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Eine verregnete Nacht




Amelia blickt hinunter in den Hof und erstarrte, als sie all die Leichen sah. Überall lagen Verwundete und ihre Schreie erfüllten die Nacht. Das Klirren von Schwertern hallte über den stetig hinunterprasselnden Regen hinweg und die Rufe der Krieger waren all gegenwärtig.
In diesem Tumult, diesem schrecklichen Durcheinander von Rüstungen, Wappen und Tod, erblickte die junge Prinzessin endlich ihren Bruder. Doch fast hätte sie Trajan Dragonsson, den rechtmäßigen Erben des Thrones von Tir naMara nicht erkannt. In seiner blutüberströmten Lederrüstung, das große Schwert ihres Vaters in seinen Händen, wirkte er nicht mehr wie der Junge, der am Nachmittag noch mit ihr Fangen gespielt hatte. Er war nun ein Anderer. Ein brutaler Krieger, der seine Feinde ohne zu zögern niederstreckte.
„Geh weiter, Mädchen!", rief einer der fremden Soldaten und trieb sie die Stufen zur Außenempore hinauf.
Amelia betrachtete den dunklen Stein, aus dem ihre zuhause erbaut wurde. Diese dunkle Farbe hatte für sie immer Sicherheit bedeutete. Die Mauern waren hoch, doch sie waren zu ihrem Schutz errichtet wurden. Und nun kamen diese Männer aus einem fernen Land, beanspruchten ihre Gastfreundschaft, tranken ihren Wein und sprachen über Frieden. Nur um am Ende diese sicheren Mauern nieder zu reißen und den Frieden zu zerstören.
Seit über 400 Jahren hatte es in Tir naMara keinen Krieg mehr gegeben. Sie hatten gute Beziehungen mit ihren Nachbaren und waren ein friedliebendes Volk. Dies wusste Amelia nur zu gut, denn die junge Prinzessin erinnerte sich an schier endlose Stunden mit ihrem Privatlehrer, in denen es um diese Beziehungen gegangen war. Doch diese fremden Männer, die von sich selbst behaupteten in der Mitte der Welt zu leben, waren über das große weite Meer im Namen eines fremden Gottes gekommen und hatten einen fremden Krieg in ihre Wälder und Städte gebracht.
Der kalte Regen, der Amelia noch wenige Minuten zuvor wie die Stiche von tausend Nadeln vorgekommen war, war nun kaum noch zu spüren. Die Kälte war bereits in ihre Glieder gekrochen und ihr dünnes Kleid war völlig durchnässt.
Amelia hatte die halbe Nacht wach gelegen und der Wut in ihrem Bauch zugehört.
Ein Stockwerk unter ihr, in der großen Halle hatte eine Feier stattgefunden und ihr war es nicht erlaubt gewesen daran teilzunehmen. Sie erinnerte sich noch genau an den Streit, den sie mit ihrer Mutter darüber geführt hatte. Sie mochte zwar noch jung sein, doch sie fand es unglaublich unfair, dass sie ausgerechnet aus diesem Grund nicht mit ihren Geschwistern in der großen Halle sein durfte.
Als Amelia an all die schlimmen Dinge dachte, die sie ihrer Mutter in diesem Streit an den Kopf geworfen hatte, an die Wut die sie ihrem Vater gegenüber empfunden hatte, weil er ihre Brüder ihr bevorzugt hatte, traten Tränen in die Augen der kleinen Prinzessin. Denn Amelia wusste, dass sie sich bei keinem von beiden je für ihr Verhalten würde entschuldigen können.
Das Letzte was ihr Vater von ihr gesehen hatte, war ein trotziger und wütender Blick.
Nun lag er dort unten, zwischen seinen treuesten Männern, erschlagen auf seinem eigenen Thron. Der König von Tir naMara war heute Nacht gefallen und Angst griff nach dem Herzen der jungen Prinzessin, denn schon bald würde sie ihm folgen ...

Der Regen prasselte auf die Körper der Toten nieder. Schreie und lautes Rufen erfüllten die Nacht.
Trajan stand im Innenhof des Schlosses von Tiarnach, umgeben von kämpfenden Soldaten. Für einen Moment verlor der junge Prinz die Orientierung. Wer war der Feind, den es zu besiegen gab und wie waren sie überhaupt in den Innenhof gelangt?
Die letzten Minuten waren viel zu schnell vorbei gegangen und er hatte das Gefühl, dass er sich überhaupt nicht mehr an Einzelheiten erinnern konnte.
In einem Moment saß Trajan noch neben seinem jüngeren Bruder Dorian in der Halle des Königs und genoss das nächtliche Festmahl mit ihren Gästen. Es war Tradition, dass in einem Adelshaus Tir naMaras Gastfreundschaft groß geschrieben wurde. Und sein Vater, der König stellte keine Ausnahme von dieser Regel dar. Sie hatten ein Fest bei Nacht abgehalten, was eine besondere Ehre darstellte. Der Tag entstand aus der Nacht heraus, und so erhob sich die Nacht über ihn.
Sie hatten die Gäste, den König von Meridios und seine Mannen, in ihren Hallen willkommen geheißen und bewirtet. Doch diese hatten sie verraten. Sie hatten heimlich ihre Waffen in die Halle des Königs gebracht und sie während des Festmahles gezogen. Viele der besten Kämpfer seines Vaters waren gefallen, bevor sie überhaupt verstanden was passierte.
Trajan sah das Bild seines Vaters vor sich, wie er auf den Stufen des Thrones zusammenbrach, erschlagen vom König der Meridier. Der Junge versuchte dieses grausame Bild aus seinen Gedanken zu vertreiben und wurde sich wieder der Männer um ihn herum bewusst. Gerade noch rechtzeitig, denn ein Meridier kam mit gezogenem Schwert auf den jungen Prinzen zu gerannt. Trajan hob das Schwert seines Vaters und parierte den ersten Schlag. Von der Wucht des Gegners getroffen taumelte er nach hinten und stolperte beinahe über den Körper eines Toten.
Die Meridier hatten eine seltsame Art zu kämpfen. Sie trugen Rüstungen aus Stahl und verließen sich ganz auf ihre Kraft. Die Kämpfer Tir naMaras hingegen verließen sich auf ihre Schnelligkeit, auf ihren Kopf und wichen in ihren leichten Lederrüstungen geschickt aus.
Doch Trajan erkannte, wer hier im Vorteil war. Sein Lederwams sog sich langsam mit Regenwasser voll und seine Bewegungen wurden immer langsamer. Währenddessen war sein Gegner in dieser Blechbüchse perfekt gegen jeden Schlag geschützt.
Verzweiflung und Panik machten sich in dem jungen Prinzen breit. Sein Vater hatte ihm das Kämpfen gelernt. Doch er hatte nie von der Angst gesprochen, die nach einem griff, wenn man seinem Gegner so in die Augen sah. Wenn es hieß. er oder man selbst. Wenn nur einer überleben konnte.
Und gerade sah es so aus, als würde der Meridier bald die volle Oberhand gewinnen. Trajan wich einem weiteren Schlag aus, während seine Gedanken rasten.
Der Feind trieb sie langsam aus dem Schloss heraus. Sollte es nicht andersherum sein? Sollten sie nicht den Feind hinausjagen?
Trajan führte einen Angriff gegen seinen Gegner aus, doch dieser trat einen Schritt zur Seite. Trajan sah das Schwert erst kommen, als es sich bereits in seine Seite gebohrt hatte. Das Leder bot nur wenig Schutz und so spürte er einen stechenden Schmerz die linke Hälfte seines Körpers erfüllen.
Der junge Prinz taumelte zurück und fiel. Er lag am Boden, der Feind über ihm, das Schwert zum letzten Schlag bereit. Trajan sah auf und blinzelte gegen den nieder strömenden Regen an. Er griff nach der Kette an seinem Hals, seinem einzigen Glücksbringer. So sollte es also enden ...
Die Zeit schien stehen zu bleiben, als Trajan seinen Gegner anstarrte und bemerkte, wie dieser erschrocken die Augen aufriss. Der Meridier ließ sein Schwert fallen und ging auf die Knie. Hinter ihm tauchte ein dunkler Schatten auf. Über den Lärm der Schlacht hinweg hörte Trajan seinen Feind röcheln, als dieser vollends zu Boden ging, während das Blut aus einer tödlichen Wunde an seinem Hals lief.
Trajan starrte auf den Toten. Ein weiteres Leben ausgelöscht. Direkt vor seinen Augen.
Eine Hand griff nach dem Prinzen, wie durch einen Nebel erkannte Trajan seinen besten Freund und Waffenbruder Iro de'Arviat vor sich.
„Was tust du hier?", fragte Trajan verwirrt. Iro strich sich die dunklen Locken aus den Augen und rief über den Lärm hinweg: „Wir haben keine Zeit zum Reden! Wir müssen dich hier herausbringen!"
Die beiden gleichaltrigen Jungen stellten sich Rücken an Rücken und erhoben ihre Schwerter, so wie sie es in unzähligen Übungsstunden gelernt hatten. Sie mussten sich gegenseitig Deckung geben, um zu überleben.
Während er hörte, wie Iros Schwert klirrend einen neuen Gegner gefunden hatte ließ Trajan seinen Blick über den Hof schweifen. Sie wurden immer weniger. Die grünen Umhänge der Garde Tiarnachs konnte er nur noch vereinzelt entdecken. Es wurde Zeit über einen Rückzug nachzudenken.
Er parierte den Schlag eines weiteren Angreifers und verletze diesen schwer am Kopf. Für einen Moment verlor er so Iros sicheren Halt hinter sich, doch sein alter Freund war sofort wieder an seiner Seite.
Dafür waren sie ausgebildet wurden. Trajan, der zukünftige König führte und Iro folgte ihm, das Schwert in der Hand.
„Du bist verletzt", schrie Iro ihn förmlich von der Seite an, doch Trajan reagierte kaum. Er spürte die Wunde nicht, denn der Kampfrausch begann von ihm Besitz zu ergreifen.
„Wir müssen hier raus!", wiederholte Iro erneut. Dieses Mal reagierte Trajan: „Ich gehe nicht ohne die anderen!" Iro konnte es kaum fassen, warum mussten diese Königskinder auch immer so stur sein? „Wir werden hier sterben!", rief er Trajan zu.
„Wo ist mein Bruder?", fragte Trajan. Auf einmal wurde ihm bewusst, dass er Dorian in dem Getümmel völlig aus den Augen verloren hatte. Er konnte nur hoffen, dass die Wachen Amelia sicher hier herausgebracht hatten.
„Wir müssen meinen Bruder finden! Ich habe ihn schon ewig nicht mehr gesehen!", wandte Trajan sich erneut an Iro. Die Panik stieg wieder in ihm auf. Wo war Dorian?
„Wir haben keine Zeit ihn zu suchen", antwortete Iro ihm, „Er war mit euch in der Halle, mein Vater wird sich um ihn kümmern"
Trajan drehte sich zu Iro um. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, als er seinem besten Freund beim Kämpfen zusah. Lord Pádraig de'Arviat. Iros Vater, der engste Vertraute des Königs. Er weiß es nicht, schoss es Trajan durch den Kopf und er ließ traurig sein Schwert sinken. Iro streckte einen weiteren Gegner nieder und wandte sich dann Trajan zu: „Was, bei den Flüchen der Eishexe, tust du da?"
Doch Trajan konnte ihm nicht antworten. Er konnte seinem besten Freund nicht erzählen, wie dessen Vater gestorben war, um Trajan die Flucht zu ermöglichen. Er konnte ihm nicht erzählen, wie er zugesehen hatte, als Lord Pádraig blutend auf dem Boden der Halle zusammenbrach ...
„Sieh nur!", rief Iro auf einmal und zeigte auf etwas hinter Trajan. Die Kämpfe um sie herum stoppten urplötzlich und alle wandten sich um. „Dragonsson!", zerschnitt eine Stimme die Luft, bei der es Trajan kalt den Rücken hinab lief. Er wandte sich langsam um und blickte zur Außenempore des Schlosses hinauf. Und er glaubte zu spüren, wie die Luft aus seinen Lungen gezwungen wurde.
Dort stand er, der König der Meridier, kaum vom Blut der Toten berührt und hochnäsig wie zuvor blickte er auf den Tod hinab, den er gebracht hatte. Doch viel Schlimmer war es für Trajan die kleine zusammengesunkene und völlig durchnässte Gestalt zu sehen, die neben dem König und flankiert von zwei Soldaten dort oben stand. Seine kleine Schwester Amelia.
„Trajan Dragonsson!", begann der Verräter erneut, „Nach dem Tod eures Vaters seid ihr nun König über dieses kleine Land. Ich sage euch, geht einen Handel mit mir ein und ihr könnt dieses sinnlose Morden hier und jetzt beenden"
Iro zog hinter Trajan scharf die Luft ein, als der Meridier auf die junge Prinzessin zeigte. „König Cúchulainn und seine Frau Lady Thenar sind heute Nacht gestorben, ihr wollt doch nicht, dass eure kleine Schwester ihren Eltern in die Anderswelt folgt, oder junger Dragonsson?", fragte der König der Meridier mit einem diabolischen Grinsen.
Trajan schnaufte und vereinzelte riefen einige seiner Männer Beschimpfungen gegen die Meridier.
Doch Trajan konnte es sich nicht leisten, den anderen König zu verstimmen. Denn dieser führte die schluchzende Amelia weiter an den Rand der Empore. Einen Sturz aus dieser Höhe auf den harten Stein würde sie bestimmt nicht überleben.
„Was sind eure Bedingungen? Nennt sie mir und lasst meine Schwester aus dem Spiel. Nur ein Feigling verängstigt ein kleines Mädchen derart!", rief Trajan dem Meridier herauf. Doch dieser lachte nur schallend.
„Meine Bedingungen?", fragte er, „Das liegt doch wohl auf der Hand! Ergebt euch und reicht den Thron Tir naMaras an mich weiter und eure Schwester wird leben"
Iro trat näher an Trajan heran und flüsterte in sein Ohr: „Wenn du dich ihm ergibst, wird er dich töten und jeden, der dir gegenüber loyal ist gleich mit! Das kannst du nicht tun!"
Doch Trajan hörte ihm gar nicht zu. All dies, der Thron, die anderen, war völlig unwichtig. Das einzige was zählte war die Sicherheit seiner kleinen Schwester.
Trajan wollte gerade seine Stimme erheben, als lautes Poltern aus dem Bereich der Ställe zu vernehmen war. Der König der Meridier wandte sich, genau wie seine Soldaten in die Richtung aus der dieses Geräusch gekommen war. Amelia nutzte den kurzen Moment der Unaufmerksamkeit und entwischte ihren Bewachern. Sie rannte die Treppe ein Stück herunter und rief Trajan zu: „Hör nicht auf ihn! Du weißt, was Vater immer gesagt hat. Du wurdest geboren um dieses Land zu regieren und nur du kannst sein Werk fortführen! Es muss immer ein Kind des Drachen auf dem Thron der Mara sitzen" Weiter kam sie nicht, denn die Soldaten hatten sie bereits erreicht und hoben das kleine zappelnde Mädchen hoch in die Luft.
Doch ihre wenigen Worte hatten gereicht. Den Trajan wusste, sie hatte Recht. Die letzten 18 Jahre seines Lebens wurde er darauf vorbereitet ein gerechter und guter Herrscher zu werden. Er konnte dieses Land nicht einfach einem Verräter überlassen. Er war es den Menschen schuldig, für sie zu kämpfen.
Doch bevor der junge Prinz, der neue König, eine endgültige Entscheidung fällen konnte, gab es erneut einen Tumult bei den Ställen. Die großen Holztüren wurden aufgerissen und die Pferde der königlichen Garde stürmten auf den Platz. Sie trampelten alles nieder, was nicht mehr in der Lage oder nicht schnell genug war, um ihnen auszuweichen.
Dorian hatte die Pferde befreit. Er ritt auf seinem eigenen auf Trajan zu, als dieser erneut ein Stechen in der Seite spürte. Er taumelte und Iro war gerade noch rechtzeitig da, um ihn aufrecht zu halten.
Schweiß trat auf Trajans Stirn und er murmelte: „Rückzug ..."
Iro hörte ihn und seine Stimme schallte durch die Nacht: „Rückzug!" Die Gardisten versuchten sich ihre Pferde zu schnappen, die Feinde wurden in ihren schweren Rüstungen überrannt oder aus dem Weg gestoßen.
Über das ausbrechende Chaos erhob sich die Stimme des Meridier Königs: „Du kannst nicht fliehen Dragonsson! Ich werde dich finden und wenn ich dein ganzes verdammtes Land zerstören muss!"
Doch Trajan hörte ihn schon nicht mehr, denn die Schatten einer herannahenden Ohnmacht hatten bereits begonnen, nach ihm zu greifen.

