Das Wissen von Gott ohne Kenntnis
unseres Elends zeugt den Dünkel.
Das Wissen unseres Elends ohne Kenntnis
von Gott zeugt die Verzweiflung
Das Wissen von Jesus Christus schafft die Mitte,
weil wir in ihm sowohl Gott als unser Elend finden.
(Blaise Pascal, Pensees, 527)
Eine Theologie, die den Menschen nicht kennt und nicht ernst nimmt, ist ein nutzloses Unterfangen.
Eine Anthropologie, welche um keinen Gott weiß, führt in die Absurdität.
Diese Formel paraphrasiert in etwa Eugen Drewermanns (E.D.s) Standort innerhalb der theologischen Zunft.
In der hier vorliegenden Studie wird der Versuch unternommen, in E.D.s umfangreichen theologischen Werk das seinem Denken zugrunde liegende anthropologische Modell zu sichten und herauszuarbeiten.
Dabei wird sich zeigen, daß Anthropologie und Theologie bei ihm so sehr miteinander verwoben sind, so sehr eine synthetische Einheit bilden, daß sich wie von selbst der Titel einer THEOLOGISCHEN ANTHROPOLOGIE anbietet.
Obgleich von systematischem Interesse geleitet, folgt diese Arbeit in etwa der Publikationschronologie E.D.s (bis in die Mitte der 90er-Jahre hinein) und damit, wie sich zeigen wird, einer seinem Werk immanenten Systematik.
Diese führt von prinzipieller Verlorenheit und Verzweiflung des Menschen (Kap.1) über die Beschreibung spezifischer Ausformungen dieser Grundsituation (Kap.2) hin zu möglicher Erlösung (Kap.3).
Verzichtet wurde hierbei, auf eschatologische Aspekte im engeren Sinne einzugehen, da sie für E.D.s anthropologisches Grundmodell keine konstitutive Rolle spielen.
In E.D.s dreibändigem Werk STRUKTUREN DES BÖSEN, einer Interpretation der jahwistischen Urgeschichte Gen 2-11, finden wir all das grundgelegt, was seine Anthropologie kennzeichnet:
Die Behandlung des Themas - ausgehend vom Bibeltext - mittels unterschiedlicher Methoden: Exegese, Psychoanalyse, Philosophie und Theologie, wobei seine zentralen Aussagen nicht anders denn theologisch genannt werden können. E.D. denkt von Gott her; die Wissenschaften, die er heranzieht, sind ihm Ancillae. Mit ihnen versucht er den Nachweis zu führen, dass der Mensch sich gerade nicht verstehen kann, sofern er sich nicht von Gott her versteht. Atheistisches Denken führt in die Aporie, gottloses Dasein in Verzweiflung.
Grundgelegt ist hier seine zentrale These,
"daß der Mensch als bewußtes Wesen sein eigenes Dasein ohne Gott nicht ertragen kann ...; daß es ... ein und dasselbe ist, an Gott zu glauben und mit sich selbst und darin auch mit allen andern und aller Welt ringsum ins rechte Lot zu kommen ..." (SB III, LXI),
seine in Sören Kierkegaards Denken wurzelnde theologische Anthropologie, kristallisiert in den Begriffen ANGST, VERZWEIFLUNG. SCHULD, GLAUBE, GNADE und ERLÖSUNG.
Alles Typische, das späterhin im Schrifttum E.D.s ausgeführt wird, findet sich mehr oder weniger ausführlich in den STRUKTUREN DES BÖSEN.
So mag diese umfangreiche Arbeit als eine erste Orientierung dienen, die Grunddaten des Menschen bei E.D. zu orten, indem wir - seiner eigenen Diktion folgend - "die Texte von Gen 2,4b-11,9 (J) ... (als einen, d.V.) ... Spiegel, in dem die ganze Menschheit und ein jeder für sich sein Antlitz sehen und betrachten kann", (SB III, 583) auffassen.
Zunächst wollen wir unser Hauptaugenmerk auf den Begriff der Angst lenken, der nicht nur "die 3 Bände der Strukturen des Bösen innerlich wie ein Ariadnefaden durchzieht" (SB I, LXXXX), sondern ohne den als Schlüssel sich auch keine Tür zum Verständnis des Menschen bei E.D. öffnen läßt.
Wesentlich für das Verständnis E.D.s ist es zuvorderst, zu sehen, welche immense Macht er dem Faktor Angst im Menschenleben zuspricht. In all seinen Bezügen ist der Mensch das Wesen der Angst, und nichts an ihm läßt sich wirklich begreifen, ohne diesem nicht hintergehbaren Grunddatum Rechnung zu tragen. Angst ist das geheime, das innerste Zentrum des natürlichen Menschen, Angst ist der Motor, die treibende Kraft, welche alles Böse, alle Zerrformen des Menschlichen sowohl im Leben des Einzelnen als auch in der Gesellschaft und der Menschheitsgeschichte hervorbrachte und -bringt.
