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Prolog



Vor vielen Jahrzehnten gab es ein armes Mädchen. Das einzige, was größer war als ihre Schönheit, war ihr Herz. Dies ist die Geschichte, wie sie fiel, nur sicher ist das Schiff auf Kiel. So unschuldig wie der Wind, war einst das arme Kind.

Sie verliebte sich in einen jungen Seemann und auch er war von ihrem Anblick entzückt. Eigentlich hatte der Seemann sich einst geschworen, nur seiner großen Leidenschaft, dem Meer zu gehören, doch ihre Augen verzauberten ihn so sehr, dass er nicht mehr aufhören konnte, an sie zu denken. So kam es, dass die beiden zusammenfanden und glücklich wurden. Doch von Glück und Liebe kann man allein nicht leben. Aus diesem Grund musste der junge Seemann seiner Arbeit nachgehen. Das Meer rief ihn wieder zu sich und so legte der Seemann erneut mit einem Schiff ab. Aber dieses Mal blieb sein Herz an Land, bei seiner einzigen Liebe.
Er schwor ihr, jede Nacht an sie zu denken und wenn er auf das Meer hinausblickte, diesem aufzutragen seine Liebe, zu ihr zurückzubringen. So stand er jede Nacht an Deck und flehte das Meer an, seine Liebe zu dem jungen Mädchen zu tragen. Und sie stand am Strand ihres Heimatortes und flehte die ankommenden Wellen an, auf ihrem Weg zurück ja gut Acht auf ihren Geliebten zu geben.
Doch die See ist rau und gefährlich. In einem Moment liegt sie ruhig und träge da, im anderen braust sie auf und man stürzt in tiefe Wellentäler. So passierte es, dass die See genug von dem Flehen der Liebenden hatte und in einer stürmischen Nacht das Schiff des Jungen mit Mann und Maus verschluckte. Das Meer war eifersüchtig, denn es wollte nicht, dass der Seemann, der es vorher angebetet hatte, nun nur noch an eine Andere dachte, wenn er das Meer betrachtete. Die See mochte den Zauber nicht, den das junge Mädchen auf den Seemann gelegt hatte, denn es selbst konnte sich solcher Magie nicht bedienen. Es konnte nur mit rohen Kräften walten, Schiffe zerstören und Unwetter über das Land schicken.
Das Mädchen hörte nie wieder etwas von ihrem Liebsten und so klagte sie das Meer bitterlich an, da es ihr das Einzige genommen hatte, was sie wirklich brauchte. Das Meer hatte ihr Flehen vernommen, doch war ihm nicht gefolgt.
Sie konnte nicht ohne ihn sein und so beschloss das Mädchen, ihrem Geliebten zu folgen. Sie kleidete sich in Weiß und suchte das Meer. Noch heute erzählen die Bewohner ihres Heimatortes von dem gutherzigen Mädchen, dem alle Schönheit nichts brachte und das ins Wasser ging, um Liebe zu finden.
Im Takt der Wellen, dass Schiffe zerschellen. In der Hoffnung, den einen zu finden, um sich nicht ewig an das Meer zu binden.


Doch die See war nicht zu guten Taten aufgelegt und so traf das Mädchen in den Tiefen des Wassers nie auf ihren Geliebten.
So geschah es, dass das arme Mädchen auch heute noch in jeder stürmischen Nacht zurück an die Wasseroberfläche kommt und man ihr Klagen weit hören kann.
Aus der tiefen Unterwelt, nichts mehr das Sie hält, steigt sie herauf, die Seele schon längst verkauft.


Viele Seeleute sind diesem Klagen schon gefolgt, da es in ihren Ohren wie die schönste Musik klingt. Doch das Mädchen, nun eine Sirene, sucht nur den einen Seemann. So ertrinken alle anderen auf dem Weg zu ihr.
Hört ihr trauriges Klagen an die, die sich aufs Meer wagen. Den einen hat es ihr genommen, nun wird sie alle bekommen.
Mit ihrem traurigen und grausamen Tagewerk kann das arme Mädchen erst aufhören, wenn das Meer seine Wellen nicht mehr ans Ufer schickt und sie endlich ihren Geliebten in seinen Tiefen finden kann.
Bis das Meer versiegt, ertönt ihr Lied. Bis er wieder zu ihr findet, auf dass die Liebe niemals schwindet.


Strophe 1




Marek ließ seine Blicke über die hohen Mauern der Burg schweifen. Er zögerte, bevor er unter dem schweren Eisentor hindurch in den großen Innenhof trat. Marek hatte es noch nie gemocht, zwischen solchen Mauern zu sein. Er konnte den Himmel kaum noch sehen und fühlte sich eingesperrt. Qualvolle Erinnerungen an Eisenstäbe und Kerkerwände krochen in ihm empor, doch er schob sie schnell beiseite.
Sie mussten nur wenige Tage auf dem Schloss verbringen, dann konnten sie -hoffentlich mit den Taschen voller Gold- weiterziehen.
Das Schloss, Burg Maresund, ragte hoch über dem Meer auf und war der Sitz des Fürsten von Antares. Auch wenn dieser Mann nur über ein kleines Fürstentum herrschte, nicht zu vergleichen mit dem riesigen Königreich Tir naMara im Osten, verfügte er doch über eine große Schatzkammer. Dies erzählte man sich jedenfalls auf den Straßen von hier bis Emain Mara, dem großen Hügel des Drachen.
Marek strich sich seine braunen Strähnen aus den Augen und drehte sich zu seinen Kameraden um.
Auch wenn es niemand aussprechen würde, war Marek eine Art Anführer für die kleine Gruppe von Spielleuten. Er war mit seinen fast 22 Sommern nicht der Älteste doch seine Erfahrung und seine ruhige Art ließen keine Zweifel an seinen Führungsqualitäten.
Hinter ihm ging Nikolasz, ein dünner Jüngling, der sein zweites Jahrzehnt noch nicht ganz vollendet hatte. Er war noch nicht lange Teil der Gruppe und Marek sah zufrieden, dass Nikolasz mit vor Staunen geweiteten Augen die Burg betrachtete. Der schwarzhaarige Junge ging neben dem Karren her, gezogen von einem alten Esel, auf dem all ihre Instrumente und ihre ganze Habe verstaut waren.
Es war nicht viel, doch sie brauchten nicht mehr. Sie waren Spielleute und sie lebten auf der Straße.
Die kleine Gruppe bestand aus vier Männern, die sich gegenseitig kannten wie ihre Westentaschen. Wenn man zusammen lebte, reiste und spielte konnte man früher oder später tief in die Seele des Anderen blicken.
Ivan war der Älteste unter ihnen. Er hatte wirre schwarze Haare, die ihm in einem langen Zopf über den Rücken fielen und in seinem im Vergleich kurzen Leben mehr Erfahrung gesammelt als manch Gelehrter in hundert Jahren.
Der vierte im Bunde war Vitja. Auch er hatte einen schwarzen Zopf, doch seiner reichte nur bis in seinen Nacken. Er war in Mareks Alter und niemand verstand es besser, der Fiedel die schönsten Töne zu entlocken. Sie waren eine kleine, doch feine Gruppe und sie alle verfolgten in ihrem Leben dasselbe Ziel, stellte Marek zufrieden fest. Freiheit.
Marek sah wieder zu den Mauern auf und erneut griff Furcht nach seinem Herzen.
Doch die anderen Mitglieder der kleinen Spielmannstruppe fühlten sich in Maresund sofort wohl. Ihnen wurde ein Platz vor den Toren zugewiesen, auf dem sie ihr Lager aufschlagen konnten. Auch andere Spielmannstruppen waren nach Maresund gekommen und so dauerte es nicht lange bis vor den Toren der Burg ein kleines Dorf entstanden war. Freundschaften wurden geschlossen und Feindschaften entdeckt.
Hier draußen fühlte sich auch Marek besser. Am Mittag sollten sie in die Burg kommen, um dem Fürsten vorzuspielen. Dieser würde dann entscheiden, ob sie bleiben oder gehen konnten.
Bis zum Mittag würden sie sich die Zeit mit Proben und Gesprächen vertreiben. Man konnte als Spielmann nie auslernen und die anderen Truppen kannten bestimmt ein paar Lieder und Kunststücke, die sie selbst noch lernen mussten.
Der ein oder andere Humpen Bier wurde gelehrt und so verging die Zeit auch wie im Fluge...

