Cover

Die kühne Tat der Sträflinge



Schlesien 1945. Zwei Tage ist der Treck der 68 KZ-Sträf-
linge schon unterwegs. Ganze zwölf Kilometer haben die Leute gemacht. Heute werden es nur knapp zehn. Schmerz, Hunger und Elend haben die Gesichter entstellt. Sie reden nicht miteinander. Warum auch. Was haben sie noch zu hoffen? Die zerschlissenen KZ-Hemden schützen die Leiber kaum vor Frost. Es ist ja Februar. Die nackten Füße schmerzen, sind zerschunden, erfroren. Rote Spuren bleiben auf dem harten Boden zurück.
Sieben Bewaffnete führen den Haufen gleichgültig weiter. Einer von ihnen ist gut zu den Sträflingen. Er hilft einem, der gestürzt war, auf die Beine. Ein barmherziges Wort: „Komm, Alter“, das ist alles. Im nächsten Dorf wird eine Scheune beschlagnahmt. Die ausgelegten Strohgarben bieten ein wenig Schutz vor dem Frost. Dann gibt es Rübengemüse. Der Hunger aber bleibt. Und die durchge-
frorenen Glieder werden nicht warm.
Von Ferne böllert die Artillerie in die Nacht. Der Russe rückt vor. Noch wissen es die Sträflinge nicht. Vielleicht ahnen sie, warum sie unterwegs sind. Blitze zucken am Horizont. Dann wieder dumpfe Schüsse, weit weg. Dazwischen ein Stöhnen in der Scheune. Am frühen Morgen merkt man, dass es ein Röcheln war. Man schafft den Toten hinaus, zieht ihm die Kleider aus; denn die werden noch gebraucht.
Der dritte Tag bringt zwei weitere Tote. Opfer der Kälte. Selbst die Wachleute können ihren Hunger, ihren Missmut nicht verbergen. Sie wissen um die gezählten Tage ihrer Herren. Die Artillerieschüsse werden deutlich vernehm-
bar, kommen beängstigend nahe. Fünfundsechzig Männer sind es noch, schwach, unbewaffnet und durchgefroren. Wären sie in der Lage, die Wachmannschaft zu überwäl-
tigen? Die Posten trauen sich nicht, diese Frage zu beantworten. Im Laufe der nächsten Tage sterben ein Jude, ein Österreicher und zwei Polen. Auch ihre Kleider werden auf die Übrigen verteilt. Die Überlebenden beginnen unruhig zu werden, erregt sprechen sie miteinander, doch sie verstummen jäh, wenn die Wärter in die Nähe kommen.
Die letzte Nacht bringt die ersten Granateinschläge. Schon gegen vier Uhr drängen die Posten zum Weitermarsch. Am Mittag wird am Waldrand ein Sowjetpanzer sichtbar.
Er hat den Menschenhaufen entdeck, nimmt Kurs auf den Trupp. Dann bleibt er stehen. Noch etwa zweitausend Meter trennen ihn von den Leuten, die plötzlich stehen bleiben und eine geschlossene Front bilden. Was hinter dieser Mauer aus armseligen, elenden Menschenleibern geschieht, verdient in goldenen Lettern in das Buch der Menschlichkeit geschrieben zu werden.
Blitzschnell haben die Sträflinge die Posten entwaffnet. Sie lassen es geschehen in der düsteren Erkenntnis, dass alles verloren ist. Doch dann, als sie den Posten die Uniformen vom Leibe reißen, versuchen sie, sich zu wehren. Vergebens. Allmählich aber beginnen sie zu verstehen und ziehen die Sträflingskleider an, die sie ihnen in fliegender Hast hinwerfen. Es sind die Kleider der Verstorbenen. Die Uniformen und die Waffen fliegen in das nahe Buschwerk.
Dann laufen sie alle geschlossen dem Panzer entgegen. Noch hundert Schritte, und sie sind in Sicherheit, die KZ-Sträflinge und die Posten. Keiner der Gefangenen verrät etwas. Waren sie nicht alle Gefangene des gleichen Regimes?
Eine kühne, menschliche Tat hat die Unmenschlichkeit überwunden.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.04.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /