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„Es klingelt an der Tür. Energisch, einmal, zweimal.
Samstagfrüh, eine junge Frau zieht sich was über,dann eilt sie durch die Wohnung zur Tür und blickt durch die Luke. Es ist ihre Mutter. Die junge Frau weicht erschrocken zurück, denn der Blick ihrer Mutter trifft sie hart durch die winzige Luke hindurch. Sie öffnet einen Spalt. „Ach du bist es Mutti“ flüstert sie scheu. In ihrer Stimme schwingt Schwermut und unterdrückte Abwehr.Die Mutter blickt ernst:“ Du siehst ja noch ganz verschlafen aus, Liebes. Schau‘ mal, ich hab‘ uns Frühstück mitgebracht.“
Ihr Lachen ist kalt und laut. Sie tritt ein, geht in’s Wohnzimmer und sitzt dort allein.
„Natalie? Ich wollte eigentlich mit dir gemeinsam frühstücken.“ Natalie kommt in weiter Bluse, die Haare bedecken ihr Gesicht. „Nein Mama, laß‘ nur, ich mach‘ das schon.“- Sie nimmt die Verpackungen und eilt in die Küche...- öffnet das Papier und sieht die leckeren Nußstückchen.
Da überkommt es sie.Heißhungrig ergreift sie zwei, drei Stück und schlingt sie in Sekunden herunter. Dabei stöhnt sie, teils genüßlich, teils qualvoll.
Die Mutter sitzt im sterilen Wohnzimmer.Schwarz ist die vorherrschende Farbe.Ein Tisch, ein Schrank, eine Couch, eine Lampe. Natalie eilt fliegenden Schrittes zur Mutter, knallt Teller, Brötchen, Aufstrich in hektischer Eile auf den Tisch, würgt sich die Worte „Muß duschen“ aus dem Mund – das Gesicht hinter dem Schleier blonder Haare versteckt – und hastet zur Toilette.
Die Mutter hört das Wasser der Dusche prasseln, - und noch ein weiteres Geräusch. Ein tiefes Würgen, Erbrechen...- sie weiß um Alles.
Natalie steht vornübergebeugt am Waschbecken, ist außer Atem vor Anstrengung.Sie blickt in den Spiegel und Bilder, wie Filmszenen in Zeitlupe, ziehen vor ihrem geistigen Auge vorüber...- sie selbst beim musikalischen Kinderwettbewerb, sie selbst vor tausender sie erwartungsvoll anschauender Augen, darunter die Augen der Mutter, des Bruders, des Vaters, und schließlich nochmal sie selbst, als sie sich das erste Mal als junges Mädchen erbrach.
Ihre Gedanken kehren zurück in’s Jetzt. Heute ist sie 33 und ihr Geheimnis darf niemand wissen Es gibt niemanden, dem sie sich anvertrauen könnte. Was letztlich bleibt ist eine Wand aus Glas, die sie trennt von der Welt dort draußen, durch die sie die Ereignisse wahrnimmt.

Montagvormittag im Büro.
Lärmende Telefone, Hektik, sich stapelnde Akten. Natalie sitzt an ihrem Schreibtisch und arbeitet. Sie ist ernsthaft bei der Sache, es geht um ein neues Projekt und gleich ist die Besprechung, an der sie als Spezialistin der Marketingabteilung teilnimmt.Es gibt niemanden, der an der Qualität ihrer Arbeit zweifelt.
Schließlich sitzen die Kollegen im Konferenzraum. Natalie kommt um den Bruchteil von Sekunden zu spät: Pünktlichkeit und inszenierter Auftritt zugleich ! Der Vorgesetzte erläutert nocheinmal, um was es sich handelt. Dann stellt er Natalie vor: “Verehrte Kollegen, das ist Natalie Cezanne, unsere Spezialistin im Bereich Marketing“ – Natalie erwidert das Nicken der anwesenden Herren. Sie ist die einzige Frau im Raum.
