Es bestand kein Zweifel. Sie war fort. Moni war verschwunden. Wie immer, wenn er die Spätschicht hatte, war er um halb elf Uhr abends nach Hause gekommen. Monis Auto stand nicht vor dem Haus. Humphrey saß in der Badewanne und heulte. Schuldbewußt, mit geducktem Kopf und eingezogenem Schwanz schaute er Gerd an. Moni musste schon länger weg sein. Humphrey hatte ein Häufchen in die hinterste Ecke des Schlafzimmers gesetzt. Und Marylin hatte ihn schon an der Haustür erwartet, verfolgte ihn auf Schritt und Tritt, maunzte herzerweichend. Sie hatte grossen Hunger.
Moni ist nicht zuhause, und das ist überhaupt nicht ihre Art. Ihr muß etwas passiert sein, dachte er. Nie würde sie ihre Tiere vernachlässigen. Das war undenkbar.
Während er Humphreys Bescherung beseitigte, den ohnehin schon recht fleckigen Teppichboden schrubbte, für Marylin ein Stück Fisch kochte, dann mit Humphrey eine Runde um den Block ging, damit der arme Kerl sich ohne Skrupel erleichtern konnte, überlegte er, verwirrt wie er war, fieberhaft: Moni ist fort. Sie ist überhaupt nicht nach Hause gekommen.
Moni arbeitete halbtags in einer Spedition und war immer spätestens um halb eins zu Hause.
Und das Geschirr steht ungespült in der Küche. Um den Hasenkäfig herum liegt alles voller Sägespäne. Sie war gar nicht hier. Sie hat nicht Staub gesaugt. Das macht sie sonst immer. Moni braucht ihr ordentliches, ihr reinliches Zuhause; ihr Revier muß sauber sein.
Es bringt auch nichts, bei irgendwelchen Bekannten anzurufen, denn sie ist nicht der Typ, der seine Lieblinge vernachlässigt und sich stattdessen mit irgendwelchen Leuten trifft. Und überhaupt hätte sie mir auf der Arbeit Bescheid gesagt, wenn sie irgendwie gekonnt hätte. Etwas Schlimmes muß geschehen sein, ein Unglück. Moni ist verschwunden.
Möglicherweise ist Kimba tot. Kimba, die alte Dalmtinerhündin ihrer Eltern. Ein schwacher Hoffnungsschimmer. Es könnte so sein. Moni wäre so durch den Wind, so kopflos, so geschockt, daß sie darüber alles vergessen hätte. Aber nein. Ihre Eltern hätten mittlerweile längst angerufen und Bescheid gesagt. Wenn sie aber nicht bei ihren Eltern ist, wo dann? Ein Unfall, - ich muß bei der Polizei nachfragen; ich muß sämtliche Krankenhäuser in der Umgebung anrufen ... sie liegt da irgendwo in einem Krankenhausbett einer Intensivstation, schwer verletzt, vielleicht im Koma. Aber auch das ist irgendwie falsch. Sie hat immer ihre Papiere bei sich. Man hätte mich längst informiert. Oder kann ein Diesel-PKW in Brand geraten? Ich weiß es nicht. Ihre Papiere bewahrt sie immer im Handschuhfach auf ... Auch falsch, alles falsch! Ein Auto hat Kennzeichen; über die kann ruck-zuck der Halter ermittelt werden. Der bin ich. Etwas Furchtbares ist passiert. Moni ist wie vom Erdboden verschwunden. Sie ist einfach nicht nach Hause gekommen. Sie trinkt nicht, sie nimmt keine Drogen, - keiner weiß etwas. Also muss ihr etwas passiert sein, ohne daß irgend jemand davon Kenntnis nehmen konnte. Aber wie soll das möglich sein? Ein Herzinfarkt im Auto, irgendwo auf einem Parkplatz? Eine Panikattacke? Aber wo? Sicher, sie raucht zu viel, aber, aber ihre tägliche Fahrt von der Arbeitsstelle in Fellbach hierher nach Schorndorf führt über die viel befahrene B29. Man hätte sie längst gefunden.
An diesem Tag, am 31. Mai 2002 verschwand Moni Steiner spurlos. Und mit ihr auch ihr alter Ford Escort Diesel.
Weder ihre Eltern, noch ihr Bruder, noch irgendwelche Bekannten hatten irgendetwas von ihr gehört. Sie war in keinen Autounfall verwickelt gewesen, kein Notarzt, kein Krankenhaus im ganzen Großraum Stuttgart wussten von Moni.
Die Polizeidienststelle in Schorndorf hatte am folgenden Tag die Vermisstenmeldung aufgenommen.
Marylin war unglücklich und verkroch sich stundenlang unterm Bett. Und Humphrey tigerte rastlos in der Wohnung auf und ab, durchstreifte unaufhörlich die zwei Zimmer und die Küche, lauschte auf jedes vorbeifahrende Auto, fraß nichts mehr und drückte sich abends im Bett an Gerd, ebenso schlaflos und verzweifelt, wie dieser.
Moni war nicht mehr da.
