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Leiche auf Römerweinschiff


Karl-Heinz Link





Kriminal-Fantasy




Stella Noviomagi



Was gleitet so forsch an dem Weinherz vorbei.
Und wendet dann sacht an der Loreley?
Ein Boot ist´s als Bote aus römischer Zeit.
Die Gäste in Gruppen, allein, auch zu zweit.

Vergnügen sich froh auf hölzernen Planken.
Beflügeln den Geist mit heit´ren Gedanken.
Verschmelzen das Einst mit heutigem Jetzt.
Sie fühlen, sie sind in Vergang´nes versetzt.

Das filigran verschnörkelte Schiff
Beförderte Weine, umfuhr manches Riff.
Ein Fass als Symbol ist heut´ noch vorhanden.

Es wird von dem Skipper als Fahrstand verstanden.



Die Köpfe von Drachen an Bug und an Heck.
Erfüllen auch jetzt ihren heilsamen Zweck.
Sie flößen den Menschen die Hochachtung ein.
Für Gefahren im Strom und der Heilkraft im Wein.


Das Auge am Bug ist ein Zeichen von Leben.
Darunter der Schnabel soll Sicherheit geben.
Sein Name ist Stella, der Stern von Neumagen.
Es hätte auch keinen ander´n vertragen.

Wo sind sie, die Muskelpakete der Männer?

Für zwei mal zehn Riemen braucht´s wirkliche Könner.


Wie einst die Galeeren auf tückischen Wogen.
Wurd´solches Gefährt gar von Pferden gezogen.

Sein glänzendes Holz flößt Vertrauen ein.
Es hat sogar nun einen Heiligenschein.
Fronleichnam war die Monstranz an Bord.
Zur Freude der Menschen im ganzen Ort.