Der Saal der Toten


Auf eine verregnete Nacht folgt oft ein eben so verregneter Morgen. So weinte der Himmel noch immer, als der König der Meridier zum ersten Mal aus dem Fenster des Thronsaales von Tir naMara auf sein neues Reich blickte.
Er war sehr zufrieden mit sich selbst. Ihm war das unmögliche gelungen. Er hatte die uneinnehmbare Stadt Tiarnach in nur einer einzigen Nacht in seine Hand gebracht. Keiner seiner Generäle hatte dies für möglich gehalten. Nun viele hielten sein Vorgehen für unehrenhaft und verachtungswürdig, doch ihn interessierten nur die Ergebnisse seiner Handlungen.
Auch sein Bruder hatte sich gegen ihn gestellt, als er herausgefunden hatte, was der König mit dieser kleinen Prinzessin vorhatte. Dafür verbrachte Arik seine Nächte nun in dem Kerker unter der Burg. Eines musste man den Menschen von Tir naMara zu Gute halten. Sie wussten wirklich, wie man Kerker und Festungen erbaute. Ein Vorteil, den er sich nun zu Nutze machen würde, denn der König der Meridier durfte keines der Königskinder von Tir naMara am Leben lassen, wenn er den Thron sichern wollte.
Tir naMara war ein rückständiges Land. Die Menschen hier glaubten noch an Dinge wie Schicksal und die rechtmäßige Herrschaft eines Königs. Doch diesen Glauben würde er ihnen schon austreiben, denn die Meridier glaubten nur an eines: Die Macht des Stärkeren. Und genau jetzt war er der Stärkere.

Einen halben Tagesritt von der Hauptstadt Tiarnach entfernt lag der alte Grabhügel der Könige, Emain Mara, der Hügel der Mara.
Er war umgeben von weiteren kleinen und großen Erhebungen und vor Jahrhunderten hatten die ersten Herrscher des Landes einen tiefen Gang in Fels und Erde geschlagen. Sie hatten den ganzen Hügel mit einem komplizierten System an Gängen und Höhlen durchzogen, ein Symbol für das verwirrende Leben der Menschen.
Am Ende dieser Gänge, tief unter der Erde lag die größte Höhle. Sie nannten ihn den Saal der Toten, den seit jeher diente er als letzte Ruhestätte der Regenten von Tir naMara.
Zwei große Feuerbecken an den Seiten der runden Höhle erleuchteten sie und sandten tanzende Schatten über die gehauenen Steinwände. Die Säulen, die die meterhohe Decke trugen, waren umgeben von Sarkophagen und durchlöchert mit Aussparungen voller Urnen. In der Mitte stand ein großer steinerner Tisch, auf dem die Leichen der Könige aufgebahrt wurden, während ihre Seelen in die Anderswelt hinüber schritten.
Doch der Körper, der nun auf dem Tisch lag zuckte im Licht der Flammen immer wieder vor Schmerzen. Stundenlang hatten die Schreie des jungen Trajan Dragonsson durch die Hallen von Emain Mara geschallt, während unzählige Kräuterfrauen versuchten ihn aus seinen Fieberträumen zu wecken oder seine Wunde zu versorgen.
Der Grabhügel, einst eine Ruhestätte, war nun von Leben erfüllt. Die Überlebenden der vergangenen Nacht hatten hier Zuflucht vor den Schwertern der Meridier gesucht und aus den umliegenden Dörfern kamen mit jeder Stunde mehr.
Sie alle hatten die Hoffnung nicht aufgegeben, dass ihr Thronfolger die Invasoren zurückschlagen und Frieden bringen würde. Und sie alle hatte die Nachricht erwartet, dass der einzige Frieden den der junge Prinz wohl finden würde der Frieden des Todes war.
Die Kräuterfrauen hatten aufgegeben, es gab nichts was Trajan in diesen qualvollen Stunden von der Schwelle des Todes holen konnte. Nichts, außer dem Vertrauen in die Kraft des Jungen.
Und aus den qualvollen Stunden wurden qualvolle Tage in denen die Meridier Stück für Stück das Land einnahmen. Tage, in denen sich Emain Mara immer weiter mit Flüchtlingen füllte und Trajan um sein Leben kämpfte.
Unterstütz wurde er von Thalia, die ihn ständig umsorgte. Sie war ein Jahr jünger als Trajan und Iros kleine Schwester. Als Tochter des hohen Lords Pádraig de’Arviat war sie am Hofe aufgewachsen und schon früh zu einem wichtigen Bestandteil im Leben der Königskinder geworden.