Du weißt ja sicher, daß Moni schon immer etwas seltsam war", meinte ihr Vater Hartmut Meister, als Gerd am Sonntag zu seinen Schwiegereltern ins benachbarte Plüderhausen gefahren war.
Warum eigentlich? Um Trost zu suchen? Um sich zu beratschlagen? Um Hilfe zu finden? - Wohl kaum. Er wusste, sie waren genau so ratlos, ja fassungslos ob des Geschehenen - was war denn eigentlich geschehen? - wie er.
Was also versprach er sich davon? Nichts eigentlich, - und doch musste er irgendwie beginnen. Irgendwo musste es einen Ausgangspunkt für die Nachforschungen nach seiner Moni geben. Er musste sich auf die Suche nach ihr machen und er war überzeugt davon, er würde sie finden.
„Sicher, Moni ist eigenartig. Das empfand ich schon so vom ersten Tag an, als ich sie kennen lernte", erwiderte er. „Aber was genau meinst du mit `seltsam´?“
„Nun, ich meine - ja, eben seltsam..." Er stockte. „Sie, sie zieht sich manchmal ganz extrem zurück. Dann will sie mit niemandem mehr was zu tun haben." Er hielt inne und kratzte sich am Kopf, suchte nach den passenden Worten. „Wie ein Einsiedler ist sie dann, will von allen Menschen, auch von den nahestehendsten, nur noch in Ruhe gelassen werden."
Gerd nickte. Er wusste genau, was Hartmut meinte.
Sylvia, seine Schwiegermutter, ergänzte ihren Mann: „Weißt du, sie neigt zu Depressionen.“ Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie weiterredete: „Manchmal glaub ich, daß sie ganz nah am Abgrund lebt, daß sie keine Freude hat am Leben. Das hat sie von mir ... und, und, und wenn sie sich zurückzieht, dann, dann ... ich hab so schreckliche Angst!"
Jetzt war es um ihre Fassung ganz geschehen. Sie zitterte und wurde von heftigen Schluchzern geschüttelt.
„Ich hab auch Angst, ganz furchtbar Angst vor etwas, was ich nicht begreifen kann“, sagte Gerd leise und legte einen Arm um sie. „Aber was du meinst, was du da denkst, das hat Moni nicht getan. Und wenn sie eine noch so depressive Phase hätte, sie könnte das nicht tun. Nicht mehr, seitdem sie Humphrey hat. Nie würd sie ihn im Stich lassen, dafür liebt sie ihn viel zu sehr. Nein, sie würd' sich nicht auf diese Art davonstehlen - und", er musste schlucken... ‚ „sie brächte es heute auch nicht mehr fertig, sich eine Auszeit zu nehmen um die Einsiedlerin zu spielen. Überhaupt, wo hätte sie denn hingehn sollen? Ich hab doch schon alle in Frage kommenden Bekannten abgeklappert."
„Du kennst Moni nicht so gut und so lange,wie wir sie kennen", fiel ihm Hartmut Meister ins Wort „Was wir mit ihr erlebt haben, das hast du noch nicht erlebt. Sie ist manchmal völlig unberechenbar. Wenn du nur wüsstest..."
„Mag sein", erwiderte Gerd.
Sylvia nickte bedeutungsvoll mit dem Kopf. Was ihr Mann sagte, war immer richtig.
„Und trotzdem bin ich überzeugt von dem, was ich sage. Sie würde sich nichts antun, - und sie war in letzter Zeit auch nicht bedrückt. Ganz im Gegenteil hatten wir beide für die kommende Zeit recht große und hoffnungsvolle Pläne..." Er hielt inne, räusperte sich. „Andererseits will ich auch nichts wirklich völlig ausschließen. Wenn sie ... hm, dann würde man sie finden. Morgen machen sich die Taucher daran, den Plüderhauser Baggersee zu durchsuchen."
„Und du?" platzte Sylvia Meister dazwischen, „wie kommst du damit zurecht? Willst, willst du nicht bei uns wohnen, bis, bis wir ... bis wir wenigstens etwas wissen?"
„Ich werd mich morgen beurlauben, mich dienstfrei stellen lassen - und zwar so lange, bis ich weiß, was mit Moni geschehen ist. Für Humphrey, Marylin und die Häschen ist es wohl das Beste, wenn wir wie bisher im Schumannweg wohnen bleiben. Außerdem fange ich heute noch an, nach Moni zu suchen … und mit Humphreys Hilfe werd ich sie finden!"
Hartmut schüttelte den Kopf. „Hältst du das wirklich für eine gute Idee? Überleg mal: nicht mehr arbeiten gehen, nach ihr suchen ... wie stellst du dir das überhaupt vor?"
„So, wie ichs gesagt habe!"
„Junge, du machst dich unglücklich." Er nickte bedeutungsvoll, um das Gesagte zu unterstreichen. „Du machst dich verrückt, du drehst durch, wenn du nur noch daran denkst und nichts anderes mehr tust … vielleicht, möglicherweise, bringst du dich selbst damit in große Gefahr!"
Gerd stand auf und verabschiedete sich. Solche klugen Sprüche konnte er gerade noch brauchen. Finden würde er seine Moni - und wenn es das Letzte wäre, was er auf dieser Welt täte.