Sara konnte das Lied des Spielmannes hören, bevor sie ihn sah. Der Wind trug seine Worte zu ihrem Fenster herauf.


Aus der tiefen Unterwelt
nichts mehr das sie hält
steigt sie herauf
die Seele schon längst verkauft



Sara sah sich nach ihren Kammerzofen um. Niemand schien im Raum zu sein. Vorsichtig befreite die junge Frau sich aus den Decken, in die sie am Abend zuvor gewickelt wurde und erhob sich langsam. Für einen kurzen Moment sah sie kleine Lichtpunkte vor ihren Augen tanzen, bevor ihr Körper sich an die neue aufrechte Position gewöhnt hatte. Noch immer hörte sie die Stimme des Fremden.

Bis das Meer versiegt
ertönt ihr Lied
Bis er wieder zu ihr findet
auf das die Liebe niemals schwindet



Vorsichtig stellte Sara ihre Füße auf dem kalten Steinboden ab. Sie war sich nicht sicher, ob ihre Beine sie wirklich tragen konnten, doch die wunderschöne Musik schien sie magisch anzuziehen. Und so wagte sie den ersten Schritt und erhob sich aus der warmen Sicherheit ihres Bettes. Langsam ging Sara hinüber zum Fenster. Die wenigen Schritte durch ihre Kammer ermüdeten sie bereits und so war sie froh, als sie sich auf der steinernen Fensterbank abstützen konnte. Sie blickten hinunter auf einen kleinen Hof, den sie schon oft erblickt hatte. Doch dieses Mal saßen Fremde in ihrem Hof. Eine kleine Spielmannstruppe hatte sich um den Brunnen in der Mitte versammelt. Einer unter ihnen, ein junger Mann, hatte eine Leier in der Hand und spielte dieses wunderschöne Lied.

Im Takt mit den Wellen
Das Schiffe zerschellen
In der Hoffnung den einen zu finden
um sich nicht ewig ans Meer zu binden



Seine Stimme war rau und doch auf ihre eigene Art wunderschöne. Er hauchte den Worten und der Geschichte dahinter Leben ein und erfühlte den ganzen Hof mit Musik.
Dennoch saßen Vögel in den Bäumen des Hofes und ließen sich nicht stören. Es war, als würde der Spielmann auch sie in seinen Bann schlagen, genau wie alle anderen, die seine Melodie hörten.
Die Sonne schien warm auf Saras Gesicht und sie schöpfte neue Energie aus diesem schönen Augenblick. Sara schloss die Augen und ließ sich von der Stimme des Spielmannes an einen neuen Ort tragen, weit weg von den kalten Mauern dieser Burg, weit weg von dem Bett an das sie gefesselt war.

Dies ist die Geschichte wie sie fiel
nur sicher ist das Schiff auf Kiel
So unschuldig wie der Wind
war einst das arme Kind



Es war ein altes Lied. Marek hatte die Worte schon oft gesungen und er kannte die Geschichte die sie umgab bis in jedes kleinste Detail. Dennoch erfüllte dieses Lied ihn jedes Mal aufs Neue mit einer tiefen Ruhe.
Immer wenn er traurig oder nervös war griff er zu der alten Gitarre seines Bruders und die Worte flossen nur so von seinen Lippen.
Marek schloss seine Augen und verließ auf den Schwingen der Musik den kleinen Hof, in dem er eben noch mit den anderen gesessen hatte. Er vergaß alles anderem um sich herum und kehrte zurück an den Ort seiner Kindheit. Zurück auf die warmen Sommerfelder über die die Stimme seiner Mutter ertönte...


Hört ihr trauriges Klagen
an die, die sich aufs Meer wagen
den einen hat es ihr genommen
nun wird sie alle bekommen


Die anderen Spielleute wagten es nicht, Marek anzusprechen, wenn er sich in diesem Zustand der Trance befand. Niemand wollte den alten Zauber brechen, der sich über die Welt legte, wenn die Worte der Ballade ertönten. Es gab eine alte Geschichte unter den Spielltruppen, dass nur besondere Menschen dieses Lied wirklich begreifen und zum Leben erwecken konnten. Und tatsächlich hatte Ivan noch nie jemanden getroffen, der es so wie Marek beherrschte das Lied der Sirene zu singen. Niemand der anderen Spielleute war so weit gereist wie Ivan. Er war auf der Straße geboren und er pflegte zu sagen, er würde auch auf der Straße sterben.
Neben ihm saß Nikolasz, der noch nicht lange mit dieser kleinen Truppe unterwegs war. Er war noch jedes Mal aufs Neue sprachlos, wenn ihm jemand einen Blick auf seine Fähigkeiten werfen ließ. Nikolasz hatte schnell begriffen, dass er es hier mit begabten Männern zutun hatte und nicht jede Spieltruppe solches Können unter sich hatte.
Während er nun Marek zuhörte, schweifte sein Blick an den hohen Mauern, die sie umgaben, entlang. Nikolasz kam aus einem kleinen Dorf und so hatte er nicht oft in seinem Leben solch - von Menschenhand erschaffene- hohe Mauern gesehen. Sein Blick fiel auf ein Fenster, das zwei Stockwerke über ihnen lag. Ein Mädchen lehnte dort, die Augen geschlossen, der Sonne zugewandt. Sie war bleich wie der Tod, dennoch wunderschön. Ihre blonden Haare glänzten im Licht der Sonne und um ihre Lippen spielte ein kleines Lächeln.
Nikolasz ahnte, um wenn es sich dort handelte. Sara van Tares, die Tochter des Fürsten, seit Jahren durch eine schreckliche Krankheit an ihr Bett gefesselt. Sie war der Grund, warum er mit seiner Truppe hier war. Sie war der Grund warum seit Monaten Spieltruppen nach Burg Maresund strömten. Denn ihr Vater hatte dem Spielmann, dem es gelang sein einziges geliebtes Kind aufzumuntern und die dunkle Energie der Krankheit zu vertreiben eine hohe Belohnung versprochen.
Während Nikolasz sie so betrachtete, dachte er im Stillen, dass den meisten ein Lächeln auf dem Gesicht der Fürstentochter als Belohnung genügen würde, denn er konnte nur erahnen wie schön sie so ein Lächeln machen würde.
In diesem Moment verstummte Marek und Sara van Tares öffnete ihre Augen. Sie schien Nikolasz Blick zu spüren, denn sie sah zu ihm herab. Ihre Blicke trafen sich und die junge Frau verschwand schnell aus dem Fenster.
Langsam tauchten auch die anderen Spielleute aus ihren Gedanken auf und die kleine Gruppe begann sich leise zu unterhalten. Nur Nikolasz konnte seinen Blick nicht von dem Fenster nehmen.