Kurz bevor Trajan dem Fieber erlag und in Träumen von Feuer und Dunkelheit versank hatte er mit letzter Kraft Anweisungen an seinen Bruder gegeben.
Dorian war wie ein Sturmdämon durch die Halle gefegt, während Thalia mit aller Mühe versuchte Trajans Wunde zu verbinden. Er redete von Rache und Zurückschlagen, davon, dass sie ihre Kräfte sammeln mussten, um Tiarnach von den Meridiern zu befreien.
Währenddessen stand Iro nur stumm neben einem der großen Feuerbecken und betrachtete die Szenerie. Viele Gedanken streiften durch seinen Kopf. Der König war tot, Trajan musste an dessen Stelle nun regieren, doch er war kaum in der Lage zu sprechen. Lord Fergál, einer der wenigen Berater, die das Massaker im Thronsaal überlebten, versuchte gerade die Menschen außerhalb der Halle zu beruhigen, ein System in den Strom der Flüchtlinge zu bringen... Doch all dies schien so unendlich weit weg und unendlich unwichtig. Das einzige, das zählte war dass Trajan hier um sein Leben kämpfte, da es ihm, seinem Waffenbruder Iro, nicht gelungen war den jungen Prinzen zu beschützen.
Er hatte seit Jahren nur eine einzige Aufgabe, er war nur für eine Sache ausgebildet wurden. Er war Trajans bester Freund und gleichzeitig sein Schatten, der Leibwächter an der Seite des neuen Königs. Und hier lag nun der König, während sein Leben unter Thalias Händen davon floss.
Trajan wurde von einem Hustanfall übermannt und schob Thalia von ihm fort. Er rief röchelnd nach Dorian.
Dorian trat an das Lager seines älteren Bruders. Dieser hob die Hand und packte Dorian am Kragen. Mit der letzten Kraft, die ihm noch geblieben war zog Trajan den Jüngeren zu sich heran. Geschüttelt von Schmerzen sah er ihm direkt in die Augen und sagte: „Du unternimmst nichts dergleichen! Du führst die Überlebenden nach Tarin. Du bringst sie in Sicherheit. Ich werde hier sterben Dorian, ich spüre es. Du bist dann König, du musst sie retten. Denk daran: Führung, Stärke, Erbarmen!“
Trajan spürte, wie ein erneuter Hustenanfall ihn übermannte und so lässt er von seinem Bruder ab. Nach wenigen Sekunden versinkt der junge König in den Schmerzen und der Dunkelheit, die diese bringen.

Nachdem Trajan das Bewusstsein verlor verließ Dorian wütend den Raum. Iro folgt ihm mit schnellen Schritten.
Mit einem barschen Befehl fordert Dorian Iro auf die Truppen bereit zu machen. Doch Iro kann nicht umhin ihm zu widersprechen: „Aber euer Bruder sagte…" „Du hast meinen Bruder gehört, bei mir liegt nun die Verantwortung und wenn ich den Moment des Angriffes für gekommen halte, dann greifen wir auch an!", unterbrach Dorian ihn wütend. Für einen Moment kehrt Stille ein und Dorian spürt wie langsam Tränen in seine Augen steigen. Doch er konnte sich jetzt nicht der Blöße zu weinen ergeben. Er musste Stärke zeigen, wenn er diese Männer von nun an führen sollte.
Und so fuhr Dorian einen Moment später, nachdem er sich wieder etwas gefasst hatte, fort: „Diese Worte die er sagte… Führung, Stärke, Erbarmen, das sind die Attribute eines guten Königs. Trajan ist mit diesen Worten auf den Lippen geboren wurden und er wird mit ihnen auf den Lippen sterben. Von Anfang an wurde er ausgebildet König zu werden und uns alle zu führen. … Ich hingegen wurde ausgebildet ihm zu folgen und ihn zu unterstützen. Ich glaube wirklich nicht, dass ich in der Lage bin dieses Land zu regieren Nun denn, zuerst müssen wir es erst einmal zurück erobern…" Er wandte sich ab und ging. Es fiel Iro nicht schwer die Traurigkeit im Gesicht seines Gegenübers zu entdecken, bevor auch er sich einem der unterirdischen Tunnel zuwandte und ging.

Während das Fieber durch seinen Körper brannte wurde Trajans Unterbewusstsein auf eine weite Reise geschickt. Er träumte...
Trajan war noch nie zuvor an diesem Ort gewesen. Er ging einen langen dunklen Gang entlang, der von einem seltsamen und sehr schwachen grünen Licht erfüllt war.
Als Trajan näher an die Wände des engen Ganges trat, erkannte er nicht nur, dass er sich unter der Erde befand, sondern auch dass das seltsame grüne Licht von den Wänden strahlte. Von vielen kleinen Pilzen, die sich wie ein Flickenteppich durch die Dunkelheit zogen und ihr phosphorierendes Licht abgaben.
Trajan verweilte einen Moment, verwirrt und orientierungslos, doch zugleich gefesselt von diesem atemberaubenden Anblick.
Warum war er hier? Wo waren Iro und Dorian geblieben? Das letzte, an das sich der Junge erinnern konnte waren die Schmerzen, als Thalia ihn auf dem alten Steinsarkophag im Saal der Toten behandelt hatte. Doch die Schmerzen waren verschwunden. Konnte dies real sein? War er plötzlich wirklich in einem Gang tief unter der Erde, umgeben von leuchtenden Pilzen?
Noch während der junge König in Gedanken versunken war, wurde er von einem kalten Luftzug erfasst. Ein Grollen stieg hinter ihm aus der Tiefe auf. Trajan wandte sich dem Geräusch zu, das immer lauter wurde und eine Gänsehaut über seine Arme schickte. Der Gang um ihn herum begann zu beben und voller Schrecken lief Trajan los. Er wusste nicht, wohin ihn dieser Gang führen würde, ob tiefer unter die Erde oder hinauf der Sonne entgegen. Doch er betete, dass er von dem Grollen davon lief, anstatt auf es zu. Das Grollen war nun über all und schwellte langsam zu einem mächtigen Brausen an. Es klang wie ein Schrei, ein animalischer Schrei aus grauer Vorzeit.
Ein einziger Gedanke schoss durch Trajans Kopf, so hatte er sich das Brüllen der alten Drachen vorgestellt. Todbringend und machtvoll, waren sie einst durch die Lüfte Tir naMaras geflogen. Das jedenfalls erzählten die alten Geschichten und Legenden.
Doch die Drachen waren seit Jahrhunderten verschwunden und sie hatten auch nicht in seltsamen Gangsystemen unter der Erde gelebt.
Der Gang erweiterte sich zu einer Kreuzung und ohne nachzudenken wandte Trajan sich nach rechts. Seine Gedanken rasten fast noch schneller als seine Füße, als das Brüllen erstarb.
Die plötzlich einkehrende Stille war fast noch erschreckender als der Krach auf den sie folgte. Und so blieb Trajan einen Moment stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Sein Herz raste, und pumpte Blut mit einer Geschwindigkeit durch seinen Körper, die der Junge kaum für möglich gehalten hatte.
Trajan überlegte fieberhaft, wie er aus diesem Labyrinth entkommen konnte. Daher bemerkte er zuerst nicht, wie das Leuchten der Pilze um ihn herum langsam schwächer wurde. Als sein Auge auf die Wände fiel schimmerten diese nur noch schwach. Die Pilze wurden immer schwächer und nach wenigen Sekunden war Trajan von völliger Dunkelheit umgeben. Er verlor die Orientierung vollends und als das Grollen wieder einsetzte konnte er so noch nicht einmal davor fliehen.
Als das Grollen dieses Mal anstieg erblickte Trajan ein sanftes Glühen an einem Ende des Tunnels. Es kam auf ihn zu und wurde mit dem Grollen lauter und schneller. Ein rotes, loderndes Glühen.
Zu spät erkannte der junge König, dass sich eine Feuerwalze durch den Tunnel auf ihn zu bewegte. Er wollte gerade fliehen und wurde noch in der Bewegung von den Flammen erfasst. Der Schmerz breitete sich von seiner Hüfte aus gleißend durch den ganzen Körper und...
Trajan erwachte. Die Schmerzen waren unerträglich. Über ihm tanzten die Schatten der Flammen über die steinerne Decke. Er war noch immer unter der Erde gefangen, in einem Meer aus Flammen.
Da berührte eine kalte Hand seine Stirn. Thalias Gesicht schob sich vor die Schatten und er konnte ihre Augen verschwommen erkennen. Ein Anblick, der ihn schon immer beruhigt hatte. Die Schmerzen ließen zwar nicht nach, das Feuer brannte sich noch immer durch seinen Körper, doch sein Herz verlangsamte sich.
Thalia sagte etwas. Er sah, wie ihr Mund sich bewegte doch die Worte drangen nicht bis zu Trajan durch. Erschöpft versank er wieder in der Dunkelheit und die Träume begannen von neuem. Träume von dunklen Gängen und Feuer...
Thalia blickte traurig auf Trajans erschlafften Körper. Er lag immer noch auf dem steinernen Sarkophag, umgeben von Laken und Kissen. Sie hatte alles versucht, um das Fieber zu senken und die Wunden zu heilen, doch langsam geriet auch sie ans Ende ihrer Kräfte. Mit jeder Stunde wurde sein Zustand schlimmer und ihre Hoffnung geringer.
Thalia hatte seit Tagen keinen Schlaf mehr bekommen, doch sie weigerte sich die Seite ihres Freundes zu verlassen. Er brauchte sie nun mehr den je.