Nach all seinem bisherigen Nachdenken gab es nicht mehr allzu viele Möglichkeiten: Entweder war Moni entführt worden (- aber von wem und wozu? Es gab bei ihm keine Reichtümer zu holen -)' oder aber ... doch das schloss er aus, musste er ganz einfach ausschließen. Moni lebte noch. So etwas spürt man. Das weiß man ganz einfach.
Den Rest des Tages nutzte er, um mit Humphrey zusammen all die vertrauten Wege zu durchstreifen, die sie so oft zu dritt gegangen waren: den Grüß-Gott-Weg zwischen Schorndorf und Weiler, den Wald hoch bis nach Schlichten, die Joggingstrecke am Aichenbach und den Fledermaus-Weg, den sie so genannt hatten, weil dort ein Schild zu finden war, auf dem die heimischen Fledermäuse erklärt und beschrieben wurden. Zuletzt durchwanderten sie auch noch den riesigen Wald beim Bärenhof, gleich hinter Urbach. Nicht etwa, daß er geglaubt hätte, gerade hier irgendwo auf eine Spur von Moni zu stoßen; aber nach dem Ausschlußprinzip mußte er ja irgendwo beginnen, warum also nicht hier? Körperlich erschöpft, aber mit einem etwas freieren Kopf kam er mit Humphrey, dem schwarzglänzenden Labrador-Mix zu Hause an, als gerade die Sonne rotgolden hinter den Weinbergen des Remstals versank.
Wenigstens schlafen könnten sie diese Nacht. Und morgen, nun, morgen würden sie weitersehen.
Kaum hatten sie die Tür hinter sich geschlossen, durchsuchte Humphrey mit gesenktem Kopf aufs Neue jeden Raum und jede Nische, wohlwissend, daß er sein Frauchen nicht entdecken würde. Danach setzte er sich fragend vor Gerd hin, mit flehenden Augen, die Stirn in Falten gelegt: Nun sag mir doch endlich, wo sie ist. Du musst es doch wissen!
„Ach Humphrey, mein Lieber, ich hab doch selbst keine Ahnung. Aber glaub mir, du und ich, wir werden sie finden. Wir kriegen sie wieder, mein guter Humphrey. Wir bringen sie zurück, du und ich, ganz bestimmt."
Die letzten Worte hatte er so voller Zuversicht und Optimismus gesprochen, daß der Hund aufgestanden war und nun schwanzwedelnd vor ihm stand: Ja, das glaub ich auch!
„Aber jetzt, Humphrey, essen wir noch was und dann gehen wir Schlafi machen, ja!?"
Humphrey bellte zustimmend.
Eine halbe Stunde später lagen sie aneinandergekuschelt in Monis Bett. Humphrey schnarchte bald durchdringend, aber bei Gerd wollte sich trotz aller Müdigkeit der Schlaf nicht einstellen. Zu all den rotierenden Gedanken in seinem Kopf, vor denen er den Nachmittag über, wie es ihm jetzt schien, stramm davongelaufen war, gesellte sich noch ein weiteres Ungemach. Die Wohnung unter ihm im ersten Stock war dieser Tage neu vermietet worden, und das junge Paar russland-deutscher Aussiedler, von dem man tagsüber nie etwas mitkriegte, befand sich nächtens in lautstarken, bohrend-sägenden Renovierungsarbeiten.
Wie angenehm war dagegen Monis Onkel Josef Ruß gewesen, eigentlich ihr Großonkel, achtundneunzig Jahre alt und nahezu stocktaub, der vor einigen Wochen aus eigenem Entschluß aus seiner Wohnung ausgezogen war und sich in einem Pflegeheim einquartiert hatte.
Na gut, man weiß manche Dinge immer erst im Nachhinein zu schätzen. Wie oft hatte sich Moni über Onkel Ruß' Starrsinn und diktatorisches Gehabe ausgelassen. Wie oft hatte sie gejammert und sich beschwert. Wie oft hatte sie ihn zum Teufel gewünscht.
Sie war für ihn einkaufen gegangen und hatte ihm die Wohnung geputzt - gegen ein großzügiges Entgelt, das muß man zugeben. Was sie aber regelmäßig auf die Palme gebracht hatte war, daß der Alte die Dinge jetzt erledigt haben wollte, und zwar genau jetzt, wenn er es wollte, ohne jede Rücksicht auf Monis Befindlichkeiten oder Pläne. Tagtäglich hatte er ihr schon auf der Treppe aufgelauert, wenn sie von der Arbeit kam, hatte sie abgepasst, um sie mit seinen Wünschen und Schrullen einzudecken.
Eins aber musste man gerechterweise zugeben: Er war ruhig gewesen, mucksmäuschenstill, fast so, als ob er gar nicht anwesend gewesen wäre. Und er hatte sich seinerseits nie beschwert über die oft viel zu laute Musik von oben.
Ja, das war Onkel Ruß. Aber der war jetzt nicht mehr da, - und seine Nachfolger schienen den Begriff nächtliche Ruhestörung nicht zu kennen.
