Cover




„Meine ersten richtigen Kurzgeschichten habe ich mit 10 Jahren geschrieben. Mein erster journalistischer Beitrag für eine Zeitung wurde veröffentlicht, als ich 13 war. Meinen ersten Roman, mit einem Umfang von über 200 Seiten, stellte ich als 16-jährige fertig.
Schon sehr früh habe ich mein Talent gefördert und weiß genau: DAS ist mein Lebenstraum!“
- Norma Hillemann über sich selbst –


Einleitung




Ursprünglich aus Sachsen stammend ist Norma Hillemann mit zarten 16 Jahren nach Berlin gepilgert. Seit August 2007 besucht sie das Oberstufenzentrum in Kreuzberg, um dort im Rahmen des beruflichen Gymnasiums die allgemeine Hochschulreife zu erhalten.

Nach dem Abitur strebt sie eine Karriere als Journalistin und Buchautorin an. Neben ihrer Schultätigkeit ist sie Redakteurin bei der Onlinezeitung von Periplaneta, sowie beim Musikmagazin „Negatief“ und der Schülerzeitung des OSZ Handels 1, dem „dOSZier“.

Außerdem liest sie seit April 2010 regelmäßig bei Lesebühnen. Dazu gehört das Textforum Freihafen vom Tintenschiff (http://www.tintenschiff.de/Freihafen.html) und die „Vision und Wahn“ Reihe, veranstaltet vom Periplaneta Team (http://www.periplaneta.com).


1. Von kleinen, schlauen Mädchen und großen Babys




Die Supernanny




Tagein, tagaus bringt Anna ihre Eltern zur Verzweiflung. Ein kleines Mädchen im Alter von 7 Jahren ist aber auch kein leichter Brocken. Sie hat Köpfchen und Charakter und wagt es sogar, mehr Gebrauch davon zu machen, als ihre eigenen Erzeuger. Sie widerspricht, wenn sie die fehlende Logik in einer Elternfloskel erkennt.
„Anna, gehe ins Bett! Das Sandmännchen hat doch schon den Schlafsand verstreut.“ Bei solchen unsinnigen Aussagen verzieht sie ihr Gesicht zu einer schmollenden Schnute und erwidert:
„Bei Sand in den Augen schläft man nicht, man muss nur weinen!“ Und überhaupt, wie soll der Sand aus dem Fernsehgerät kommen?“ Immer wieder versuchen Annas Eltern sie zu manipulieren, aber Anna ist kein dummes Mädchen:
„Anna, esse endlich dein Gemüse auf, sonst wirst du niemals groß und stark werden.“ Bei solchen überholten Erziehungsmethoden fängt das optisch scheinbar engelsgleiche Mädchen laut an zu prusten:
„Onkel Klaus ist Veganer und ganz klein und schmächtig. Und fürchterlich krank ist er auch.“ Darauf wissen die Eltern nichts zu erwidern. Was macht man nur mit einem selbstbewussten, kleinen Mädchen, das sogar fähig ist, Dinge zu hinterfragen? Die Eltern wissen wirklich nicht mehr weiter, sie benimmt sich überhaupt nicht wie ein normales Kind. Sie spielt weder Wii, noch schaut sie Fernsehen und Barbie-Puppen mag sie schon gar nicht. Lieber liest sie Bücher. Ihre Lieblings-Autoren sind Frank Schätzing und Dan Brown. Einmal hat sie den Autoren Leserbriefe geschickt, mit allen Hinweisen auf lückenhafte Fakten oder mangelhafte Recherche, die sie beim ersten Überlesen registriert hat. Während Anna mal wieder in ihrem Zimmer liest, schauen sich ihre Eltern die Super Nanny im Fernsehen an. Ja, die hat wenigstens Kontrolle über Kinder! Vater und Mutter werfen sich einen wissenden Blick zu: bei so einem harten Fall wie Anna kann nur noch ein Profi helfen. Die Eltern setzen sich an den Computer, loggen sich bei Jappy aus und schreiben eine Anfrage an RTL…

Eine Woche später steht Katharina Saalfrank, begleitet von einer Horde Kameras, vor der Wohnung der kleinen Familie. Sie ist in eine elitäre Uniform gekleidet, ihre Haare zu einem strengen Dutt gesteckt und auf ihrer Nase sitzt eine eckige, dick umrandete Brille. Alle Kameras sind auf die Eltern und die Super Nanny gerichtet, die gerade den „glücklichen“ Eltern die Hand reicht.
„Dann will ich als Erstes mal versuchen ohne Begleitung der Eltern die kleine Anna kennen zu lernen“, verkündet die C-Prominente in die Kameras sprechend. Die Mama von Anna zeigt zum Kinderzimmer. Vom RTL-Team verfolgt, schreitet die Super Nanny, pädagogisch zu Allem entschlossen, zur Kinderzimmertür, klopft und betritt anschließend den Raum. Anna schaut sichtbar verwundert von ihrer Fachklausur auf.
„Hallo Anna.“ Katharina Saalfrank reicht dem Mädchen die Hand. „Ich bin die Super Nanny.“ Desinteressiert wendet sich das Mädchen wieder ab, widmet sich ihrer Arbeit und erwidert trocken:
„Ich weiß. Meine Mama und mein Papa gucken regelmäßig deine Sendung.“
„Das ist ja toll, dann magst du die also auch“, sagt die Super Nanny mit einem strahlenden Lächeln.
„Nein, nur wenn man etwas von drittklassiger Pädagogik hält.“ Sichtbar verärgert, beißt sich die Nanny auf die Lippen.
„Das ist aber nicht nett von dir“, erklärt Annas Gegenüber.
„Du gehst auch nicht nett mit Eltern um. Erst blaffst du Mütter und Väter vor ihren Kindern an und erwartest ernsthaft, dass sie danach noch respektiert werden.“ Das Fernseh-Team ist begeistert und zoomt mit den Aufnahmegeräten näher.
„ Liebe Anna, “ spricht die Pädagogin mit ruhiger, aber schon angespannter Stimme, „wenn du dich weiter so ungehorsam benimmst, muss ich dich ermahnen.“
„Für was denn? Dass ich meine Meinung sage?“
„Wenn du weiter widersprichst, kommst du auf das stille Treppchen.“
„Wir haben hier keine Treppen.“
„Du kommst gleich in die Wuthöhle!“, keift die Super Nanny beherrschungslos das Kind an. Dieses spricht unbeeindruckt:
„Die Einzige, die hier wütend ist, bist du, Super Nanny.“ Anna verdreht übertrieben die Augen. Ein interessantes Naturphänomen geschieht. Hinter dem gepudertem Gesicht der Pädagogin verfärbt sich die Haut abwechselnd rot und grün und zornig rauft sie sich die Haare. Als der „Super-Hulk“ sich ihrem Ausraster und den dazu laufenden ,neugierigen Kameras wieder bewusst wird, versucht sie die Beherrschung zurück zu gewinnen, ordnet sorgfältig ihre Kleider, richtet den Dutt und die Brille und geht stillschweigend aus dem Raum. Das Team verfolgt sie wie ein Schwarm Schmeißfliegen. Katharina Saalfrank geht zu den hoffungsvollen Eltern, nimmt die Hand der Mutter und sagt:
„So leid es mir tut. Bei so einem schwerwiegenden Fall kann nicht einmal ich etwas ausrichten.“ Und auffällig eilig verlässt sie die Wohnung.