Still und Allein


Iro beobachtete schon lange, wie seine Schwester all ihre Kräfte aufwand um Trajan zu helfen. Er hatte oft versucht sie dazu zu überreden, sich etwas auszuruhen. Doch Thalia blieb eisern.
Leider schien all ihre Mühe umsonst, denn Trajans Kräfte schwindeten immer mehr. Er war nur noch ein Schatten seines einstigen Selbsts. Die Stunden in denen er von Fieberträumen geschüttelt und gequält wurde, wurden immer seltener von Momenten der Klarheit unterbrochen. Der Saal der Toten war auf Befehl Dorians von dem Rest des stetig größer werdenden Flüchtlingslagers abgeschirmt wurden, doch sie konnten nicht verhindern, das Gerüchte über den Tod des neuen Königs bereits die Runde machten. Verzweiflung machte sich unter dem Volk breit und sowohl Iro als auch Dorian war bewusst, dass sie bald nach Tarin aufbrechen mussten, um die Menschen zu beruhigen.
Genauso klar war ihnen jedoch die Tatsache, dass Trajan eine solche Reise niemals überleben konnte. Tarin lag im Westen, weit entfernt von Emain Mara und die Reise war nicht nur beschwerlich und lang, sie wurde auch mit jedem Tag an dem die Invasoren mehr Zeit hatten sich auszubreiten gefährlicher.
Tarin war eine Feste, die von vielen Jahrhunderten von den ersten Königen des Landes erbaut wurde, um ihren Untertanen Sicherheit und einen Unterschlupf zu geben. Manche Geschichten sagten, ihre Mauern wurden noch vor der Schlacht der Elemente, zu Zeiten als noch Drachen die Lüfte durchquerten und Tir naMara noch nicht gegründet war, in den ewigen Fels der westlichen Berge gehauen.
Während Iro seinen Gedanken nachhing ließ er seinen Blick durch den Saal schweifen. Die Feuerbecken waren zum großen Teil erloschen und nur noch wenigen Flammen ließen ihre Schatten über die Wände tanzen. Thalia hatte bemerkt, dass die Dunkelheit Trajan zu beruhigen schien und das Feuer ihn eher ängstigte. So, wurde der Großteil der Flammen gelöscht und nur soviel Licht in den riesigen Raum gelassen, wie unbedingt nötig.
Er erinnerte sich an eine alte Geschichte, die sein Vater, Lord Pádraig, ihm früher oft erzählt hatte. Eine Geschichte über einen Helden der den Tod besiegt, doch einen hohen Preis dafür gezahlt hatte.
Iro konzentrierte seine Gedanken auf diese alte Geschichte, versuchte sich an Einzelheiten zu erinnern und herauszufinden wie viel Wahrheit vielleicht dahinter stecken mochte.
Es war vor vielen Jahrhunderten geschehen noch bevor Tir naMara gegründet wurde. Damals herrschten die Schneekönige von ihrem eisigen Thron im Norden über einen großen Teil der bekannten Welt. Die Drachen, die einstigen Könige des Landes waren in die weiten der südlichen Berge vertrieben wurden.
Zu dieser dunklen Zeit begab es sich, dass ein junger Held auszog, um Ruhm und Ehre zu finden. Die Schneekönige terrorisierten die Menschen mit Hilfe ihrer Armee, bestehend aus den Kreaturen des ewigen Eises. Dem jungen Held gelange es mehreren Dörfern Frieden zu bringen und den Frost für einige Zeit zu vertreiben. Doch in einem seiner Kämpfe, als er gegen einen riesigen Eisriesen kämpfte wurde der Held schwer verwundet. Er zog sich zurück in einen einsamen Wald und dort unter schneebedeckten Fichten und zwischen gefrorenen Bächen sah er seinem Ende entgegen.
In seiner dunkelsten Stunde erschien ihm eine Dienerin des Schneekönigs. Sie war eine der Fionùir, eine Elfe des Nordens. Die junge Elfe war das schönste, was der Held in seinem kurzen Leben je erblickt hatte. Ihre bleiche Haut war von Raureif überzogen und ihre weißen Haare fielen über ihren Rücken wie Schnee über einem gefrorenen Wasserfall. Ihre Augen waren von einer eisigen Tiefe in der sich das Blau des weiten Ozeans spiegelte. Die Fionúir überbrachten Nachrichten für die Schneekönige und dem Helden schlug sie einen Handel vor: den uralten Handel des Eises.
Der Schneekönig hatte sich schon seit Jahrzehnten nicht mehr so amüsiert, wie in der Zeit in der er den Widerstand des jungen Helden beobachten konnte. Er würde mit seiner ewigen Magie den Helden vom Tod befreien. Doch wie es die Regeln der Anderswelt besagten konnte Leben nur aus dem Tod entstehen, um ein Leben zu retten musste ein anderes beendet werden. Wenn der Held dem Schneekönig eine unschuldige Seele opferte würde er den Zauber sprechen und den Helden retten.
Verzweifelt und zerfressen von der Angst vor dem Tod sagte der junge Held dem Handel zu und machte sich mit letzter Kraft auf in ein nahes Dorf. Er tötete einen alten Mann, dessen Zeit sich eh dem Ende zuwandte und seine Wunden verschwanden.
Doch der Held hatte einen hohen Preis bezahlt. Er war vom rechten Pfad abgekommen, hatte seine Ideale verraten und den Menschen Tod anstatt Freiheit gebracht.
Von diesem Tag an war er nicht mehr derselbe. Er verschwand in die Berge und man sah ihn nie wieder.
Der Schneekönig hingegen hatte diesen Kampf gewonnen, den obwohl der Held einige wenige Dörfer befreit hatte verbreitete sich die Kund von seinem Niedergang schneller, als die seiner Heldentaten. Und so wurde die Hoffnung der Menschen auf Rettung weiter geschwächt...
Iro dachte lange über den Helden nach, der den Menschen nur helfen wollte doch am Ende an seiner eigenen Angst gescheitert war. So etwas würde Trajan nie geschehen. Der junge Prinz, nun der junge König, hatte keine Angst vor dem Tod und er würde niemals sein eigenes Wohl über das eines Unschuldigen stellen.
Selbst wenn die Geschichte auch nur ein Körnchen Wahrheit enthielt, würde Trajan einem Handel dieser Art niemals zu stimmen.
Doch Iro war anders als sein Waffenbruder. Er hatte nicht nur Angst vor dem Tod, er hatte vor allem Angst vor den Dingen, die kommen würden wenn Trajan fiel. Auch die Menschen in Tir naMara würden ohne ihren Helden verzweifeln und den Kampf gegen die Meridier aufgeben. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Iro den Gedanken nicht ertragen konnte Trajan zu verlieren.
Trajan war die einzige Hoffnung für Iro, für die Menschen und das Land. Und die einzige Hoffnung für Trajan war eine alte Kindergeschichte über einen gescheiterten Helden. Iro musste herausfinden, ob ein Handel dieser Art wirklich möglich war. Doch dazu musste er eine Kreatur des Eises finden, die angeblich noch heute in den Eiswüsten hoch im Norden hausten.
Er hatte keine andere Wahl, Iro musste eine Reise in den hohen Norden antreten. Doch die anderen würden ihn nicht einfach so gehen lassen.
So kam es, dass an einem nebligen Herbstmorgen ein junger Held heimlich und auf besonders leisen Sohlen Emain Mara verließ, während sein Waffenbruder in den tiefen des Hügels noch immer gegen das Feuer in seinen Gedanken kämpfte, um in das ewige Eis im Norden des Landes aufzubrechen. Iro wusste, dass er einer Legende hinterher jagte, doch irgendetwas tief in ihm ließ ihn glauben, dass er tatsächlich dort oben etwas finden würde...