Vielleicht war's aber auch ungerecht, daß Gerd seine Schlaflosigkeit nun auf die beiden Störenfriede schob. Zwei Stunden des Hin- und Herwälzens, fand er, waren jedenfalls genug. In einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit trabte Gerd in den Keller, suchte eine Flasche Lemberger und setzte sich dann an den kleinen Küchentisch.
Ob Moni irgendwelche Feinde gehabt hätte? Das hatte ihn der Polizist bei der Aufnahme der Vermisstenmeldung gefragt. - Nein, nicht daß er wüsste. War ihm in letzter Zeit irgend etwas Auffälliges begegnet? - Aber was war schon auffällig?
Für manche Zeitgenossen war das ganze Leben auffällig und verdächtig, jeder kleinste Pups. Aber er gehörte nicht zu denen. Er war kein Paranoiker. Sein und Monis Leben war ein ganz normales, etwas zurückgezogenes, eben ein unauffälliges Leben gewesen, bisher jedenfalls.
Klar, da hatte es immer mal wieder diese kleineren Aufgeregtheiten gegeben, wenn Moni mit Humphrey vom Gassigehn zurückgekommen war. Leute, über die sie sich geärgert hatte, weil die ihre Hundeliebe nicht teilten. Spaziergänger, welche sich beschwert, sie angiftet hatten, einfach deshalb, weil sie einen schwarzen, mittelgroßen Hund mit sich führte, dessen oberster Leitsatz lautete: Begrüße jeden Menschen mit überschwänglicher Freude, am Besten durch eifriges Hochspringen und liebevolles Abschlecken.
Selten war es vorgekommen, daß völlig hundeunkundige Menschen sich von Humphreys stürmischen Annäherungsversuchen bedroht gefühlt und in Panik nach ihm getreten hatten. Und ja, einmal hatte ein Passant mit einem Gasspray für Abstand gesorgt und dabei Moni und Humphrey böse eingenebelt.
Nein, Moni hatte sicherlich keinen besonderen Hang und Drang hin zu den Zweibeinern. Sie verstand sie auch nicht sehr gut. Ihre Liebe galt Humphrey - und letztlich allen Hunden. Jeder Hund konnte sie in Entzücken versetzen, sie faszinieren, ihr Herz höher schlagen lassen. Na ja, vielleicht fast jeder. Gegen den Deutschen Schäferhund hatte sie ein Vorurteil. Humphrey war als Welpe von einem gebissen und arg verletzt worden.
Aber Feinde? Nein, Feinde hatte sie ebensowenig unter den Menschen, wie übermäßig gute Freunde.
Wenn man eine Flasche Wein getrunken hat, wird oft vieles deutlicher und klarer. Die Logik wird schärfer, weil einfacher.
Wenn jemand keine dezidierten Feinde hat ... was bleibt? Und wenn noch dazu kommt, daß durch eine Entführung nichts gewonnen werden kann ...? Allenfalls entweder ein Durchgeknallter, ein Verrückter, und das hieße, ein zufälliges Gewaltverbrechen, - oder aber, und davon mußte er ausgehen: es gab ein Geheimnis um Moni. Moni, ein Geheimnis. Dinge, die ihm nicht klar waren. Geheimnisvolle Zusammenhänge, die er noch nicht verstand, aber immer schon geahnt und gedanklich umschrieben hatte.
„Du bist der eigenartigste Mensch, den ich je kennenlernte”, hatte er zu ihr vor einem Jahr gesagt. Eigenartig, seltsam, merkwürdig - irgendwie anders. Das waren Worte, die ihm durch den Kopf spukten, aber sie beruhten auf Ahnungen, auf Gefühlen, und sie ließen sich heute wie vor einem Jahr noch nicht klar lokalisieren, nicht definieren, nicht mit konkreten Inhalten füllen.
Das Gefühl 'eigenartig' war präsenter denn je, jetzt, mit einer Flasche Rotwein intus, - und zugleich ergab sich kein vernünftiger Gedanke mehr.
Zeit ins Bett zu gehen, sagte er sich und fiel, an Humphrey angekuschelt, sofort in tiefen Schlaf.
Früh am nächsten Morgen schreckte er aus dem verkehrten Traum hoch. Ein Blick auf den Radiowecker, grade mal halb fünf. Benommen blieb er liegen und versuchte gleichzeitig zu verstehen, was an dieser Traumsequenz so falsch gewesen war. Völlig falsch - und doch nicht ohne Sinn
Sie befanden sich auf dem Standesamt, im alten Rathaus auf dem Marktplatz von Schorndorf. Die Szene, nachdem Moni und er 'Ja' gesagt und unterschrieben hatten. Sie waren aufgestanden, und die Gratulanten kamen vorbeidefiliert, schüttelten ihnen die Hände, gaben Küsschen und beglückwünschten sie. Eine kleine Hochzeitsgesellschaft war's gewesen, vor jetzt gerade mal vier Wochen. Nur die Eltern, die Geschwister mit Anhang und ein paar wenige Verwandte und Freunde. Die Mütter gerührt, die Väter stolz und glücklich, ohne dies wirklich offen zur Schau zu tragen, und ... ja, das stimmte zum Beispiel nicht: Der alte Onkel Ruß aus dem Pflegeheim hatte gesagt, er käme nicht, er sei zu alt um noch das Tanzbein zu schwingen. Dabei war von Tanz überhaupt nicht die Rede gewesen. Aber im Traum, in diesem so realistischen Traum, stand er links vorne in der Ecke, da wo die Videokamera aufgebaut gewesen war, rührte sich nicht von der Stelle und betrachtete die Zeremonie und die anschließenden Glückwunschbekundungen mit zunehmend wütenderem Gesichtsausdruck. Bös und hässlich, ja, voller Zorn funkelten seine Augen.