Sara lehnte an der kalten Steinmauer neben dem Fenster. Warum war sie dem Blick dieses Fremden ausgewichen? Sie war die Tochter des Fürsten, die Etikette befahl, dass er den Blick senkte, nicht sie. Doch seine hellen blauen Augen hatten etwas Forschendes an sich, als würden sie direkt in ihre Seele blicken. Sara hatte sich gefühlt, als würde ihr Innerstes vor diesem Mann ausgebreitet und so hatte sie sich unwohl zurückgezogen.
Doch sie fühlte sich so unglaublich leicht. So gut hatte Sara sich seit langem nicht mehr gefühlt. Vielleicht hatte die alte Heilerin damals wirklich Rechtgehabt und Musik konnte wirklich Krankheiten vertreiben. Sie war sich sicher, dass wenn jemand in der Lage war ihre Krankheit zu vertreiben es dieser Fremde dort unten war. Der Fremde und sein trauriges Lied der Sirene...

Marek führte seine kleine Truppe durch die Gänge von Maresund. Ein Diener begleitete sie und brachte die Spielleute zum Thronsaal des Fürsten.
Der Fürst war reich, das erkannte man an der Innenausstattung seiner Burg. Doch auch die Menschen in der kleinen Stadt im äußeren Ring hatten nicht gerade arm gewirkt.
Die großen Eichentüren zum Thronsaal wurden aufgestoßen und die Spielleute erblickten zum ersten Mal den Fürsten. Er war in mittlerem Alter, wirkte jedoch immer noch stark und gesund. Zu seiner rechten saß ein blass wirkendes junges Mädchen, das die Augen unruhig durch den Raum wandern ließ. Dann blieben sie an Nikolasz kleben.
Marek beachtete sie nicht weiter und stellte sich und seine Mannen höflich dem Fürsten vor. Ihre Instrumente hatten sie zuvor bereits im Thronsaal aufgebaut.
„Lasst uns gleich zur Sache kommen, ich habe noch andere Dinge zu tun. Spielleute spielt!", rief der Fürst auffordernd und so begannen sie zu spielen.
Während des Liedes blickte Marek zu der jungen Frau. Sie hatte die Augen auf den Boden gerichtete, dennoch entging ihm nicht wie hübsch sie war. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem kunstvollen Knoten hoch gesteckt und ihr Kleid schien aus den besten Stoffen gefertigt zu sein.
Nikolasz hatte sofort, als er den Thronsaal betrat die junge Frau wieder erkannt. Sara van Tares war gekommen, um sie spielen zu hören. Das Lied der Sirene hatte sie wohl doch beeindruckt. Nun, diesen Effekt schien Marek auf viele zu haben. Und auch jetzt schien es der jungen Fürstentochter schwer zu fallen ihre Augen von Marek zu lassen. Nikolasz stellte dies fröhlich fest, doch Marek entging es natürlich...

Ivan bemerkte, dass die Fürstentochter nach dem Auftritt sofort den Raum verließ. Es war Mareks Aufgabe, dem Fürsten die Aufwartung zu machen und so die Etikette zu erfüllen. Da Spielleute allgemein hin zum eher niederen Volk zählten, war die Anwesenheit der restlichten Gruppe nicht erforderlich. Man konnte sogar sagen, sie waren nicht erwünscht. Sie galten als vogelfrei, ein Umstand auf den Ivan sogar sehr stolz war.

Ivan hatte sich noch nie über das Leben, das er führte, beschwert. So störte es ihn nicht, dass der Fürst nicht mit ihm reden wollte. Er brauchte dessen Respekt nicht. Wie allgemein bekannt, war er auf der Straße geboren worden und wenn er sich diese hohen Mauern ansah, bereute er es keineswegs. Ivan war ein Kind der Luft. Er brauchte sie nicht nur zum Atmen, nein, er musste auch den Himmel über sich sehen, den Wind in den Bäumen hören. Wie den meisten Spielleute bedeutete seine Freiheit ihm alles. Er war keinem Herrn Rechenschaft schuldig und musste keine Frondienste leisten. Ivan hatte nur sich, sein Bündel und seine Freiheit. Für nichts in der Welt hätte er dies aufgegeben.
Ivan lief durch einen Korridor, es war nicht der Weg, den sie gekommen waren, doch er konnte seine Neugier nicht bekämpfen. Auch wenn er nicht hier leben wollte, bedeutete das nicht, dass er nicht wissen wollte, wie es sich hier leben ließ.
Als Ivan um eine Ecke bog, sah er die Fürstentochter vor sich an einem Fenstersims lehnen. Sie trug ein langes rotes Kleid und ihre Haare trug sie, wie es die Etikette einer Frau ihres Standes vorschrieb, kunstvoll hochgesteckt.
Sie war immer noch sehr bleich.
„Das arme Mädchen", dachte Ivan. Doch natürlich sprach er dies nicht offen aus. Stattdessen begrüßte er sie höflichst mit „Mylady".
„Ah, ein Spielmann", erwiderte Sara und schenkte ihm sogar ein Lächeln. Und so begann ein Gespräch zwischen diesen scheinbar so verschiedenen Menschen.
Ivan gewann Vertrauen zu der jungen Frau, sie war höflich und nett, doch nicht so herablassend wie die meisten Adligen. Ihr Schicksal berührte ihn sehr. In seinen Augen war es eine Schande, dass eine so hübsche Frau ihr Leben in diesem steinernen Gefängnis verbringen musste.
„Ich kann mir vorstellen, warum dich diese Krankheit quält. Ich sehe in deinen Augen, dass auch du nicht für dieses Leben hinter Mauern geschaffen bist. Sag mir Sara, wann warst du das letzte Mal unter freiem Himmel?", fragte Ivan sie, alle Zurückhaltung vergessend.
Sara sah ihn erstaunt an und überlegte dann für einen kurzen Moment. „Ich war früher oft draußen. Ich war gerne im Wald und auf den Feldern", erklärte sie dann. „Doch seit meine alte Amme gestorben ist, habe ich die Burg nur noch selten verlassen. Allein ist es zu gefährlich, wenn man bedenkt, wie viele Unruhen es in letzter Zeit gab."
Ivan nickte, doch er stimmte ihr nicht wirklich zu. Ja, die Zeiten waren gefährlich für eine Frau wie Sara, doch selbst in Gefahr sollte man nie seine Freiheit aufgeben.
„Wir sind auf diese Burg gekommen, weil jemand Euch aufheitern sollte, Mylady. Und wir Spielleute nehmen unsere Aufgaben ernst. Doch ich komme nicht umher, Euch mitzuteilen, dass unsere Musik nicht die richtige Medizin für euch ist, auch wenn sie viele fröhlich stimmt. Ich versichere Euch jedoch, verlasst dieses Gefängnis für nur einen Abend und der Himmel über euch wird Medizin genug sein", versprach Ivan.
Sara sah nicht aus, als sei sie bereits überzeugt. Und so fügte er hinzu: „Es gibt selten eine Gelegenheit, bei der so viele Spielleute an einem Ort versammelt sind, wie in diesen Tagen. Hinzu kommt, dass heute Nacht der elfte Dunkelmond des Jahres ist. Es ist Tradition, dass dieser Mond, gelegen zwischen Blut- und Schneemond gefeiert wird. Heute Nacht, wenn die Sterne am Himmel stehen, wird es ein großes Fest vor den Toren der Stadt geben. Ich lade Euch ein und verspreche Euch einen Abend bei uns in Freiheit und am nächsten Morgen werdet Ihr Eure Krankheit kaum spüren."