Horst Krawuttke kämpft gegen das Verbrechen und gegen seine überaus stark emanzipierte Frau Marie. Während sich ihr Zuhause in Trier mehr und mehr zu einer Kom- mandozentrale entwickelt, wo nur der unheilige Rock regiert, schart der Herr des Hauses Schutzwälle um sich. Stabile Theken mit und ohne Kegelbahn, Fußballstadien in Trier und auf dem Betzenberg und eine symbolische Porta Nigra mit Quadern aus Opposition, Resignation, gespieltem Gleichmut und aufgesetztem Humor mit einer Prise Ironie. Er ist der Meinung, das schützt vor Herzinfarkt.
Seit seiner Versetzung von Koblenz nach Trier vor sechs Monaten trägt Horst Krawuttke als leitender Hauptkom- missar endlich Verantwortung. Jetzt ist er nur noch dem Gesetz und dem Leiter des Kriminalkommissariats unter- stellt. Das spürt Krawuttke an seiner Lohntüte, wie seine Frau Marie die monatlichen Bezüge mit Genugtuung nennt. Er freut sich natürlich auch über den kleinen warmen Regen. Doch für einen Beamten, wie er gestrickt ist, hat Ermittlererfolg einen höheren Stellenwert. Das Wort Erfolgszwang sorgt seitdem für einen unangenehmen Beigeschmack. Wenn der berufliche Erfolg einmal ausbleibt, wird er von dem Alten an die Wand genagelt. Er muß endlich mal wieder einen Fall lösen. Er nennt es: aus dem Hut zaubern.
Kriminalhauptkommissar Horst Krawuttke ist ärgerlich, macht ein Gesicht wie drei Tage Regen. Der Anruf aus Neumagen-Dhron kam unversehens am Abend vor dem Festakt zur zweiten Einführung des nagelneuen Römer- weinschiffs. Eigentlich hat Krawuttke heute seinen Kegelabend. Unentschuldigtes Fehlen kostet fünf Euro in die Kegelkasse. Zunächst guckt er Löcher in die Luft und überlegt seine nächsten Schritte. Verdammt nochmal, jetzt hat er sich so auf den Kegelabend gefreut. Er greift zum Telefon, wählt die Nummer seines Freundes Hennes. Der geht sogar sofort dran. „Was is?“
„Was soll schon sein. Ist schon wieder nix mit dem Kegelabend. Leiche auf dem Römerweinschiff in Neuma- gen. Da muß ich sofort hin. Gib der Runde eine Runde auf meine Rechnung!“ Dann hört er, wie der Hennes Luft ablässt.
Er weiß, das besagte Holzschiff wurde von den vielen Helfern bei der Handwerkskammer Trier mit Holz aus Neumagens Wäldern erbaut. Rund 18 Meter lang und 4,20 Meter breit und verdrängt 14 Tonnen. Seit Ostern 2007 liegt es in einem extra ausgebaggerten kleinen Hafen in den Grünanlagen unterhalb es Steigers für die Lokal- schifffahrt an einem prominenten Platz. Selbst für die Einheimischen war es vom ersten Tag an ein richtiger Hingucker.
Die Gäste im ältesten Weinort Deutschlands stehen staunend davor und bewundern die solide Handwerks- arbeit. Ja, man kann es sogar chartern. Vierzig Personen finden darauf Platz. Es wird durch zwei Maschinen zu je 55 PS angetrieben oder kann auch durch Muskelkraft bewegt werden. Dann allerdings müssen sich kräftige Muskel- pakete in die je zehn Riemen legen, zehn auf Backbord und zehn auf Steuerbord. Krawuttke stolpert über den An- spruch Neumagens, der älteste Weinort Deutschlands zu sein. Denn das Schloß Johannisberg im Rheingau nimmt für sich in Anspruch, den ersten geschlossenen Ries- linganbau der Welt (1720) zu besitzen. Der 50. Breitengrad verläuft mitten durch die Einzellage „Schloß Johannis- berger.“ Er kennt auch die Preise, die dafür gezahlt werden. Ein 2005er Schloß Johannisberger Goldlack Trocken- beerauslese der Weinbau-Domäne Schloß Johannisberg 0,375 Ltr. kostet 210 Euro. Aber es gibt auch einen 2007er Schloß Johannisberger Riesling Gelblack Qualitätswein trocken für 12 Euro. Dieser Wettbewerb erinnert ihn an Paris und Rio de Janeiro, die den Anspruch erheben, als die schönste Stadt der Welt zu gelten. Was ist schön? Schön ist nicht schön, gefallen macht schön. Für den einen ist es Venedig, andere nennen Sydney, Wien oder gar Vancou- ver. Krawuttke stolpert über die Jahresangabe von 1720. Darüber können die Neumagener nur schmunzeln, weil ihr Rieslinganbau bereits auf die Römerzeit gründet. Das macht Krawuttke sogar ein wenig stolz.
Am Abend leuchtet auf der gegenüberliegenden Moselseite über den Weinbergen die Silhouette des Römerweinschiffs von einer stilvoll errichteten Licht-Mini- atur, während drunten im kleinen Hafen das Original vor sich hinträumt.
Der Förderverein Neumagener Weinschiff e.V. wird künftig am 3. Juli-Wochenende das Weinschiff in den Mittelpunkt einer großen Feier stellen. Im Jahre 2009 wird sogar ein historisches Floß, das auf der Ems beheimatet ist, neben der „Stella Noviomagi“ die Mosel befahren und ein grandioses Feuerwerk abschießen.
Das hölzernen Gefährt mit je einem Drachenkopf an Bug und Heck vermittelt den Eindruck, als ob ihm ein Mysterium innewohnt. Dabei überragt der wuchtige Drachen auf dem Achterdeck Schiff und Besatzung. Das Drachenmaul zeigt Zähne. Ist es eine Drohgebärde oder ein Lächeln. Sind es rätselhafte Kräfte, ist es unerklärliche Magie oder sind gar dämonische Mächte für den Tod der jungen Frau verant- wortlich? Die römischen Gallionsfiguren schweigen dezent.
Doch der süße Traum vergangener Zeiten wurde nun durch eine verwerfliche Untat zerstört. Noch herrscht beschaulicher Friede unter den Dächern. Doch die Nachricht von dem grausamen Fund geht wie ein Lauffeuer durch den ganzen Ort. Bald wird es jeder wissen. Die Kommunikation im Bäckerladen ist schneller als die Zeitung. Der Trierische Volksfreund klärt am übernächsten Morgen die Halbwahrheiten auf. Denn für die aktuelle Ausgabe gilt bereits Redaktionsschluss. Die Wohnmo- bilisten von den Moselwiesen und die Skipper in der Marina Mittelmosel haben die Exemplare im Nu aufgekauft. Sie sitzen schweigend in ihren Vorzelten oder auf dem Oberdeck ihrer Boote und lesen die schaurige Nachricht. Doch Krawuttke weiß es aus erster Quelle. Schon heute. Ohne seine bessere Hälfte, die ahnungslose Marie zu informieren, schwingt sich Krawuttke in seinen Golf und steuert die B 327 an. An der Abfahrt Bernkastel biegt er links ab in Richtung Mülheim, am Blockhaus vorbei und durch den hässlichen neuen Kreisel mit seinen rotweißen Orientierungsbarken geht es an Monzelfeld vorbei in die Serpentine zum Moseltal. Da hat doch einer im Trierer Revier die Story von dem Monzelfelder Adventskranz zum Besten gegeben. Sie wissen nicht, was das ist? Das ist ein Ring Fleischwurst mit vier Flaschen Bier. Ha, ha.
Ihn stören die Laster, die Milchautos und Traktoren, die ein Überholen einfach nicht zulassen. Am Ende erreicht er doch die B 53, geht links ab an dem neuen Hotelkomplex Weißer Bär vorbei, vorbei auch durch Brauneberg mit seiner Juffer, Wintrich mit Schleuse und vorüber an der Geyerslay. Das ist für ihn ein bevorzugter Liegeplatz für sein Sportboot. Doch jetzt hat er andere Aufgaben. Jetzt geht es an den Tatort Neumagen, wo eine weibliche Leiche im Inneren des Römerschiffes gesichtet wurde. Hinter dem Piesporter Kreisel kann er seinem Golf Gummi geben. Ja, das läuft wie genudelt. Die Wéngerte, wie die Moselaner sagen, treten bis an die 53 heran. Ein Blick auf die riesige Bootshalle rechts vor dem Sportplatz und dann vor der Brücke links abbiegen. Neumagen nimmt ihn auf. Ein seltsames Gefühl von Hochachtung vor diesem Ort schleicht ihn an. Hier befindet er sich auf römischen Wurzeln. Er weiß, hier wurde einst das in Stein gehauene Römerweinschiff gefunden, das heute in Trier Museums- besucher erfreut. Eine Nachbildung sorgt auch in dem kleinen Weinort Neumagen gegenüber vom Café Wald als begehrtes Fotomotiv. Jetzt aber rechts abbiegen hinunter zur Mosel. Geschafft.