Träume sind ja nicht logisch sondern psychologisch zu verstehen, dachte Gerd. Gestern Abend kam mir der Alte noch in den Sinn. Was Wunder, daß er in diesen Traum mit hineingeraten ist und mir mein irgendwie schlechtes Gewissen widerspiegelte. Weil wir, weil ich ihn vielleicht zu wenig Ernst genommen und zu wenig unterstützt, ihm eigentlich kaum unter die Arme gegriffen habe. Also kein Grund für mich, erschrocken zu sein, auch wenn er noch so garstig dreinschaute.
Aber ein anderes Element des Traumes war es, das er nicht so ohne weiteres wegwischen konnte. Der zweite Gratulant, Hartmut Meister, Monis Papa, schüttelte ihm die Hand und ließ sie dann nicht mehr los. Er zog die Augenbrauen hoch, schaute ihm streng ins Gesicht und sagte: „Hältst du das wirklich für eine gute Idee? Junge, du machst dich unglücklich! Du bringst dich in große Gefahr!"
Seine Frau Sylvia stand daneben und heulte sich die Augen aus dem Kopf.
Obwohl auch diese Szene sich recht leicht wegerklären ließe, machte sie mächtigen Eindruck auf Gerd. Irgendetwas war da ziemlich verkehrt gewesen; etwas, was ihn gestern schon irritiert hatte. Nein, nicht der Traum. Der war ja lediglich ein Bewußtmacher. Gestern Nachmittag bei seinen Schwiegereltern ... Die Verzweiflung von Sylvia, die war sicherlich echt gewesen, so voller Panik, so hoffnungslos, so leer. Mütter reagieren so, keine Frage.
Doch Hartmuts Haltung, das, was er sagte und wie er es sagte, das irritierte Gerd. Er wusste nur noch nicht recht, inwiefern und wodurch genau.
Zu gelassen, zu abgeklärt war er ihm vorgekommen. So, als würde ihn das plötzliche Verschwinden seiner Tochter nicht nur nicht aufschrecken, sondern sogar nur wenig berühren. Mussten wir nicht damit rechnen, dass dies einmal passiert? schien er auszudrücken. Jetzt ist's eben geschehen, - was sollen wir also groß machen ...?
Moni hatte Gerd ein ganz anderes Bild von ihrem Papa vermittelt: er, der Fernfahrertyp, der Starke; derjenige, der sich keine Ungerechtigkeit gefallen läßt, einer der zurückschlägt, wenn er geschlagen wird. Nun, vielleicht nichts anderes als das archetypische Bild vom Vater an sich, das in jeder Tochterseele lebendig ist.
Aber dennoch seltsam, Hartmuts ganzes Verhalten - und nicht zuletzt die Warnung an ihn, sich nicht unnötig in Gefahr zu bringen.
„Komm Humphrey, wir müssen aufstehn, frühstücken, Gassi gehen, Moni suchen!"
Bleibt noch zu erwähnen, daß die Taucher im Plüderhauser Baggersee weder Moni noch ihr Auto fanden.
Auch sonst war sie von niemandem gesehen worden. Kein Augenzeuge meldete sich, obwohl ihr Foto in den lokalen Tageszeitungen und im Regionalfernsehen bekannt gemacht worden war.
Moni Steiner war und blieb verschwunden.
„Es hat überhaupt keinen Sinn, meine Liebe, daß du dich dagegen
sträubst oder wehrst. Aber von jetzt an werden wir, und nur wir, über dein restliches Leben bestimmen müssen!"
Die Frau, die da vor ihr stand, groß und breit, in eine Riesenjeans und einen fleckigen Pullover gekleidet, mit einer albernen Strumpfmaske über dem Gesicht, wie man sie aus billigen Fernsehkrimis kennt, sprach nicht hart, nicht drohend. Mit der rechten Hand strich sie Moni die Haare aus dem Gesicht. Moni schlug reflexartig danach und war gleichzeitig erstaunt, daß man sie nicht gefesselt hatte.
Sie hatten sie auf einer Pritsche, einer Art Feldbett abgelegt, wo sie gerade eben zu sich gekommen war. Die Dicke mußte schon darauf gewartet haben, daß sie aufwachte. Sie sagte nur: „Na, na, na, wer wird denn gleich so heftig werden? Keiner will dir hier irgendetwas Böses. Du bist jetzt da, wo du's gut hast. Wir beschützen dich."
Mit ihrer warmen Stimme fuhr sie fort: „Aber das ist jetzt alles ein bißchen viel für dich. Laß dir Zeit mit dem Aufwachen, hast ja auch so tief geschlafen."