Nachdem Sara mit dem Spielmann geredet hatte, durchquerte sie gedankenverloren die Räumlichkeiten der Burg. Dabei achtete sie nicht auf ihren Weg, sondern dachte nur an das, was der Spielmann gesagt hatte. Wirklich, in letzter Zeit kamen ihr diese Mauern wie ein Gefängnis vor. Die Mauern, deren Anwesenheit sie früher immer beruhigte, aber ihr auch Schutz und Gewissheit spendeten.
Ehe Sara sich versah, stand sie vor den Haupttoren zum Thronsaal. Vielleicht war ihr Vater noch hier. Sie hatte den Wunsch, ihm von den Gedanken, die sie nun quälten zu berichten. Doch wahrscheinlich wäre er nur erbost über die Frechheit des Spielmanns. War es das, was der Spielmann unter Freiheit verstand? Einfach zu sagen, was man dachte? Für Sara etwas Unvorstellbares.
Sie wollte sich gerade abwenden, um zurück in ihre Gemächer zu gehen, da wurden die Türen zum Thronsaal geöffnet. Einer der Spielmänner trat heraus, er hatte wohl bis eben noch mit ihrem Vater, dem Fürsten gesprochen.
Ihre Blicke trafen sich und für einen Moment schien die Zeit still zu stehen.
Marek räusperte sich und beugte sein Knie. „Mylady", murmelte er leise. Dann gingen beide wieder auseinander. Zwei Seelen, die sich kurz auf ihrem Weg begegneten und dann wieder trennten. Doch beide Seelen wurden durch diese Begegnung für immer verändert.

Strophe 2




Der Platz wurde von dem hellen Licht der Fackeln ausgeleuchtet und in der Mitte brannte ein riesiges Lagerfeuer. Doch Sara fielen die Schatten auf, die in den Ecken lauerten und sie erschauderte unweigerlich. Sara zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und ging langsam am Rande der Wiese entlang. Zwischen den Fackeln und um das große Feuer herum tanzten Menschen in den bunten Gewändern der Spielleut ausgelassen zu einer Musik, die von überall und nirgends zu kommen schien. Erst als sie sich suchend umsah, fielen Sara die Musiker auf. Sie saßen über den Platz verstreut und entzauberten ihren Instrumenten die verschiedensten Melodien. Alle vereinigten sich zu einer wundervollen lebhaften Musik. Dort hinten sah Sara eine Schalmei, hier ein paar Trommeln und Flöten, doch viele der Instrumente wirkten fremdartig und waren ihr unbekannt. Doch ihr Klang verzauberte Sara und so blieb sie stehen, um einen Moment zu lauschen. Sie betrachtete die Gestalten, wie sie auf unsichtbaren Wegen tanzten. Manchmal wusste Sara nicht, ob sie eine Person vor sich sah, oder nur einen der vielen Schatten, die über den Platz huschten. Unweigerlich wurde sie von einer ihr unbekannten Unruhe erfasst. Die Musik ging ihr bis ins Mark und für einen Moment glaubte Sara, auch sie müsste sich in den Kreis der Tänzer begeben, um diesem seltsam neuartigem Gefühl nachzugeben.
Sara riss sich nun doch von den Tänzern los und ließ ihren Blick weiter schweifen. Denn die Neugier gewann wieder die Oberhand. Dort hinten am Feuer waren lange Reihen von Tischen aufgebaut, an denen schon viele zechten. Weiter hinten, dort wo das Licht der Feuer nicht mehr gegen die Dunkelheit bestand, konnte sie die Zelte der Spielleute schwach erkennen.
Als sie den Tischen näher kam, wurde die Musik von den Gesängen der Betrunkenen übertönt. Hier wurden Trinklieder aus den verschiedensten Regionen und Ländern ausgetauscht und zum Besten gegeben. Sara traute sich nicht näher, zum Einen aus Angst erkannt zu werden, zum Anderen fühlte sie sich schutzlos den rohbeinigen Spielleuten ausgeliefert. Sie wusste nicht recht, ob sie es bereuen sollte, gekommen zu sein oder ob sie den Moment genießen sollte. Zu vielseitig waren die Eindrücke und Bilder um sie herum.
Ein lebhaftes Treiben herrschte auf dem Platz. Sie spürte einen leichten Schwindel in sich aufsteigen und für einen Moment dachte Sara, ihre Kräfte würden sie verlassen.
Ja, das Fest der Spielleut war genau, wie sie es sich vorgestellt hatte...

Marek saß allein vor seinem Zelt und betrachtete die Sterne. Er kannte die einzelnen Bilder, die dort oben am Himmel entstanden und er wusste zu jedem Sternenbild eine Geschichte zu erzählen. Dort rechts der große Fintan, den man an den Himmel verbannt hatte, gejagt von den Hunden seiner Feinde. Dort hinten die wunderschöne Caleria, die sich nicht hatte entscheiden können zwischen der Treue und der Liebe... Diese Geschichten hatten ihm schon in mancher lauen Sommernacht geholfen das Herz eines jungen Mädchens zu erreichen.
Doch heute war ihm nicht nach dergleichen zu Mute. Viel eher fühlte er sich, als gehörte auch er als Sternbild ans Firmament. Der arme Spielmann, der sich in die unerreichbare Prinzessin verliebte. Eine tragische Geschichte, die ihm anderorts bestimmt den ein oder anderen Rubel einbringen konnte. Doch hier in diesem Moment, als es gerade passierte, kam er sich mehr als dumm vor.
Er, der er all diese Geschichten kannte und wusste, dass sie nie zu einem glücklichen Ende fanden, war geradewegs in eine hinein gestolpert. Dabei hätte gerade er es besser wissen müssen.
Also warum ging ihm die bildhübsche Sara nicht mehr aus dem Kopf? Warum spukte sie in seinen Gedanken herum und ließ ihn nicht mehr in Frieden?
Marek schüttelte über sich selbst den Kopf und griff erneut nach seinem Krug. Als das kühle Bier erfrischend seine Kehle herunterrann, wandte er seinen Blick wieder hinüber zu den Fackeln und Feuern des Festes. Auf diese Entfernung konnte er schemenhaft tanzende Gestalten sehen und er hörte gedämpften Gesang.
Warum war er nicht dort drüben? Es passierte nicht oft, dass so viele Spielleut an einem Ort versammelt waren. Vielleicht hätte er noch die ein oder andere Geschichte, das ein oder andere Lied erlernen können. Doch hier saß er, einsam und allein vor sich hin grübelnd. Ja, er hatte sich wirklich in eine tragische Figur verwandelt...