„Also – wie – wo – wann -,Frau Spezialistin?“ – Die lapidar dahingeworfene, freche Bemerkung stammt von einem respektlos grinsendem Mann Mitte Dreißig, der sich anscheinend einen Spaß daraus macht, die geordneten Welten anderer einwenig aufzumischen.Studentenhaft gekleidet, hängt er gelangweilt im Sessel und beobachtet die perfektaufgetragene Fassade Natalie Cezannes. Sie trägt einen Hosenananzug der edelsten Marke in Champagnerfarben, dazu die passenden Schuhe, die schönen, glanzvollen Haare hochgesteckt, sodaß der schlanke, geschwungene Nacken frei ist. Dazu perfekt geschminkt – nicht zuviel, sondern feinsinnig und ästhetisch, in matten, bronzenen Tönen aufeinander abgestimmt. Alles ist perfekt bis hin zu den Bügelfalten ihrer weitauslaufenden Hose.
Er hat Natalies Aufmerksamkeit erregt, sie blickt mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihm herüber. „Darf ich vorstellen, das ist Herr Levermann. Er hat den Auftrag übernommen für das Design unseres Standes zu sorgen, nebenher schreibt er Kinderbücher.“

„Na, dann laß‘ mal hören, Frau Expertin“ sagt Herr Levermann – und Natalie beginnt – nicht ohne zuvor ihrem Gegenüber noch einen ironischen Blick zugeworfen zu haben – ihre Ausführungen:
„Unser Messekonzept besteht darin, die Aufmerksamkeit sowohl der Eltern, als auch der Kinder für uns zu gewinnen. Der Künstler muß sich in die Welt, ja in die Sensibilität und Wahrnehmung eines Kindes hinein versetzen können, ohne dabei das wesentliche Ziel aus den Augen zu verlieren....-„
Und während sie ihr perfekt ausgearbeitetes Konzept in differenziertesten Einzelheiten darstellt, versinkt der junge Levermann in ihren seelenvollen Augen, die etwas zerbrechliches widerspiegeln: Ein Meer,dessen Tiefe kaum zu ermessen ist und das beginnt ihn zu faszinieren. Eine ihm unbekannte Sehnsucht schmerzt mit einem Male in seiner Brust. Gelesene Worte kommen ihm in den Sinn: “So seelenvolle Augen hat keiner je gesehen...“ –

“Dann lassen sie Frau Cezanne doch einige ihrer Arbeitsproben hier“ räumt der Vorgesetzte ein. „Meine Werke muß man sich live ansehen“ sagt Tom – und an Natalie gerichtet – „Kunst ist sinnlich, nicht steril, nicht wahr, Frau Expertin?“ – er grinst provozierend. Natalie reagiert eiskalt mit maskenhafter Höflichkeit:“Dann bringen sie mir ihre Arbeitsmappe, sobald sie ihnen zur Verfügung steht. Aber warten sie nicht zu lange damit." - " Meine Herren, ich darf mich dann verabschieden“. „Aber Frau Kollegin, kommen sie denn nicht mit in die Kantine? – „Nein, vielen Dank, ich habe noch einen wichtigen Termin“ – „Wenn sie wüßten, was ihnen heute wieder entgeht.“

Natalie allein im Büro. Nervös starrt sie auf die gefüllte Pralinenschachtel, die sie aus dem verriegelten Schrank geholt hat.Sie überblickt die ganze Komposition aus Schokolade, hört innerlich mit begabtem Gehör wieder dieselbe, feine Melodie aus Kinderzeiten.Diese in ihrer Schönheit melancholische, dann schwermütiger werdende Melodie. Sieht Bilder erneut vorüber ziehen, wie Blitzlichter einer Kamera. Hört in ihrem Weltinnenraum schallendes Kindergelächter, wie aus weiter Ferne, sieht sich selbst posieren vor des Vaters Kamera als Mädchen von elf Jahren, als er begann sie regelmäßig in seine Werkstatt mitzunehmen...—
Der Begriff "Nähe" ist ihr wie ein ferner, unerreichbarer Stern im Universum der zwischenmenschlichen Beziehungen.
Dann geht alles sehr schnell: Sie stopft ungestillte Sehnsucht und Trauer panisch in sich hinein, immer schneller, eine Träne läuft ihr plötzlich über die Wange.