Als Anna hört, wie die Tür heftig zugeworfen wird, geht sie zu ihrem Kleiderschrank, der nur einen Spalt weit auf steht. Sie holt eine kleine Kamera hervor, schaut sich das Film-Material an und nickt zufrieden. Sie stellt fest, dass sie genug Material für ihre Fachklausur hat. Dann nimmt sie ihre bisherigen Aufzeichnungen nochmal in die Hand und liest sich mit einem selbstgefälligen Grinsen den Titel durch: „Über die Unfähigkeit von Fernseh-Pädagogik“

Vision und Wahn: Mai 2010, Thema: „Nervensäge“




Karl




Eigentlich halte ich mich für tolerant und sehe nur das Gute im Menschen. Aber manchmal, ja manchmal kann man doch nicht anders und fragt sich, ob das Gegenüber wirklich so doof ist, oder einfach gerissen und sich nur mit dem Mantel der Dummheit tarnt. Karl gehört zu diesen Menschen. Wenn er mich richtig nervt, schnauze ich ihn an:
„Kratz die Kurve, Karl!“ Und was passiert? Er rennt zum Garten, holt eine Harke und beginnt die Linkskurve der Hauptstraße zu bearbeiten. Panisch renne ich zu dem zurückgebliebenen Riesenbaby und zerre ihn von den hupenden Automassen weg. Wenn sie denken, das wäre es schon gewesen, täuschen sie sich. Schlimmer wird es, wenn er wieder einiges von seinem geistigen Dünnpfiff von sich gibt, bis mir fast der Kragen platzt. Zwischen all das Gebrabbel rufe ich hinein:
„Halte die Klappe, Karl!“ Tatsächlich habe ich erreicht, dass er endlich den Mund hält, da er den halben Nachmittag damit beschäftigt war, die Katzenklappe der Haustür offen zu halten. Die logische Schlussfolgerung ist für mich, er versteht einfach keine Metaphern. Seit dem benutze ich nur noch einfache verständliche Befehle:
„Geh weg, Karl!“ oder „Hör mit dem Sprechen auf, Karl!“ Das ist unmissverständlich. Doch leider hilft es überhaupt nicht gegen die penetrante, nerventötende Art, die dieser lebende Beweis der Abstammungslehre vom Affen an sich hat. Er kann doch nicht wirklich so dumm sein, wie er tut, oder?

Eines Tages steht meine Großtante Hildegard vor der Tür, eine kleine, ältere Frau mit einer naiv-freundlichen, schon fast senilen Art. Sie soll für Großonkel Herbert ein paar Werkzeuge holen und das macht sie natürlich nicht, ohne vorher auf einen Kaffee zu bleiben. Karl lässt sich das nicht entgehen. Aufgedreht plappert er auf die arme Alte ein. Aus den verbalen Schwallen entnehme ich Erzählungen von seinen Versuchen, Fliegen mit dem Mund zu fangen, oder er berichtet über den eigenartigen Geruch von Exkrementen. In ihrer liebevollen, toleranten Art lässt die Großtante das Geschwafel über sich ergehen, während ich zunehmend die Geduld verliere. Ich mache gute Miene zum bösen Spiel und mit einem krampfhaften Lächeln und zuckenden Mundwinkeln versuche ich nicht die Beherrschung zu verlieren. Doch dann passiert es: Karl holt das alte Kinder-Fotoalbum hervor, um dem Gast Bilder von mir zu zeigen, die ein kleines Kind in vollgesch…mierten Windeln mit dümmlichem Grinsen offenbaren.
„Genug jetzt Karl!“ schreie ich ihn an. Fuchsteufelswild wie ich bin, schlage ich ihm das Album aus den Händen, dass die vielen kleinen Fotos durch die Gegend flattern. Großtante Hildegard und Karl starren mich wie erschrockene Rehkitze an.
„Du bist eine verdammte Nervensäge!“ lasse ich meinem Zorn freien Lauf und wenn Blicke töten könnten, oh ja, dann wäre Karl jetzt von uns geschieden. Dieser, sich keiner Schuld bewusst, schaut mich mit seinen treudoofen Augen an und versteht anscheinend die Welt nicht mehr.
„Bin ich… wirklich einen Nervensäge?“ wimmert er wie ein verängstigtes Kind.
„Ja, das bist du.“ Ich beiße mir auf die Zunge, dass mir nicht noch viel fiesere Sachen über die Lippen rutschen. Karl schlürft mit hängenden Schultern aus dem Raum. Nach dem ich mich wieder etwas beruhigt habe, entschuldige ich mich bei der älteren Dame, die fast einen Herzinfarkt bekommen hatte und wollte sie hinaus begleiten. Da kommt uns beiden der eigentliche Anlass ihres Besuches wieder in den Sinn. Als ich mich schon auf den Weg in die Garage machen will, winkt Hildegard ab und möchte es doch lieber gleich selber holen gehen. Ich nutze ihren Elan, um mir erst einmal nach diesem schrecklichen Tag einen Drink zu genehmigen. In der Küche killte ich einen Whisky, … dann zwei … dann drei … und als es schon dunkel wurde und ich nicht mehr erkennen konnte, ob mein Glas nun voll oder leer ist, fragte ich mich, wo der Gast bleibt. Sie wird doch nicht gegangen sein, ohne sich zu verabschieden? Ich stelle mein Glas beiseite und beschließe nach ihr zu sehen. Als ich das Garagentor öffne, wird der Raum nur von einem kleinen Lichtkegel erleuchtet. Ich stutze. Seit wann haben die Wände so ein seltsames Muster? Ich betätige den Lichtschalter und erstarre. Großtanten-Stücke liegen am Boden verteilt und mittendrin, in einer Blutlache, hockt Karl. Der zieht gerade, dabei den „Schlachthausblues“ von Eisregen pfeifend, einen Teil des peripheren Nervensystems aus Hildegard heraus. Neben ihm liegt eine blutige Säge. In diesem Moment erkannte ich: Er ist wirklich so doof.