Es ist Donnerstagabend. Morgen, Freitag um 18 Uhr öffnen die Stände. Eine Stunde danach ist die Eröffnungs- feier mit den Weinmajestäten, mit der römischen Fußgrup- pe mit den Männergesangverein Lyra. Gegen 20 Uhr startet der große Weinschiff-Song-Contest. Der Samstag wartet mit Exerzierübungen der römischen Legionäre auf. Und am Abend gibt es Sternenmomente für die Sinne, ein Großfeuerwerk. Da passt die Leiche dazu wie Zwetschen- kuchen zum Salzhering. Doch was kann er dagegen tun? Tatort sichern, Objekt entfernen und nach Motiv und Täter suchen, damit die Neumagener ihr Event unbeschadet überstehen können. Schließlich ist am Sonntagmorgen ein Festgottesdienst auf dem Festgelände an der Mosel vorgesehen. Es wird doch hoffentlich kein Traueramt werden.
Hundertschaften von Einheimischen und Gästen werden die Festzelte und das Moselufer bevölkern. Sie werden Gott Bacchus frönen, denn der wartet mit den edelsten Tröpfchen auf. Das Moseltal wird vom Widerhall im Dreivierteltakt ausgefüllt, und die Volksseele kann wieder einmal in Zufriedenheit baden. Das beherrschen die Moselaner vorzüglich.
Die beiden komfortablen Campingplätze, separat für Wohnwagen und für Wohnmobile beiderseits des Yacht- hafens, sind jetzt schon fast ausgebucht. Dieses Fest kann nur noch von dem alljährlichen Straßenweinfest im Ortskern übertroffen werden. Er kann sich erinnern, dass jedes Weindorf seine Feste begeht. Kirmes, Weinblü- tenfest, Weinfest vor oder während der Lese, Backfischfest, Feuerwehrfest oder Heimatfest. Aber er weiß auch von dem Hunsrückdorf Waldalgesheim, das ebenso für seine Vielfalt dieser Veranstaltungen bekannt ist; dort hatte man an den Ortseingängen ein Schild angebracht: „Diese Woche kein Fest.“
Der Mensch Krawuttke zählt inzwischen 35 Jahre, wollte als Kind Lokomotivführer werden, dann im Sommer Kapitän. Als aber irgendwann an Weihnachten ein Polizeiauto unter dem Weihnachtsbaum lag, setzte sich eine fixe Idee in seinem Kopf fest. Er muß Polizist werden. Nicht nur Polizist, sondern Hauptwachtmeister. Seine kindhafte Vorstellung eines Polizeibeamten mit grüner Uniform, Polizeimütze mit Stern, Pistole im Halfter und Blaulicht auf seinem Einsat- zwagen verdichteten sich mit zunehmendem Alter, ohne jedoch die Tragweite zu erahnen. Der Trierer Hauptkom-
missar verscheucht zunächst die Meute Neugieriger. Da wird er von einem älteren Mann angesprochen: „Mir wolden nur ebbes fräje un sin gemänsam lo her, um ebbes se erlewe.“ Krawuttke tut so, als sei das Chinesisch, ignoriert den Gast einfach und läßt ihn stehen. Er beäugt misstrauisch die Meute Neugieriger. Nichtssagende Gesichter. Doch eine völlig altmodisch und unansehnlich wirkende, gertenschlanke alte Frau fällt Krawuttke auf. Sie trägt ein herunterhängendes Weißhaar wie einen ver-
kalkten Bilderrahmen, der ihr Boskoprunzelgesicht zu-
sammenhält. Sie besticht lediglich durch zwei glühende Augen mit braunen Sprenkeln, die Entschlossenheit vermuten lassen und wirkt wintermüde, obschon sich die Natur eines sonnigen Juli-Donnerstag erfreut.
Alle anderen Naseweise in dem Menschenpulk tragen Touristenköpfe oder die kernigen Züge einheimischer Neugierde, einige davon mit roten Zinken in der Gesichts- mitte, ein Indiz für die Vorliebe von Hochprozentigem. Also Durchschnittspublikum oder graue Masse. Krawuttke sieht erneut auf das Runzelgesicht. Es erinnert ihn an seine Großmutter, die er heute noch als eine gütige, kluge und überaus liebenswerte Frau heimlich verehrt. Auch sie trug im hohen Alter ein ähnliches Boskopgesicht mit Falten und Altersflecken. Die Alte am Moselufer könnte eine Zwillingsschwester seiner Großmutter sein. Aber er weiß auch, dass dies nur eine Fiktion seiner Gedanken ist.
Der örtliche Doktor gibt sich zu erkennen und stellt fest, da sei nichts mehr zu retten. Krawuttke möge einen Zinksarg beschaffen und die Leiche in der Gerichtsmedizin untersuchen lassen. Die Tote, etwa fünfundzwanzig bis dreißig Jahre, langhaarig und blond, sieht aus wie die leibhaftige Loreley. Schon wieder, denkt Krawuttke. Das hatte er schon einmal vor zwei Jahren an der engsten Stelle des Rheins bei St. Goarshausen. Der Arzt glaubt, der Tod sei bereits vor fünf Stunden eingetreten. Keine Gewalteinwirkung festzustellen nach flüchtiger Untersu- chung. Eine Obduktion wird Aufschluss geben.
Inzwischen ist auch die Spusi (Spurensicherung) eingetroffen. Die nehmen Fingerabdrücke im Umfeld der Leiche. Noch steht nicht fest, ob der Fundort auch der Tatort ist. Auf einem Schiff, das täglich mehrere Rund- fahrten mit Passagieren unternimmt, gibt es jede Menge Fingerabdrücke und Fußspuren. Wo mag das Motiv liegen? Eifersucht, Rache, Geld, Prostitution, Rauschgift oder gar Selbsttötung? Er hat den Fragenkatalog in seinem Kopf. Die eigentliche Motivsuche beginnt erst nach der Obduktion. Die Spuren müssen alle gesichert werden, bevor morgen wieder Hundertschaften das Holzschiff bevölkern. Am besten ist Krawuttke dann wieder vor Ort. Denn er weiß, oft genug zieht es den Täter an den Tatort zurück, weil der sich überlegen fühlt und es heimlich genießt, wenn die ahnungslosen Menschen kopfschüttelnd seine Untat erdulden müssen.
Auf dem Rückweg nach Trier nimmt Krawuttke die Autobahn. Die rollt flotter und läßt ihm mehr Zeit für seine Gedanken. Es ist bereits nach zweiundzwanzig Uhr, als er im Polizeirevier einläuft. Wie übergroße Riesen ergießen sich die Nachtschatten in das Moseltal. Ein Regenschauer jagt den nächsten. Sein ach so beliebter Kegelabend ist inzwischen auf der Zielgerade.
Nachdem er sich vergewissert hat, dass der Zinksarg in der Gerichtsmedizin eingetroffen ist, schaut er auf seine Armbanduhr und glaubt, für ein letztes Glas Wein mit seinen Kegelbrüdern würde es gerade noch reichen. Er hat schließlich noch die versprochene Runde zu blechen. Es bleibt natürlich nicht bei dem einen Glas. Die Bande ist in Bombenstimmung. Hennes hat endlich seinen ersten Kranz geworfen und fühlt sich wie Boris Becker nach dem Wimbledonsieg. Es ist viel zu spät, die Kirchturmuhr hat eins geschlagen, als er das Taxi besteigt.
Marie ist aus dem Häuschen. Und wie:
„Du entwickelst dich zum Säufer. Bald hast du deinen Verstand versoffen. Mach nur so weiter, dann wirst du erleben, wo du noch landest. Das mache ich nicht mehr lange mit. Wo warst du? Auf der Kegelbahn jedenfalls nicht. Warst wohl hinter einem Rock her.“
„Stimmt, aber die hatte Hosen an und ist mausetot. Außerdem war ich dann hinterher noch auf der Kegelbahn. Deshalb ist es eben etwas später geworden.“
Marie glaubt ihm kein Wort. „Das sind doch alles nur Schutzbehauptungen.“
Krawuttke konterte: „Du kannst es übermorgen im Volksfreund nachlesen.“
Dann steigt er aus seinen Kleidern, legt sich in sein Bett, dreht sich beleidigt um und schläft sofort ein.
Am nächsten Morgen beim Frühstück legt Marie noch einmal nach. Ihre bissigen Bemerkungen bezeichnet Krawuttke als Nachkarten. Dann spricht er bedeutungsvoll:
„Wenn ich Woody Allen wäre, würde ich sagen, die Ehe ist der Versuch, zu zweit mit den Problemen fertig zu werden, die man alleine nie gehabt hätte.“
„Du und Woody Allen, ihr kommt euch wohl wichtig vor. Gegen den bist du ein kleines Licht.“
„Ich weiß, aber das Problem ist das Gleiche. Ich sage das einmal so: Die Ehe ist in der katholischen Kirche das einzige erlaubte Glücksspiel.“
„Das mag sein. Aber von Abenteuer hat sie nichts gesagt.“ Darauf Krawuttke:
„Klaus Klages, der deutsche Gebrauchsphilosoph hat einmal gesagt: Abenteuer werden meist am Abend teuer.“
„Nun lass deine Sprüche. Was ist eigentlich mit deiner Leiche?“
„Meistens geben Leichen keine Lebenszeichen.
Wenn sie welche geben, sind sie noch am Leben.“
„Blöder Spruch. Das ist ja schon ein Kalauer. Der ist bestimmt nicht von dir.“
„Nein, hab ich irgendwo gelesen.“
„Kennst du denn die Identität der Frau?“
„Das werde ich morgen im Revier erfahren. Dann werde ich dich informieren. Du tust so, als wärest du auch bei der Kripo. Du solltest wissen, ich darf darüber nicht reden.“
„Bist ein richtiger Geheimniskrämer.“
„Du hast gut reden. Wenn deine Rommeedamen das mitbekommen, dann steht es womöglich in der BILD. Und das will ich verhindern.“
„Mit deinem Gehabe vermeidest du sogar die Harmonie in unserer Beziehung. Du bist kein Frauenversteher, bist nur ein Bulle in Zivil. Eine Frau braucht mehr als Sex. Was ist mit Galanterie, mit Romantik? Was ist mit einem lauen Abendspaziergang an der lieblichen Mosel mit Monden- schein?“
Krawuttke guckt wie ein Huhn bei Gewitter. Dann kommt sein Vorschlag:
„Wenn du mal den Mond bestellst und warmes Wetter, komme ich gerne auf deinen Vorschlag zurück. Im Augenblick herrscht Sauwetter. Ohne Regenschirm läuft da gar nichts.“
„Es gab mal Zeiten, da hast du anderes gesprochen. Da haben wir sogar bei Platzregen unter dem Regenschirm geknutscht.“
„Entschuldige, das habe ich tatsächlich vergessen. Morgen Abend bekommst du einen hübschen Blumen- strauß dafür.“
Seine geheimen Gedanken drehen sich vielmehr um seine einst so geliebte Marie, die ihm immer wieder in seinen Berufsalltag hineinpfuscht. Sie hat ausgeprägte Führungseigenschaften und glaubt, die auf ihn anzuwen- den, was immer er tut. Sie kann das Private nicht vom Beruflichen trennen. Bei Marie hat sich in den letzten Wochen eine sogenannte Stoffwechselkrankheit bemerk- bar gemacht. Sie durchforstet die Trierer Boutiquen und schleppt eine ganze Kollektion Schwangerschaftskleider an. Das belastet das Haushaltsbudget über Gebühr, meint der angehende Vater. Das sorgt wiederum für neuen Zündstoff. Dann kommt, wie vom weiten Kriminalhimmel geschickt, ein neuer Fall. Der lässt sein privates Problem in einem anderen Licht erscheinen. Er fühlt sich wie neu geboren. Endlich mal wieder eine neue Aufgabe. Das Telefon, die zweitschlechteste Erfindung seit der ersten Atombombe, erweckt seine ganze Aufmerksamkeit. Der Anrufer berichtet, wortreich wie ein Wasserfall, von Einzelheiten: „Tschuldigung, dass ich Sie bemühen muß, aber ich habe eine Entführung beobachtet.“ „Bevor Sie weiterreden, möchte ich wissen, wer Sie sind. Nennen Sie mir Ihren Namen mit Adresse.“ „Das tut nichts zur Sache. Ich habe mit der Entführung nichts zu tun und möchte nur einen Hinweis geben. An der Porta Nigra wurde soeben eine Landstreicherin gewaltsam in einen silbernen Audi bugsiert. Sie hat sich gewehrt, aber zwei Kerle in schwarzer Kleidung haben die Frau überwältigt und sind in Richtung Mosel mit quietschenden Reifen abgebraust.“ „Konnten Sie das Kennzeichen lesen?“ „Es war eine Mainzer Nummer. MZ – ZA. Die letzte Zahl war eine 1, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.“ „Das ist doch besser als nichts.“ Dem Bericht des Pathologen entnimmt Krawuttke am nächsten Morgen, dass die Tote vermutlich längere Zeit im Wasser gelegen hat. Daher rühren die grünen, bemoosten Hautflecken. Sie sind von Schlick überlagert, wie man es von den Schiffen kennt. Der Mund der Leiche ist aufgeschwollen, die Zähne vorstehend, aber wasserblaue Augen lassen darauf schließen, dass sie einmal ein durchaus ansehnliches Wesen darstellte. Zu Lebzeiten hätte sich selbst Krawuttke vermutlich auch in sie verlieben können.
Wieso steht in dem Bericht kein Sterbenswort über die Todesursache. Das wurmt den Bullen in Zivil, wie Kra- wuttkes Angetraute ihn nennt. Er sagt sich:
„Dem Schlendrian werde ich Beine machen. Unsereiner reißt sich den Hintern auf, und der Leichenfledderer mit dem Skalpell findet keinen Anhaltspunkt. Muß ich das denn auch noch alleine tun!“
Krawuttke kommt langsam auf Hundert, während er eilig durch die leeren Gänge hastet und geradewegs ohne Anklopfen die Pathologie betritt.
Der Mann im grünen Kittel sitzt genüsslich vor seinem Schreibtisch bei einer Thermosflasche, aus deren Deckel- verschluss er gemütlich den Kaffee schlürft und eine Schinkenstulle in sich hinein stopft. Er verschwendet keinen Blick an den Eindringling. Genau so verhält er sich bei seiner Arbeit mit dem Skalpell am Seziertisch. Wenn auch noch menschliche Überreste sauber geordnet herumliegen, läßt er sich doch sein Frühstück schmecken. Im Lauf der Jahre hat er sich über den von Unbeteiligten empfundenen Ekel hinweg gesetzt.
Horst Krawuttke herrscht ihn unsanft an:
„Das hab ich gern, ein ausgedehntes Frühstück, während unsereiner sein Gehirn verrenkt.“
Der Grünkittel läßt sich nicht stören, blickt nicht einmal auf, kaut genüsslich weiter und murmelt in seinen weißen Bart:
„Du wirst de Sensation noch früh jenuch erfahren.“
„Welche Sensation? Wir sind doch nicht im Zirkus.“
„Doch, mir sin im Zirkus Maximus, Zweigstelle Trier. Deine Leiche liegt inzwischen bei hoch spezialisierten Forschern der Universität Mainz. Der Fall ist für dich abjeschlosse. Seine Heiligkeit, der Alte, hat suu entschiede. Da guckste wohl.“
„Hör auf, dein Spaß hat ein Loch.“
„Nee, Horst, dat ist mein bitterer Ernst. Dat Dingens liecht getzt an Maschinen, Herz-Lungen-Maschinen, aan echte wissenschaftliche Jeräte.“
Krawuttke äfft nach:
„Wat de nit saachst. Ne Doode aan Maschine.“
Krawuttke glaubt an seinen gesunden Menschenver- stand. Er fährt auf eigene Faust nach Neumagen, um den Doktor aufzusuchen, der ihm den Tod der Leiche bestätigt hatte. Doch der ist nicht da. Der wurde zur Geyerslay beordert. Es soll ein mysteriöser Fall sein, sagt dessen Frau. Also schwingt sich Krawuttke in seinen Golf und düst in Richtung Wintrich. Ausgangs Neumagen registriert er am Himmel ein halbes Dutzend Gleitschirmflieger, die auf den Moselwiesen linker Hand landen, einer nach dem anderen. Für ihn ist das ein Indiz für schönes Flugwetter. Wenn die über Nacht schönes Wetter bekommen haben, dann haben es die Neumagener auch. Zunächst passiert er den Kreisel in Niederemmel, heute Piesport. Er hat erfahren, Alt-Pies- port auf der linken Moselseite hat dem Ortsteil Nieder- emmel seinen Namen gegeben, weil das Piesporter Moseltröpfchen Weltruf genießt.
Dennoch melden sich die alten Berufsschiffer über Funk, wenn sie ihre Position angeben, immer noch mit Nieder- emmel. Hinter dem heutigen Piesport kann er seinem Golf die Sporen geben. Es läuft wie die Katz über den kurven- reichen Asphalt. Da spiegeln schon die blauen Blitze eines Krankenwagens über dem Oberwasser der Schleuse Wintrich. Aha, denkt Krawuttke. Es warten Aufgaben auf dich. Ein Blick noch zur „Jenny“, die verträumt an einem einsamen Steg vor der Geierslay vertäut liegt.
Als ehemaliges Zollboot dient „Jenny“ heute dem Wirtsehepaar als Ausflugsschiff für Gäste. Er kennt den Weg rechts hinter der Leitplanke zur Aussichtsterrasse. Das Wetter meint es heute besonders gut mit Krawuttke. Schöner kann es an der Mosel nicht werden. Ein fast wolkenloses Blau überspannt das Panorama, stimmt ihn optimistisch und versöhnt ihn für das Ungemach, das er zu seinem Beruf erwählt und geradezu abonniert hat. Die Aussichtsterrasse ist noch nicht bevölkert. Deshalb läutet er, oben angekommen, die Glocke.