Es klopft.- Tom Levermann steht in der Tür.- Von Scham ertappt, legt sie panikartig die Schachtel in die Schublade. Den letzten Rest noch hastig herunter würgend, sitzt sie nun am Schreibtisch und ihre Blicke streifen beschämt Tom Levermann. Tiefes Mitleid steigt unerwartet in ihm auf. –
„Keine Angst, ich wollte dir die Pralinen nicht wegessen“ meint Levermann und setzt sich lässig auf die Schreibtischecke. Natalie fängt sich schnell, geht auf Abwehrposition:“Ich habe viel zu tun.“
„So!“ – ruft Tom energisch:“Jetzt kriegst’de noch mehr Arbeit, Frau Spezialistin, hier ist mein Modell“ und er stellt ein Miniaturmodell auf den Schreibtisch, der Natalies Konzept verwirklichen soll. „Ist nicht schlecht. Mir fehlen allerdings mehr pastellfarbene Elemente, das ist zu bunt, zu grell“ – „Moment mal, hat Frau Spezialistin heute zu wenig geschlafen oder nur schlecht gefrühstückt? An meinem Modell wird nichts verändert, damit das klar ist. Natalie spürt, er ahnt etwas. Seine Bemerkung trifft sie messerscharf, das verunsichert sie:“Gut, ich überdenke es. Kommen sie heute Nachmittag wieder.“ – „Habe ich keine Zeit. Aber heute Abend ! Bei der Neueröffnung des Cafe’s „Zeitlos“ werden einige meiner Bilder ausgestellt.“- „Ach !? Zeichnen können sie auch noch? Heute Abend bin ich schon verabredet.“ – „Stimmt genau, und zwar mit mir um Acht Uhr im Cafe "Zeitlos".Übrigens find‘ ich dich heute wieder sehr hübsch, Frau Spezialistin“!
Kaum hat er die Tür geschlossen, steht ihr bleich die Übelkeit ins Gesicht geschrieben. Schuldgefühle und innere Leere überwältigen sie. Sie eilt zur Toilette in kerzengerader Haltung, makellos, emotionslos. Einige Zeit verweilt sie, den Vorgang geräuschlos und routiniert hinter sich bringend, auf der Toilette. Vor dem Spiegel pudert sie sich neu. Auch hier Spezialistin.

Thomas, von Freunden Tom gerufen, hält sich für einen lebenserfahrenen Mann.Bereiste Länder, hatte Liebschaften und schließlich durch den Tod seiner Lebensgefährtin Milla – tiefes Leid erfahren. Er hatte Milla geliebt, geachtet und wertgeschätzt. Sie starb an Leukämie. Es folgten einige Affären. Levermann wohnt in einer Altbauwohnung über den Dächern der Stadt. Gedanken an den Tod erträgt er nicht. Er liebt es abends an seinem Balkon zu stehen und dem lebendigen Treiben der Stadt zuzusehen. Tom ist Künstler mit Geschäftssinn. Um seine „Ware“ positiv zu präsentieren hilft es ihm meist, eben keiner jener „Schlipsträger“ zu sein, sondern einfach so, wie er eben ist.
An dem Kinderbuch schreibend, sitzt er am offenen Fenster, blickt in den Nachthimmel...-„Steig‘ auf, rief der kleine Drache, und das Mädchen kletterte auf seinen Rücken, um sich mit ihm auf die Reise zu begeben“ – Tom hält inne. Schwer fällt ihm heute das Schreiben, er reibt sich die Augen unter der Brille,die er beim Arbeiten trägt, dann wendet er den Blick wieder auf den Computerbildschirm. Die Buchstaben tanzen vor seinen Augen und setzen sich plötzlich zu einem Wort, besser, zu einem Namen wieder zusammen – Natalie. – „Natalie?“ flüstert Tom. Dann drückt er unkonzentriert auf den Tasten herum. Lauter Herzen tippt er auf den Bildschirm, Reihe für Reihe füllt sich nicht mit Worten, sondern mit Herzen - „Natalie, Natalie...-“ flüstert er geradezu ungläubig, während sich die Herzen auf dem flimmernden Bildschirm in seinen Brillengläsern spiegeln, als tanzten sie in seinen Augen....