Vision und Wahn: Mai 2010, Thema: „Nervensäge“




2. Des Bürgers Abstieg




Zwangsstörung




Habe ich alles? Hektisch taste ich meine Taschen ab. Portmonee, Handy, Schlüssel…Wo ist der Schlüssel? Panisch greife ich nach meiner Handtasche und durchwühle ihren Inhalt. Schlüssel… Schlüssel…Schlüssel…Ah, da ist er ja. Ich atme erleichtert auf. Moment, wo war noch mal das Portmonee? Die Prozedur geht von vorn los. Doppelt hält besser, das habe ich schon immer gewusst. Nach dem vierten oder fünften Check, bin ich mir endlich meiner Sache sicher und stehe schon an der Wohnungstür. Ich öffne sie einen Spalt weit, als mir der nächste Gedankenblitz durch den Sinn schießt.
Habe ich alle Fenster geschlossen? Ich lasse meine Handtasche an Ort und Stelle fallen und eile durch die Räume… Küche, Bad und Wohnzimmer. Nach dem ich mich endlich vergewissert habe, dass auch alle Fenster geschlossen sind, kann ich ja beruhigt die Wohnung verlassen. Ich stehe im Flur, als ich mein Ebenbild im Wandspiegel betrachte. Sitzen die Haare? Und die Kleidung? Nervös zupfe ich an mir rum, bis ich glaube, dass alles ordentlich sitzt. Dass dabei wieder wertvolle Minuten vergehen, interessiert mich genau so wenig, wie manche dumme Anspielung meiner Mitmenschen. Ein Ordnungsfanatiker soll ich sein. Krankhaft gebe ich mich diesen Zwängen hin, alles kontrollieren zu wollen und abermals zu prüfen. Wie kommen die nur auf so einen Schwachsinn? Sollen sie sich mal um ihre eigenen Probleme kümmern. Moment mal, wo ist mein Schlüssel? Weitere 5 Minuten vergehen. Ich bin im Inbegriff, die Tür heute erneut zu öffnen, als mir das Blut in den Adern gefriert. Ich stürme in die Küche, Richtung Herd, observiere jeden einzelnen Knopf und stelle fest, dass jeder auf „0“ gestellt ist. Auch der Backofen ist aus. Gut, gut. Alles super. Dann kann ich mich ja endlich auf den Weg zur Arbeit machen. Moment mal! Ich stutze. Habe ich eigentlich nach dem Toilettengang die Spülung betätigt? Nun hetzte ich ins Badezimmer…

20 Minuten später saß ich endlich in meiner Bahn, auf den Weg zur Arbeit. Ich zücke meinen Notiz- und Terminkalender. Ordnung ist das halbe Leben. Was steht denn heute an? Ich kritzle eine To-Do-Liste auf eine leere Seite. Es vergeht einige Minuten, dann lese ich mir leise die Liste vor:

- Kaffee kochen
- Posteingang/Emails checken
- E-Mails an Kunden schreiben
- Projekt beenden (Deadline, 11:45!)
- Mittagspause mit Kollegen
- Bürotisch aufräumen, putzen
- Akten ordnen…

Weitere fünf Stichpunkte später bin ich fertig und trotzdem habe ich das Gefühl, dass etwas fehlt. Ich grüble. Mir fällt nichts ein. Vielleicht fehlt ja gar nichts. Nein, irgendetwas muss einfach fehlen! Mein Gesichtsausdruck muss anstrengend sein, denn die Leute, die in meiner unmittelbaren Nähe sitzen, schauen mich seltsam an. Ich gehe noch einmal die Liste durch. Erst visuell, die Augen auf das Blatt heftend, dann in Gedanken. Das habe ich, das habe ich auch, das habe ich…
„Was verdammt fehlt denn nun?“ Oops, das muss laut gewesen sein. Die Mutti packt ihr anscheinend frisch eingeschultes Kind am Arm und zerrt es mit sich, ganz weit weg von mir. Ich habe bis dato nicht mal bemerkt, dass ich mir bereits die Haare raufe. Ich atme tief durch, belasse es dabei. Ich versuche im Kopf abzuschalten, muss sowieso gleich umsteigen. Ablenkung tut gut. Ich schaue aus dem Fenster und entdecke im vorbeifahren einen Briefkasten. Da fällt mir ein… was habe ich für heute noch geplant?

Auf Arbeit ergeht es mir ähnlich. Während ich vor dem PC sitze und den Buchstabensalat vor mir zu lesen versuche, rattert mein Kopf. Ich werde nervös. Mein Bein wippt, meine Augen bewegen sich unruhig hin und her. Ich halte es keine Sekunde länger aus. Wieder hole ich, jetzt aus der Schublade, ein Stück Papier hervor. Schnell lässt der Kuli meine wirren Gedanken geordnet auf dem Blatt entstehen.

To-Do-Liste für zu Hause:

- Abwasch machen
- Einkaufen gehen
- Staubsaugen
- Rezept für die Pille holen …

Die Liste wurde lang. Es ist jedes Mal ein befriedigendes Gefühl, wenn man wieder die Übersicht über seinen Tagesablauf erhält. Dass ich die „To Do“s für meine Arbeit noch nicht mal abgearbeitet habe, interessiert mich in dem Moment herzlich wenig. Aber man kann ja mal schauen, was man schon geschafft hat. Kaffee kochen, Posteingang/Emails gecheckt…

Es ist bereits später Nachmittag, als ich mich auf den Heimweg mache. Eigentlich müsste ich länger arbeiten, da noch nicht alle Punkte erledigt sind, aber zu Hause muss viel gemacht werden, da wäre z.B. Abwasch machen, Einkaufen gehen,… Eine hohle Stimme erklingt, die gerade jetzt, mitten in den Gedanken, meine Station ansagt. Ich greife nach der Handtasche und steige aus.

Als ich die Treppen zu meiner Etage hinauf steige erstarre ich. Meine Wohnungstür steht sperrangelweit offen. Wie konnte das passieren? Ich schließe immer doppelt ab und überprüfe es nochmals, bevor ich gehe. Aus meiner Wohnung dringen Stimmen, die miteinander diskutieren. Das Schlimmste ahnend, schleiche ich in den Flur. Die Stimmen kommen aus dem Wohnzimmer. Leise öffne ich die Schublade des kleinen Beistelltisches und hole eine kleine Schreckschuss-Knarre heraus. So leicht kommen die Einbrecher mir nicht davon! Mit der Waffe in der Hand strecke ich meinen Arm nach vorn, wie ich es schon öfters in den Fernseh-Krimis gesehen habe, schleiche mich an die Wohnzimmertür, stürme mit grimmiger Miene hinein und brülle:
„Hände hoch oder ich schieße!“ Zwei Männer zucken zusammen und reißen ihre Arme in die Höhe. Den einen erkannte ich sofort, es ist mein Vermieter.
„Ich bitte sie, Frau Hoffmann, wir können das auch ohne Gewalt regeln.“, spricht mein Vermieter mit gepresster Stimme und hochrotem Kopf.
„Was suchen sie in meiner Wohnung?“ Ich ignoriere das gute Zureden. Jetzt spricht der Unbekannte:
„Bukart mein Name. Ich bin …ähm… Gerichtsvollzieher.“ So, wie er sich auf die Lippen beißt, scheint er in diesem Moment die Worte zu bereuen, als er sich der Situation bewusst wird.
„Was wollen sie hier?“
„Ihr Vermieter…Herr Jansen… also sie… ja die Wohnungsgenossenschaft hat mehrere Mahnungen rausgeschickt, weil sie ihre Miete nicht zahlten…“ Ich stutze.
„Mahnungen?“ Tatsächlich, es kann sein, dass mein Dauerauftrag für die Miete seit dem letzten Quartal abgelaufen ist.
„Ja Frau Hoffman, lesen sie nicht ihre Post?“, kam mehr erbärmlich als ermahnend vom Vermieter Jansen. Ich schaue zu dem perfekt geordneten Briefstapel auf meinem Schreibtisch rüber.
„Natürlich nicht!“ Die beiden Männer schauen mich sprachlos und entsetzt an.
„Wenn ich die Briefe vom Stapel nehmen müsste, wäre der Haufen nicht mehr symmetrisch geordnet zur Schreibtischkante.“

