Hänsel und Gretel verirrten sich im Wald und gerieten in arge Bedrängnis. Im Grunde war das die erste Holzwegerfahrung meiner Kindheit. Ich empfand dieses Märchen als warnender Fingerzeig und vermied selbst als Heranwachsender einsame Waldwege, gleichwohl die grünen Versuchungen rauschender Buchenwipfel und die tiefdunkle Dichtheit von eng aneinander stehender Tannen weniger erbaulich warben als der lichte Blätterwald, versank ich doch immer wieder in jenem Zauberwald, wie ich ihn nannte, nichts ahnend, was mich dort erwartete. Spontan fiel mir Mendelssohn-Bartholdys Melodie „Wer hat dich, du schöner Wald …“ ein. Meine gütige Großmutter sagte einmal in jungen Jahren zu mir: „Um den Wald zu begreifen, musst du ihn durchwandern. Wer in den Wald geht, kommt schlauer wieder heraus. “ Für mich war das ein Schleiflackspruch, dem ich keine Bedeutung zumaß.
Es war ein herrlicher Herbsttag, der meine neugierigen Blicke blendete, mit vielfachbunten Tüpfelchen von der Palette der Allmutter Natur. Die Sonne, ja wo war sie denn, hatte noch vor dem Eintritt in den Wald gute Arbeit geleistet. Aber mein Urwald spendete mir freundliche Kühle, vermischt mit wenigen Lebenszeichen eines verschämten goldenen Strahls auf jene Lichtung, der meinen Füßen Einhalt gebot. Ich bedauerte, kein Fernglas dabei zu haben. War es denn schon so spät, dass sich die Rehe zum Abendplausch treffen? Ich lebe heute noch ohne Armbanduhr, obwohl ich welche besitze, sogar eine goldene Taschenuhr, aber ich mochte nicht als Sklave der Zeit gelten. Es gibt doch Uhren überall, im Auto, in den Stuben zuhause, auf dem Nachttisch, auf dem Computer, am Kirchturm oder auf dem Rathaus und am Bahnhof. Uhren satt. Meine innere Uhr sagte mir: Du hast Hunger und Durst.
Bislang ist mir keine Menschenseele begegnet, nicht einmal der Förster oder ein Waldarbeiter, geschweige denn ein Wanderer wie ich. Nach drei gefühlten Stunden habe ich schon den Verdacht, mir selbst begegnet zu sein. Kann man sich selbst begegnen?
Nein, es sind nur Fußspuren. Doch als ich probeweise daneben trete, wird mir schlagartig bewusst, die gleichen sich wie Zwillinge. Ich stutze. Mir wird augenblicklich klar, ich habe mich verlaufen, verlaufen wie Hänsel und Gretel. Offenbar laufe ich im Kreis. Mir wird mulmig. Ich verharre und versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. Bald werden meine Eltern mich vermissen. Ich hatte zwar angedeutet, ich würde die Natur besuchen. Natur ist überall. Dass ich jenen dichten Wald finden würde, ist mir selbst nicht bewusst. Die Beschäftigung mit meinen grübelnden Gedanken lässt mich planlos voraus-wandern, ohne Ziel. Plötzlich lockt der grüne Moloch mit winkenden Ästen und dem immerwährenden Gezwitscher seiner gefiederten Bewohner. Das hab´ ich jetzt davon. Mir fehlt die Standortbestimmung. Die Schatten werden länger. Es knistert irgendwo. Aber wo. Ich sehe nichts. Und dennoch ist da was. Der leichte Wind trägt ferne Glockenschläge an mein Ohr. Abendglocken als Warnung. Warnung wovor? Habe ich überhaupt mein Schweizermesser dabei? Ich taste meine Cordhosentasche ab. Gott sei´s gedankt. Ich öffne die große, scharfe Klinge und gehe daran, mir einen Stock zu schneiden. Er ist zwar nicht ideal. Wichtig für mich gilt der Schaft zum Greifen und eine Spitze als Abwehrwaffe. Lächerlich denke ich. Aber es hört und sieht mich niemand. Wirklich nicht? Ich lerne die Verzweiflung kennen. Daraus entsteht Wut. Wut auf den Wald.
Innere Vorwürfe streiten mit mir. Warum hast du dir die Route nicht eingeprägt? Wann bist du wo abgebogen? Hast auch keine Kieselsteine als Spur gelegt. Jetzt sitzt du inmitten eines unbekannten Waldes. Wenn du auf eine Bache mit ihren Jungen gerätst, bist du verloren. Nein, an Bösewichte hatte ich nicht gedacht. Ich glaube auch nicht an einen Banditen, der mir heimlich gefolgt sein könnte. Nie im Leben. In meiner Lage hätte ein Mobiltelefon helfen können. Ob im Wald überhaupt ein Empfang möglich ist? Ein Mensch wie ich, der nicht einmal eine Armbanduhr trägt, legt bestimmt keinen Wert auf das, was die Leute Handy nennen. Jetzt fällt mir auch die Bedeutung vom Holzweg ein. Gemeint ist die Schleifspur, wo Holzstämme mit Fuhrwerken aus dem Wald gezogen werden. Mir begegnete keine solche Spur. Der Schleifweg von draußen in den Wald hinein endet irgendwo am letzten Baumstumpf, ist demnach ein Irrweg. Aber was hilft mir diese Weisheit?