Abends erscheint Natelie im Cafe „Zeitlos“. Sie tritt ein und befindet sich inmitten einer lauten Party.Leute tanzen, vergnügen sich, feiern ausgelassen. Sie bleibt im schummerigen Licht des Lokals vor einem Bild stehen, das ein Liebespaar zeigt. „Na, gefällt es dir?“ – eine männliche Stimme spricht sie plötzlich an und obwohl sie doch so sehr gehofft hatte, es sei Tom Levermann, ist es, sie glaubt ihren Augen nicht zu trauen, ihr Ex-Freund Maurice. Er hatte sie verlassen, da ihn ihre Krankheit zu belastet hatte. „Maurice? Was machst du denn hier, ich dachte, du wolltest nach Berlin?“ Maurice war im Augenblick der Letzte mit dem sie Konversation betreiben wollte....“War ich auch und es war schön dort.. Aber man hat sich ja irgendwo seinen Freundeskreis aufgebaut, verstehst du, was ich mein‘?“ – „Ja – ja, sicher“. Natalie blickt sich um, wo konnte denn dieser verdammte, geliebte Tom Levermann sein?! Sie ruft sich in Erinnerung, daß es sich hier um ein Treffen im Rahmen eines beruflichen Austausches handelt....
„Aber sag‘ mal‘, was macht deine Therapie, Natalie?“ – „Meine Therapie??.....Achso, die THERAPIE: Ja du , stell‘ dir vor, ich hab’s echt hinter mir, weißt du? Mir geht’s echt gut, ehrlich echt gut!“ – Das sieht man dir auch richtig an.“ - „Was sieht man ihr richtig an?“ fragt Tom dazwischen und Natalies Herz pulsiert plötzlich schneller, als sie ihn vor sich stehen sieht. Sie schlüpft schnell und brillant in ihre Rolle als Marketingspezialistin :“Ach, Herr Levermann, sind sie denn schon weitergekommen mit ihrem Kinderbuch, sozusagen als „Allroundtalent“? Wie ich sehe, sind sie sehr kreativ..“ – „Naja, ich würde eher sagen, ich hatte eher sowas, wie eine kreative Grübelphase..“ - Nachdem Tom Levermann Natalie einige seiner Malereien präsentiert, bleiben sie vor dem Bild stehen mit der Darstellung des Liebespaares, das Natalie bereits bewundert hat.“ Das ist schön...-das ist wirklich schön. Hat es irgendeine Bedeutung?“ „Es ist Milla gewidmet, meiner verstorbenen Freundin.“ – „Hast du sie sehr geliebt?“ – „Ja, sehr, und ich war bei ihr bis zuletzt. Sie hat mich sovieles gelehrt. Sie hat mich gelehrt, wie man lebt.“ – Einen Agenblick herrscht Stille.“Jetzt bist du dran, Frau Spezialistin“, und er reicht ihr ein Glas Sekt.“ Da gibt es nicht viel zu sagen. Bei mir war alles immer perfekt. Ich war gut in der Schule. Ich war gut im Musikunterricht. Zum Essen mußte man pünktlich am Tisch sitzen und mein Vater hatte eine Wekstatt, in der ich oft dabei sein mußte, wenn es wieder etwas zu reparieren gab....,als ich fünfzehn war, trennten sich meine Eltern.“ Natalies Augen blicken ernst. "Hey, Frau Spezialistin, das ist die Vergangenheit, wir leben im Jetzt.“ Als er das sagt, reißt er sie heraus aus dem konfusen Schleier, der sie wieder überkommen möchte. Sie stoßen an, ohne ein Wort zu wechseln, dann zieht er sie zur Tanzfläche. Das erste Mal fühlt sie seine Hand auf ihrem Rücken, ihre Hand in der Seinen. Er strahlt sie an in seiner heiteren, unkomplizierten Art. Ihre Blicke fangen sich, er macht eine komische Geste, beide lachen und können sich kaum wieder zusammenreißen. Dann ein langsamer Song: Sie spürt das erste Mal seine Umarmung, ist bemüht unempfänglich und kontrolliert zu bleiben..