Vision und Wahn: Juli 2010, Thema: „Bürgersteig“




Eine ganz normale Sitzung




Die Tür zum Behandlungszimmer knarrt leise. Ein kleinwüchsiger Mann mittleren Alters betritt den Raum. Die Schwester hat ihn für einen dringlichen 10-Minuten-Termin dazwischen geschoben. Seine Gesichtszüge sind schlaff, die müden Augen mit dunklen Schatten unterlegt. Sein unrasiertes Gesicht und die zerzausten, fettigen Haare deuten auf eine längere, badefreie Periode hin. Er versucht sich krampfhaft ein Lächeln abzuringen und setzt sich unsicher auf den Stuhlrand dem Doktor gegenüber. Zwischen ihnen befindet sich ein kleiner, farblich zu den Stühlen passender Tisch. Der Blick des Patienten bleibt auf der Akte hängen, die vor dem Psychiater liegt.
„Wie geht es Ihnen heute, Johann?“ Der Angesprochene rutscht nervös auf seinem Stuhl hin und her und kratzt sich verlegen hinter dem Ohr. Sein Blick schweift unruhig durch den Raum. Das Ärztebüro ist minimalistisch gehalten. An weißen Wänden hängen einige Plakate und Zeitungsartikel zum Thema „Schizophrenie“, „ADHS“ und diverse Medikamente gegen paranoische Wahnvorstellungen. Die halb geschlossene Jalousie vor dem Fenster schirmt den Raum vom grellen Tageslicht ab. Ein kleines Zimmerpflänzchen versucht dem Zimmer die sterile Ausstrahlung zu nehmen - mit bescheidenem Erfolg.
„Ich weiß nicht… Ich habe den Eindruck, sie sind überall.“ Ohne von den Unterlagen aufzusehen, notiert der Arzt sich etwas Unleserliches und fragt nach:
„WER ist überall?“ Johann atmet tief durch und beginnt zu schildern:
„Es hat schon auf dem Weg zur Arbeit angefangen. Heute Morgen steige ich in die U-Bahn ein, setze mich auf einen Platz, falte meine Zeitung auseinander, als ich plötzlich ein lautes, keuchendes Räuspern höre. Ich schaue auf…“ Johann schüttelt mit dem Kopf, als könne er es selbst noch nicht glauben, was ihm widerfahren ist. „… und eine ältere Dame spricht mich an, ob sie sich auf meinem Platz setzen dürfte.“
„Das ist ja nicht ungewöhnlich“, stellt der Arzt sachlich fest und schreibt dennoch eifrig mit.
„Auch dann nicht, wenn sie zwei Antennen auf dem Kopf hatte?“
„Einbildung ist keine Entschuldigung für Diskriminierung und ihren versteckten Egoismus.“
„Aber die Antennen haben sich bewegt!“
„Und? Haben sie wenigstens ihren Hintern hoch bewegt?“
„Soll ich solch einer…“ Johann ringt mit den Worten… „älteren Dame etwa meinen Platz anbieten?“
„Der Anstand gebietet es uns.“ Der Arzt bleibt unbeeindruckt. Sein Patient schaut nervös um sich, als könne er belauscht werden.
„Und stellen Sie sich vor, das war noch lange nicht Alles.“
„Hmmm.“ Der Stift kratzt über das Papier. Schweißperlen bilden sich auf der Stirn des Patienten. Es ist sehr ruhig im Raum. Nur das gleichmäßige Ticken der Wanduhr durchbricht die Stille. Tick… Tack… Tick… Der Blick von Johann wandert zur Uhr… 10 Minuten sind nicht viel.
„Sprechen Sie weiter. Was ist Ihnen dann widerfahren?“ fordert ihn der Arzt ruhig, aber mit fordernder Stimme auf.
„Ich bin dann an meiner Station ausgestiegen… sie wissen schon, da wo ich halt arbeite… und habe auf dem Weg zum Arbeitsplatz an meinem Stamm-Kiosk gehalten, um mir einen Kaffee und meine Zigarettensorte zur Ablenkung zu kaufen, als mich ein seltsamer Mann angesprochen hat.“ Der Patient überlegt, holt tief Luft, faltet seine Hände und presst sie unsicher zwischen seinen Oberschenkeln zusammen.
„Er hat Etwas gesagt wie, dass sie überall sind und wir sie nicht länger ignorieren können. Dann drückte er mir eine Broschüre in die Hand und hat mich so seltsam angelächelt. Er hatte spitze Zähne und Augen wie ein… Reptil…“ Die letzten Worte betont Johann mit Abscheu. Der Psychiater schlägt die Aktenseite um und schreibt eifrig mit, ohne irgendetwas zu kommentieren, fragt nur:
„Haben sie die Broschüre mitgebracht?“
„Nnnein“, stottert Johann, „Hab sie sofort weggeworfen:“
Wieder Stille im Raum. Fast schon nach Bestätigung bettelnd fragt Johann:
„Ist das nicht seltsam?!“ Der Blick seines Arztes bleibt weiterhin am Schriftstück kleben und ohne dass Johann irgendeine Mimik erkennen kann, da dem Psychiater eine dichte Haarsträhne ins Gesicht fällt, erwidert dieser emotionslos dem kleinen, verwirrten Mann:
„Ja, ich weiß was sie meinen.“ Die siegessichere Mine von Johann erstarrt, da dieser scheinbare Triumph ihm schnell von seinem Gegenüber wieder genommen wird.
„ Ich fühle mich auch öfters von Zeugen Jehovas und von Umwelt- oder Tierschutzaktivisten belästigt.“
„Ja, dieser Mann war aber anders!“
„Sie sind alle anders.“ Anhand der Stimmlage des Arztes scheint es, als wäre er belustigt darüber. Johann fühlt sich furchtbar gekränkt, da sein Gesprächspartner ihn anscheinend nicht ganz ernst nimmt. Entweder notiert er sich übereifrig Irgendetwas oder er macht nur unbedeutende Bemerkungen. An wen soll er sich denn wenden, wenn er nicht einmal seinem Psychiater vertrauen kann? Der Arzt ergänzt anschließend:
„Es ist vollkommen in Ordnung, wenn sie sich für Aktivitäten diverser Vereine und Gemeinschaften nicht interessieren und sich auf keine Weise engagieren. Sie sind deswegen kein schlechter Mensch. Auch nicht, wenn sie diese Aktivisten als abscheulich empfinden.“ Empört haut Johann mit der flachen Hand auf den Tisch und schreit es fast.
„Wollen sie damit etwa sagen, dass ich halluziniere?“
„Daran habe ich ehrlich gesagt gar nicht gedacht, aber ich werde mir ihre Anregung gleich notieren…“ Deprimiert schüttelt der Patient mit dem Kopf.
„Ruhig Johann, was haben sie mir sonst noch zu berichten?“ Innerlich kochend, aber nach außen scheinbar ruhiger setzt dieser seinen Tagesablauf fort:
„Auf der Arbeit erging es mir nicht besser. Mein Chef erwartete mich schon und teilte mir mit, dass ich doch heute die Statistiken für eine morgen benötigte Präsentation aufbereiten soll. Sie müssen wissen, dass das nicht zu meinem Arbeitsgebiet gehört. Es war das erste Mal, dass ich das erledigen sollte.“ „Nun ja, Alles ist irgendwann das erste Mal.“ Johann schaut an den Protokollführenden vorbei Richtung Fenster. Ins Leere spricht er weiter:
„Diese Statistiken waren über den Glauben verschiedener Gruppierungen an Übernatürliches, an Hexen, Geister, Magie, Aliens, was auch immer… es scheint als verfolgen sie mich überall.“ Der Stift kratzt eifrig im Takt des Erzählenden. Erwartungsvoll pausiert dieser nun und hofft innerlich weiter auf Bestätigung.
„Wenn man mit der Realität nicht zurechtkommt, ja sich ganz und gar davon abgrenzen möchte, verlieren viele Menschen sich in Aberglauben und anderem Unwissenschaftlichem“, kommentiert sein Gegenüber. Fragend hebt Johann eine Augenbraue.
„Denken sie doch mal an diese unglaublichen Berichte über UFOS oder die unseriösen Tarot-Hotlines, die über Fernsehkanäle ausgestrahlt werden.“
„Sie nehmen mich nicht ernst!“
„ Ich nehme ihre Aussagen wahr und versuche dies nur zu analysieren.“
„Ich weiß, was Sie über mich denken“, schnauft der Patient gereizt. Es folgt keine Erwiderung vom Psychiater, er scheint geduldig auf eine Erläuterung zu warten.
„Sie glauben, ich bin verrückt, richtig? Sie sind alle gegen mich. Aber sie schaffen es nicht, mich mit irgendwelchen Drogen und Kuscheljacken ruhig zu stellen!“ Im beschwichtigenden Ton erwidert der Psychiater:
„Ich halte sie keineswegs verrückt. Ich habe weder vor, ihnen Medikamente zu verschreiben, noch sehe ich für sie eine Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik vor.“ Johann wurde ruhiger und erwartungsvoll, wie ein kleines Kind, sitzt er auf seinem Platz und schaut den Arzt mit großen Augen an.
„Wirklich, machen sie sich keinen Kopf.“ Nun endlich legt dieser seinen Stift zur Seite, klappt die Akte ordentlich zusammen und schaut zu seinem Patienten auf. Seine langen Haare fallen zurück, grüne Reptilienaugen starren Johann an und ein Grinsen offenbart seine spitzen, monströsen Zähne, die Johann einen eiskalten Schauer über den Rücken jagen.
„Ihre Zeit ist um“, sind seine letzten Worte.