Stille.
Nichts anderes existierte mehr als Stille und Dunkelheit. Die Wände ihrer Existenz waren um sie herum zusammengebrochen und Amelia wusste nicht, ob sie jemals wieder in der Lage sein würde etwas anderes zu fühlen als Stille.
Stille, Dunkelheit und Leere.
Sie war so wütend gewesen. So unglaublich wütend auf ihren Vater, ihre Mutter und ihre Brüder. Sie hatten sie wie ein kleines Baby zurückgelassen. Und ihr letztendlich so das Leben gerettet.
Ihre Eltern waren in die Anderswelt hinüber gegangen. Und das letzte, was sie von ihrer Tochter mitgenommen hatten war diese unglaubliche Wut. Tränen liefen über Amelias Gesicht. Für den Rest der Ewigkeit würden ihre Eltern denken, sie hätte sie gehasst.
Sie war nun ganz allein. Allein in einer dunklen Zelle, tief unter dem Schloss, das einst ihre sichere Zuflucht gewesen war. Und von ihr selbst war nichts weiter übrig geblieben als Leere. Grauenvolle Leere. Niemand war da, der ihre Tränen trocknete.
Amelia wünschte sich so sehr, dass ihre Mutter kommen würde um sie einfach nur im Arm zu halten. Um die Kälte, die Einsamkeit und die Stille zu vertreiben. Damit alles wieder in Ordnung kommen konnte. Damit sie zurückkehren konnte zu dem Leben, dass sie einst gehabt hatte.
Doch von diesem Leben war nichts mehr übrig geblieben. Nichts außer Erinnerungen.
Erinnerungen an all die schönen Zeiten mit ihrer Familie, die Umarmungen, der Schutz, der Spaß und die Liebe. Und die Erinnerung an diesen letzten Streit. Amelia wusste noch genau, wie verraten sie sich in dieser Nacht gefühlt hatte. Doch das Gefühl des Verrats war nicht zu vergleichen mit der Einsamkeit, die nun ihr Herz regierte.
Sie hoffte so sehr, dass ihre Eltern sich in der Anderswelt nur an die schönen Zeiten würden erinnern, nicht an die Wut die sie ihnen auf dem letzten Weg mitgegeben hatte. Sie hoffte so sehr, dass sie verstanden wie unwichtig diese Wut nun war. Wie sehr sie sich selbst dafür hasste wütend auf ihre Eltern zu sein, während diese nur wenige Meter entfernt ihre letzten Atemzüge taten.
Amelia konnte sich nicht mehr zusammenhalten und begann damit laut zu schluchzen. Aber wer würde sie hier unten schon hören? Wer würde sie hier finden, weit ab von allem Leben?
Sie war verloren, sie war allein und die einzigen Menschen, die sie hätten retten können waren hinüber gegangen.
Während die Tränen heiß ihre Wangen hinunter liefen war es, als würde ein Knoten in Amelia platzen. Alles, was sie die letzten Tage zurückgehalten hatte, um tapfer zu sein, brandete wie eine riesige Welle aus ihr heraus. All der Schmerz kam an die Oberfläche und ihr Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. Sie bekam keine Luft mehr und japste zwischen zwei Schluchzern auf, nur um die Luft in einem markerschütternden Schrei wieder aus ihren Lungen zu jagen.
Die Stille endete. Das war alles, was nun zählte. Die Stille endete.
Und so schien Amelia für eine lange Zeit, eine kleine Ewigkeit, in ihrem eigenen Schmerz zu ertrinken. Warum war ausgerechnet sie übrig geblieben? Warum war nicht sie gestorben und ihre Mutter hatte überlebt? Oder einer ihrer Brüder? Jemand, der nun nicht auf dem Zellenboden kauern und herzerweichend weinen würde. Jemand, der alles wieder in die richtigen Bahnen lenken könnte. Jemand der besser, stärker und größer war als sie.
Schon bald hatte Amelia keine Kraft mehr zu weinen und ihre lauten Klagerufe schwächten zu einem leisen Wimmern ab.
Kalt spürte sie das Amulett des Drachen an ihrem Hals. Sie griff danach und betete, dass die Kraft der Mara sie erfüllen wurde. Für einen Moment glaubte sie, dass dieses uralte Relikt ihr helfen konnte. Hieß es in den Legenden nicht, dass dieses Schmuckstück im Feuer des großen Drachen Mara geschmiedet wurde und ihre Kraft noch immer enthielt. Hieß es nicht, dass diese Kraft ein Kind des Drachen in schwerer Not zum Licht zurückführen würde? Amelias Gedanken wurden plötzlich unterbrochen.
„Geht es euch ein wenig besser Prinzessin?", zerriss eine gedämpfte Stimme die wieder einkehrende Dunkelheit.
Amelia fuhr erschrocken hoch. Sie war nicht allein! Angst griff nach ihrem Herzen und sie spürte das Blut in ihren Ohren rauschen. Doch erneut ermahnte Amelia sich zur Tapferkeit. Sie schniefte und sprach. Sie hoffte, so königlich zu klingen wie ihre Mutter es immer getan hatte. Doch sie klang so zerbrechlich und verletzt wie einzwölfjähriges Mädchen in einem Kerker. Sie klang wie sie selbst, als sie leise fragte: „Wer seid ihr und was wollt ihr?"
Für einen kurzen Moment herrschte wieder Stille. Ihr gegenüber schien nachzudenken, um seine Worte mit Bedacht zu wählen. „Eigentlich ist es hier nicht mehr wichtig, wer ich bin. Wir sind in derselben Situation, kleine Prinzessin. Gefangen von Vasilis dem König von Meridios. Was wirklich zählt, ist ob ich euch helfen kann.", sagte er schließlich. Die Stimme schien von der anderen Seite der Wand zu kommen.
Nun war es an Amelia nachzudenken. Der Fremde war ein Mann, das erkannte sie an seiner Stimme und er war älter als sie. Er schien erwachsen. Doch war er noch kein Greis. Aber er war einer von ihnen. Das erkannte sie an seinem seltsamen Akzent. Er war ein Feind.
„Ihr könnt mir nicht helfen", sprach Amelia mit fester Stimme. Wut kam wieder in ihr auf. Was dachte sich dieser Mann? Sie war die Prinzessin von Tir naMara, wahrscheinlich das letzte Mitglied der Königsfamilie und er nur ein Meridier.
Ja, sie war wahrscheinlich der letzte Überlebende... Trauer begann erneut die Wut aus ihrem Herzen zu verbrennen. Ihre Gefühle wechselten so schnell, dass Amelia glaubte ihr müsste schwindlig werden.
„Ich wäre nicht so voreilig, kleine Prinzessin. Ich glaube schon, dass ich euch helfen kann. Und ihr könnt mir helfen. Ihr kennt dieses Schloss besser als jeder von uns und ich weiß mehr über die Soldaten von Vasilis, als ihr jemals erfahren werdet. Zusammen hätten wir vielleicht eine Chance die Sonne wieder zu sehen.", sprach der Fremde leise.
„Wer sagt mir, dass ich euch trauen kann?", fragte Amelia trotzig.
Der Fremde lachte. „Kleine Prinzessin", sagte er, „Ich bin hier genauso gefangen wie ihr. Doch allein werde ich hier bestimmt verrotten. Ich bin mehr auf euch angewiesen, als ihr vielleicht glauben mögt."
So leicht ließ sich Amelia jedoch nicht überzeugen. Er war ein Meridier. Woher wusste sie, dass er tatsächlich auf der anderen Seite der Wand in einer Zelle saß und nicht vor der Tür stand und sie hereinlegte?
Und der Fremde fuhr fort: „Ich konnte nicht umher, eure Schreie zu hören. Ich weiß nicht warum ihr es bereut auf jemanden wütend zu sein, doch ich kenne dieses Gefühl allein zu sein. Ihr seid verletzte. Ihr seid traurig und glaubt alles verloren zu haben. Und verdammt noch mal, nach dem was ihr erlebt habt, kleine Prinzessin, habt ihr alles Recht dieser Welt so zu fühlen", er hielt einen Moment inne, nur um dann lauter fortzufahren, „Doch glaubt mir, ihr könnt Vasilis nicht auf diese Weise gewinnen lassen! Erinnert euch zurück an eure Wut. Füttert sie mit eurer Trauer. Wenn ihr die Meridier besiegen wollt, solltet ihr anfangen wie sie zu denken. Und eines lernt bei uns jedes Kind: Wut ist viel kraftvoller als Angst, Trauer oder jedes andere erdenkliche Gefühl. Benutz deine Wut und du kannst deine Ketten sprengen!"
Mit der plötzlichen Stille explodierten auch Amelias Gedanken. Wer war er? Warum war er gegen sein eigenes Volk und wollte ihr helfen? So viele Fragen schwirrten im Kopf der jungen Prinzessin herum, sie konnte sich kaum auf eine einzige konzentrieren.
„Wer seid ihr?", fragte Amelia, laut und bestimmt.
Der Fremde lachte. „Interessiert euch das wirklich?", fragte er, „Nun, ich bin Arik. Denkt über mein Angebot nach"
Und mit einem Rascheln auf der anderen Seite der Wand schien der Fremde zu verschwinden.
Wieder existierte nichts anderes mehr als Stille und Dunkelheit.
Stille.

Ein Schwur aus Kindertagen


„Ich kann ihn doch nicht einfach so zurücklassen!", rief Dorian aufgebracht, „Er ist mein Bruder und immer noch unser König. Trajan wird nicht alleine in dieser Höhle sterben!"
Dorian gegenüber stand Lord Fergál. Er war eine der wenigen Mitglieder des Kronrates, die die Schlacht in Tiarnach überlebt hatten. „Es verletzt mein Herz genauso wie eures, junger Lord", begann Fergál zu sprechen, Doch euer hochgeschätzter Bruder, mein König, wird die nächsten Tage nicht überleben, dass haben mir die Heilerin versichert. Wenn wir ihn auf die Reise mitnehmen wird das seine Qualen nur vergrößern. Lasst ihn in Frieden gehen."
Dorian war kurz davor einzulenken, Fergál verstand es wirklich mit Worten umzugehen, eine Fähigkeit die er sich sicherlich in seinen langen Jahren im Kronrat zu Eigen gemacht hatte. Er wusste, genau wie alle anderen, dass sie sich nicht lange in Emain Mara verstecken konnten. Dies war ein Grabhügel, keine Festung. Wenn die Invasoren, diese schrecklichen Meridier, sie hier fanden hatten sie keinen Schutz und kaum kampferprobte Männer. Der Hügel hatte nur einen Ausgang, strategisch gesehen waren die Meridier also mehr als nur im Vorteil.
Dorian oblag nun die Verantwortung sich um das Volk von Tir naMara zu kümmern, er musste die Flüchtlinge in Sicherheit bringen. Und so wie Trajan es ihm aufgetragen hatte würde er sie nach Tarin führen, der uralten Festung in den Bergen. Sie war einst von Drachen erbaut wurden und würde ihnen Schutz und vor allem mehr Platz bieten. Doch der Weg nach Tarin war weit. Es würde eine beschwerliche Reise für alle Alten, Kranken und Kinder werden. Aber vor allem würde es eine Reise werden, die jemand so geschwächt wie Trajan nicht überleben konnte.
Doch was sollte Dorian tun? Er konnte seinen Bruder nicht einfach sterbend und allein zurücklassen, er hatte jedoch auch nicht genug Männer, um eine Wache für ihn abzustellen. Er würde jeden wehrtüchtigen Kämpfer auf dem Weg brauchen, damit die Flüchtlinge sicher waren.
Sein Vater hatte den Königskindern immer gelehrt, dass das Volk an erster Stelle kam. Sie alle hatten immer geschworen sich selbst jederzeit für das Wohle des Landes zu opfern. Dorian wusste, dass Trajan dies ernst meinte und, würde er nicht von Fieberkrämpfen geschüttelt um sein Bewusstsein kämpfen, er auch jetzt bereitwillig zurückbliebe. Gab es einen Unterschied zwischen freiwillig zurückbleiben und zurückgelassen werden?
Für die Berater seines Vaters, die nun ihm zu Seite standen, war dies keine Frage doch für Dorian bedeutete sie in diesem Moment die Welt. Er hatte bereits Amelia zurückgelassen, er konnte dies nicht auch bei Trajan tun.
Ach wäre doch nur Iro hier, dachte Dorian traurig, in seine Obhut würde ich Trajan jeder Zeit geben. Iro jedoch war vor einem Tag verschwunden, er war gegangen ohne auch nur ein Wort des Abschiedes. Niemand, noch nicht einmal seine Schwester Thalia, wusste wohin seine Reise ihn führte. Böse Zungen behaupteten er wäre geflohen oder hätte sich sogar dem Feind angeschlossen. Dorian allerdings wusste, dass Trajan Iro hemmungslos vertrauen würde und auch er tat dasselbe. Iro hatte sicherlich einen guten Grund gehabt sie zu verlassen. Er würde niemals einfach so gehen, nicht wenn er sich nicht absolut sicher war, dass sein Verschwinden ihrer Sache dienlich war.
Dorian trat einen Schritt auf Lord Fergál zu und versuchte so sicher wie möglich aufzutreten. „Ich sage dies jetzt noch ein letztes Mal, wir werden unseren König hier nicht zurück lassen!"
Fergál schwieg. Er schien seine nächsten Worte mit noch mehr Bedacht als sonst abzuwiegen. Dann sprach er leise: „Wenn euer Bruder stirbt seit ihr der König. Bis dahin sind die Meridier sicher schon längst auf der Suche nach uns. Ihr werdet ein König, eingesperrt in einem kalten Grab, sein"
Keiner der beiden hatte gehört, wie Thalia sich leise in den kleinen unterirdischen Raum, der Dorian als Zimmer diente, geschlichen hatte. Allerdings mischte diese sich nun in das Gespräch ein. „Ich kann hier bleiben", sagte sie mit leiser Stimme.
Die beiden Männer, einer groß gewachsen und muskulös der andere gerade einmal dem Kindheitsalter entwachsen, fuhren gleichzeitig zu ihr herum und starrten Thalia verwirrt an. Sie dachten nicht daran, dass das Mädchen sich ungefragt und unerlaubt eingemischt hatte, sie dachten nicht daran, dass sie belauscht wurden. Denn beide versuchten das eben gehörte zu verarbeiten.
„Du willst hier bleiben?", fragte Dorian schockiert, „Warum? Etwa ganz allein?"
„Das ist nicht möglich, junge Dame", fügte Lord Fergál hinzu, „Es ist zu gefährlich euch hier schutzlos zurück zu lassen. Ihr untersteht der Obhut des Rates und ich, als Vertreter des Rates, kann so etwas nicht zulassen"
Thalia warf trotzig ihre langen dunklen Haare zurück und blickte die beiden aus blauen Augen an. „Dorian muss nach Tarin gehen, darin besteht gar kein Zweifel. Trajan kann nicht mitkommen und ihr habt nicht genug Männer, um auch nur einen hier abzustellen. Ich hingegen bin euch auf dem Weg nach Tarin nicht hilfreich, ich bin jedoch wehrhaft genug um mich hier zu verteidigen. Ich kenne mich mit der Heilkunst der weisen Frauen aus und ich habe Trajan auch die letzten Tage gepflegt. Es ist für alle das Beste, wenn ich hier bleibe!", erklärte sie dann ruhig.
Innerlich war Thalia aufgewühlt und versuchte ihre Gefühle zu kontrollieren. Sie durften Trajan nicht sterben lassen, dies alles durfte nicht geschehen. Aber sie hatte keine Wahl, sie würde ihrem König, ihrem Freund aus Kindertagen, zur Seite stehen.
Lord Fergál wollte erneut damit beginnen einen Vortrag über Thalias Sicherheit halten und darauf hinweisen, dass sie nach Trajans Tod schutzlos und allein zurückbleiben wollte, doch Dorian kam ihm zuvor. Er ging hinüber zu Thalia und für einen kurzen Moment war es, als wären die beiden allein und Lord Fergál weit weg. Es existierten nur ihre Blicke, als Dorian versuchte in Thalias Gesicht ihre Gefühle zu lesen.
„Warum?", fragte er schließlich, „Warum willst du hier bleiben, ganz allein in solch schweren Zeiten, nur um Trajan beim Sterben zuzusehen?"
Thalia wich Dorians Blick aus und ließ ihn für einen Moment über die kalte Wand aus Erde und Stein wandern. „Ich will bleiben, da ich ihn nicht zurücklassen kann, da kein anderer es tun kann. Ich bleibe, weil ich es ihm schuldig bin", sie blickte nun Dorian wieder direkt an, „Ich bleibe, weil es meine Pflicht ist"
Dorian jedoch glaubte dem jungen Mädchen nicht. „Da ist noch etwas", stellte er fest, „Es gibt noch einen anderen Grund, ich sehe es daran wie du meinem Blick ausweichst"
Thalia atmete tief ein und dann sah sie die beiden Männer ihr gegenüber an. Für einen Moment war es, als würde sich in ihren Augen der Schmerz des ganzen Landes spiegeln und Dorian wurde bewusst, dass auch Thalia ihren Vater verloren hatte und ihr Bruder verschwunden war. Sie beide teilten dieselben Gefühle.
„Als wir alle noch jünger waren", begann Thalia schließlich, „pflegten unsere Väter Scherze darüber zu machen, wie angebracht es wäre unsere Familien zu einen, ob ich in der Lage wäre an der Seite deines Bruders dieses Land zu regieren. Und ich habe mir vorgestellt, wie es sein würde Trajans Königin zu werden. Ich habe immer davon geträumt. Auch wenn es unmöglich scheint, dass ich irgendwann diese Position innehaben werde, habe ich mir schon vor langer Zeit geschworen: Ich werde an Trajans Seite kämpfen, an seiner Seite leben und hoffentlich, wenn sich der große Drache gnädig zeigt, an seiner Seite sterben. Ich liebe deinen Bruder Dorian, und ich werde ihn jetzt ganz bestimmt nicht zurücklassen!"
Während Lord Fergál noch nach Worten suchte, nickte Dorian nur.
„So sei es entschieden. Thalia und Trajan bleiben hier in Emain Mara und der Rest von uns bricht am Morgen nach Tarin auf", erklärte er und versuchte dabei seiner Stimme soviel Autorität wie möglich zu geben.
Bevor Fergál in irgendeiner Weise widersprechen konnte verschwand Thalia so schnell und leise aus dem Raum wie sie gekommen war. Niemand sollte ihre Tränen sehen.
„Bei allem Respekt", fuhr Fergál Dorian an, „Ihr könnt doch nicht ein wehrloses Mädchen hier zurücklassen! Ich, als euer Berater, rate euch dringend davon ab."
Dorian reagierte nicht, er starrte weiter die Öffnung in der Wand an, die als Tür fungierte und durch die Thalia soeben verschwunden war. Und so fuhr Lord Fergál fort: „Habt ihr Thalia den eben nicht zugehört? Sie sagte, sie wolle an seiner Seite sterben. Das liefert uns mehr als genug Grund davon auszugehen, dass dieses Mädchen sich selbst etwas antun wird! Wir müssen dies verhindern"
Dorian fuhr zu ihm herum und schrie nun fast: „Das haben wir beide nicht zu entscheiden! Habt ihr denn nicht den Blick in ihren Augen gesehen? Ich kann weder Trajan noch Thalia retten. Ich kann nur zum großen Drachen Mara beten, dass wir alle dies hier überstehen und Iro rechtzeitig von seiner Reise zurückkehrt. Er ist der einzige Anker, den Thalia jetzt noch hat. Nur er kann sie retten, denn Trajan wird es bald schon nicht mehr können"
Der junge Königssohn wollte gehen, doch Fergál sprach ihn noch einmal an: „Was ist, mein junger Lord, wenn Iro nicht mehr zurückkehrt?"
„Es ist entschieden, sag den Menschen sie sollen packen", war alles, was Dorian noch über die Lippen brachte, bevor er aus dem Raum stürmte.
Ja, was war, wenn Iro nicht mehr zurückkehrte? Dann wäre alles verloren. Iro verschwunden, Trajan so gut wie tot, Amelia im Kerker und Thalia kurz davor an ihrer Trauer zu zerbrechen. Dorian war der einzige, der noch übrig blieb. Die Last der Welt schien nun auf seinen Schultern zu ruhen...