Ohne die Angst mit zu bedenken, die allgegenwärtig im Hintergrund lauert, bleibt unverständlich, wie der Mensch böse werden muß und böse ist, bleibt unverständlich, worin denn eigentlich seine von ihm selbst aus unauflösbare Schuld besteht, bleibt unklar, warum es außerhalb des Glaubens kein Heil gibt, bleibt schleierhaft, warum der Mensch unabdingbar der Gnade und Erlösung von Seiten Gottes bedarf.
In diesem Sinne interpretiert E.D. denn auch die jahwistische Urgeschichte auf seiner ersten, der exegetischen Stufe, beginnend mit der Paradieseserzählung Gen 2,4b-25, endend mit dem Turmbau zu Babel Gen 11,1-9:
Einmal herausgefallen aus der Nähe zu Gott ist die maßgebliche Triebfeder allen Tuns des Menschen die Angst, welche ihn in zunehmendem Maße sowohl individuell als auch kollektiv immer tiefer in Unheil und Chaos hinein treibt.
In Gen 2,4b-25 ist die Welt, ist der Mensch noch in Ordnung, ist alles so wie es "vom Ursprung her von Gott gemeint war." (SB I, 24)
In Gen 3 dann wird die Maschinerie der Angst in Gang gesetzt und kann vom Menschen nicht mehr gestoppt werden.
Gen 3,1-7, der SÜNDENFALL Evas und Adams erfolgt aus einem uranfänglichen Zweifel und Mißtrauen gegenüber Gott, provoziert durch die Schlange. Die Androhung der Todesstrafe, welche das Vergehen gegen das Essverbot seitens Gottes nach sich zöge, erzeugt nun Angst vor diesem Gott.
"Er, der wenig vorher der Ursprung und Garant des Lebens der Menschen war, erscheint jetzt als der Bedrohende und den Tod Verhängende." (SB I, 62)
Um mit diesem Gott noch zurecht zu kommen, muß der Mensch sich gegen ihn stellen, muß gleichsam selbst wie Gott werden, "aber er fällt dadurch radikal auf seine bloße Kreatürlichkeit zurück." (SB I, 107) Einmal aus Angst abgefallen von Gott wächst die Angst: Der Mensch erkennt sich als nackt vor Gott und versteckt sich. Er vermag aus Angst seine Schuld nicht einzugestehen (Gen 3,8-13) und erhält dafür seine Strafe: Fern von Gott, vertrieben aus dem Paradies, ist er dazu verurteilt, "aus Angst vor dem Sterben in Angst vor dem Sterben zu leben" (SB I, 96). Denn " ... das bedeutet es, ohne Gott leben zu müssen: daß die Todesangst das Leben auffrißt." (ebd.)
Solchermaßen in der Gottferne, im Feld der Angst angesiedelt, kommt es dann zum Mord unter den ersten Kindern der Vertriebenen, Kain und Abel (Gen 4,1-8). Getrennt von Gott müssen die Menschen die Religion erfinden, müssen sie dem Gott Opfer darbringen, um durch die Annahme derselben sich selbst angenommen und in ihrer Angst beschwichtigt zu wissen. Die Nichtannahme des Opfers Kains durch Gott führt dazu, daß dieser seinen Konkurrenten vor Gott beseitigt. Dies wiederum hat zur Folge, daß "der bereits Verbannte ... jetzt zu einem Menschen auf der Flucht (wird, d.V.); das bislang nur bestrafte Leben wird jetzt vollend ein verfluchtes Leben. ... es ist ein Leben voller Angst und Hast, getrieben und unsicher, heimatlos und wuzellos." (SB I, 139)
In der Folge kommt es zur ersten Stadtgründung (Gen 4,9-16) sowie zur Entwicklung der ersten Techniken (Gen 4, 19-22), was insgesamt als Versuch zu werten ist, "die Heimatlosigkeit ("Nod") zu überwinden und ... in einer unfruchtbar und feindlich gewordenen Welt seßhaft zu werden." (SB I, 159f)
Im Schwertlied Lamechs (Gen 4,23f) kommt zum Ausdruck, wie der Mensch nun seine Ungesichertheit und Angst selbst in die Hand nimmt, indem er diejenigen mit dem Tode bedroht, die ihm Feind sind.