Textforum Freihafen: April 2010, Thema: „Mach dir keinen Kopf“




Schöner Demonstrieren




Meine Mutter ist zu Besuch in Berlin. Was macht man mit einer 55-jährigen aus der Kleinstadt? Knuth im Zoo bemitleiden? Den Fernsehturm für ein immenses Geld hochfahren? Sein Geld jenem hässlichen, rosa und betonklotzigen Wesen opfern, was auf den Namen Alexa hört? Nein, natürlich nicht. Meine Mutter will zur Demo gehen. Während ich die Schuhe anziehe, beobachte ich, wie Mutter Steine in ihre Umhängetasche steckt. Ich tue so, als hätte ich Nichts gesehen.

Am Alexander Platz angekommen, sehe ich schon von weitem die Demonstranten in Massen heran strömen. Dort warten auch schon die grünen Party-Autos auf sie. Mutter kann ihre Euphorie kaum bzw. eigentlich gar nicht zurückhalten, reißt wie bei einem Deutschland-Tor die Arme in die Luft und brüllt: „DE-MO, DE-MO!“ Ich fasse mir an den Kopf und warte darauf, dass sie im schönsten Sachsenslang ein „DY-NA-MO“ hinterher ruft. Das tut sie Goth sei Dank nicht. Dafür marschieren fünf Polizisten grimmig entschlossen auf uns zu.
„Wollen Sie zur Demo?“
„Nein“, denke ich, „Meine Mutter schreit aus Verwirrtheit Demo und eigentlich sind wir mit Wowi vor Dumpfsinn-Donuts verabredet.“ Ich belasse es bei einem Nicken.
„Zeigen Sie mal den Inhalt ihrer Tasche.“ Ich kriege einen Schock, als mir Mom´s Steine in den Sinn kommen. Sie wühlen in meiner Tasche und finden nichts Sensationelles. Bei meiner Mutter machen sie gar nicht erst Anstalten, sie durchsuchen zu wollen. Bei mir sind sie gründlicher. Eine junge Polizistin mit streng nach hinten gebundenen Haaren macht bei mir eine Körpervisite. Klar, ich habe bunte Haare und eine Lederjacke an, dementsprechend muss ich zum Feindbild gehören. Dass ich nicht mal 1,60m groß und ungefähr so gefährlich bin, wie mein Zwerghamster zu Hause in seinem Käfig, interessiert Niemanden. Ich stutze. Obwohl… der Zwerghamster schabt so lange mit seinen Nagezähnen, bis der Finger blutet. Bei dem Gedanken muss ich grinsen, was die Polizistin sehr irritiert, denn sie fummelt gerade an meinem Hintern. Ich kann es mir einfach nicht verkneifen und säusel ihr zu:
„Du kannst auch einfach fragen, wenn du meine Handy-Nummer willst.“ Abrupt lässt sie von mir ab und winkt mit säuerlicher Miene meine Mutter und mich durch. Als die Beamten außer Sicht sind, holt Mutter einen ihrer Steine raus und wiegt ihn grinsend in der Hand. Man könnte meinen, heute ist der 17. Juni 1953.
Wir sind am Versammlungsplatz. Am Brunnen lümmeln ein paar schwarz vermummte Gestalten.
„Wer sind die denn?“ fragt meine Mutter.
„Ein paar minderjährige Links-Autonome.“, erwidere ich trocken. Meine Mutter hebt fragend eine Braue.
„Links-Autonome?“ Hm… wie erkläre ich ihr das jetzt?
„Das sind diejenigen, die gegen alles sind, sogar gegen das Dagegen sein.“ Mom nickt und schaut neugierig rüber. Sie erinnert mich in diesem Moment an ein Kind, dem man die Welt zu erklären versucht. Ich muss heute erneut schmunzeln bei meinen ausschweifenden Gedanken. In meinem Kopfkino bin ich im Jahr 2050 und gehe als Großmütterchen mit meinen Enkelkindern an dem schwarzen Block vorbei. Am Brunnen sitzen dieselben Autonomen wie vor 40 Jahren, sogar mit den selben Klamotten, die inzwischen viel zu eng um die alten Hüften und faltigen, hängenden Brüste sind. Doch lange kann ich nicht in meinen Tagträumen verharren, die Kundgebung ist vorbei und der Demonstrationsmarsch geht los. Zwischen den Massen aus Autonomen, Punks, Ökos, Hippies und Verrückten entdecke ich eine alte Frau mit Krücken. Hat die sich auf dem Weg zum Ententeich verlaufen? Verstohlen betrachte ich sie aus den Augenwinkeln.
Je größer das Gedränge, desto mehr Polizisten kommen wie aus dem Nichts angerannt, gerüstet mit Helm, Schulterpolstern, Eierschutz und mit Knüppel bewaffnet. Die Stimmung ist heiß und an beiden Fronten wird provoziert und weiter aufgeheizt. Menschen brüllen, johlen und schreien. Die Menge zerrt mich weg von Mutter und irgendwann steht plötzlich die zittrige Alte neben mir. Wie aus dem nichts, lässt sie die Krücken fallen und öffnet ihr Handtäschchen. Ich traue meinen Augen kaum, als sie einen Gegenstand herausholt, der aussieht wie eine Handgranate. Mit einem Jubelschrei schmeißt die Irre das Ding mitten in die Polizeimauer. Es folgen ein ohrenbetäubender Knall und jede Menge Rauch. Ich sehe verstörte und klatschende Menschen und erste Polizisten in meine Richtung strömen. Schnell hebt das Attentäter-Mütterchen wieder ihre Krücken auf und kaum, dass die Polizisten heran sind, zeigt sie mit grimmiger Miene auf mich. Ein Knüppel saust auf mich zu… dann wird alles schwarz.