Iro hatte sich schon immer damit gebrüstet eines der schnellsten Pferde im ganzen Land zu besitzen. Es war ein schwarzer Hengst der Fenian, einer Rasse die angeblich von den legendären Schattenpferden selbst abstammte. Und nun ritt er ihn, als würde der Schneekönig selbst sie jagen.
So war es kein Wunder, dass Iro den Rand der Eiswüste, die Grenze in den hohen Norden nach wenigen Tagen Reise erreichte. Von hier aus war es nur noch ein halber Tagesmarsch, wenn die alten Geschichten die Wahrheit erzählten.
Er ließ sein Pferd in einem kleinen Waldstück zurück, dort gab es klares Gebirgswasser, das von Norden her strömte und frisches grünes Gras, das zum Teil bereits von einer dünnen Schicht Schnee bedeckt wurde. Der kleine Bach floss stetig, auch wenn sich an seinem Rand bereits dickes Eis gebildet hatte. Das Pferd, dem Iro den Namen Gaheris nach einem berühmten Helden gegeben hatte, würde ohne Probleme ein paar Tage überleben, länger wollte Iro sich nicht hier aufhalten. Er würde entweder bald zurückkehren, oder nie wieder kommen.
Ohne wirklich über die Konsequenzen seiner Handlungen oder die Gefahren vor ihm nachzudenken marschierte Iro durch einen dicht bewachsenen Nadelwald weiter Richtung Norden. Am gestrigen Morgen hatte er zum ersten Mal bemerkt, dass es immer kälter wurde, je weiter er vorankam. Am Nachmittag waren die ersten Schneeflocken gefallen und die Äste der Tannen, die sich nun um ihn herum erhoben waren schwer von Schnee. Iro musste seine Tritte nun vorsichtiger setzen, um nicht auf versteckten Eisflächen auszurutschen oder in von ihm unbemerkten Schneewehen zu versinken. Er begann langsamer voranzukommen und es wurde immer kälter.
Doch Iro kümmerte nichts von all dem. Für ihn gab es nur einen Gedanken der zählte. Und dieser Gedanke galt nicht der Kälte, die in seine Glieder fuhr oder der Schönheit in die die nördlichen Wälder getaucht waren. Wälder, die schon seit Jahrtausenden existierten, die den Aufstieg und Fall der Schneekönige gesehen hatten und die Iro doch nicht beachtete. Für ihn gab es nur ein Ziel, er musste den alten Handel eingehen und Trajan retten. Er durfte auf keinen Fall zu spät kommen.
Der Wald begann sich zu lichten und Iro blickte schon bald auf eine weite endlose Wüste aus Eis und Schnee. Der Wind fegte über die Landschaft und ließ den frisch gefallenen Schnee über die Ebene tanzen und die seltsamsten Formen annehmen. Iro nahm einen tiefen Atemzug und füllte seine Lungen mit vor Frost klirrender Luft. Er zog seinen Mantel enger um sich und trat aus dem Schatten der letzten Bäume hinaus in die weite Unendlichkeit, einen Schritt näher am Ende der Welt...
Iro war sich nicht sicher, ob sich vor ihm tatsächlich ein Berg, oder viel mehr ein riesiger Palast aus Eis erhob. Er war Stunden unterwegs gewesen, bevor er in der Ferne diese mächtige Erhebung erblickt hatte. Wenn es ein Berg war, dann erhob er sich allein aus einer sonst flachen Ebene, die Flanken von Eis bedeckt, dass wunderschöne und zugleich erschreckend bedrohliche Formen annahm. Der Wind wurde stärker und jagte den Schnee, der nun von allen Seiten zu kommen schien, nur so um die Ecken und Kanten dieses riesigen Massivs.
Handelte es sich hierbei jedoch um einen Palast, so waren seine riesigen Mauern aus massivem Eis, der Burggraben bestand aus einem riesigen gefrorenen See im Osten und die Wehrgänge waren geschmückt mit eisigen Wasserspeiern.
Iro hoffte, dass es sich um einen Palast handelte, dass dies tatsächlich der Ort war, von dem aus die Könige des Nordens vor so langer Zeit Angst und Kälte über das Land gebracht hatten.
Er näherte sich vorsichtig, während Wind und Kälte immer stärker wurden. Die Nacht senkte sich langsam über die Ebene und die Temperaturen würden bald ins unermessliche fallen. Egal ob Berg oder Palast, wenn diese Erhebung Iro keinen Schutz bieten konnte würde er in dieser Nacht wohl erfrieren ohne sein halsbrecherisches Vorhaben je zu vollenden.
Iro war bis auf wenige Schritte an die Ausläufer des Berges herangekommen. Er erklomm gerade einen verschneiten Hügel, als ein tiefes Heulen zu hören war. Iro hielt inne und lauschte. Sein Blick schweifte über die weiße Einöde während er versuchte den nun dichter werdenden Schleier aus Schneeflocken zu durchdringen. Das war sicher nur der Wind gewesen, der übers Land pfiff. Nichts weiter.
Gerade als Iro einen weiteren Schritt machen wollte, ertönte das Heulen erneut. Höher nun, aus einer anderen Richtung. Ein weiteres Heulen antwortete, länger und gequält. Sein Echo hallte von den Mauern der Erhebung wieder und erschütterte Iro bis ins Mark. Dies klang nicht wie der Wind...
Zwischen sich und dem Berg glaubte Iro dunkle Umrisse auszumachen, die sich schnell bewegten. Gestalten, die sich gegen das weiß der Umgebung abzeichneten und gebückt voran schritten. Doch er konnte nicht viel erkennen, sie bewegten sich zu schnell, waren in einem Moment dort und im nächsten verschwunden. Alles wurde durch den vom Wind herumgewirbelten Schnee verschwommen und undeutlich.
Vielleicht nur eine Einbildung, eine Täuschung, etwas nicht reales, das sein Auge zu sehen glaubte. Es gab viele Erklärungen, die Iro hätten beruhigen können. Doch tief in seinem inneren wusste Iro, dass sein Herz nun vor Angst rasen sollte, denn er hatte gefunden was er suchte.
Wieder und wieder wurde die Luft von Heulen zerrissen, das aus verschiedenen Richtungen kam und sich immer weiter näherte. Sie kreisten Iro ein. Er wusste was dies bedeutete. Die alten Geschichten stimmten und er fand sich nun umzingelt von den Coinìn, der Leibgarde der Schneekönige. Nachdem ihre Herren vor einem Zeitalter von den Drachen besiegt worden waren, wurden die Coinìn zu Wasserspeiern und beschützten von den Zinnen aus das Erbe der einstigen Herrscher über den Winter. Nur wenn sich jemand dem gefrorenen Schloss näherte erwachten sie aus ihrer eisigen Starre und griffen jeden an, der sich unerlaubt in den Schatten der Mauern begab.
Iro dankte stumm seinem Vater dafür, dass er ihm all diese Geschichten und Legenden mitgab, während er in diesem Moment versuchte seinen Puls zu beruhigen. Die Geschichten und Legenden waren real. Nun, vielleicht nicht alle, doch die Schneekönige schien es tatsächlich gegeben zu haben. Eine kleine Stimme des Zweifels meldete sich tief in Iro, den es könnte sich auch immer noch um normale Wölfe handeln. Doch welcher Kreatur würde es gelingen in diesem Niemandsland zu überleben?
Die verschwommenen Gestalten waren immer besser zu erkennen und Iro sah nun, dass es sich tatsächlich um riesige Wölfe zu handeln schien. Sie waren größer als herkömmliche Tiere und ihr Fell war von Frost überzogen. Als sich eines der Tiere aus dem Schleier aus Schnee löste und in Iros Sichtfeld trat gab es für den Jungen keinen Zweifel mehr, was er hier vor sich hatte. Die blauen Augen des Leittieres waren so hell und durchdringend wie Schmelzwasser im Frühling und seine Zähne, die er durch das halb geöffnete Maul der Bestie erblickte, schienen aus klarem Eis zu bestehen. Während Iros Atem in weißen Wolken vor ihm Aufstieg schien der Wolf überhaupt keine Luft zu brauchen, denn die einzigen Wolken um ihn herum, bildete der Schnee, der unter seinen mächtigen Pranken aufgewirbelt wurde. Pranken die so groß wie der Kopf eines Säuglings waren.
Mit langsamen Schritten näherte sich das Leittier der Coinìn Iro, während sein Rudel ihn weiter umkreiste. Sie alle blieben außerhalb von Iros Sichtfeld, so dass er nur ab und zu aus den Augenwinkeln einen bedrohlichen Schatten durch den wirbelnden Schnee war nahm.
Das Leittier wurde schneller und begann nun auf Iro zu zulaufen. Ein Heulen war nun so laut zu hören, als würde es direkt neben Iro entstehen und ein Chor von Echos antwortete ihm.
Bevor die Coinìn vollends in den Angriff übergehen konnten hob Iro die Hände und sprach die Worte, die sein Vater ihn gelehrt hatte: „Hüter des Schlosses, ich komme um den alten Handel einzugehen und die Magie des Eises zu beschwören!" Doch seine Worte gingen in dem Heulen der Bestien unter und das Leittier setzte zum Sprung an...