Nikolasz saß zwischen den anderen und leerte den nächsten Humpen. Langsam spürte er, wie das Bier im zu Kopf stieg, doch er wollte nicht der erste sein, der mit dem Zechen aufhören musste. Dies war das erste Fest der Spielleute, an dem er teilnahm und wenn es nicht das letzte sein sollte, durfte er sich nicht blamieren. Er blickte hinüber zu Vitja. Dieser achtete kaum auf ihn, denn er lauschte der Legende der Sirene. Auch Nikolasz wollte dem fremden Spielmann gerade lauschen, als ihm eine Gestalt am anderen Ende der Wiese auffiel. Es war eine junge Spielfrau, die in ein Kleid aus schwarzen und roten Stoffen gehüllt war. Soviel konnte Nikolasz auf diese Entfernung und bei den Lichtverhältnissen erkennen.
Doch irgendetwas stimmte an dieser Frau nicht. Sie wirkte seltsam deplaziert und unsicher. Als würden die Tänzer, Musiker und Feuerspeier sie faszinieren, als hätte sie all dies noch nie gesehen. Selbst für ihn waren die Geflogenheiten der Spielleute nichts Neues mehr.
Nikolasz stand auf, für einen Moment drehte sich der Boden unter ihm, dann ging er langsam zu der Frau herüber.
Die Feuerspeier und Tänzer begannen, sich aufeinander abzustimmen und die Musiker spielten ein altes Lied, darüber wie das Feuer einst das Eis besiegte und das Land bewohnbar machte. Ein Lied über Drachen und Schneekönige, aber vor allem darüber, wie die Spielleute seitdem die Aufgabe hatten, dieses Feuer weiter in die Herzen der Menschen zu tragen. Um Nikolasz herum verwandelte sich die Wiese in ein riesiges bewegtes Bild aus Flammen, Schatten und fliegenden Tüchern. Der Gesang der Spielleute erfüllte die Nacht.

Seht ihr die Flammen
wie sie um euch tanzen
Seht ihr die Schatten
die zum Himmel fliehen


Nikolasz wurde von den anderen mitgerissen, er wurde von der Energie des Augenblicks erfasst und innerhalb von Sekunden befand er sich in einer Art Rausch. Die Musik dröhnte in seinen Ohren, die anderen Tänzer, das Feuer alles verschwamm vor seinen Augen zu einem großen Ganzen. Der ganze Platz wurde von einer uralten Magie erfasst. Fast war es, als wären die alten Drachen anwesend.
Nikolasz tanzte, obwohl er die Schritte noch nicht wirklich kannte. Er sang, obwohl die Worte für ihn Neu waren. Er war in der Musik gefangen und der Nebel, den der Alkohol noch vor wenigen Minuten in Nikolasz Verstand getrieben hatte, verblasste langsam und verschwand dann völlig. Es war, als hätte Nikolasz seine Umgebung noch nie so klar wahrgenommen, obwohl alles vor ihm verschwand. Für einen Moment hatte der junge Spielmann das Gefühl, dass diese schemenhaften Gestalten, erzeugt von Licht und Schatten, viel eher der Realität entsprachen, als das, was er sonst sah und wahrnahm.
Vielleicht stimmten die alten Legenden ja wirklich und Nikolasz wurde Zeuge, wie der Schleier, der die Welten trennte, in dieser Nacht gelüftet wurde. Vielleicht waren all diese Gestalten um ihn herum real und doch geisterhaft... So schnell wie die Tänzer vor seinen Augen wirbelten auch die Gedanken in seinem Kopf hin und her. Am nächsten Morgen konnte Nikolasz sich kaum an die vergangene Nacht erinnern. Er wusste nur, dass sein Schädel von dem ganzen Alkohol dröhnte und seine Glieder schrecklich schmerzten.

Marek stand am Rand des Platzes und betrachtete das Schauspiel, das sich ihm dort bot. Er hatte schon oft gesehen, wie Spielleute das Lied des Feuers spielten, doch heute berührte es ihn besonders.
Auch er spürte ein Feuer tief in sich brennen. Normalerweise nährte er es mit seiner Wut, doch seit er die Fürstentochter zum ersten Mal gesehen hatte, schien es stärker und aus anderen Gründen zu brennen. Seine Gefühle tanzten wie die Schatten auf diesem Platz in seinem Inneren und es gelang ihm einfach nicht, Ordnung in dieses Chaos zu bringen.
Während Marek seinen Blick über die Tänzer schweifen ließ, entdeckte er Nikolasz in deren Mitte. Ihm entfuhr ein leises Lachen. Der Junge war ausgelassen und froh, wenigstens einer, der den Abend genießen konnte.
Ein paar Meter von Nikolasz entfernt am Rande des Platzes stand eine junge Frau und betrachtete das Schauspiel genau wie Marek.
„Nun denn", dachte er lächelnd, Vielleicht kann ich mich so auf anderen Gedanken bringen. In ein paar Tagen sind wir eh weit entfernt..."
Und so setzte Marek sich langsam in Bewegung. Er umrundete den Platz und näherte sich langsam der Frau. Sie bewegte sich nicht, war vollkommen in die Betrachtung des Schauspiels gefangen.


Über Berge und Täler kommen wir
um euch zu berichten was einst geschah.
Ja glaubt nur, dies ist wahr

In einer dunklen Nacht
vor allzu langer Zeit
In einem dunklen Land
von hier nicht ganz so weit



Sara sah auf das bunte Spiel aus Licht und Schatten vor ihr. Die Reize schienen ihr Herz zu überfluten, sie wusste nicht, wohin sie zuerst schauen, was sie zuletzt aufnehmen sollte.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie jemand auf sie zukam. Sie schaute verstohlen genauer hin und erschrak. Es war der junge Spielmann mit der schönen Stimme, der sie vom ersten Augenblick an in seinen Bann gezogen hatte. Er kam doch nicht etwa direkt auf sie zu? Sara spürte wie Hitze ihr in die Wangen stieg. Was sollte sie nur tun?
Schon stand er neben ihr und räusperte sich höflich. Sara wand sich um und blickte in seine dunklen Augen.


Die finstre Nacht erhellt von Flammen
Das Ende für so manchen Helden
war die Schlacht, die befreite
die Welt von Eis und Kälte



Marek spürte wie das Feuer in ihm aufloderte und schrie, als er in die blauen Augen der Fürstentochter eintauchte. Augen, die ihn von jetzt an in seine Träume verfolgen sollten.
„Hallo", murmelte Sara schüchtern.
Marek lächelte sie als Antwort aufmunternd an. „Ich hätte nicht gedacht, Euch hier anzutreffen, Fürstentochter", sagte der junge Spielmann mit einem neckenden Unterton in der Stimme.