„Nicht eine Träne von Frau Spezialistin?“ – „Nein ! Niemals !“ – „Tatsächlich? Ich glaube mich da an Eine zu erinnern!“ Der Song ist zuenede, er hält sie noch immer in seinen Armen.“ Das muß ein Irrtum gewesen sein.“ Er grinst:“Verzeihung, wenn ich einbißchen albern bin!“. Natalie fühlt sich beschwipst, sie sagt.“Natürlich keine Träne !" Ein Glanz leuchtet in ihren Augen, der Tom ganz mit Wärme überstrahlt und er fühlt wieder dieses Brennen in seiner Brustgegend. Natalie löst sich aus seiner Umarmung, bleibt vor ihm stehen, fühlt sich glücklich, wie lange nicht mehr. Eine Journalistin stört, bittet Tom, um ein Gespräch. -Natalie zieht sich zurück in den hinteren Raum des Lokals und wartet.Ohne es zu bemerken ist er zurückgekehrt, neckt sie arglos, sodaß sie lauthals auflacht, während er sie beobachtet... -Ach, wenn sie geahnt hätte, wie verliebt ihr Lachen klang und all ihre vor sich selbst versteckte Schönheit, die am wenigsten sie selbst zu sehen vermochte, erstrahlte in umwerfendem Umfang - „Wo waren wir stehen geblieben? Du hast mir immer noch nicht verraten, damit eine Träne fließt, Frau Spezialistin.“ Sie setzen sich an die Theke. - Doch plötzlich senkt sich wieder ein unsichtbarer Schleier über Natalie und sie sieht die Menschen in fahles Licht getaucht, bewegen sich im Zeitlupentempo, wirken verzerrt und bedrohlich. Ein Gedicht kommt ihr in den Sinn:"Ich rannte durch ein Labyrinth, off'nen Auges, dennoch blind...". Der Boden schwankt ihr unter den Füßen. „Na, Frau Spezialistin? Wohl etwas zu tief ins Glas gaschaut?!“ Er bringt sie nachhause.

Tom verbringt die Nacht auf der schwarzen Couch. Natalie in ihrem Schlafzimmer. Sie hatte ihn gebeten, sie nicht allein zu lassen. Am anderen Morgen ist er schon früh wach und findet sich in dem karg eingerichteten Wohnzimmer wieder. Er geht in die Küche und beschließt Kaffee aufzusetzen. Als er nach dem Kaffee sucht und die Küchenschränke öffnet, findet er alle Regale bis zum obersten Rand mit Lebensmitteln vollgestopft. Plötzlich steht Natalie am Türrahmen gelehnt. Verschlafen, mit offenem Haar, in legerer Kleidung.“Warum schleichst du dich denn so heran, Frau Spezialistin?“ – „Ich wollte mich nochmal bedanken....“ – sie lächelt mädchenhaft, er betrachtet sie. “Setz‘ dich doch, ich wollte uns Frühstück machen, wenn’s dir nix ausmacht. – Aber sag‘ mal, kannst du mir mal verraten, wo du die Jungs versteckt hast, die das ganze Zeug hier essen sollen?“ Natalies Miene versteinert sich, abrupt wechselt sie das Thema. „Ich muß jetzt gehen, habe einen Termin. Und überhaupt, was erwartest du? Haben wir irgendeine private Abmachung? – Also ! Danke nochmal.“ – Und ohne weitere Worte, läßt sie Tom in der Küche sitzen.

Seit längerer Zeit hat sich Natalie im Büro krankgemeldet. Tom hat einen Brand in ihr entfacht, der schmerzt. Sie hat Tom verjagt ! Er hätte ihr ja zu nahe kommen können....