Die alte Magie des Eises


Amelia musste etwas gegen diese Stille unternehmen. Was auch immer sie fragte, rief oder schrie, Arik antwortete ihr nicht mehr. Vielleicht war es wirklich nur ein Trick gewesen. Oder er war nie da gewesen. Vielleicht machten die Stille und die Dunkelheit Amelia langsam verrückt.
Sie musste ihre Angst irgendwie bekämpfen. Und so entschied Amelia sich dazu eines der Lieder zu singen, die ihre Mutter ihr des Nachts immer vorgesungen hatte. Wenn ein Albtraum Amelias Schlaf gestört hatte gab es nichts besseres, als ein Feenlied um ihren aufgebrachten Geist wieder zu beruhigen.
Und so räusperte Amelia sich, hob ihre zarte Stimme und begann eines ihrer Lieblingslieder zu singen. Ein Lied über Ehre, Verrat und einen Helden, der alles für die Liebe tat:

So stehen sie nun am Himmelszelt
getrennt durch den ewigen Fluss
dazu verbannt sich zu sehen
doch niemals zueinander zu gehen.
Verbunden durch den letzten Kuss
wachen sie von hoch oben über die Welt.
Ihre Liebe wird niemals schwinden.
So etwas ist nur unter Sternen zu finden.