„Erklär mir doch bitte, warum ihr ausgerechnet diesen Dunkelmond feiert", bat Sara Marek leise, als sie es sich vor einem der Zelte bequem machten.
„Es ist der elfte Dunkelmond des Jahres. Nach alten Legenden ist der Schleier heute zwischen unserer und der Welt der Geister besonders dünn. Es ist der perfekte Zeitpunkt für Magie und ähnliche Künste. Doch man muss sich in Acht nehmen, denn heute Nacht ist nichts, wie es scheint", erklärte Marek ihr zwinkernd.
Sara lachte zögernd. Sie war sich nicht sicher, ob er diese Warnung nicht vielleicht doch ernst gemeint hatte.
Marek fuhr fort: „Vieler dieser alten Legenden nach wurde dieses Land von zwei Kräften erschaffen, die unterschiedlicher nicht sein konnten: Feuer und Eis. Seit Anbeginn der Zeit, so sagt man, herrschte eine mächtige Dynastie von Magiern über den ganzen Kontinent, die Schneekönige.
Die Schneekönige bekamen ihre Macht vom Eis und im Gegenzug stärkten sie dieses. So gelang es der einen Urkraft, die andere zu besiegen, das Eis vertrieb das Feuer. Der ganze Kontinent verwandelte sich in eine riesige Eiswüste und nur noch wenigen gelang es, hier zu überleben. Für eine Zeit, so lang, dass kein Mensch sie begreifen kann, herrschte Winter und die Schneekönige regierten von ihrem kalten Thron im Norden über alles, das atmete. Im Süden jedoch hatten die stärksten Magier des Feuers, die Drachen überlebt und sie kämpften tapfer gegen das herannahende Eis. Doch ihre Zahl war verschwindend gering und sie wurde immer geringer. In der kürzesten Nacht des Jahres, wo seither die Yulfeuer brennen, wurde der letzte Drache geboren, bevor ihre Rasse scheinbar für immer ausgerottet wurde. Doch dieser letzte Drache, Mara war ihr Name, überlebte und sammelte im Geheimen ihre Kräfte.
Jahre später war ihre Zeit gekommen, denn auch die Blutlinie der Schneekönige wurde immer dünner und auf dem Thron saß nun eine junge unerfahrene Magierin. Und in der Nacht des elften Dunkelmondes, in dieser heutigen Nacht vor vielen Jahrhunderten, führte der große Drache Mara eine Armee von Feuerwesen in Richtung Norden, wo sie auf die eisigen Untertanen der Schneekönigin trafen. Die Schlacht dauerte viele Stunden und sie war die größte, die je auf diesem Kontinent geschlagen wurde, die Schlacht der Elemente. Doch am Ende siegte Maras Feuer über das Eis und das Leben konnte in dieses Reich zurückkehren.
Alles, was atmete begann ein rauschendes Fest, doch dem großen Drachen war nicht zum Feiern zumute. Zu groß war der Preis gewesen, den sie für die Freiheit gezahlt hatten, zu groß waren ihre Verluste. Denn beide Armeen waren vollständig vernichtet wurden. Nur einer hatte auf der Seite des Feuers überlebt, ein junger Spielmann.
Mara quälten noch andere Sorgen, sie wusste, die Schneekönigin war nicht für immer besiegt, sie hatte sich nur zurückgezogen. Damit es ihr nie wieder möglich war einen jahrhundertelangen Winter über das Land zu bringen, suchte Mara nach einem Weg, wie sie ihr Feuer in die Herzen der Menschen bringen konnte. Denn Mara fühlte tief in ihrem Herzen, dass sie das nächste Mal nicht da sein würde, um die Eiskönigin in die Schranken zu weisen. Sie beauftragte den Spielmann, der als einziger Mensch die Schlacht der Elemente überlebt hatte, damit durch das Land zu reisen und die Geschichte, ihr Feuer, unter den Menschen zu verbreiten. Und dies tun wir Spielleute seit jeher. Davon handelt auch das Lied, das wir eben gehört haben."
Sara lauschte Mareks Worten andächtig. Seine Stimme hatte sie verzaubert, als er das Lied der Sirene gesungen hatte und auch nun zog sie Sara in ihren Bann.
Als Marek geendet hatte, wollte Sara nicht dass er verstummte, sie wollte weiter seine Stimme hören. Und so fragte sie: „Was wurde aus Mara?"
„Mara zog sich zurück. Eines Tages verschwand sie und ward nie wieder gesehen. Doch das Land, das sie von der Schneekönigin befreite, wird heute noch von ihren Nachfahren, der alten Königsfamilie regiert", erklärte Marek.
Sara wusste, von welchem Land er sprach. Das große Reich Tir naMara, das Land der Mara. Ihr kleines Fürstentum grenzte im Osten an dieses Gebiet. Doch nun machte der Name und das Wappen, ein riesiger Drache, zum ersten Mal Sinn für Sara.
Stille begann sich auszubreiten und Marek versuchte, sie erneut mit seiner wunderschönen Stimme zu vertreiben: „Die vielen Feuer, der Tanz der Flammen, das sind alles Rituale, die wir Spielleute haben, um in dieser dunklen Nacht die Geister der Anderswelt zurückzutreiben, um den Mond zu ersetzen und Maras Feuer wieder zum Leben zu erwecken. Es gibt viele Gründe und die Feier des elften Mondes ist für jeden auf eine ganz andere Weise besonders. Wir waren einst in einem Land, weit weg von hier, da feierte man den elften Dunkelmond unter dem Namen Samhain. Auch dort versuchte man, die Geister der anderen Welten zu vertreiben, doch um dies zu tun, reichten keine Feuer. Die Menschen verkleideten sich, um so die Geister abzuschrecken. Andernorts wird diese Nacht als Tod des Lichts bezeichnet, da ab heute die Tage wieder kürzer und die Nächte länger werden. In wenigen Monaten, am Tag der Wintersonnenwende, wird das Licht dann wiedergeboren..."
Und so saß Sara lange Zeit einfach nur da und lauschte Marek, wie er von all den fremden Orten erzählte, die er einst gesehen hatte. Orte die so wunderlich und schön waren, so geheimnisvoll und anders. Orte versteckt unter Eis oben im Norden, Orte unten im Süden, wo die Sonne fast immer schien, Orte im Westen und im Osten... Daraufhin regte sich in Sara etwas, das sie seit langer Zeit nicht mehr gespürt hatte. Sie wollte mit ihm in die Ferne ziehen. Sie wollte diese Mauern, die sie seit ihrer Kindheit kannte, hinter sich lassen und Neues sehen. Sara wollte all dies erleben, von dem sie nun nur aus Geschichten gehört hatte. Sie wollte frei sein wie ein Vogel, um dahin gehen zu können, wohin es sie gerade zog. Und endlich verstand das junge Mädchen, was der Spielmann mit Freiheit gemeint hatte. Sie verstand, dass es das Wichtigste für die Spielleute war, denn niemand konnte es ihnen nehmen.
Sara sah zurück auf die Feuer und Tänzer, sie wurde sich der Musik wieder bewusst und des bunten Lebens um sie herum.
Nun wusste Sara, sie wollte dazu gehören. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie etwas gefunden, das sie wirklich wollte und zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie es nicht bekommen. Auch Sara wollte Freiheit. Sara wollte eine Spielfrau sein.

Die Nacht ging ihrem Ende zu und Sara begann Müde zu werden. Sie war schon lange nicht mehr so spät wach gewesen und sie bemerkte langsam, dass ihr Körper soviel Aktivität nicht mehr gewohnt war. Die frische Luft tat ihr übriges.
Und so begleitete Marek Sara zurück zur Burg. Am östlichen Horizont sah man die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne.
Sie blieben außerhalb der Tore stehen, Sara hielt es für unnötig die Wachen auf sie aufmerksam zu machen. Ihr Vater würde nicht gerne hören, dass seine Tochter im frühen Morgengrauen von einem Fremden zurück zur Burg gebracht wurde. Wenn sie Glück hatte, hatte noch niemand ihr Fehlen bemerkt und sie konnte ihren kleinen Ausflug weiter geheim halten.
Sie drehte sich zu Marek, um sich zu verabschieden. Für einen Moment schien sie einen Anflug von Traurigkeit in seine Augen zu erkennen. Und tatsächlich wusste Sara nicht, ob sie den jungen Spielmann jemals wieder sehen würde. Seine Aufgabe hier war getan, er hatte vor dem Fürsten gespielt und nun würde er mit seiner Truppe weiter ziehen.
Die Tatsache, dass dies ein Abschied für immer war, machte auch Sara traurig.
Marek rang nach Worten, zum ersten Mal seit langem wusste er nicht, was er sagen sollte. „Nun", begann er schließlich. „Es sieht so aus, als würden sich unsere Wege hier trennen. Es war mir ein Vergnügen..." Doch weiter kam Marek nicht, Sara schnitt ihm das Wort ab. Sie hatte all ihren Mut zusammen genommen, um zum ersten Mal in ihrem Leben eine wirklich freie Entscheidung allein zu treffen. Sara hatte sich vorgebeugt, um Marek zu küssen.
Für einen Moment wusste der junge Mann nicht, wie er reagieren sollte. Dann erwiderte er ihren Kuss. Es war, als würden sie in einen tiefen Strudel fallen und zugleich hoch in die Luft gehoben.
Sara hatte das Gefühl, sie würde die Szene aus der Luft betrachten, mit Flügeln über ihrem eigenen Körper schweben, den Boden unter den Füßen verlieren... All diese Sätze hatte sie schon oft in so vielen Geschichten gehört doch zum ersten Mal spürte sie es selbst.
Zu spät bemerkte die junge Frau, dass sie tatsächlich den Boden unter den Füßen verlor. Denn dieser letzte stürmische Moment war zu viel für ihren von Krankheit geschwächten Körper und obwohl sie sich eben noch so lebendig wie nie gefühlt hatte, brach Sara in Mareks Armen zusammen.