Sie lachte dabei freundlich. „Nachher, wenn du ganz bei Sinnen bist, wenn du dich frisch gemacht und was Leckeres gegessen hast, sag ich dir, wie´s weitergehen könnte." Sie drehte sich um und ging in Richtung Tür. Moni wollte aufspringen, der Frau mit den Fingernägeln an die Kehle gehen, wollte sie anschreien: „ Was soll das alles hier, verdammt nochmal …!“, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht, knickten weg wie Gummi, und aus ihrem Hals kam lediglich ein heiseres Krächzen. Auf dem Boden zusammengekauert wimmerte sie: „Was habt ihr mit mir gemacht? Was habt ihr mir getan?“
Die korpulente Frau, die mittlerweile den halben Weg zur Tür zurück gelegt hatte, sagte nur: „Albert!“ – und verließ dann schnurstracks den Raum.
Aus dem Schatten an der Wand bei der Tür löste sich eine männliche Person, ebenfalls mit einer Stzrumpfmaske unkenntlich gemacht, und kam auf Moni zu. Er fasste sie unter den Armen und setzte sie zurück auf die Pritsche.
„Ein bisschen viel Chloroform auf einmal“, murmelte er dabei.
„Wo bin ich hier? Wer seid ihr? Was macht ihr mit mir?“ ächzte Moni.
Der Maskierte jedoch blieb stumm und ging gemessenen Schrittes wieder an den Platz zurück, von dem er hergekommen war.
Er ist nur der Wächter, dachte sie. Und er darf wohl nicht mit mir reden.
So dumpf sie auch noch im Kopf war, dämmerte ihr doch ihre Situation, und die Erinnerung kehrte allmählich zurück.
Nach der Arbeit war sie wie immer in ihr Auto eingestiegen – und dort hatte, hinter den Sitzen versteckt, jemand auf sie gewartet, hatte ihr einen süßlich stinkenden Lappen ins Gesicht gedrückt - und dann wusste sie nichts mehr, bis sie gerade eben wieder ins wache Leben zurückgekehrt war.
Oh Gott, dachte sie in einem Anflug belustigter Panik. Ich bin ein Entführungsopfer. Ich, Moni Steiner, werde berühmt, so berühmt wie Reemtsma oder wie, wie, Scheisse, wie hieß der doch gleich? Den sie erschossen haben, diese Terroristen, und den man dann erst Wochen später im Kofferraum seines Autos gefunden hat.
Sie hielt inne, spürte, daß sie sonst gleich einen hysterischen Lachkrampf bekäme, gluckste, stellte sich vor, sie, ermordet, im Kofferraum ihres Ford- Kombi, wo jeder sie sofort entdecken würde. Sie prustete los vor Lachen, völlig haltlos, bebte, schüttelte sich vor Lachen, musste husten, bekam keine Luft mehr, lachte weiter in Wellen, die nicht aufzuhalten waren, wand sich auf dem Boden in etwas, das sie nicht mehr kontrollieren konnte, zunächst schreiend, schließlich kreischend.
Fünf Minuten später war es vorüber, so plötzlich, wie es über sie gekommen war. Keuchend rappelte sie sich auf und setzte sich zurück auf das Feldbett, starrte blicklos die gegenüberliegende Wand an.
Sie könnten mich totmachen! - Das war die bittere Wahrheit. Aber so etwas passierte immer nur anderen, die man nicht kannte, die weit weg waren und über die dann kurz etwas in den Nachrichten gesagt wurde. So etwas gab es doch gar nicht wirklich im Sozial- und Hängemattenstaat Deutschland. So was kam nicht tatsächlich vor, nicht im wirklichen Leben, sondern nur im Fernsehen.
Sie hatten sie gestohlen, geraubt, entführt. Und sie konnten mit ihr machen, was sie wollten. Sie konnten sie quälen, sie foltern, sie vergewaltigen. Sie konnten ihr Körperteile abschneiden und diese an Gerd oder ihre Eltern schicken, um Geld für sie zu bekommen. Und sie konnten sie totmachen, wenn sie wollten. - Aber so etwas tut doch niemand, das gibt's nur im Film.
Sie würden sie töten, wenn sie das Geld bekommen hätten. Das machten sie immer so. Dann brauchten sie sie ja nicht mehr.
Es war nur noch eine Frage der Zeit, dann würden sie ihr mit einer Pistole in den Hinterkopf schiessen. Dabei spürt man überhaupt nichts, keine Schmerzen. Stamm- und Zwischenhirn sind sofort tot. Keine Schmerzen, wenn sie es gut machen. - Aber dann bin ich tot.
Unstet ließ sie ihre Augen hin- und herwandern. Ein aus Ziegeln gemauerter Raum, riesig groß und bestimmt zehn Meter hoch. Fenster gab es nur ganz oben. Eine alte Fabrikhalle. Nur die eine Tür? Die mit dem Wächter? Aber das konnte sie nicht sicher sagen, denn die Grenzen des Raumes verschwanden in Schatten und Dunkelheit.