Als ich wieder aufwache, wurde ich aus der protestierenden Masse herausgezogen. Aua mein Schädel! Eine Polizistin beugt sich über mich, hey, die kenne ich sogar! Hat die heute nicht schon an meinem Arsch rumgefummelt? Mehrere, teils laute, aggressive Stimmen reden auf mich ein, aber alles kommt wie durch einen Nebel bei mir an. Die Ernüchterung kommt von einem Moment zum Anderen. Die Polizistin brüllt mir jetzt fast ins Gesicht:
„Wollen sie sich zu dem Vorfall gleich äußern oder müssen wir sie erst in Gewahrsam nehmen?“
„Ich würde mich ja gern äußern, aber bei gut aussehenden Frauen in Uniform verschlägt es mir immer die Sprache.“

Die Provokation hätte vielleicht nicht sein müssen. Ich habe gleich noch eine verpasst bekommen und diesmal wache ich in einer Aufbewahrungszelle auf. Aua. Ich hoffe, zu Hause liegt noch irgendwo eine Packung Kopfschmerztabletten… Plötzlich wird die Zelle aufgeschlossen, aber statt mich heraus zu holen, wird noch jemand rein bugsiert. Es ist eine Frau um die 1,70m, komplett vermummt. Der Polizeibeamte reißt ihr Sonnenbrille und das Tuch vom Gesicht und ihre Kapuze wird hinter gezogen. Ich erstarre als ich das Gesicht erkenne. Es handelt sich doch tatsächlich um die Ex von meinem Freund, die anscheinend auch Ärger mit den Polizisten hatte. Sie schnauft und ist sichtbar angespannt. Die Zellentür wird zugeworfen. Wir schauen uns fragend an. Sie kennt mich nicht wirklich, ich sie eigentlich auch nicht, nur von Fotos. Und sie? Anscheinend nicht, es folgt kein angewiderter oder missbilligender Blick, eher Neugier. Ich bin versucht, nochmal die Lesben-Nummer auszuprobieren, aber mit Autonomen legt man sich lieber nicht an. Bei der Vorstellung Mittel- und Zeigefinger zu spreizen und meine Zunge rauszustrecken, sehe ich schon die Faust in meinem Gesicht. Stattdessen starren wir Löcher in die Luft und warten, dass etwas passiert. „Wo hier wohl die Kameras sind?“, frage ich mich.
Nichts passiert die nächsten Stunden. Bis plötzlich SIE wieder vor mir erscheint. Die Polizistin die ich, - oder doch eher sie mich?- auf dem Kicker habe. Sie schließt die Zelle auf. Meine Mitinsassin schaut überrascht auf. Die Polizistin betritt in ihrer Uniform die Zelle und schaut mich mit zärtlichen Blicken an. Oh mein Gott, ich wusste es! Hier ist doch eine versteckte Kamera und gleich zieht sie sich aus. Sie sagt leise, aber bestimmt:
„Verschwinde von hier. Aber lass dich nie wieder bei irgendeiner Demo blicken.“ Frau von und zu Ex schaut mich fragend an, aber ich muss in diesem Moment genau so perplex geschaut haben, denn die Beamtin grinst mich verschmitzt an. Ich zucke mit den Schultern und mache Anstalten zu gehen. Da hält sie mich ein letztes Mal an.
„Wann sehen wir uns wieder?“ Wusste ich es doch! Sie haben alle eine lesbische Tendenz und aus irgendeinem unerklärlichen Grund spreche ich diese Art von Frauen auch immer wieder an. Sie hält mir mit einem schüchternen Blick ihr Handy hin. Ich glaube zu hören, wie die Kinnlade von Frau Ex auf den Boden knallt. Aus dem Effeff tippe ich irgendeine Nummer ein, die sonst wem gehört, - nur nicht mir.
Draußen vor dem Polizeipräsidium entdecke ich meine Mutter, die gerade ihre billigen Tschechen-Kippen raucht. Unbeeindruckt lümmelt sie an der Hauswand und sagt:
„Haben sie dich jetzt endlich mal raus gelassen? Dann können wir nach Hause gehen und ich mache uns noch einen Eiersalat.“ Ich nicke dankbar für das Angebot. Sie ergänzt:
„Das war ein so schöner Tag heute. Wir können wieder mal so eine Demo besuchen!“