Kaum hat er Platz genommen, erscheint die blonde Wirtin. Er kennt sie von seinen früheren Besuchen mit seinem Sportboot. Hier hat er schon manchen willkom- menen Stopp eingelegt drunten am Steg unter der riesigen Weide. Er muß sich nicht ausweisen.
„Ach, der Herr Kommissar ist mal wieder da, ohne Boot, wie ich sehe.“
„Ja, ich hörte, der Neumagener Doktor sei hier. Was ist denn passiert?“
„Eine schlimme Geschichte. Der ist mit den Sanitätern oben am Herrgott. Da liegt ein älterer Mann aus dem Ort in den Rebzeilen. Soll sich vergiftet haben. Vielleicht ist er auch vergiftet worden.“
„Wissen Sie Näheres? Wer hat ihn gefunden?“
„Wanderer haben ihn entdeckt und sind zu uns gekommen, damit wir Hilfe holen.“
„Bringen Sie mir bitte mal eine trockene Schorle. Ich muß ja noch fahren. Und dann erzählen Sie mir paar Takte zu dem alten Mann, den Sie kennen, über sein Leben, über seine Familie und über die Verbindung zum Geierskopf und dem Großen Herrgott.“
„Genaues weiß ich nicht. Da müssten Sie die Familie mal befragen. Die Adresse kann ich Ihnen raussuchen. Aber da gibt es eine mysteriöse Geschichte von dem Geierskopf. Dort oben stehen nämlich Tafeln mit den Bildern der örtlichen Weinköniginnen. Die sind hübsch mit Blumen geschmückt. In den letzten Jahren wurde immer das gleiche Bild von einem Frevler verschandelt und die Blumen ausgerissen. Es musste mehrfach erneuert werden.“
„Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem alten Herrn und dieser einen Weinkönigin?“
„Nicht direkt, aber der Alte hatte mal eine kurze Beziehung zur Mutter der Weinkönigin.“
Während der Unterhaltung platzt auch der Arzt in die kleine Runde, setzt sich ohne Aufforderung an den Tisch und lässt hörbar Luft ab.
„Geschafft“, sagt er. Es war nur eine geringe Dosis E-605. Das Fläschchen lag noch daneben. Die Sanitäter haben ihn im Fahrzeug und rauschen jetzt ab nach Bernkastel. Ich bin sicher, der wird durchkommen.“
„Der soll E 605 überleben?“
„Ich bin davon überzeugt, da war gar kein Gift drin. Der war eigentlich nur alkoholisiert und hatte ein leeres Fläschchen mit dem alten Etikett. Der wollte sich nur wichtig machen. Dennoch bleibt die Frage nach dem Beweggrund. Aber mal was anderes. Wie gefällt es Ihnen, Herr Krawuttke, an der Mosel. Wie ich hörte, kommen Sie vom Rhein?“
„Da fragen Sie noch? Die schöne Tochter Mosel ist mir lieber als der alte Vater Rhein. Der ist doch ein rauer Geselle, während seine Tochter, die Mosel, viel lieblicher ist.“
„Stimmt, aber dafür hat der Rhein keine Schleusen. Die passen den Skippern weniger, weil sie Wartezeiten bedeuten.“
„Gehört Warten auch zu Ihren Charakterfehlern?“
„Da mögen Sie recht haben, besonders vor den Schleusen. Bis Metz sind das zehn an der Zahl.“
„Ach, sind Sie etwa auch Wassersportler?“
„Bin ich. Ich besitze einen kleinen Flitzer, ganze sieben Meter lang, sogar mit Wellenantrieb.“
„Und mit diesem Wellenantrieb verursachen Sie wiederum Wellen.“
„Messerscharf beobachtet.“
In der Zwischenzeit hat sich die Wirtin verkrümelt. Sie will bei der Fachsimpelei nicht stören. Doch sie bringt dem Doc unaufgefordert einen feinherben Riesling.
Krawuttke beugt sich über den Tisch zu dem Neuma- gener Arzt, als wollte er ihm eine geheime Neuigkeit verraten.
„Können Sie mir verraten, weshalb die Pathologie die Weinschiffleiche nach Mainz in die Uni verfrachtet haben?“
Der Arzt wird nachdenklich, trinkt zuerst einen kräftigen Schluck und vermutet:
„In Mainz wurden doch auch Römerschiffe bei Ausgra- bungen entdeckt. Vielleicht besteht dort ein Zusam- menhang.“
Als der Mediziner das äußert, glänzen seine Augen. Jetzt greift er in seine Rocktasche und zieht einen Computer- ausdruck über die Mainzer Römerschiffe hervor. Er liest:
„Von den aus dem 4. Jahrhundert stammenden Schiffen gehören vier zum Typ eines langen, schlanken Ruder- bootes mit Hilfsbesegelung und einer 35-köpfigen Besatzung. (Das Neumagener Weinschiff kann sogar 40 Personen befördern.) Es waren von der Konstruktion her sehr schnelle Schiffe. Das fünfte, kürzere, jedoch breitere Schiff ist vom Typ her ein Patrouillenschiff zur Sicherung der Flussgrenze.“
Krawuttke staunt über den Arzt, was der alles heraus- gefunden hat. Dann liest er weiter:
„Die spätantiken Schiffe aus Mainz, die mit ihrer Mallenbauweise gegenüber der mediterranen Bauweise eine technische Neuerung bis hin zur Serienfabrikation aufweisen, stehen am Ende einer langen antiken Schiff- bautradition mit unterschiedlichen Schiffstypen. Sie finden sich auf einer Reihe antiker Monumente, deren markan- teste Vertreter in der Mainzer Ausstellung stehen. Sie reicht von einem antiken Seekriegsschiff des 1. Jahrhun- derts auf einem Weisenauer Grabstein bis – jetzt kommts – bis zum Neumagener Weinschiff.“
Krawuttke erstarrt vor soviel Fachkompetenz. Der Doktor setzt noch einen drauf:
„Und wissen Sie auch, wie die findigen Mainzer die mit Kunstharz getränkten Hölzer getrocknet und konserviert haben. Sie werden es nicht glauben. In einer riesigen Mikrowelle.“
Nach dieser Belehrung aus dem Computer genehmigen sich die beiden Experten noch ein letztes Glas, denn sie müssen beide noch Autofahren. Krawuttke ordert noch eine große Flasche Mineralwasser und einen Flamm- kuchen.
Dann reden sie wieder über den Alten aus dem Weinberg. Sie reden über das neun Meter hohe Gipfel- kreuz, den angestrahlten Hightech-Jesus auf dem Bergrücken und über die Wintricher Passionsspiele, die im Fünfjahres-Rhythmus stattfinden. Die gibt es seit 1902 und dauern mehrere Wochen. Zum 100. Jubiläum sollen 8000 Besucher in der Kirche als Aufführungsort verweilt haben. Gigantisch. Die nächsten Passionsspiele werden erst 2012 veranstaltet.
Krawuttke meint:
„Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Alte auch mal als einer der Jünger Jesu fungiert hat. Vielleicht hat er den Judas gespielt und sich zu stark in die Figur des Verräters verrannt, dass er einen seelischen Schaden davonge- tragen hat.“
Krawuttke lässt sich von dem Doktor einige Neumage- ner Namen geben von den Schiffsführern und Begleitern des Römerweinschiffs. Die haben wechselnde Besatzungen. Die muß er alle verhören und deren Aussagen protokol- lieren. Schließlich will der Trierer Kriminalrat Papier sehen. Papier ist zwar geduldig, aber es belegt auch seine Aktivität.
Während des anregenden Gesprächs mit dem Doktor ist Krawuttke überhaupt nicht aufgefallen, das noch ein weiterer Gast am übernächsten Tisch sitzt. Es durchfährt ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er raunt dem Doktor zu:
„Drehen Sie sich mal unauffällig um. Seit wann sitzt denn die Alte dort?“
„Keine Ahnung. Ich hab die nicht kommen sehen.“
„Ich glaub, ich spinne. Ob die mich verfolgt? Die hab ich bereits in Neumagen beim Römerweinschiff beobachtet. Sieht aus wie eine Hexe mit ihrem Boskopgesicht wie eine Indianersquaw.“
„Seien Sie vorsichtig mit diesem Ausdruck. Das Wort Squaw bezeichnet das weibliche Geschlechtsteil und steht für die Bezeichnung einer Hure. In den Vereinigten Staaten wurden sogar Prozesse geführt. Die Bezeichnung einer indianischen Frau als Squaw ist rechtlich und moralisch verboten.“
„Um Gottes Willen, das hab´ ich nicht gewusst. Ich kenne den Ausdruck aus Karl May-Büchern.“
Die letzten Sätze flüstern sie nur, um kein Aufsehen zu erregen. Krawuttke macht sich ernsthaft Sorgen. Das kann doch kein Zufall sein. Er ist sicher, er wird von der Alten observiert. Aber um alles in der Welt, warum?