Als das Lied endete und der letzte Ton in der Dunkelheit verklang hörte sie ein Geräusch auf der anderen Seite der Wand. „Arik?", fragte Amelia. Sie hörte wie sich der junge Mann räusperte und dann sprach: „Das war ein wirklich wunderschönes Lied, Prinzessin. So etwas habe ich noch nie in meinem Leben vernommen"
„Warum habt ihr mir nicht früher geantwortet?", fragte Amelia anklagend. Und Arik schwieg erneut. „Ich war in Gedanken kleine Prinzessin", sagte er nach einem langen Moment der Stille, „Auch ich habe meine inneren Dämonen, die in dieser undurchdringlichen Dunkelheit an die Oberfläche drängen. Ich brauchte eine Weile, um sie wieder unter Kontrolle zu bekommen. Aber lasst uns von fröhlicheren Dingen reden. Dieses wunderschöne Lied, wo habt ihr es gelernt?"
„Es war eines der Lieblingslieder meiner Mutter...", begann Amelia, doch ihre Stimme brach bei dem Gedanken an die Königin Lady Thenar und so dauerte es einen Moment, bis sie fort fuhr: „Es ist eines der alten Feenlieder. Gibt es solche Lieder nicht in eurer Heimat?"
Arik lachte, doch ein trauriger Unterton schwang in seiner Stimme mit, als er erklärte: „Unsere Lieder handeln nur von der Macht unseres Gottes oder von den blutigen und doch glorreichen Taten unserer Helden und Könige. Von einem Feenlied habe ich jedoch noch nie gehört" Amelia dachte einen Moment nach. Wie war es wohl in einem Land aufzuwachsen, in dem es keine fröhlichen Lieder zu geben schien.
„Die Feenlieder erzählen die Geschichten der Anderswelt. Sie sprechen von der rechtmäßigen Herrschaft unserer Könige und von den Opfern vergangener Helden. So lernen die Kinder hier in Tir naMara die Grundsätze unseres Glaubens kennen", erklärte sie Arik dann, „Doch ihr Meridier glaubt nicht an dieselben Dinge wie wir, oder? Ihr glaubt nicht an die großen Drachen, Kinder des Feuergottes und der Mondkönigin, die einst die Welt von Eis und Schnee befreiten und so den Menschen einen Platz zum Leben gaben. Noch glaubt ihr an die Anderswelt in der unsere Krieger als síde das ewige Leben genießen können"
Arik stimmte ihr zu: „Nein, wir glauben nicht an eure göttlichen Drachen und wir haben nicht dieselben Vorstellungen von Rechtmäßigkeit oder Ehre. Aber ich muss zugeben, dass eure Anderswelt nach einem besseren Ort klingt als die lichten Lande, in denen unsere Toten für ihre Sünden zahlen."
„Wenn ein Meridier hier stirbt", begann Amelia ihre Gedanken auszusprechen, „Kehrt er dann zurück in eure lichten Lande und wird bestraft oder ist es ihm erlaubt in unserer Anderswelt ein neues Leben zu beginnen?"
Arik konnte nicht verhindern wie ihm ein leises Lachen entwich. „Kleine Prinzessin, ihr solltet euch nicht mit Rachegedanken beschäftigen. Ich bin mir sicher, egal wo mein Bruder stirbt er wird für das bezahlen, was er eurer Familie antat", erklärte er ruhig.
„In den Augen meiner Vorfahren war Rache eine Tugend", stellte Amelia dickköpfig fest, „Doch woher wusstet ihr, dass ich von eurem Bruder sprach?"
„Es war nicht schwer zu erraten. Aber wir sollten nicht weiter von solch dunklen Dingen sprechen. Und wieder versuche ich das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Von welchem Helden erzählte euer Feenlied?"
Amelia erinnerte sich zurück an die alte Liebesgeschichte, die ihre Mutter ihren Kindern immer wieder vor dem Schlafen gehen erzählt hatte. Amelia hatte es geliebt dieser Geschichte zu lauschen doch Dorian und Trajan waren schnell von ihr gelangweilt gewesen. Mittlerweile waren die beiden zu alt für abendliche Geschichten und es war Jahre her, Amelia kam es nun vor wie ein ganzes Lebensalter, das sie alle drei zusammengekuschelt auf dem Bett saßen und der Stimme von Lady Thenar lauschten.
Ihre Mutter war eine wunderbare Geschichtenerzählerin gewesen. Sie konnte mit ihrer Stimme aus Wörtern Bilder in die Luft malen. Amelia war sicherlich nicht so gut darin doch trotzdem begann sie nun die alte Geschichte zu erzählen:
Die Anderswelt wird von den ban síde, den Frauen der Feen, regiert. Sie haben ihre Wohnsitze in Seen und Gewässern und ihre Schönheit überragt alles, was ein normaler Mensch in seinem ganzen Leben zu Gesicht bekommt.
Eine dieser Feenköniginnen hatte eine Tochter, Caleria war ihr Name. Und Caleria verliebte sich in den jungen Fintan. Doch Fintan war kein Lord, er war nur der Diener ihrer Mutter. Doch das störte die beiden Liebenden nicht und sie trafen sich heimlich. Damit niemand es bemerkte verließen sie an jedem Vollmond die Anderswelt und trafen sich hier in unserer.
Doch natürlich blieb die junge Liebe nicht lange vor den Augen der Feenkönigin verborgen. Sie war so wütend darüber, dass Fintan in ihren Augen einen Verrat begangen hatte, dass sie ihn von ihren Hunden jagen ließ. Fintan floh, doch die Hunde hetzten ihn, egal wohin er sich wandte. So blieb dem Jungen nichts anderes übrig als an den Himmel zu flüchten. Auch Caleria beschloss ihrem Geliebten zu folgen und wurde wie er zu einem Sternbild am Nachthimmel.
Die Feenkönigin konnte nicht zulassen, dass ihre Tochter für den Rest der Ewigkeit als Sternbild mit einem Diener am Himmel verweilte. So nahm sie all ihre Kraft, ihre Magie und ihren Glauben zusammen und versetzte den großen Himmelsfluss, die Straße aus Sternen die sich durch die Nacht zieht. Sie ließ ihn genau zwischen den beiden Liebenden fließen und so waren sie für immer getrennt.
Auch die Feenkönigin bezahlte einen hohen Preis. Durch die große Anstrengung die es sie gekostet hatte den Himmelsfluss zu versetzen versiegte ihre Magie und damit auch das Gewässer, in dem sie zuhause war. So verlor die Anderswelt nicht nur ein Liebespaar sondern auch eine ihrer Königinnen. Seitdem wird dieses Lied von Generation zu Generation weiter getragen, um eine Tragödie wie diese zu verhindern.
Als sie geendet hatte schwieg Arik eine lange Zeit. Dann sprach er fast ehrfürchtig: „Ihr habt eine wunderbare Gabe Prinzessin. Ich habe noch nie jemand getroffen, der so schön eine Geschichte erzählen konnte. Es war, als würdet ihr mit euren Worten Bilder in die Luft malen."
Amelia bedankte sich leise und wischte eine Träne von ihrer Wange.
Bevor sie vollends in Tränen ausbrach begann Amelia schnell zu sprechen: „Nun bin ich es, die das Gespräch in andere Bannen lenken will. Soll ich nicht lieber eine fröhliche Geschichte erzählen? Man erzählt sich Tir naMara hatte mal einen König der war so alt, dass er..."
Als Ariks Lachen nun durch den dunklen Kerker schallte klang es befreit und klar.
Drei Tage waren vergangen, seit Dorian den Grabhügel der Mara verließ, als ein dunkler Krieger ihn betrat. Er trug einen zerschlissenen Mantel, der ihm bis zu den Knien reichte und dessen Kapuze er sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Der Krieger fürchtete zu spät gekommen zu sein, denn das Gebiet um den Hügel, in dem die Flüchtlinge ihr Lager aufschlugen war verlassen. Das Volk von Tir naMara war weitergezogen.
Der Fremde rannte in den Hügel, schnappte sich eine Fackel und eilte zum Saal der Toten.
Die großen Feuerbecken an dessen Rändern leuchteten hell, doch der steinerne Sarkophag in seiner Mitte war leer. Nur ein paar Tücher und getrocknetes Blut erinnerten daran, dass er noch vor kurzem als Lager diente.
Der Fremde trat in die Mitte des Saales und fluchte leise. Da ertönt eine Mädchenstimme hinter ihm: „Wer seid ihr und was sucht ihr hier?"
Der Krieger drehte sich erleichtert um: „Ich dachte schon, ich hätte euch verpasst", sagte er mit einer Stimme, die dem Mädchen ihm gegenüber nur allzu sehr bekannt war.
Thalia, die zuvor gesprochen hatte stand bewaffnet mit Pfeil und Bogen hinter dem Eindringling und erkannte erleichtert, wenn sie dort vor sich hatte: „Iro!"
Dieser nahm seine Kapuze herunter und enthüllte sein Gesicht. Doch er hat keine Zeit, um in Wiedersehenfreude zu schwelgen. Barsch fragte er seine Schwester: „Wo ist Trajan?"
Thalia führte ihn zu einer Ecke des Raumes, wo versteckt hinter einer großen Säule Trajan auf einem Lager aus Tüchern ruhte. Iro blickt traurig auf seinen besten Freund hinunter. Er konnte geradezu spüren wie die Energie aus Trajans Körper floss und er langsam ins Reich der síde, in das Land der Toten, übertrat. Trajan war wirklich in sehr schlechter Verfassung, sein Herz schlug schnell und seine Wunden brachen immer wieder auf. Schweiß stand ihm auf der Stirn und seine Atmung wurde immer langsamer, während er scheinbar von dunklen Fieberträumen gequält wurde.
Während Iro sich zu dem Jungen, der für ihn wie ein Bruder war, hinunterbeugte erklärte Thalia leise, dass sie ihn aus der Mitte des Saales fortgeschafft hatte, um ihm ein wenig Schutz vor Feinden zu geben. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Invasoren das umliegende Gebiet unter ihre Kontrolle gebracht hatten.
„Wir werden sie aufhalten!", sagte Iro mit fester Stimme. Doch anstatt ihm zu zustimmen legte seine Schwester ihm müde eine Hand auf die Schulter. Schweren Herzens erklärte Thalia: „Ich glaube nicht, dass dies für Trajan noch einen Unterschied macht. Er liegt im Sterben. Ich verstehe nicht viel von Heilkunde, doch ich weiß, dass er höchstens noch wenige Stunden zu leben hat. Du bist zur rechten Zeit gekommen, um dich ein letztes Mal von ihm zu verabschieden."
Iro richtete sich auf und sah seine Schwester drohend an. „Das kann und werde ich nicht akzeptieren!", sagte er leise, doch mit Nachdruck. Thalia sah ihn erstaunt an. Sie wusste, dass es für alle Beteiligten schwer werden würde Trajan gehen zu lassen, doch mit solch aktivem Widerstand hatte sie nicht gerechnet.
Sorgsam wählte Thalia ihre nächsten Worte, um ihren Bruder nicht noch mehr zu verletzten. "Du musst es akzeptieren", sie wollte auf Iro zugehen, doch dieser wich vor ihr zurück, „Es ist der Lauf der Dinge. Keiner von uns kann etwas gegen den Tod unternehmen!"
Thalia konnte ihr Erschrecken nicht verbergen, als sie sah wie Iro bei ihren Worten nur anfing zu Lächeln. Für einen kurzen Moment sah sie einen Schatten in seinen Augen aufblitzen, der ihr unbekannt und auch unverständlich war.
„Nun Schwester,", begann er leise, „Das ist der Punkt in dem du dich irrst. Ich kann etwas gegen den Tod unternehmen."
Iro griff unter seinen Mantel und holte einen Stab heraus. Es war eine Art Zepter, fast so lang wie sein Arm und aus einem schneeweißen Metall, das Thalia noch nie zuvor gesehen hatte. An seinem einen Ende war eine kurze geschwungene Klinge aus einem schwarzen Kristall, der das Weiß des Stabes im Kontrast nur noch stärker leuchten ließ. Das andere Ende ähnelte einer geschwungenen Knochenhand, die eine stilisierte Schneeflocke in den Händen hielt.
Er richtete das Zepter mit der Knochenhand voran auf das Herz des bleichen Trajan. Thalia griff nach seinem Arm und fragte ihn ängstlich: „Iro, was hast du vor? Was ist das?"
Doch Iro ignorierte sowohl ihre Fragen als auch Thalias Hand auf seinem Arm. Er konzentrierte sich, so wie die Wölfe es ihn gelehrt hatten und sprach die magischen Worte: „Ich rufe die Magie des ewigen Eises, alt wie die Zeit und Beständig wie diese, auf das sie den Tod aus diesem Herzen treibt“
Ein Kribbeln fuhr vom Stab ausgehend seinen Arm hinauf und er spürte für einen kurzen Moment einen Stich in seinem Herzen. Auch Thalia spürte die Energie und fuhr erschrocken zurück.
Trajan schnappte nach Luft, bäumte sich auf und blieb reglos liegen. Er atmete nicht mehr. Zum zweiten Mal in so kurzer Zeit hatte Tir naMara einen König verloren.
Thalia kniete sich erschrocken neben Trajan und schrie Iro an: „Was hast du getan?" Doch dieser war nicht in der Lage zu reagieren oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Warum hatte es nicht funktioniert?
Iro hatte im Norden den Handel besiegelt. Er war all den Anweisungen gefolgt und nun schien es nicht zu funktionieren?
Thalia konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und so begannen sie Trajans Gesicht zu benetzen. Iro konnte es nicht ertragen seine Schwester so zu sehen. Und noch viel mehr verabscheute er den Anblick seines toten Kameraden, des Jungen, dem zu folgen und zu schützen er bereits als kleiner Junge geschworen hatte. Er war Trajan ergeben gewesen, noch bevor er wusste was diese Worte bedeuteten und an dieser Tatsache hatte sich nie etwas geändert. Doch all seine Gefühle, all seine Anstrengung hatten nichts genutzt, denn am Ende hatte Trajan sie doch viel zu früh verlassen.
Überwältigt von seinen Gedanken wandte Iro sich ab und begann den Saal der Toten zu durchqueren. Er konnte nicht mehr hier sein, er brauchte Luft, Sonne, irgendetwas, was ihn davon abhielt auf der Stelle zusammen zu brechen.
Während die beiden Geschwister in Stille verharrten begannen, unbemerkt von ihnen, Trajans Wunden langsam zu heilen. Es war als würde ein kaltes Licht von ihnen ausgehen und sie begannen sich langsam zu schließen. Thalia schluchzte leise, sie hatte die Augen geschlossen und kauerte immer noch neben Trajan. Sie wusste, dass sie eigentlich ihrem Bruder beistehen sollte, sie wusste, dass sie sich eigentlich zurückhalten musste. Doch in ihrem Kopf war nur noch Platz für einen einzigen Gedanken. Er ist fort. Trajan war gegangen.
Die Tränen begannen erneut zu fließen, als Thalia eine sachte Berührung an ihrem Arm spürte. Sie öffnete die Augen und blickte auf Trajans Hand hinunter, die neben ihrem Arm lag. Sie sah auf und blickte in die Augen des Königs, zurückgekehrt von den Toten.
„Was ist passiert?", fragte Trajan leise. Er hauchte die Worte fast, denn zu mehr fehlte ihm noch die Kraft. Seine Augen waren halb geschlossen und er wirkte fast, als wäre sein Geist weit entfernt.
Thalia glaubte ihren Sinnen nicht trauen zu können. Ausgehend von ihrem Herzen breitete sich ein wohliges Gefühl durch ihren ganzen Körper und sie war erneut nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen.
Iro war gerade am Eingang des Saales angekommen, als er die Stille bemerkte. Seine Schwester hatte aufgehört zu weinen. Von einer plötzlichen Angst befallen machte er kehrt und eilte zu ihr. Doch Thalia war nichts passiert, im Gegenteil. Sie kniete fröhlich lächelnd neben Trajan, der sich verwirrt umsah, während die Farbe in seine Wangen zurückkehrte.
Der Zauber hatte gewirkt.
Es war ihm tatsächlich gelungen, Trajan zu retten.

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Bildmaterialien: FreeDigitalPhotos.net; windschwinge
Tag der Veröffentlichung: 16.06.2012

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Widmung:
Für alle, die schon hinübergegangen sind "Man sollte nie mit Wut im Bauch einschlafen"

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