Sie leidet unter starken „Anfällen“. Schon morgens kauert sie vor dem Frensehgerät, stopft sich Würstchen, Kartoffelsalat und löffelweise Eiscreme gleichzeitig in den Mund. Im Fernsehen wird eine Dokumentation über hungernde Kinder in Äthiopien gezeigt.Nachmittags absolviert sie ihr Joggingprogramm. Als sie zurückkehrt, sitzt sie zunächst eine Weile verschwitzt in einer dunklen Ecke ihrer Wohnung. – Am Abend spielt sie den Anrufbeantworter ab, alles Nachrichten von Tom :“Hey, Natalie, wo bist’n du die ganze Zeit?....Mensch, ich wollte nur mal deine Stimme hören. Ruf‘ mich bitte zurück.“ – „Hey, gute Nacht, mein Herz...- stop, hab‘ ich ehrlich gesagt, mein Herz ? Du, das war’n Versehen, ich wollt‘ eigentlich sagen, Marketingspezialistinnen haben ein eiskaltes Herz für arme Künstler, nein, sie haben richtige Steinherzen für unsereins...- gute Nacht, Frau Spezialistin.“ – Und noch eine letzte Nachricht:“Hey, das war alles nicht so gemeint, ich meine nur, Marketingspezialistinnen haben Herzen, wie Tresore, man muß den richtigen Code erst knacken, weißt du? Ja, das ist die Lösung, man muß sowas, wie "Sesam öffne dich" kennen..., aber immerhin weiß ich jetzt schonmal, daß Marketingspezialistinnen doch ein Herz haben, halt eben ein Tresor-Herz“ – Natalie lacht, ihr Herz überschlägt sich vor Erleichterung und Freude. - Nein, sie hat ihn nicht verjagt.

Tom und Natalie machen Urlaub in Dänemark. Sie sind am Strand. Er beobachtet sie aus der Ferne. Ihre Silhuette hebt sich schwarz vor der untergehenden Sonne ab.Sie spielt fröhlich mit einem kleinen Kind und überläßt es schließlich wieder den eigenen Eltern. Kommt nun aus dem Wasser und strebt seine Richtung an. Ihre schwarze Silhuette nähert sich ihm, ebenmäßig und schlank. Als sie ihn erreicht, trocknet sie sich mit einem Handtuch ab und bemerkt dabei seine Blicke. Sie sind voll Zärtlichkeit, Liebe und ...- Begehren.
Abends sitzen sie auf der Veranda des Ferienhäuschens und lauschen den Wellen des Meeres. Sie machen Unsinn, lachen viel, sind wie Seelenverwandte. Später liegen sie eng beieinander. Seit sie in Dänemark sind, hatte sie keinen einzigen Anfall. Bislang haben sie noch nie miteinander geschlafen, seine Versuche hatte sie jedesmal abgewehrt, er hatte es bisher wortlos hingenommen."Ich muß dir was sagen"beginnt sie ernst. „Ich weiß schon...- bin ja nicht dumm. Für mich ist wichtig, daß du glücklich mit mir bist.“ – „Ja,...und du sollst auch glücklich mit MIR sein, deswegen...- Er unterbricht sie: "Du bist in meinen Augen vollkommen und zwar so, wie du bist. Und ich BIN glücklich mit dir.“ Er riecht den Duft ihrer Haare, fühlt die Nähe ihrer nackten Haut.“Hey,du hast mir noch immer nicht den Code zu deinem Tresor-Herzen gegeben“ sagt er behutsam.“Den Code hast du längst geknackt....-" Er zieht sie näher an sich heran und seine Berührungen sind bestürzend sanft. Natalie verliert die Kontrolle und sinkt ihm entgegen, einfach so, ohne es verhindern zu können – die Anziehungskraft ist zu stark.

Drei Monate, nachdem sie aus Dänemark zurückgekehrt ist, geht Natalie nervös in ihrem Büro auf und ab. Ihr Vater hat seinen Besuch angekündigt.Unsichtbare Gewichte auf Schultern, schwer wie Blei, veranlassen sie ruckartig die geheime Schranktür zu öffnen und alles Eßbare, was der Schrank noch hergibt, in sich hinein zu stopfen. Etwa zwanzig Minuten nach dem üblichen Gang zur Toilette, wird ihr schwarz vor den Augen.