"Die Angst vor dem Tod wird zur Furcht vor dem anderen und als solche ein Werkzeug der eigenen Sicherheit." (SB I, 161)
In der Verbindung der Menschentöchter mit den Göttersöhnen (Gen 6,1-4) versuchen die Menschen sodann, an Gott vorbei sich mit dem Göttlichen zu vereinigen, und beschwören durch die "Vergötterung ihrer generativen Kräfte" (SB I, 188), durch ihre Maßlösigkeit, den totalen Untergang herauf. Gott läßt die Sintflut über die Erde hereinbrechen (Gen 6,5-8;7,1-8.22) um sie von den Gräueln des Menschen zu reinigen und gewährt einen Neuanfang für den Menschen und alles Leben.
Jedoch der Mensch hat sich nicht geändert. Im folgenden beschreibt Jahwist laut E.D., wie sich die angstgetriebene Bosheit des Menschen fern von Gott in den Völkerschicksalen weltweit auswirkt. Um das Gegeneinander und die Herrschaftsverhältnisse der Völker untereinander zu erklären, bedient er sich der ätiologischen Erzählung von den drei Noah-Söhnen und der Blöße des betrunkenen Vaters, - ein erneuter Sündenfall (Gen 9,18-27).
"Was der Abfall von Gott für das Menschsein bedeutet, hat sich Gen 2-6 gezeigt; was er für die menschliche Geschichte bedeutet, macht der Abschnitt der Urgeschichte nach der Flut bis hin zu Gen 11,1-9 deutlich." (SB I, 259)
In Gen 10, 8-12 taucht in der Gestalt Nimrods der erste Gewaltherrscher auf, "Aggression als Grundzug des Menschseins begründet nunmehr die politischen Formen des Handelns" (SB I, 274) und "die Menschheitsgeschichte erscheint ... als Dissoziation unter dem Szepter der Gewalt." (ebd., 275)
Die Turmbauerzählung Gen 11,1-9 schließlich stellt das, wie die Menschheit daran scheitert, sich selbst Einheit und Mittelpunkt zu schaffen, ohne und gegen Gott; der Versuch, sich nun tatsächlich an die Stelle Gottes zu setzen, "die kollektive Vergöttlichung des menschlichen Geschlechts" (SB I, 309) mündet in die ganzmenschheitliche Katastrophe: Zerfall der Menschheit, Zerstreuung über die ganze Erde. "Das Kain-und-Abel-Schicksal ist jetzt Völkerschicksal." (ebd.)
Um es kurz zusammen zu fassen: Der uranfänglich aus dem Vertrauen zu Gott herausgefallene Mensch existiert wesentlich in Angst. Diese äußert sich in Konkurrenzstreben, Neid, Drohung, Gewalt, Kulturschaffen und hybridem Gottähnlichkeitsstreben, alles Formen der Angstabwehr und -kompensation, welche einzig bewirken, daß die Angst immer mehr anwächst, immer mehr gesteigert wird und letztlich den Menschen individuell wie kollektiv ins Desaster stürzt.
Woher stammt nun aber diese allgewaltige Angst, welche das Menschengeschlecht in unmenschliche Strukturen hinein treibt und es unerbittlich darin fest hält?
Eine erste, vorläufige Antwort finden wir mit E.D. in der Biologie, näherhin in der Ethologie: Im menschlichen Erleben lassen sich typische Grundängste, Angstszenarien feststellen, wie sie auch in analoger Art im Tierreich beobachtbar sind. E.D. spricht hier von "paläoanthropologischen" Ängsten, d.h. von Formen des Angsterlebens, die stammesgeschichtlich präformiert sind. Diese Ängste, der Zahl nach fünf, weisen eine beachtliche Übereinstimmung mit der Situation und den Strafen auf, welche Gott nach dem Sündenfall über die ersten Menschen verhängte. Auch von daher also erhellt, daß sie das nur-kreatürliche Dasein des Menschen in angemessener Weise beschreiben.
Das Phänomen der SCHULDANGST findet sich in Vorformen schon bei Tieren; so läßt sich z.B. in Vogelpopulationen beobachten, daß äußerlich abweichende Exemplare eine Mobbingaggressivität auslösen und gnadenlos ausgemerzt werden.
Wir haben hier eine " ... archetypische Szene von Schuld (= Krankheit, Abweichung) und Sühne (= Ausmerzung), deren biologisch-selektiver Sinn in der Vernichtung des Krankhaften durch die Gruppe liegen dürfte." (SB II, 224)
Bei dem Abweichler ist eine Angst anzunehmen,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Klaus Strohmaier
Tag der Veröffentlichung: 22.11.2013
ISBN: 978-3-7309-6387-6
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