Was macht bloß der frühe Mond schon am Himmel? Himmel, Herrgott, es wird bald Nacht. Und ich habe mich verirrt. Aus lauter Verlegenheit beginne ich, zu pfeifen. „Kuckuck, Kuckuck, ruft´s aus dem Wald“. Kein Geringerer als Heinrich Hoffmann von Fallersleben hatte es geschrieben. Auch „Ein Männlein steht im Walde.“ Das Männlein bin jetzt ich. „Der Kuckuck und der Esel“ stammt ebenfalls von ihm. Und der Esel bin ich auch. Dann „Summ, summ, summ, Bienchen summ herum“.
Wenn wenigstens ein einziges Bienchen mir den rechten Weg zeigen würde! Unvorstellbar, dass der von Fallersleben 550 Kinderlieder schuf, von denen er 80 vertonte. Das berühmteste seiner Lieder schrieb er auf Helgoland, das Lied der Deutschen, das wir alle kennen.
Auch diese Erkenntnis hilft mir in meiner ausweglosen Lage wenig, ebenso wenig, wie die Tatsache, dass sein „von“ nichts mit dem Adel gemein hat. Die Häufigkeit seines Namens Hoffmann, und weil er von Fallersleben stammte, einem heutigen Vorort von Wolfsburg, bescherte ihm das Attribut „von“. War etwa der von Fallersleben auch auf dem Holzweg mit seinem Deutschlandlied. Die erste Strophe, verpönt wegen des Machtanspruchs im Dritten Reich, schrieb Hoffmann aus Sorge, weil Deutschland zu seiner Zeit zersplittert galt, weil die Deutschen Stämme sowohl an Maas, Memel, Etsch und Belt lebten.
Was nützt es mir in meiner Lage im tiefen Wald, wenn ich jetzt „Einigkeit und Recht und Freiheit“ schmettern würde? Die Tiere des Waldes würden nicht applaudieren. Was mir jetzt fehlt, wäre ein Retter. Meine innere Stimme flüstert mir zu: Der Retter ist in dir. Hätte ich jetzt ein mobiles Navigationsgerät dabei, wäre es ein Leichtes, der unendlich scheinenden grünen Hölle zu entkommen. Ich schwöre mir, nie wieder ohne Navi einen Wald oder gar eine Großstadt zu betreten. Die eigenen Schritte werden kürzer, genau wie der Tag. Jetzt hat der Vollmond die Vorherrschaft gegen die Wolken gewonnen. Das ermutigt mich. Während ich verträumt das Mondgesicht betrachtete, strau-chele ich über eine Wurzel und stürze zu Boden. Dabei zieht es mich der Länge nach auf den Waldboden. Mein linkes Knie schmerzt höllisch. Umständlich rappele ich mich an meinem Stock hoch. Die Tiere es Waldes haben kein Erbarmen mit mir. Jetzt fasse ich Vorsätze für mein künftiges Leben, sollte ich irgendwann wieder in die Zivilisation zurückkehren dürfen.
Ich werde nie mehr Rauchen, schon gar nicht mehr Kiffen. Und den Alkohol werde ich auch meiden. Fest versprochen! Es wird nicht mehr geflunkert, ich werde immer schön bei der Wahrheit bleiben. Vor allem werde ich endlich mal die Luther-Bibel lesen, die mir die Großmutter zu Weihnachten geschenkt hatte. Und der Bettler in der Fußgängerzone bekommt auch endlich mal von meinem Taschengeld etwas ab.
So viele Vorsätze haben in meinem Kopf eine spontane Hauruckreaktion ausgelöst. Ich liege schweißgebadet in meinem Bett, mein linkes Knie schmerze immer noch. Aber es ist ein schlimmer Albtraum gewesen, der fortan mein Leben verändern sollte. Ich schüttele mein Haupt, um zurückzukehren zur Realität. Die glückliche Heimkehr vom Holzweg aus dem dichten Wald beschert mir eine immerwährende Erkenntnis. Das Gegenteil von Holzweg ist Tugendpfad.
Oder: Statt Holzweg – Soltweg (Salzweg), denn der bringt Gewinn, schon allein dem Bettler zuliebe.
Meinem Wald wünsche ich ein ewiges Leben dort, wo er entstanden ist und keine Weltreise nach China, auch wenn ich versucht bin, ihn wegen meines traumatischen Irrgangs zu verfluchen.
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2009
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