Über ihr hatten sie eine einsame Glühbirne angebracht, die an einem langen Kabel etwa einen Meter über ihrem Kopf baumelte. Neben ihrer Pritsche stand ein Tischchen mit zwei Stühlen. Auf dem Tisch befand sich ein Teller mit einem belegten Baguette darauf und eine Flasche Mineralwasser. Auf der anderen Seite des Bettes hatten sie einen alten Waschtisch hingestellt, offensichtlich frisches Wasser im Becken, Zahnbürste, Zahncreme, Seife, Handtücher, Waschlappen und eine Garnitur frische Wäsche daneben.
Es gibt ja die Polizei. Die Polizei in Deutschland ist sehr gut in solchen Sachen. Das BKA und so. Die SOKO. Die holen mich hier raus. Die werfen Tränengas und Blendgranaten und dann stürmen sie rein in ihren Kampfanzügen, in kugelsicheren Westen, mit Maschinenpistolen. Das ist ne Kleinigkeit für die, mich hier raus zu holen. Der Typ da an der Tür wird sich wundern, der mit der blöden Mütze überm Gesicht.
Und Humphrey, der findet mich auch. Wenn's um mich geht, dann ist er ein richtiger Kampfhund. Dann beißt er auf alles, was sich ihm in den Weg stellt. Aber sie dürfen ihm nichts tun. Er ist ja immer noch so verspielt, so kindlich. Nein, meinem Humphrey dürfen sie nichts tun, sonst bring ich sie alle um.
Leise weinte sie vor sich hin. Die Tränen strömten ihr geräuschlos übers Gesicht.
Sie werden mich wahrscheinlich töten, aber meinem Humphrey dürfen sie kein Härchen krümmen. Dann ist immer noch Gerd da. Der passt auf Humphrey auf. Der mag ihn und der guckt, daß es ihm gut geht. Und Marilyn und die Häschen. Gerd macht das schon.
Aber ich bin tot - und Gerd ist ganz allein mit Humphrey, Marilyn, Stan und Olli.
Leise weinte sie weiter vor sich hin. - Alles egal! Warum sollte sie sich überhaupt noch waschen, sich die Zähne putzen, etwas essen? Nur, damit die Scheiß-Entführer noch ein schönes Erpresser-Video von ihr herstellen konnten, ein vorteilhaftes, um möglichst viel Geld rauszuholen - um sie danach abzuknallen?
Nein, den Gefallen wurde sie ihnen nicht tun. So tot, wie sie schon war, so wollte sie auch aussehen.
„Hör doch endlich auf zu heulen", herrschte er sie an. Er saß den ganzen Tag nur noch im Sessel herum, tatenlos, hilflos, resigniert, während sie wie ein aufgescheuchtes Huhn in der ganzen Wohnung herum geisterte, dies in die Hand nahm, jenes weglegte, hier etwas verschob, dort etwas anders arrangierte. Völlig sinnlos das alles, und dabei wimmerte sie unaufhörlich vor sich hin.
„Bitte, setz dich hin, nur dies eine Mal, für kurz nur, und hör mir zu", sagte Hartmut, und die Schärfe in seinem Ausdruck strafte das 'Bitte' Lügen.
Sylvia seufzte tief und ließ sich auf der Kante des Sofas nieder. Ihre Hunde verrichteten weiterhin ihre kopflosen Tätigkeiten.
„Und hör mit diesem Gefuchtel auf!" schrie er jetzt. „Du machst mich noch komplett wahnsinnig!"
Sie erstarrte in der Bewegung.
„So ist's schon besser", brummte er. „Wie soll ich denn auch denken und mit dir reden können, wenn du die ganze Zeit so rumzappelst."
„Dann sag, was du sagen willst", flüsterte sie. „Aber das wird uns unsere Moni auch nicht mehr zurückbringen. Wie, wie kannst du nur so herzlos und kalt sein und das alles ohne ein Gefühl, ohne eine Träne einfach so schlucken? Sag, was du sagen willst, und dann laß mich in Ruhe."
Er wusste, dass er sich gewaltig im Ton vergriffen hatte. Er erhob sich aus dem Sessel und setzte sich neben sie aufs Sofa, legte ihr einen Arm um die Schulter. Sie wollte sich ihm entziehen. Er hielt sie fest. Sie schluchzte.
„Hör, ich werd heut zu ihm fahren, ihn besuchen. Er weiß irgendetwas, er muß einfach etwas wissen, da bin ich mir sicher. Damals, vor fünfunddreissig Jahren, hat er das alles eingefädelt und arrangiert, oder irre ich mich etwa? Er hat das alles in die Wege geleitet und uns dann dorthin vermittelt, nicht wahr? Also kennt er doch diese Leute. Und dann muß er auch wissen oder wenigstens rauskriegen können, was sie mit ihr gemacht haben und wo sie sie hingebracht haben. Ganz sicher weiß er was, und ich lass nicht locker, bis er mir alles gesagt hat."
„Du irrst dich, Hartmut", erwiderte sie. „Der Ruß ist nur ein alter Mann, der von nichts eine Ahnung hat..."
„Von wegen", fiel er ihr ins Wort. „Er hat uns diese Suppe eingebrockt - und jetzt soll der alte Narr seine Karten auf den Tisch legen!"