Der junge Spielmann konnte die Frau, die ihm in so kurzer Zeit das Herz geraubt hatte, noch im letzten Moment fangen, bevor sie auf dem Boden aufschlug.
Verdutzt sah er auf die leblose Sara in seinen Armen herab und wusste nicht, was ihm gerade widerfahren war. Doch bevor Marek etwas sagen konnte, hörte er Rufe in der Ferne, die schnell näher kamen. Sie waren nicht weit genug von den Toren entfernt gewesen. Die Wachen hatten sie gesehen. Und hier stand er, mit der Tochter des Fürsten ohnmächtig in seinen Armen...

Strophe 3




Nun war er wieder hier. In einem dunklen Kerker, hinter dicken Gitterstäben.
Marek hatte das Gefühl, jemand würde auf seiner Brust sitzen und ihn nach unten drücken. Er bekam kaum Luft, die Dunkelheit engte ihn immer weiter ein. Leise summte er die Melodie der Sirene vor sich hin. Er musste sich beruhigen...
Doch so richtig funktionieren wollte es diesmal nicht. Zu sehr erinnerte ihn dies alles an damals, an seine Vergangenheit, die er so stark versuchte zu vergessen. Er saß wieder in einem Kerker, obwohl er einst seiner Mutter versprochen hatte nie wieder an so einen Ort zurückzukehren. Marek hatte es ihr versprechen müssen, bevor die Männer kamen, um sie zu holen. Er würde nie vergessen, wie er sie aus seinem kleinen Kerkerfenster beobachtet hatte, wie stark sie gewesen war als die Flammen immer höher schlugen...
Schweiß breitete sich auf Mareks Stirn aus, als die Erinnerung lebhaft vor seinen Augen auftauchte.
Und warum war er wieder hier? Weil er sich von seinen Gefühlen hatte leiten lassen. Weil er seinen Verstand einfach ignoriert hatte. Für einen kurzen Moment war er glücklich gewesen. Für einen kurzen Moment schien alles gut zu werden.
Jetzt, nur ein paar Momente später, saß Marek in einer dunklen Zelle. Die einzige Lichtquelle war eine Fackel im Gang ein paar Meter von seiner Zelle entfernt. Durch das kleine Fenster in der dicken Eichentür gelang nur wenig von diesem Licht in seinen Kerker. Hier würde er nun also im Halbdunkeln langsam verrotten, dachte Marek bitter.

Sara schrie, Sara tobte, Sara weinte. Sie hatte noch nie in so kurzer Zeit so vielen Gefühlen nachgegeben. Für die Tochter eines Fürsten gehörte es sich nicht, ihre Gefühle so offen zu zeigen. Doch Sara hatte Angst, in kleine Scherben zu zerbrechen, wenn sie nicht all diese Dunkelheit herausließ.
Ihr Vater hatte sich den ganzen Tag noch nicht gezeigt. Sie hatte gegen die verschlossene Tür ihres Zimmers gehämmert, sie hatte aus dem Fenster zum Hof geschrien, doch niemand hatte Sara geantwortet.
Nun, völlig erschöpft, saß sie auf dem Boden und wimmerte leise vor sich hin. Den Rücken presste sie gegen die kalten Steinwand. Dieselbe Wand an der sie gelehnt hatte, nachdem sie Marek zum ersten Mal gesehen und gehört hatte. Seine wundervolle Stimme klang auch jetzt, Tage danach, noch in ihren Ohren. Sie erinnerte sich an das Lied, dass er gesungen hatte. Das Lied der Sirene. Auch die Sirene hatte ihren Liebsten verloren. Nicht an den Kerker, sondern an das Meer. Doch sie hatte Rache geschworen und ihre Wut hatte sie überleben lassen.
Auch Sara spürte Wut in sich aufsteigen. Wut auf ihren Vater, der sie wie ein kleines Kind auf ihr Zimmer geschickt und Marek eingesperrt hatte. Wut auf diese kalten Steinmauern, die sie davon abhielten zu ihrem Liebsten zu kommen. Aber vor allem spürte Sara Wut, die gegen sie selbst gerichtet war. Denn sie war es gewesen, die es nicht ertragen konnte, in ihrem Zimmer zu sitzen, während die Spielleute feierten. Sie war es, die nach Marek gesucht hatte und ihr schwacher Körper war es, der am Ende des Abends zusammengebrochen war. Wäre sie nicht so dumm gewesen, ihrer Neugier nachzugeben, dann würde Marek jetzt noch mit seinen Kameraden feiern.
Sara dachte wieder an die Sirene und stimmte traurig und leise deren Lied an.

Bis das Meer versiegt
ertönt ihr Lied
Bis er wieder zu ihr findet
auf dass die Liebe niemals schwindet


Ivan saß allein in dem kleinen Hof, in den sie sich am ersten Tag zurückgezogen hatten. Er hörte Sara oben in ihrem Zimmer toben und weinen und es tat ihm tief im Herzen weh, nichts für das arme Kind tun zu können. Es tat ihm weh, Marek nicht helfen zu können. Er wusste, dass Nikolasz und die anderen bereits über Plänen brüteten, mit denen sie sich erhofften, in den Kerker von Maresund einzubrechen. Doch Ivan hatte eines auf seinen vielen Reisen gelernt: Fürsten waren von sich selbst überzeugt. Man musste ihnen das Gefühl geben, alle Macht zu haben und dann gaben sie einem alles.
Und so saß er in dem kleinen Hof und grübelte über einer Taktik, Marek auf diplomatischem Wege zu helfen, während Sara in ihrem Zimmer immer leiser wurde. Dann verstummte sie ganz. Ivan blickte zu ihrem Fenster herauf, als auf einmal leise das Lied der Sirene ertönte.

Dies ist die Geschichte wie sie fiel
nur sicher ist das Schiff auf Kiel
So unschuldig wie der Wind
war einst das arme Kind



Saras Schmerzen mischten sich mit denen der Sirene und das Lied ertönte immer lauter in dem kleinen Hof. Ivan war es, als würde die Musik ihm die Sinne rauben. Sie rührte ihn fast zu Tränen. Nun war auch Sara in der Lage, das Lied zu begreifen und die Worte mit Gefühlen zu füllen und so zum Leben zu erwecken.
Ivan kam der Gedanke, dass man erst große Qualen erleiden musste, um das Lied wirklich singen zu können. Welche Qualen Marek wohl erlitten hatte? Als Sara eine weitere Strophe anstimmte, kam Ivan der traurige Gedanke, dass sie und Marek wie für einander geschaffen waren. Und doch war es, als wäre alle Hoffnung für die beiden schon verloren. Vielleicht würde er selbst eines Tages ein Lied über diese Liebesgeschichte schreiben. Dieser Gedanken machte Ivan traurig...

