Wenn es Kindheitserinnerungen gibt, die sich bis ins Rentenalter verankert haben, dann ist es der Bombenangriff am 19. September 1944. Am Oberweseler Bahnhof waren Fliegerabwehrkanonen stationiert. Die Flak ballerte in einen amerikanischen Bomberverband. Der flog in Richtung Nordost, also gen Mitteldeutschland. Unsere Flak hatter jedoch keine sichtbaren Erfolge. Ein Feindflieger scherte aus seinem Rudel aus und wendete über dem Taunus, kam über den Rossstein auf der rechten Rheinseite zurück und löste dort seine Bombenlast aus. Wie tanzende Streichhölzer aus einer vollen Schachtel taumelten die Brandstäbe auf Oberwesel. Die Sprengsätze verfehlten zwar den Bahnhof. Aber der nördliche Stadtteil, die Einheimischen sprechen heute noch von der Unterstadt, wurde getroffen und betroffen. In der Steingasse und am Plan standen insgesamt fünf Häuser in hellen Flammen. Darunter auch das Wohnhaus meiner Großeltern väterlicherseits, Maria und Peter Link. Während des eigentlichen Angriffs suchten wir, meine Mutter Barbara Link, meine Großmutter mütterlicherseits Therese Weiler, mein heute in Aachen lebender Bruder Lothar und ich, wir alle suchten Schutz im Gewölbekeller des Großvaters Karl Weiler in der Pliersgasse 2. Meinem Großvater Karl und meinem Vater Heinrich verdanke ich meinen Doppelnamen Karl-Heinz.
Der kahlköpfige Opa Karl wurde von uns Kindern „Schnorres-Oop“ genannt, weil er einen nach oben gezwirbelten Oberlippenbart trug. Opa Karl ging nur in den Keller, um Wein zu schlürfen. Denn neben seinem Krämer- und Gemüseladen war er auch Winzer. Wegen des Fliegeralarms ging er nie in den Keller. Auch am besagten 19. September nicht. Doch er kam die 17 Kellerstufen dann doch eiligst herunter um zu verkünden: „Die Unterstadt hat´s erwischt. Brandbomben.“ Meine Mutter sprang auf: „Da wohnt die Linke-Oma. Ich muß weg zum Löschen.“ Jetzt war aus der ängstlichen Betty eine starke Frau geworden. Sie sollte fortan eine starke Frau bleiben. Denn zu dem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass mein Vater am 12. September 1944, also genau sieben Tage vor dem Großbrand in Lappland den „Heldentod für Führer, Volk und Vaterland“ erlitten hatte.
Meine Mutter nahm mich, der ich damals zehn Jahre zählte, an der Hand und hastete zur Steingasse. In der Luft lag Brandgeruch. Es war genau wie in Schillers Glocke: Feurig der Himmel, Menschengewimmel, in den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen, und des Himmels Wolken schauen hoch hinein.
Die Feuerwehr war bereits bei der Arbeit. Das Stimmengewirr überlagerte die Kommandos, und die wiederum verstummten vor dem Krachen und Bersten der Balken und herunterstürzenden Mauerresten. Meine beiden Tanten Maria und Hildegard retteten, was zu retten war. Nützliches und Unnützes, alles was verwertbar war, wurd auf einen Haufen in der Planstraße deponiert. Ich erinnere Stroh auf dem Straßenpflaster, Glasscherben, halbverbrannte Säcke, Wäsche und zwischen all dem Hausrat undichte Wasserschläuche. Chaos pur. Dazwischen tobte mein Großvater Peter Link. Er war Nachtwächter in der Stadt und Steuereintreiber für die Stadtverwaltung. Er war außer sich vor Zorn und schimpfte lauthals über die „braunen Säbelrasseler und Verbrecher am Volk“, dem er sein Schicksal zu verdanken hatte.
Das hörte der damals nach Oberwesel strafversetzte Gendarm Lindstedt. Er galt als der verlängerte Arm des Gesetzes. „Um Himmels Willen, Link halt´s Maul. Wenn das ein Nazi hört, muss ich Euch verhaften.“
Bereits am anderen Tag kam der Lindstedt zu uns ins Haus und verhandelte mit den Großeltern und mit meiner Mutter. Man wollte einen Antrag bei der Wehrmacht stellen, damit mein Vater Sonderurlaub erhalten sollte. Statt der Urlaubsgenehmigung kam drei Wochen danach die Todesnachricht. Der Großvater wurde nicht angezeigt. Dafür trank der später so manches Glas Wein mit dem Lindstedt, den wir Buben „Bläu“ nannten. Übrigens kommt der Ausdruck aus dem französischen „bleu.“
Alle Möbel kamen zu schaden. Kein Bett, kein Schrank, und Tisch, noch Stuhl blieben heil. Das Wohnhaus war bis auf das Untergeschoss herunter gebrannt. Und oben drauf fand mein Großvater am nächsten Tag ein aus Hartholz geschnitztes Kruzifix. Es ist nicht verbrannt. Lediglich die beiden Füße und beide Hände des Korpus waren angesengt und kohlrabenschwarz, sodass meine Mutter es später von einem örtlichen Hobbyschnitzer restaurieren ließ. Noch heute steht dieses Familienkruzifix im Fachwerkgebälk unseres schönen Wohnzimmers.
Tag der Veröffentlichung: 28.01.2010
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