Natalie soll zur Kontrolle ihrer Zuckerwerte einige Tage in der Klinik bleiben. Tom ist beänstigt um ihre Gesundheit und eilt ins Krankenhaus. Er fühlt das nackte Grauen einer ihm in Erinnerung gebliebenen Furcht. Die Klinikluft ist ihm allzu vertraut. Als er ihr Krankenzimmer betreten möchte, öffnet sich im selben Moment die Tür von innen und ein älterer Mann tritt ihm entgegen, der die Türklinke sofort wieder hinter sich schließt. „Oho!“ ruft der Mann mit den verbitterten Gesichtszügen.Er stellt sich als Natalies Vater vor. Dann wiederholt er laut:“Oho – Blumen?? Haben sie meinem Kind etwa einen Heiratsantrag gemacht??“-sekundenlanges Schweigen -, dann plötzlich Tom in trockenem Tonfall:“Ja – hab‘ ich.“ – Dem Vater sitzt der Schreck im Nacken, nach einer Weile hört er Tom monoton sagen:“Aber sie hat nicht angenommen.“
Der Vater bricht in verzerrtes Gelächter aus. Dann richtet er sich an Tom:“Wissen sie, als meine Frau mich verließ, da waren Natalie und ich immer füreinander da. Sie war immer so ein liebes, braves Mädchen. Wir hatten nur noch uns.“ – Tom wird bleich im Gesicht. „Sagen sie, wissen sie von ihren Anfällen? – Tja, sie kennen sie nicht wirklich, mein Lieber. Sie halten Natalie für eine unglückliche Prinzessin, die eine undurchdringliche Dornenhecke umgibt, die es zu zerbrechen gilt. Aber ich sage ihnen, sie verstehen nicht. Vor drei Jahren, als mein Kreislauf zusammenbrach, da gab es auch so einen Prinzen. Aber weil es mir so schlecht ging und Natalie doch sonst niemanden hat...- er preßt einpaar Tränen des Selbstmitleids hervor: “Wissen sie, sie verstehen nicht...!“ – In diesem Augenblick packt Tom Levermann die Wut: Er blickt ihm in die Augen:“Seien sie still“ - und dann mit entschlossener Stimme:“Nein, Herr Cezanne. Nein....- sie sind es, der nicht versteht ! Ich – liebe – Natalie!“

Einen Tag vor Natalies Entlassung, bittet der Oberarzt sie um ein persönliches Gespräch.“Kommen sie herein, Frau Cezanne“ – er weist mit der Hand auf den leeren Platz gegenüber seines Schreibtisches. Die Herbstsonne strahlt in ungewöhnlicher Milde durch die Fenster. Natalies Herz schlägt schnell, pochendes Pulsieren an ihren Schläfen, eiskalte Hände. „Frau Cezanne, ich mache es so kurz, wie möglich. Hören sie: Sie wurden komatös hier eingeliefert, sie hatten großes Glück aufgrund ihres noch jungen Alters. Sie kamen von selbst nach relativ kurzer Zeit wieder zu Bewußtsein. Ihr Zuckerwert lag bei circa 21, normalerweise ist 50 die niedrigste Grenze – bei Null ist man, wie sie sich wohl denken können, tot..“ Sie hört schweigend zu. Er fährt fort:“Was auch immer die Gründe ihres schweren Zusammenbruchs waren – und er sieht sie an mit den Röntgenaugen eines Mannes mit Menschenkenntnis –„sie werden in Zukunft nicht nur aus persönlichen Gesundheitsgründen ihre Lebens- und Eßgewohnheiten umstellen müssen, sondern, soweit es ihrem Wunsch entspricht – und davon gehe ich mal aus – noch aus einem weiteren Grund...“ Dann hört sie seine Worte:“Denn sie sind schwanger. Das wurde anhand der mehrmalig durchgeführten Urin- und Blutergebnisse festgestellt.“Schwanger? Das ist unmöglich, sie müssen mich verwechseln - Ich bin krank. Ich leide seit fast 20 Jahren an Eßstörungen. Zuerst Magersucht, danach Bulimie. Ich brach Therapien ab und meine Periode hatte ich zuletzt vor über einem Jahr. Ich kann keine Kinder bekommen.“ –"Erwiesenermaßen hat ein Eisprung offensichtlich
stattgefunden.Dies kann geschehen, auch ohne daß eine Blutung stattfindet. Sie sind schwanger, es besteht kein Zweifel. Also – suchen sie sich einen guten Facharzt, werden sie glücklich und vorallem – gesund.“ Er verabschiedet sich. Als sie sich draußen auf eine Bank setzt, hallen seine Worte noch tausendfach in ihr wider: Sie sind schwanger...-

Während der Vater auf der schwarzen Couch sitzt, reicht ihm Natalie ein Glas Cognak.“Du solltest es deinem alten Vater nicht so schwer machen.“ – Besitzergreifend nimmt er ihre Hand. „Er wird sich vor dir ekeln, dein Prinz.“ „Hör‘ auf damit, Vater ! Und faß‘ mich NIE mehr an !“ „Undankbares, ungezogenes Kind !“ Es kommt zur lauten Auseinandersetzung. Natalies Augen glühen vor jahrelang unterdrückter Wut, zugefügter Pein. - Plötzlich reißt sie sich mit kraftvollem Ruck von ihm los, läuft einige Schritte davon, dann ertönt ein Aufschrei.
