie von u- und s-bahnen, von buslinien und bauarbeiten, vom laster der um die ecke den bäcker beliefert, vom nachbarsbaby das jetzt hunger hat.
ich blicke an mir herab, das kurze kleid das dir einst an mir so gefallen hat ist nun nass und befleckt. ich hab es noch nie sonderlich gerne getragen. aus einem hauseingang tönt kirchenmusik. hallo gott? bist du es? warum habe ich dich nur verlassen.
wieder fällt mir die frau mit dem zerzaustem haar ein. sie hatte mir von ihrem tabak eine kippe gedreht, von ihrem vodka einen schluck angeboten. danach sternhagelvoll zu ihr in ein frauenhaus getaumelt.
mir ist kalt.
in meiner nase brennt kaltgewordener rauch, im mund der geschmack der abgenagten reste der nacht. hatte ich gegessen?
darfs noch etwas sein? ich hör die bäckerei ehe ich sie sehe, sie klingt nach klimperndem kleingeld übertönt von einer rauhen stimme, bekommen sie schon? es wird dort wohl kaffe geben, aber wieso rieche ich ihn nicht? statt dessen stinkt die stadt nach zerschmetterten träumen und taubendreck. bruchstücke fallen mir ein: die abgeklärte stimme eines taxifahrers, taubendreck sei das glück der stadt in der längst keine sternschnuppen mehr zu sehen sind.
ich wühl in meiner tasche nach kleingeld, brauch dringend kaffee, find aber keins. egal, irgendjemand wird nicht dazukommen auszutrinken.
der abgestandene kaffeerest ist schwarz und ohne zucker. als ich den ersten schluck nehm stolper ich beinah über einen penner. kleine augen blitzen aus einer kapuze hervor, willst n schluck? lange dreckige finger halten mir ne bierflasche hin. ich schüttel den kopf: aber du kannst mir gern ne kippe geben. doch sobald die worte aus meinem mund sind, wie schnell war noch gleich schallgeschwindigkeit? sind die augen hinter der kapuze verschwunden, niemand mehr da.
einzelne metallsegmente bilden treppenstufen um dann menschen schneller und kompakter abzutransportieren – ungefähr so hab ich mir den sinn der rolltreppe eingeprägt. ich nehme sie um in die bahnhofshalle zu gelangen.
ubahn, ich muss zur ubahn. mir ist als würde ich zu spät kommen, am liebsten würd ich mich in der zeit verkriechen, die decke über den kopf ziehen. nichts mehr hören, nichts mehr sehen müssen, nur noch dich ein- und ausatmen.
bei gleis drei angekommen, lass ich mich auf die erste bank fallen. die schuhe schwarz gelackt mit hohem absatz, einen nach dem anderen streif ich sie von den füssen.
ich bin so müde.
meine augen brennen – hatte ich geweint?
neben mir unterhalten sich ein paar mädchen. müssen sie so laut sein? denkt ihr man hört euch nicht? wenn doch sätze tatsächlich untergehen könnten. zu viele die ich gerne vergraben oder einfach mit dem nächsten zug davon tragen lassen würde.
warscheinlich steigt eure rausgelachte luft in der dunklen bahnhofshalle auf, kondensiert an der decke und tropft wieder runter. ich schau auf mein kleid. vielleicht bin ich ja von lachen durchtränkt. blick zu den mädchen. wie ich euer lachen hasse.
ein mann, der anders gewesen war als die anderen, sagte mir, meine augen seien wie galaxien.
schon wieder deine worte in meinen gedanken. rein oder raus. raus.
eine ubahn fährt beinahe geräuschlos ein und hält.
die türen zischen beim aufgehen und ein mann steigt aus. oder steigt er in die stadt ein? es ist nicht zu erkennen ob er kommt oder geht. laut physik befindet er sich in ner bahnkurve. oder so ähnlich. natürlich könnte ich ihn fragen – kommst du? gehst du? ich öffne meinen mund und schließe ihn wortlos wieder.
die türen gleiten zu und beim losfahren reibt der radsatz laut entlang der schiene. das geräusch gleicht einem ewig grotesken schrei, der im tunnel wiederhallt.
aufhören soll er, aufhören!
der schrei wird vom scharren einer dicken ratte abgelöst. sie scheint im bahnschotter essen gefunden zu haben. erschöpft werf ich ihr meine mit federn verzierte maske zu. doch sie ist längst wieder weg, im tunnel verschwunden.
warte! nimm mich doch bitte mit rein.
Tag der Veröffentlichung: 26.01.2011
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