Als Krawuttke von seiner Mission nach Trier zurückkehrt, ist es bereits Abend. Zuvor macht er noch in Leiwen Station. Er kennt das Sektgut St. Laurentius. Mit dem Inhaber steht er auf Du. Der Klaus ist wie er Skipper. Klaus besitzt neben seinen Liegenschaften in Leiwen den einzigen Weinberg an der Mosel, den man nur per Schiff erreichen kann. Der gehörte zuvor dem Männergesangverein Piesport und liegt gegenüber von Piesport, oberhalb der Mosel-Loreley.
Irgendwann vor wenigen Jahren wollte der MGV die kleine Parzelle loswerden. Wie das in Vereinen so ist, es gab Reibereien, wer und wann die Arbeit verrichtet. Man wurde dieser Parzelle überdrüssig. Das wird der Klaus bestimmt nie. Er wirbt mit einem Hinweisschild im Wingert für sein Sektgut und fährt auch mit seinen Kunden dort hin und zelebriert auf einer kleinen Plattform im Weinberg Weinproben.
Nachdem Krawuttke mit dem 6er Karton Riesling Brut, traditionelle Flaschengärung unter dem Arm zuhause eintrifft, bekommt er sofort ein schlechtes Gewissen. Er hatte Marie doch einen Blumenstrauß versprochen.
„Verdammt nochmal. Den habe ich vergessen. Jetzt sind die Blumenläden geschlossen. Das ist Künstlerpech.“
Marie hat Blumen erwartet und sieht ihren Horst mit einer Kiste Schampus unterm Arm. Sofort versteinert sich ihre Mine. Das hat nichts Gutes zu bedeuten. Ihr einziger Kommentar ist:
„Typisch Egoist, an deine Sauferei denkst du, und die versprochenen Blumen für mich hast du vergessen. Womit habe ich das verdient?“
„Erstens ist das nicht mein Riesling-Sekt, sondern unsere Sauferei, um mit deinem Vokabular zu reden. Und zweitens, ja ich habe es während meiner Ermittlertätigkeit verges- sen. Bitte nicht böse sein.“
Er registriert ein kleines Leuchten in ihren Augen. Sie hat sogar ihren süßen Mund zu einem Schmunzeln verzogen.
„Is was?“ Krawuttke spürt, sie hat noch was auf der Seele.
„Ja, meine Eltern haben sich für morgen angesagt. Wollen in Trier auf Kultur machen.“
„Ich bin hoch erfreut.“
„Sei doch nicht so ironisch. Es sind doch nette Leute. Die freuen sich, uns mal wieder zu sehen. Wenn wir mal Kinder haben sollten, dann wollen wir sie auch gerne um uns herumhaben.“
„Das heißt, ich werde morgen zwei Blumensträuße kaufen, einen für dich und einen für deine Mutter.“
„Jetzt übertreibst du aber. Meine Mutti würde sich schon freuen, von ihrem Schwiegersohn mit Blumen begrüßt zu werden. Da stehe ich gerne zurück.“
„Wie lange dauert denn das Bombardement?“
„Horst, jetzt wirst du gemein. Das ist doch kein Bombar- dement. Gut, meine Mutti redet etwas viel. Aber dafür ist mein Vati umso ruhiger. Die gleichen sich aus. Mit Vati verstehst du dich einfach besser, weil er was von Fußball versteht. Dafür ist meine Mutti eine hervorragende Köchin.“
„In diesem Fall muß ich dir beipflichten. Sag schon, wie lange bleiben sie denn?“
„Das frage ich nicht, schließlich sind das meine Eltern. Bist du etwa eifersüchtig, weil deine Eltern so gut wie nie nach Trier kommen?“
„Stell dir mal vor, ich hätte meine Eltern auch gleichzeitig hier herzitiert, dann könnten wir auf der Couch schlafen.“
„Dann tu das doch, wir haben früher oft genug zusam- men auf der Couch geschlafen. Das war sogar romantisch.“
„Oh Gott, was ist das eine bescheuerte Diskussion. Sie kommen einfach, basta!“
An diesem Abend ist ab sofort Sendepause. Man hat sich gegenseitig die Meinung gesagt. Gottlob läuft im Fernsehen eine Wiederholung des „Bullen von Tölz“, ein „Lehrstück für erfolglose Kriminalbeamte“, wie Marie meint. Darauf entnimmt Krawuttke dem Kühlschrank eine Flasche Pils aus der Heimat und verschwindet damit in seinem Zimmer.
Jetzt schmollt jeder für sich, Marie im Wohnzimmer und Krawuttke in seinem Arbeitszimmer. Er schaltet seine Flimmerkiste an und geht auf den Sportkanal. Boxen ist angesagt. Genau das passt jetzt für mich, denkt Horst. Draufschlagen, was das Zeug hält.
Als er das denkt, meldet sich der Polizist in ihm. Das ist keine Lösung. Er fragt sich, ist unsere Ehe überhaupt alltagstauglich? In Gedanken stellt er sie auf den Prüf- stand. Ob es mit dem verflixten siebten Ehejahr zusam- menhängt? Oder mit dem fehlenden Kindersegen? Kinder, so sagt man, schweißen zusammen. Es ist schon lange her, seit sie das Thema überhaupt diskutiert hatten. Vielleicht sollte er bei passender Gelegenheit das Thema wieder zur Sprache bringen.
Er hat ein ungutes Gefühl. Früher während der „Balz“ hüpfte sein Herz, wenn er nur an Marie dachte. Dieser Funke ist ihm Lauf der Jahre verloren gegangen. Eine Stimme in seinem Denkvermögen sagt ihm:
Andere Mütter haben auch schöne Töchter.
Dieser Gedanke erschreckt ihn. Ein Beamter im Dienste von Recht und Ordnung darf das nicht einmal denken. Das gehört sich nicht. Dann meldet sich wieder die andere Stimme und sagt:
Wie lange willst du die derzeitige Situation noch aushalten? Willst du sie zementieren? Zement hält länger! Krawuttke überlegt:
Die jetzige Spirale führt ungebremst unter der Last der idiotischen Debatten nach unten. Einer von uns muß die Notbremse ziehen. Sonst geht unsere Beziehung in Scherben.
Ihm wird bewusst, dass sie im Augenblick zueinander auf Distanz gehen. Jeder schmollt für sich in seinem Zimmer. Das war doch früher nicht so. Er beschließt, zunächst einmal wortlos darüber zu schlafen. Die besten Einfälle kommen ihm ohnehin in einer Ruhephase. Er legt sich auf seine Liege und dämmert eine Weile gedankenlos vor sich hin, lässt seinen Kopfspeicher leerlaufen wie eine Gießkanne. Morgen früh weiß er mehr.
Am Morgen nach dem Erwachen, greift Krawuttke zu seinem Tagebuch, wo er seine Gedanken festhält. Ihm geht der Spruch von dem im Juni 2008 verstorbenen 78jährigen Peter Rühmkorf durch den Sinn. Der hat gesagt: „Das Schreiben ist eine Art von Selbstverdoppelung. Man stellt Schatten von sich her, ein zweites Ich, an dem man sich aufrecht hält.“ Krawuttke beschließt ebenfalls, ein zweites Ich von sich herzustellen. Was der kann, das kann er auch. Es könnte sogar ein drittes Ich werden, wenns ein Junge wird. Somit hätte der verstorbene Schriftsteller eine Signalwirkung auf ihn ausgeübt. Darüber muß er unbe- dingt nachdenken.
Die Trotzphase von Marie wird von Tränen begleitet. Als Horst Krawuttke ganz behutsam in ihr Schlafzimmer tritt, sieht er seine Marie bewegungslos mit offenen, feuchten Augen, die Löcher in die Decke brennen. Bewegungslosigkeit ist nicht Regungslosigkeit. Ihre feingliedrigen Hände sind über der Bettdecke wie zum Gebet ineinander verschränkt. Wenn sie nicht so traurig dreinschauen würde, könnte er sich in dieses Schnee- wittchen tatsächlich erneut verlieben. Scheinbar hat sie ihn gar nicht bemerkt. Er schleicht sich wie ein Indianer heran. Sie scheint in ihrem jetzigen Zustand auf einem andern Stern zu leben. Ihr Atem arbeitet im Gleichmaß. Die leichte Bettdecke hebt und senkt sich. Krawuttke beugt sich über sie und drückt ihr einen süßen Kuss auf die Lippen.
Es ist eine Portion Schuldbewusstsein in seinem Herzen. Ohne etwas zu sagen, lupft er die Bettdecke und kriecht zu Marie, legt seinen Arm um ihren warmen Körper und drückt sie fest an sich. Dann entweicht ihr ein einziger Satz:
„Ich bin schwanger, deshalb kommen auch meine Eltern zu uns.“
Krawuttke wollte ärgerlich reagieren, zog es jedoch vor, besonnen zu bleiben. Es wurmt ihn, dass seine Schwieger- eltern vor ihm von der guten Nachricht erfahren haben. Andererseits kann er sie verstehen, nachdem das Verhältnis zwischen ihnen in den letzten Tagen so angespannt war.
Noch bevor er auf diese Freudenbotschaft antworten kann, meldet sich sein Handy. Er fragt:
„Was is?“
„Schwerer Verkehrsunfall mit Todesfolge in Trittenheim, gegenüber am Fährturm, rechtes Ufer. Eine Person in der Mosel vermisst, eine weitere schwer verletzt. Sankawagen ist unterwegs.“
„Ich bin schon unterwegs.“
Dann sagt er entschuldigend zu seiner Marie:
„Vollalarm, ein Toter in Trittenheim, ich bin denn mal weg.“
Marie zieht ein betretenes Gesicht. Immer wenn es spannend wird, muß er seinem Beruf nachgehen. Das ist doch kein Leben. Ihr Mann Horst hört ihre Antwort nicht mehr:
„Wenn du so lange wegbleibst wie der Harpe Kerkeling auf dem Jakobsweg, dann kommst du um den Besuch meiner Eltern herum.“
Krawuttke ist wieder in seinem Element. Und das heißt Ermitteln. Wer, wo, was, wann und warum? Er hechtet zum Parkplatz, schwingt sich in seine Karosse. Bevor er auf die B53 einschwenkt, fährt er zum Revier, um seine neue Assistentin Helga Scheer einzuladen. Über sein Handy hat er sie informiert. Sie wird draußen vor der Dienststelle auf ihn warten.
Die Scheer kommt wie er aus der Polizeischule Hiltrup bei Münster, weiß also, was Sache ist. Sie ist zehn Jahre jünger als er, dafür hat er die größere Erfahrung. Von Statur wirkt sie etwas rank, aber durchaus sportlich. Schließlich läuft sie neuerdings in der Konzer Marathon- gruppe. Bei zehn Kilometern hat sie noch kein nasses T-Shirt, das kommt erst bei Kilometer zwanzig. Sie wohnt in der Trierer Adolf-Kolping-Straße in einem Appartement- haus. Zudem ist sie Mitglied im Polizei-Sportverein Trier 1926 e.V. und macht dort in der Pellinger Straße ihre Schießübungen am Pistolenstand. Sie ist immer gut drauf, trägt ihren brünetten Pagenschnitt im ansonsten unge- schminkten Kleinmädchengesicht vom Typ Kumpel. Erst vor sechs Wochen wurde sie Krawuttke zugeteilt.