Es klingelt stürmisch an der Tür, doch Natalie bleibt stehen. Wagt es weder zu öffnen, noch sich umzudrehen. So steht sie Momente, Augenblicke, Minuten, die ihr wie Stunden erscheinen. Endlich dreht sie sich langsam nach ihrem Vater um. Er liegt reglos am Boden. Kein Laut kommt mehr von seinen Lippen. Nichts mehr, was sie demütigt, verletzt, Schuldgefühle erzeugt. Mit einem heftigen Schlag schließt sie die Zimmertür, läßt ihn liegen.Dann öffnet sie die Tür, es ist Tom. – Natalie, wie ein Bildnis aus Marmor, schweigend, nicht zu greifen – „Was ist passiert?“ er stürmt auf sie zu, doch sie weicht erschrocken zurück, wie ein Tier, das ein Jäger im Wald entdeckt. – Wortlos öffnet er weit seine Arme, nähert sich ihr behutsamen Schrittes. Sie bleibt stehen, die Geste ihrer erhobenen, nach außen gekehrten Handflächen sprechen wortlos: Bleib‘ stehen. So stehen sie eine Weile.- Stille - Dann streckt auch sie die Arme aus: Bereit, seine Umarmung zu empfangen.Er hält sie mit geschlossenen Augen, als ginge es um sein Leben und seine ganze Körpersprache vermittelt ihr Vertrauen. Dann spricht sie mechanisch:“Mein Vater ist tot...- aber ich,- ich lebe, - ich bin geheilt...“- Zu Tom hinaufblickend: “Und ich bin schwanger !“ Tom vernimmt ihre Worte und ihm ist, als ob sich das, was andere Menschen an Bewußtseinsveränderung in einem Prozeß von Monaten oder Jahren verarbeiten, ihm in gefährlicher Kürze widerfährt. Ihm ist, als ob sich das Gehirn um einige Millimeter unter der Schädeldecke verdreht. Sie stehen vor dem reglosen Vater. Tom ergreift reflexartig das Telefon. Der Notarzt stellt kein Lebenszeichen mehr fest. Natalie bricht in schallendes Gelächter aus. Tom hört jedoch das tiefe Meer der ungeweinten Tränen, das nun endlich hervorbricht.

„Was machst du?“ fragt Natalie.“Ich arbeite...“ – „An einem neuen Kinderbuch?“ Sie legt behutsam die Hand auf ihren runden Bauch. „Nein! Diesmal wird es ein Buch für Erwachsene. Es handelt von Menschen, vom Wandel des Lebens und schicksalhaften Begegnungen.“-"Aber es heißt doch immer so schön:Jeder ist seines Glückes Schmied ?!" Er erwidert:„Ich denke, daß es Menschen möglich ist im Rahmen der von außen gegebenen Umstände ihre Lebenswege positiv zu beeinflussen."-"Glaubst du denn an das Schicksal?" fragt sie -"Naja, Frau Spezialistin, ich weiß zwar nicht, ob das in den Zusammenhang meines Buches paßt. Jedenfalls paßt eines von Einsteins Zitaten zu uns. Er soll ja mal gesagt haben: "Der liebe Gott spielt nicht mit Würfeln"..." - Sie lächeln einander an.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 06.03.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Stefan "Denn was von Menschen nicht gewußt, oder nicht bedacht, durch das Labyrinth der Brust - Wandelt in der Nacht.

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