„Aber wie du das jetzt darstellst, stimmt's einfach nicht. Er hat uns lediglich einen Tipp gegeben und er sagte damals, er hätte selbst bloß davon gehört oder gelesen. - Oder hat er uns etwa zu den Leuten hingebracht, uns womöglich mit ihnen bekannt gemacht, hm? - Nein, er hatte lediglich diese Telefonnummer, die er irgendwo aufgeschnappt hatte. Und die hat er uns gegeben, weil er uns helfen wollte. Einen Gefallen hat er uns tun wollen, sonst nichts."
Hartmut wollte es nicht so recht zugeben, dass ihre Version der Geschichte die richtigere war, und brummte: „Einen schönen Gefallen hat er uns da getan ... Ich geh ihn jedenfalls im Heim besuchen und wenn es nur ist, um von ihm zu hören, dass du recht hast. Aber ich glaub immer noch, er ist der Schlüssel zu allem und er wusste ganz genau Bescheid."
„Ach hör doch auf, dir selber etwas vorzumachen. Du weißt so gut wie ich, dass der Ruß Zeit seines Lebens ein armer Schlucker war. Mit solchen Leuten wie denen hatte er ja nun ganz bestimmt nichts zu tun.“
Sie war aufgestanden und hatte ihre ziellose Wanderung auf und ab und hin und her wieder aufgenommen. Dabei sprach sie weiter: „Gib doch zu, dass du dich auch über Monis Heiratspläne, die so aus heiterem Himmel gekommen sind, gefreut hast. Wir hatten's zwar damals versprochen, wir hatten unbedingt zugesichert, dass wir aufpassen würden …“
„ … aber jetzt, nach so langer Zeit, hätten wir's einfach nicht mehr für möglich gehalten, dass es Konsequenzen haben könnte", ergänzte er sie.
„Ja, so haben wir gedacht - und jetzt haben sie uns dafür die Rechnung präsentiert." Er hielt inne. „Oder hältst du es für denkbar, dass das alles nur ein blöder Zufall ist, dass das eine von heute mit dem anderen von damals überhaupt nichts zu tun hat?"
Sie gab keine Antwort, schüttelte nur stumm den Kopf.
„Sie haben sie uns weggenommen, wie sie's angedroht hatten - und wir werden sie nie mehr zurückbekommen. Das haben sie auch gesagt.”
Sie schluchzte erneut.
„Aber Sylvia, wir wissen wenigstens, dass sie lebt. Das haben sie uns doch für diesen Fall auch versprochen. Daß sie sie am Leben lassen und dafür sorgen, dass es ihr gut geht, zumindest so lange wir uns still verhalten und uns nicht an die Öffentlichkeit oder an die Polizei wenden."
„Sie ist doch unser Kind, Hartmut, und sie haben's uns weggenommen!" Tränenüberströmt setzte sie ihr rast- und ruheloses Hin- und Hergehen fort und verschwand durch die Terrassentür hinaus in den Garten, wo ihre Hände viele Blumen, Gräser und Unkräuter fanden, an denen sie herumzupfen konnten.
„Fünfunddreissig Jahre ist das jetzt her", sinnierte Hartmut Meister, „und plötzlich steht mir alles wieder vor Augen, als ob es gestern gewesen wäre."
Damals, in den Sechzigerjahren redete man ja noch nicht so offen über solche Dinge, wie heutzutage. Meiser, Fliege und Co. gab's noch nicht. Privates und Intimes war tatsächlich noch privat und intim.
Aber irgendwie hatte der Alte - er schien damals schon genau so alt gewesen zu sein wie heute - irgendwie hatte er den Braten gerochen. Sylvia und er waren schon über fünf Jahre verheiratet, aber der so heiß ersehnte Nachwuchs wollte sich nicht einstellen. Vermutlich hatte man ihnen ihr Unglück angemerkt, auch wenn sie's nicht in die Öffentlichkeit getragen hatten.
„Sie sind zwar potentiell fruchtbar", hatte der Mediziner erklärt. „Ihre Eizellen und Spermien sind makellos gesund. Leider aber, und darin scheint das Problem zu bestehen, ist die Spermiendichte zu gering und keins der kleinen Tierchen hat bisher den Weg bis hinauf rechtzeitig geschafft. Beunruhigen Sie sich nicht deswegen und probieren Sie's einfach weiter. Irgendwann wird's klappen, ganz bestimmt."
Der Kerl hatte gut reden. Sie strengten sich an bis zum Überdruß, nach Zeitplan, mit dem Kalender und dem Thermometer auf dem Nachttischchen, - aber es ging einfach nicht.
„Ich hab da eine Telefonnummer", sagte Onkel Ruß wie beiläufig beim Sonntagnachmittagskaffee. „Weiß auch nicht mehr, wie ich drauf gestoßen bin. Ich glaub in irgendeiner Illustrierten beim Arzt. Mußte dabei an euch denken und hab sie aufgeschrieben. Die geben eine Garantie auf den Erfolg.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Klaus Strohmaier
Bildmaterialien: Lisa
Tag der Veröffentlichung: 19.03.2013
ISBN: 978-3-7309-1601-8
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