„Ihr werdet dieses Land verlassen. Ihr werdet mein Fürstentum, Antares, für immer verlassen und ihr werdet nie wieder nach Maresund zurückkehren! Wenn ich diesen niederen Spielmann noch einmal in der Nähe meiner Tochter sehe, werde ich..." Der Fürst redete sich wieder in Rage. Er hatte sich im Laufe der letzten Minuten schon mehrmals in Schimpftiaden über Marek verloren und die Spielleute hörten ihm schon nicht mehr zu.
Sie waren dabei, einen Handel einzugehen. Der Fürst wollte Marek loswerden und die Spielleute würden ihm diesen Wunsch erfüllen, wenn er Marek die Freiheit zurückgab.
Er musste die Frau aufgeben, die er liebte, doch er würde das erhalten, was den Spielleuten am wichtigsten war.
Ein gelungenes Ende für solch eine tragische Geschichte.

Sie liefen schweigend den staubigen Weg entlang. Mathilde, ihr treuer Esel, zog den Karren mit ihren Instrumenten und den wenigen Habseligkeiten, die sie besaßen.
Marek hatte sich von den anderen zurückgezogen und ging ein Stück hinter dem Wagen entlang. Er wollte nicht mit ihnen über das reden, was passiert war. Er wollte mit niemandem darüber reden, wie er sein Herz an Sara verloren und dafür in den Kerker gekommen war. Vor allem wollte er nicht darüber reden, wie er sie nun, nach dem er ihrer ganz und gar verfallen war, zurücklassen musste.
In ein paar Monaten, wenn Marek über all dies hinweg war, würde er vielleicht ein Lied schreiben, der arme Spielmann und die Fürstentochter und dann, dann konnten sie darüber reden. Aber jetzt war es eindeutig noch zu früh.
Die anderen spürten dies und so sprachen sie ihn nicht an. Ivan und Vitja hatten am Anfang noch versucht, ein Gespräch zu erschaffen, doch niemandem war wirklich zum Reden zu Mute.
Die Straße wurde immer unebener. Sie waren jetzt mehrere Stunden von Maresund entfernt. Mathilde umging geschickt ein Schlagloch, doch der Karren rumpelte laut hindurch. Durch die Erschütterung fiel etwas im Inneren des Karrens um, ein Topf oder Ähnliches, und man hörte ein leises „Aua".
Ivan hatte es vernommen und so brachte er Mathilda zum Stehen und starrte den kleinen Wagen einen Moment verwirrt an. Auch die anderen blieben stehen und sahen zu ihm herüber. „Was ist los?", fragte Vitja spöttisch. „Kannst du etwa jetzt schon nicht mehr weiterlaufen?"
Ivan schüttelte nur den Kopf. Er ging auf den Wagen zu und öffnete die Tür.
Während Ivan in den Wagen blickte murmelte Nikolasz abschätzig: „Was soll den das? Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Ich wollte vor der Dunkelheit das nächste Wirtshaus erreichen..."
Doch Ivan achtete gar nicht auf ihn. „Was haben wir denn hier?", rief er entzückt in den Wagen hinein.
„Instrumente", antwortete Marek und marschierte schlecht gelaunt an Ivan vorbei. Doch dieser ergriff Mareks Arm und hielt ihn fest. Marek drehte sich langsam um und blickte in Saras blaue Augen. „Was machst du hier?", fragte er leise und ungläubig.
Sara kletterte langsam aus dem Wagen und erklärte: „Mein Vater hat euch befohlen, sein Land zu verlassen, doch mir hat er nichts befohlen. Ihr Spielleute habt mir gezeigt, was es bedeutet, frei zu sein und jetzt lass ich mich nicht mehr hinter Mauern einsperren..."
Dieses Mal war es Marek, der Sara unterbrach. Er überbrückte die kurze Distanz zwischen ihnen und küsste Sara leidenschaftlich...
Nikolasz machte ein würgendes Geräusch. „Müssen wir jetzt für den Rest unseres Daseins in einem Liebeslied leben?", fragte er laut.
Marek funkelte ihn böse an, Vitja meinte abwertend: „Du musstest diese Atmosphäre jetzt ruinieren, oder?"
Und Sara?
Sara lachte aus vollem Herzen. Ein glockenklares Geräusch, das die anderen einstimmen lies. Sie spürte, wie die Spuren, die die lange Krankheit hinterlassen hatte, von ihr abfielen und hatte das Gefühl, ihr würden Flügel wachsen...

Epilog




Nikolasz sah an den dunklen Mauern empor. Er konnte kaum glauben, dass es sich bei dieser Zitadelle tatsächlich um Maresund handeln sollte. Sie waren das letzte Mal vor ein paar Jahren hier gewesen. Damals hatte die Burg von Leben und Fröhlichkeit erzählt. Als sie nun durch die dunklen Gassen gingen war es, als würden Tod und Kälte regieren.
Verstohlen warf Nikolasz einen Blick zu Sara. Marek hatte einen Arm um sie gelegt und flüsterte etwas in ihr Ohr. Doch Sara schien ihn kaum zu bemerken. Wie in Trance ging sie durch die Straßen ihrer alten Heimat und schien verzweifelt nach etwas Bekanntem zu suchen.
Als sein einziges Kind ihn verlassen hatte, war das Herz des alten Königs gebrochen. Er hatte in tiefer Trauer befohlen, jeden Stein in Maresund schwarz zu tünchen und so wurde die einst einladende Burg zu einer kalten Feste geworden. Über allem schwebten die Krähen wie dunkle Boten der neuen, härteren Gesetzte.
Spielleuten war es verboten, Maresund zu betreten und die paar Bewohner die sich in Lumpen auf die Straße trauten, beäugten die kleine Gruppe misstrauisch.
Ivan murmelte ein leises „Es war keine gute Idee hier herzukommen."
Niemand antwortete ihm. Allen war klar, dass er im Recht war, doch keiner wollte dies Sara ins Gesicht sagen. Nicht nachdem sie sich tagelang darauf gefreut hatte, zurück nach Hause zu kommen. Doch das Nest, in dem sie aufgewachsen war, hatte keine Wärme mehr für sie übrig.
„Irgendwann müssen wir alle erwachsen werden und in die Ferne fliegen", murmelte Ivan, eine der vielen Weisheiten, die er auf der Straße gelernt hatte.


Ach! Zu des Geistes Flügeln wird so leicht
Kein körperlicher Flügel sich gesellen.
Doch ist es jedem eingeboren,
Dass sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,
Wenn über uns, im blauen Raum verloren,
Ihr schmetternd Lied die Lerche singt;
Wenn über schroffen Fichtenhöhen,
Der Adler ausgebreitet schwebt,
Und über Flächen, über Seen,
Der Kranich nach der Heimat strebt

Johann Wolfgang von Goethe
Faust, Der Tragödie erster Teil, Vers 1090 bis 1099


Impressum

Texte: © Cover: bloodyrebel
Tag der Veröffentlichung: 19.11.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Feuer und Flamme so wollen wir für euch sein Wir spielen, um zu leben Denn wir Spielleute sind frei In dieser grauen dunklen Welt da herrschen Gold und Gier Doch wir feiern um zu leben Denn das Feuer das sind wir Vermaledeyt Feuer und Flamme

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