Das Kleinmädchengesicht macht ihm Freude, weil sie unkompliziert und begeisternd an die Fälle herangeht. Dabei produziert ihr Pagenkopf brauchbare Ideen, schnörkellos und logisch zugleich. Auf eine solche Mitarbeiterin hat er schon lange vergebens gewartet. Jetzt sitzt sie bei ihm auf dem Beifahrersitz und konstruiert Lösungsvorschläge.
Krawuttke hört ihr aufmerksam zu, wie ihr Wasserfall aus den durchbluteten Lippen sprudelt. Er denkt für sich, diese gute Fee möchte ich mir warmhalten. Die strickt an meiner Karriere. Sie spricht aus, was ich in meinen kühnsten Träume denke. Wenn ich nicht verheiratet wäre, ich könnte mich tatsächlich in sie verlieben. Beim Anblick ihrer prallen Brüste denkt er an die bayerische Version, nämlich an Gaudi-Nockerln. Wenn das Marie wüsste, sie würde ihm den Hals umdrehen. Gedanken sind zollfrei. Aber er weiß auch, Gedanken sind die Vorläufer von Taten. Das könnte ins Auge gehen.
Als sie in Trittenheim rechts zur Brückenauffahrt einbiegen, sehen sie bereits den Krankenwagen mit umlaufendem Blaulicht. Bis zu ihrem Eintreffen hat sich eine Rotte neugieriger Gaffer versammelt.
Seine erste Amtshandlung heißt: Unfallort absichern und Neugierige hinter die Absperrbänder verweisen. Aber wo ist das Unfallfahrzeug? Hinter der Absperrung macht ein Passant auf sich aufmerksam. Er hat etwas beobachtet. Er ruft:
„Sind Sie die Polizei? Ich hab was beobachtet.“
„Ja, Kripo Trier, kommen Sie mal durch die Absper- rung.“
Der Mann im Trainingsanzug schiebt sein Fahrrad heran und zückt seinen Personalausweis. Krawuttke darauf:
„Das ist gut so.“ Krawuttke hält dem Zeugen seine Legitimation unter die Nase. Dann reicht er den Pass seiner Assistentin, damit sie Adresse des jungen Mannes aufnehmen kann. Sie fragt den Fremden:
„Sind Sie das auf dem Passfoto?“
„Natürlich, warum fragen Sie?“
„Lesen Sie mal bei Ringelnatz nach. Der hat gesagt: Passbilder sind die Rache des Fotografen.“
Krawuttke mischt sich ein:
„Und was können Sie zu dem Geschehen berichten?“
„Ich kam mit meinem Radl oben auf dem neuen Radweg unterhalb der Weinberge, kam vom Campingplatz Neumagen und wollte nach Trittenheim. Da sah ich den silberfarbenen Opel im Affentempo und dachte noch, wenn das einmal gut geht. Es ging daneben. Plötzlich hob der Wagen ab und schleuderte gegen den Fährturm, prallte ab und flog geradewegs in die Mosel. Das Auto war mit zwei Personen besetzt. Jetzt sind die in der Mosel.“
„Haben Sie uns informiert?“
„Ja, mit meinem Handy.“
Das Kleinmädchengesicht Helga Scheer geht wortlos zur Uferböschung in Fließrichtung der Mosel. Sie geht bedächtig über Stock und Stein stromabwärts durch Buschwerk und über unförmig dicke Gesteinsbrocken, die von dem Wasserbau dort als Uferschutz verbracht wurden. Nach zweihundert Meter gestikuliert sie mit ihrem rechten Arm in Richtung Unfallstelle. Krawuttke hat sie während ihrer Suche immer im Augenwinkel, läßt seinen Ge- sprächspartner mit offenem Mund stehen und eilt zu Helga Scheer. Die deutet ins Gebüsch und ruft Krawuttke zu:
„Da liegt ein Körper im Wasser.“
Krawuttke kommt mit zwei Sanitätern zu dem Fundort. Mit vereinten Kräften ziehen sie den leblosen Körper aus dem Fluss, legen ihn an einer seichten Stelle auf das Gras. Der Sanitäter fühlt den Puls des Verunglückten. Er nickt mit dem Kopf. Der zweite Helfer hastet zum Krankenwagen und schleppt Trage und Erstehilfekoffer heran. Dann wird der Blutdruck gemessen. Aha, da ist noch Leben drin. Der Sanitäter befiehlt seinem Kollegen:
„Mensch, hol doch den Sanka hier her. Sauerstoffgerät! Der muß sofort in die Klinik. Den kriegen wir schon wieder hin.“
Während sich die Sanitäter um den halb Toten küm- mern, hängt Helga Scheer an Krawuttkes Arm und zerrt ihn etwas zurück. Sie flüstert ihm zu:
„Sie sollten sich jetzt schleunigst um das Autowrack bemühen. Das liegt doch im Bach. Es müssen Taucher herbei. Möglicherweise ist der zweite Mann noch drin.“
Krawuttke bedankt sich innerlich für diesen Hinweis und denkt, die ist mir immer einen Tick voraus, dieses Teufelsweib. Ich hab mir schon einmal gesagt, die Kleine strickt an meiner Karriere. Wenn der Gerettete tatsächlich überlebt, kann er sachdienliche Hinweise geben über den Unfallverlauf. Vermutlich ist die zweite Person ertrunken, vielleicht im Wrack oder wir finden ihn später in einer Schleuse, falls er aus dem Fahrzeug herausgeschleudert wurde. Vorsichtshalber werden sie aber die Uferböschung einen Kilometer abwärts abgehen und nach ihm Ausschau halten.
Es dauert Stunden, ehe Taucher und ein Bergungsboot am Unfallort eintreffen. Bei der geringen Fließge- schwindigkeit der Mosel von 1 bis 2 Kilometern in der Stunde besteht eine Chance, das Auto zu orten.
Der einsetzende starke Regen verbreitet ein weiteres Unbehagen und sorgt für brackige Pfützen. Irgendwann naht das schmatzende Knattern eines Hubschraubers, der die Wasseroberfläche absucht. Krawuttke vermutet, er hat eine Wärmebildkamera an Bord. Dann scheint der Helikopter auf der Stelle zu stehen. Es dauert nicht lange, da erscheint auch ein Suchboot. Es konzentriert sich auf die vom Heli geortete Stelle. Jetzt kommt das Kranschiff bei, läßt stabile Drahtseile mit Haken in die unschuldige Moselbrühe. Krawuttke denkt, hier war Gott außer Rufweite. Da kommt keiner lebend heraus.
Das sind Augenblicke, wo das Pochen zwischen den Augen spürbar wird. Hier ertrinken sogar die Gedanken in der Mosel. Es rührt selbst den hart gesottenen Kriminal- beamten an. Sogar die sonst so wortreiche Assistentin Scheer, sonst lachlustig und plapperhaft, hält ihren süßen Schnabel. Selbst bei ihr nisten sich gestaute Gefühle von Betroffenheit unter der Haut ein. Sie spürt, zumindest für eines der Opfer ist kein Platz an der Sonne mehr vorhan- den. Für ihn war die Sonne bereits untergegangen. Für die junge Helga Scheer ist das eine erste praktische Erfahrung als angehende Kriminalkommissarin. Sie weiß, es wird nicht ihre letzte sein.
Die beiden Taucher verschwinden von der Wasserober- fläche. Das Letzte sind ihre Flossen, bis auch sie mit einem nassen Gruß außer Sichtweite geraten. Alle Augen starren viel zu lange zur vermuteten Position, bis endlich ein Taucher wieder erscheint und den rechten Arm hebt zum Zeichen für den Kranführer. Der wartet noch, bis auch der zweite Taucher erscheint, bevor er mit der Bergung des Wracks beginnt.
Das Schmatzen des Helikopters über dem Bergungsort wirkt gespenstig wie im Fernsehkrimi. Die Rotoren fegen ihren Luftstrom wie unsichtbare Straßenbesen über die Wasseroberfläche. Endlich hebt sich langsam eine Stoßstange mit der Heckflosse des silberfarbenen Opel aus den Fluten. Ein Wasserfall ergießt sich aus dem Fahrzeug. Die Fahrertür ist geöffnet. Der Kran bewegt sich bedächtig in Richtung Ufer. Jetzt läßt der Kranführer das Wrack ausfluten, bevor er es am Ufer ablässt.
Krawuttke und Co krabbeln zum Opel und schütteln beide mit dem Kopf. Der zweite Mann ist verschwunden. Der Opel ist schrottreif. Auf der Uferstraße wartet der Abschleppwagen. Zwei Helfer hieven das Unfallfahrzeug mit Seilwinden aus der Hanglage. Der Hubschrauber hat sich verabschiedet, sein Knattern wird leiser, bis er hinter der nächsten Flussbiegung oberhalb von Trittenheim in Richtung Trier verschwindet. Das Autowrack ist bereits auf dem Weg nach Trier. Die KTU wird sich darum kümmern. Krawuttke grübelt in sich hinein: Irgendwo treibt jemand über den Grund in Fließrichtung den nächsten Schleusen entgegen. Traurig und abenteuerlich sogleich.
Auf dem Rückweg sucht er in Trier einen Blumen-laden. Seine, wieso meine, Helga Scheer fragt:
„Blumen sind für eine Beerdigung doch wohl zu früh, oder meinen Sie das nicht auch?“
„Stimmt. Aber die sind für meine Schwiegermutter und für meine Frau. Ich hab noch was gutzumachen.“
„Aha, Drachenfutter!“
„Lassen Sie das. Das geht Sie nichts an!“
Krawuttke denkt bei sich, du bist zwar eine begeh- renswerte Person, aber doch eine dumme Kuh. Was nützt ein schönes Äußere, wenn aus einem süßen Kuss-mund nur Blech herauskommt. Die musste sich während ihrer Ausbildung auf der Polizeischule gewaltig am Riemen reißen, sonst hätte sie die Prüfung nicht geschafft. Oder dahinter verbirgt sich ein ausgeprägtes Schauspie- lertalent.
Zwei Wochen danach wird in der Schleuse Wintrich eine männliche Leiche geborgen. Kein schöner Anblick für den Hauptkommissar. Aufgedunsen, kaum noch als mensch- liches Wesen erkennbar. Erst der DNA-Abgleich bringt Gewissheit. Es handelt sich um die zweite Person aus dem Schrottauto. Ein Schock für die Eltern des 21jährigen Jünglings und große Trauer und Bestürzung im Ort. Die Menschen empfinden das entsetzlich. Der Tote war Halter und Fahrer des Unglückswagens. Sein Freund und Beifahrer liegt noch in der Klinik, wird seine Verletzungen überstehen, aber seine Seele ist schlagartig erwachsen geworden und wirft einen tiefen Schatten auf seine Zukunft.
Krawuttke und seine Assistentin haben am Krankenbett im Spital lediglich herausbekommen, dass der Fahrer in der Manier von Michael Schumacher unterwegs war. Er sagt zu dem Kripomann:
„Die Fahrt war geil – aber leider tödlich.“
Krawuttke drückt ihm die Hand zum Abschied und wünscht gute Besserung. Noch auf dem Flur meint er:
„Die Welt steckt voller Idioten. Und wir sind mittendrin. Das sind Tage, an denen ich meinen Beruf hasse.“
„Ich auch“, meint die vorlaute Helga Scheer.