Vision und Wahn: Juli 2010, Thema: „Bürgersteig“




3. Außergewöhnliche Berufungen




Der außergewöhnliche Kriminalfall




Er gähnt demonstrativ. Der Kriminalkommissar hatte heute einen langen Tag gehabt und freut sich einfach nur auf sein Bett zu Hause. Er sitzt in seinem Privat-Wagen und ist auf den Weg in sein kleines Eigenheim am Rande der Stadt. Während er auf die verregnete und graue Straße schaut, denkt er über die heutigen Fälle nach. Es ist wieder das Übliche gewesen: Eine eifersüchtige Ehefrau erschlägt im Affekt ihren bierbäuchigen, fremdgehenden Mann. Dann wurden bei einer Lehrkraft zu Hause Waffen, Killerspiele und aggressive Musik gefunden, die den Verdacht bestätigen, dass der Beruf ihn verrückt werden ließ und er zum Amoklauf bereit gewesen ist. Und zu guter Letzt ein Geisterfahrer, der sich ironischer weise in einem Sargtransporter wieder gefunden hat und nun mit der Auswahl seines Mahagoni-Sarges auch keine Probleme mehr haben sollte. Den üblichen, täglichen Kleinkram, wie Einbruch in der Markthalle, den Überfall auf eine Oma, die gerade ihr Erspartes von der Bank holte und die dealenden Kiffer am Bahnhofsvorplatz bekam er nur zur Unterschrift auf den Tisch. Er gähnt erneut. Um sich irgendwie wach zu halten, greift er in seine Jackentasche und holt eine Zigarettenschachtel hervor. Schnell muss er feststellen, dass sie leer ist und er doch nochmal bei einer Tankstelle halten muss. Etwa 500 Meter weiter fährt er rechts rein…

Zufrieden entnimmt er die Schachtel aus dem Fach des Nachtschalters und reißt auffällig hektisch die Folie auf. Noch schneller holt er sein Feuerzeug hervor, eilt mit großen Schritten aus dem Tankstellenbereich und zündet sich genüsslich seine Feierabend-Zigarette an. Er atmet tief ein und genießt den ersten Zug. Doch was war das? Er runzelt die Brauen, kneift die Augen zusammen um in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Vergessen ist sein wohlverdienter Feierabend. Der kriminalistische Spürsinn erwacht und statt sich auf den Weg zu seinem Wagen zu machen, schlägt er die entgegen gesetzte Richtung ein.
Aufgrund des Unwetters konnte er aus dieser Entfernung nicht sehr viel erkennen. Aber was er durch Regen und Sturm wahrnimmt, ist sehr verdächtig. Ein Mann mittlerer Statur schleift mühsam einen großen, schwarzen Sack im Schlamm hinter sich her. Mit einem fast knöchellangen Regenmantel, tief ins Gesicht gezogener Wollmütze und dunkler Brille bekleidet war von ihm nicht viel zu erkennen. Im Kopf des Kommissars schlagen Alarmglocken an. Der Beamte wird sich seiner Pflicht bewusst und schleicht sich geschickt im Tarnmantel der nächtlichen Schatten an die unheimliche Gestalt an. Instinktiv greift er nach seiner Waffe, ohne den Blick von dem mysteriösen Vorgang abzuwenden. Am Rande der Stadt, zwischen Wald und Siedlung herrschte, abgesehen von ein paar Fahrzeuggeräuschen der nahen Straße Totenstille, die jeden Tritt zu einem lauten, verräterischen Geräusch werden lassen. Der Kommissar bewegt er sich behutsam, fast schon auf Zehenspitzen vorwärts. Zum Glück kommt der Verdächtige mit der Last nicht schnell voran und sein Keuchen und das Schleifen des schweren Sackes lassen ihn seine Umgebung fast vergessen. So findet eine Art Verfolgungsjagd in Zeitlupe statt. Nach etwa 200 Metern hält der Tatverdächtige an einem Container-Standplatz an und versucht das große Bündel in eine der Tonnen hineinzuhieven. Der Kriminalkommissar ergreift die Chance und zückt seine Waffe.
„Stehen bleiben, Polizei!“ Sein Gegenüber ist sichtbar erschrocken und erstarrt zu Stein. Der Kriminalpolizist befiehlt den mutmaßlichen Verbrecher auf die Knie zu gehen, untersucht ihn nach Waffen und legt ihm Handschellen an. Zufrieden, fast selbstgefällig betrachtet der den am Boden Knienden wie Jagdbeute. Mit stolz geschwollener Brust spricht er:
„Dann wollen wir mal schauen, was sich in dem Sack befindet.“ Er löst die dicke Verschnürung und prallt förmlich zurück. Binnen einer Sekunde verändert sich seine Miene zu purem Entsetzen. Ein Geruch von Verwesung steigt in die Luft.
„Ich, ich wollte das nicht, wirklich... aber der Geruch war so unerträglich... und ehe die Nachbarn was merken... es musste verschwinden…“, versucht sich der Täter wimmernd zu entschuldigen. Diese Worte erbosen den Kommissar erst recht. Sein Gesicht rötet sich vor Zorn und seine Stimme ist sichtbar angespannt. Er versucht die Beherrschung nicht zu verlieren.
„Ich habe so Einiges in meiner beruflichen Laufbahn gesehen…“ Er muss tief Luft holen, um das Gesehene zu verarbeiten. „Aber so etwas ist mir wirklich noch nicht untergekommen.“ Er schaut erneut, sichtbar angewidert, in den Sack hinein. Sein Blick wechselt vom Container zurück zu dem Sack.
„Können Sie sich überhaupt vorstellen, wie Denjenigen zumute sein würde, der den Inhalt
der Tonne entsorgen muss?“, schnauft er empört. „Das es tatsächlich solche Menschen gibt… ohne jegliche Moralvorstellung…“ Das tränenüberströmte Gesicht des Täters kann ihn nicht besänftigen und mit unterdrücktem Zorn herrscht er ihn an:
„Bio-Abfälle gehören in die grüne Tonne und nicht in den gelben Sack!“

Textforum Freihafen: Mai 2010, Thema: „Alles Bio“




Umschulung




Frau Kollwitz wird mal wieder bei der Agentur für Arbeit vorgeladen. Die seit Jahren arbeitsuchende Mutter und Ehefrau freut sich auf eine naiv-enthusiastische Art, wenn es heißt, man habe für sie ein Jobangebot gefunden. So auch heute. Sie sitzt ihrer Sachbearbeiterin gegenüber. Diese ist, im Vergleich zu ihr selbst, eine junge Frau, der man die Zeit ihrer Bürotätigkeit jetzt schon anhand der Jahresringe über den Hüften ablesen kann. Aber sie ist immer so nett und freundlich.
„Frau Kollwitz“, beginnt die Angestellte zu sprechen, „ich habe heute ein ganz tolles Jobangebot für sie.“ Sie kramt Papiere aus dem Aktenordner und legt sie der Kundin hin. Neugierig reißt Frau Kollwitz diese an sich, als hätte man ihr Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke in Einem überreicht. Und so sollte es fast sein. Es ist ein Jobangebot als Friseurin in einem mittelgroßen Salon der benachbarten Kreisstadt.
„Sie haben sogar sehr günstige Busverbindungen dahin“, erklärt die Sachbearbeiterin, um ersten Ausreden vorzubeugen, die sie sonst von ihren Kunden gewohnt ist. Doch Frau Kollwitz ist keine dieser Kunden. Sie verabschiedet sich nach kurzer Absprache über die einzureichenden Unterlagen und macht sich noch am selben Tag daran, ihre Bewerbung an den Friseurbetrieb zu schreiben. Als sie dann nur wenige Tage später zum Probe arbeiten eingeladen wird, ist sie überglücklich.

Doch nicht mal zwei Wochen später sitzt Frau Kollwitz erneut ihrer Sachbearbeiterin gegenüber, welche darüber sichtbar verwundert ist.
„ Es erstaunt mich, sie hier wieder zu sehen“, setzt die Angestellt an. „Ich meine… sie hatten doch eine wirklich überzeugende Bewerbung verfasst und dass sie so schnell eingeladen wurden… ich hatte ein gutes Gefühl dabei. Was ist passiert, Frau Kollwitz?“ Die Frau im reiferen Alter seufzt leise auf und beginnt zu schildern:
„Der Probe-Tag war gelungen. Die Kunden und die Friseur-Meisterin waren gleichermaßen zufrieden. Das Betriebsklima war ebenfalls sehr angenehm, die anderen Kolleginnen freundlich… es war ein wirklich perfekter Tag.“ Jetzt wird die Gegenübersitzende immer verwunderter. Ihre Augenbrauen heben sich fragend und sie beugt sich, vielleicht unbewusst, leicht vor, um weiter den Worten zu lauschen.
„Aber dann kam ich nach Hause und wurde schnell wieder aus meiner Freude gerissen. Der Anblick war unglaublich. Polizei und Feuerwehr standen vor unserem Haus und als ich mich an den Helfern und Rettern vorbeidrängelte, entdeckte ich meinen Mann, halbnackt vor einer aufgebrochen Wohnungstür. Unsere Kinder haben geweint und mein Mann war schier verzweifelt.“ Als würde Frau Kollwitz einen spannenden Krimi erzählen, lauscht die Sachbearbeiterin so komplett versunken, dass sie nicht einmal das Piepsen des Anrufbeantworters und das Surren des Faxgerätes bemerkt.
„Ja, was ist denn um Himmels Willen passiert?“
„Sie werden es nicht glauben. Mein Mann erzählte mir, dass er am Morgen, nach dem ich mich bereits auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte, sich nur frische Sachen anziehen wollte. Ich hatte in meiner Vorfreude vergessen, ihm, wie sonst immer, Etwas zurecht zu legen. So wühlte er in den Schubladen nach frischer Unterwäsche und zog Alles heraus, was man vielleicht noch anziehen könnte. Dabei hat er aber eine Unterhose erwischt, die ihm eigentlich inzwischen viel zu klein ist. Doch natürlich versuchte er sich da rein zu zwängen… er hüpfte auf einen Bein, versuchte mit dem anderen hineinzufahren und stieß bei dieser Akrobaten-Nummer gegen das Nachtschränkchen. Es soll furchtbar laut gerumpelt haben und vor Schmerz gebrüllt hat er! Nach dem er halb angezogen und wutentbrannt die Schlafzimmertür hinter sich zugeknallt hat, kamen die Kinder angerannt …“
„Frau Kiesel-Stein, kommen Sie mit uns einen Kaffee trinken?“, platzt ein Stimme plötzlich mitten in die Erzählung. Es sind Kolleginnen der Sachbearbeiterin, die anscheinend ihre Mittagspause antreten wollen.
„Ich habe Kundschaft, sehen sie das nicht?“ schnauft diese, gereizt wegen der Unterbrechung, und die Kollegen sind schneller wieder raus, als sie hereingekommen sind.
„Nun, erzählen sie schon weiter! Was ist dann passiert?“
„Ach ja…“ setzt Frau Kollwitz fort. „Die Kinder wollten Frühstück und natürlich auch ihre Stullen für die Schule. Mein Mann musste auch bald auf Arbeit und war daher in Zeitnot. Er versuchte nach eigener Aussage nur Kaffee zu kochen, Toastbrot zu machen, nebenbei die Brote zu schmieren und hat für sich selbst Eier in der Pfanne gebraten. Als er sich beim Eierwenden die Hände verbrannte, warf er brüllend die heiße Pfanne in eine Ecke, ohne den Herd abzuschalten. Die Kinder waren total von der Reaktion erschrocken und haben angefangen zu weinen.“ Während Frau Kollwitz dies erzählt, entgleiste die Miene der Sachbearbeiterin und einmal fasste sie sich entsetzt an den Kopf.
„Während es in der Küche schon qualmte, klingelte es an der Tür. Es stand die Polizei davor, gerufen von einer Nachbarin, die den Verdacht äußerte, dass mein Mann anscheinend die Kinder misshandeln würde. Und mein Mann... ach der ist so temperamentvoll! Er fing lautstark an mit der Polizei zu diskutieren und für die war das eine zusätzliche Bestätigung des Vorwurfes, daher wollten sie ihn an Ort und Stelle mitnehmen. Die Kinder wurden ebenfalls gebeten mitzukommen und eine der Polizistinnen brabbelte die ganze Zeit etwas von „Ihr bekommt von jetzt an ein besseres Zuhause“. Mein Mann ließ sich gar nicht mehr beruhigen und während alle Beteiligten, umringt von neugierigen Nachbarn diskutierten, ließ ein Windzug die Tür zufallen. Mein Mann brüllt noch viel lauter vor Wut, als er plötzlich den dunklen Qualm aus den Türschlitzen herausquellen sah und beißender Brandgeruch Allen in die Nase stieg.“ Frau Kollwitz schüttelt traurig mit dem Kopf. „Anscheinend ist es mir nicht vergönnt, arbeiten zu gehen. Ich werde zu Hause gebraucht, sonst bricht das Chaos aus.“ Sie war sichtbar traurig und kurz vorm Weinen, als die entsetzte und gleichzeitig faszinierte Zuhörerin aus ihrer Trance gerissen wurde.
„Nein, nein Frau Kollwitz“ widerspricht sie. „Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, wir werden da eine Lösung finden!“

Noch am selben Tag, Frau Kollwitz war schon längst zu Hause, schreibt die Sachbearbeiterin Kiesel-Stein ein Gesprächsprotokoll:
„21. Juni 2010. Erfolgreiche Vermittlung der Kundin Bettina Kollwitz, BG/Knd-NR: 0D496/98R42-12. Neue Tätigkeit als Helferin für Unfall- und Katastrophenschutz.“

Textforum Freihafen: Juni 2010, Thema: „Ich habe keinen Job“




Impressum

Texte: Foto-Copyright: Christian Rieck Copyright Sammelband: Norma Hillemann
Tag der Veröffentlichung: 22.07.2010

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