Nachdem Krawuttke seine Assistentin im Revier abgesetzt hat, macht er sich auf den Weg nachhause. Es ist eh wieder spät geworden. Morgen ist auch noch ein Tag. Jetzt, da er das kleine Plappermaul losgeworden ist, entblättert er seine wolkig verpackten Gedanken. Was hatte Marie ihm noch sagen wollen? Habe ich richtig gehört, Schwanger- schaft? Noch hat er seine Gedanken mit einem Schutzwall umgeben. Sie schwanken wie die Flamme im Durchzug.
Kommt Freude auf? Oder Wankelmut? Vielleicht auch Stress, weil dann die Schwiegereltern noch öfter in seinem Heim auftauchen. Er denkt an seine Vierzimmerwohnung, wohin mit dem Kinderwagen. Wenn das wirklich stimmt, dann muß er sich auf seine Vaterrolle zeitig einstimmen. Das bedeutet eine zusätzliche Verantwortung.
Er chauffiert seinen fahrbaren Untersatz in seine Parkbox vor dem Haus, zieht die Handbremse an, stellt den Motor ab, löst den Haltegurt und steckt den Zündschlüssel in seine Rocktasche. Die beiden Blumensträuße in Zello- phan, einmal rote Rosen für die werdende Mutter seiner Tochter (er ist ganz sicher, dass er eine Tochter bekommt) und ein Strauß gelber Tulpen für seine Schwiegermutter nimmt er vom Rücksitz, klickt mit dem Autoschlüssel den Schließknopf seines heiß geliebten Golf mit dem Kosena- men „Ali“ und geht mit geschwellter Brust ins Treppen- haus. Er nimmt nur jede zweite Stufe und betritt im ersten Stockwerk seine Wohnung.
„Hallo, der angehende Papa ist da!“ Dabei ruft er diesen noch nie ausgesprochenen Satz mit gehobener Stimme und hält die Blumensträuße hinter sich. Niemand hört offenbar sein bewusst optimistisches Palaver. Er geht durch die Wohnung und entdeckt auf dem Küchentisch einen Zettel: Bin mit meinen Eltern in der Stadt im Café Mohr in der Fleischstraße.
Krawuttke denkt: Na, das fängt ja gut an. Schon ist der Besuch da, und schon regiert er in unser Leben hinein.
Der erste Gang führt ihn zum Kühlschrank. Die erste Flasche Pils wartet schon auf ihn. Er trinkt Bier nur aus dem Glas. Schließlich ist er kein Bauarbeiter. Soviel Kultur muß sein. Der nächste Weg führt ihn zum Fernseher. Wenn schon niemand da ist, dann läßt er sich wenigstens vom Bildschirm unterhalten. Er ärgert sich über die Werbung, zappt weiter zu den Öffentlichen. Auch nur politisches Palaver. Endlich findet er im Sportkanal Fußball. Wiederholungen aus der Champions-Ligue.
Gerade als ein Bilderbuchtor im Kasten von Real Madrid landet, vernimmt er Stimmen im Flur. Er dreht den Ton leiser und stößt im Flur auf seine Schwiegereltern, die vor der Toilettentür besorgt miteinander reden. Während er auf sie zugeht und seine Hand zum Gruß ausstreckt, hört er aus der Toilette Würgen und Erbrechen seiner Frau Marie. Er fragt seine Schwiegermutter:
„Ihr seid im Café gewesen, habt ihr etwas Falsches gegessen?“
„Aber nein, deine Frau ist schwanger. Ihr Körper stellt sich auf das Kind ein. Das geht manchmal nicht ohne Erbrechen ab. Das wird noch öfter vorkommen, vor allem in den ersten Monaten.“
„Das sind ja schöne Aussichten.“
„Eine Schwangerschaft ist keine Krankheit. Diese Schwierigkeiten hatte ich mit der Marie auch.“
Jetzt erscheint Marie mit gerötetem Gesicht und mit einem Handtuch in der Hand. Damit wischt sie ihren Mund ab, lächelt wissend und ganz süß ihren Horst an. Der nimmt sie in den Arm und küsst sie.
„Liebe angehende Mutter, liebe Schwiegermutter und du lieber Schwiegervater, jetzt kommt mal rein ins Wohn- zimmer. Ich hab euch eine Kleinigkeit zur Begrüßung mitgebracht.“
Drinnen schnappt er sich die Blumensträuße.
„Die Rosen sind für meine Frau und die Tulpen für die angehende Oma. Und für den angehenden Großvater steht schon eine Batterie Pils im Kühlschrank.“
Jetzt ergreift Marie´s Mutter das Wort. Dafür ist sie bekannt und wird auch gar nicht anders von ihr erwartet.
„Stopp mit dem Bier, meine Herren. Ein solcher Anlass verlangt nach einer Flasche Rieslingsekt. Ich hab gesehen, da lagern irgendwo noch sechs Flaschen aus Leiwen mit einem goldenen Etikett. Es wäre jammerschade, wenn wir die Gewissheit eines Enkelkindes mit gewöhnlichem Bier begießen würden. Oder seid ihr anderer Meinung?“
Das läßt sich Krawuttke nicht zweimal sagen. Eine Pulle liegt bereits im Kühlschrank. Die entnimmt er und legt sogleich eine aus dem Karton in den Froster. Marie besorgt vier Sektkelche. Horst Krawuttke öffnet mit geschickter Hand die Flasche und gießt ein. Horst fragt:
„Auf was trinken wir, auf eine Tochter oder auf einen Sohn?“
„Natürlich auf eine Tochter,“ schießt Rosemarie, Marie´s Mutter zurück. Horst Krawuttke kontert sofort und plädiert für einen Sohn.
„Und wie wollen wir unseren Sohn nennen?“ Marie findet Maximilian schön. Horst hingegen meint:
„Krawuttke ist schon ein bescheuerter Name, ist viel zu lang. Da passt doch nur ein kurzer Vorname, zum Beispiel Max.“
Jetzt schaltet sich Walter, der Schwiegervater ein mit einem nicht ganz ernst gemeinten Vorschlag.
„Wenn du deinen bescheuerten Namen ändern läßt, in Graf Wuttke und als Vorname Walther mit „th“, hört es sich sehr vornehm an.“ Er erntet allgemeines Gelächter. Seitdem nennt Marie ihren Horst scherzhaft Graf Wuttke. Horst hingegen warnt davor, das einen Außenstehenden wissen zu lassen, weil er dann Gefahr läuft, diesen Spitznamen zeitlebens zu behalten.
Sollte es eine Tochter werden, dann hätte er gerne eine Rosi, weil dann beide Großmütter zufrieden wären, zumal seine Mutter ebenfalls Rosemarie heißt. Marie schaltet sich ein und meint:
„Noch wissen wir nur, dass ich ein Kind bekommen werde. Die Namensgebung spielt heute noch keine Rolle. Lasst uns das vertagen bis nach der Geburt.“
Dieser Vorschlag wird durch allgemeines Kopfnicken akzeptiert. Krawuttke hat morgen einen verdammt schwierigen Tag. Kritikgespräch bei seinem Vorgesetzten. In Wirklichkeit ist er gar nicht richtig bei der Sache. Marie hat das sicher bemerkt. Sie kennt ihren Horst „Graf Wuttke“ und hat deshalb diesen Vorschlag gemacht.
Aber sie kann es nicht lassen. Sie löchert ihn mit Fragen nach dem Mörder im Römerweinschiff. Er muß zugeben, dass er bisher noch keine Recherchen angestellt hat. Die drei Mann Besatzung wird wohl kaum auf die Idee verfal- len, Gäste umzubringen. Das leuchtet ein. Dennoch wird er sich die Neumagener Bürger vorknöpfen müssen. Vielleicht können die ihm weiter helfen. Als Marie ihren Mann sogar im Beisein seiner Schwiegermutter darauf anspricht, flippt Krawuttke aus:
„Das hab´ ich gern. Jetzt hast du dir sogar mit deiner Mutter Schützenhilfe geholt. Merke dir ein für alle Mal, ich bin der Kriminalbeamte und nicht du!“
„Ich glaube, dein Nervenkostüm ist überstrapaziert. Du bist mimosenhaft empfindsam. Du solltest dankbar sein für jeden Hinweis. Wir alle, meine Eltern und ich sind stolz auf dich und auf deine beruflichen Erfolge. Wir wollen dir helfen. Manchmal haben Außenstehende eine andere Betrachtungsweise.“
„Mit Hausfrauenlogik, Suppentopfweisheit und Kaffeekränzchengeplauder kann ich nichts anfangen.“
„Nein, dir fehlt nur Geduld. Geduld ist das Einzige, was man verlieren kann, ohne es zu besitzen.“
„Deine klugen Sprüche haben mir gerade noch gefehlt.“ Kaum ausgesprochen verlässt Krawuttke das Wohnzimmer und sucht in der Abgeschiedenheit seines Arbeitszimmers hinter dem Schreibtisch seinen Wippstuhl mit Armlehne auf. Das ist ein bevorzugter Platz zum Nachdenken. Hier fühlt er sich ungestört. Er nimmt ein leeres Blatt und seinen Kugelschreiber, sieht an die Decke. Doch dort entdeckt er nur die weißen Deckenpaneelen. Bevor er sein Gehirn in Gang setzt, zündet er einen Glimmstängel in Brand. Diese Methode hat ihm schon oft auf die Sprünge geholfen. Er notiert seinen geplanten Ablauf für den morgigen Tag. Was wird er seinem Vorgesetzten antworten?“ Am besten schildert er ihm den genauen Ablauf über die Leiche auf dem Römerweinschiff. Dann den Autounfall bei Tritten- heim, bei dem eine Person vermutlich in der Mosel ertrunken ist. Hier kann er auf seine neue Assistentin Helga Scheer verweisen, die mit ihrem munteren Mund- werk seine Angaben untermauern wird. Soviel hat er jetzt schon herausgefunden. Bei dem geretteten Beifahrer war kein Alkohol im Spiel. Ob der Fahrer betrunken war, wird sich wohl nie klären lassen.
Plötzlich entdeckt er auf seinem Blatt Papier tatsächlich eine Ansammlung von Stichpunkten, die er ins Feld führen kann. Nach der befürchteten Standpauke wird er abermals nach Neumagen fahren, um dort Zeugen zu vernehmen. Er hat sich vom dem Neumagener Doktor die Namen der Schiffsbesatzung besorgen lassen. Er erhofft sich von den Gesprächen neue Erkenntnisse.
Nach einer Stunde ist er mit sich zufrieden. Das einst leere Blatt auf seinem Schreibtisch ist nicht mehr jungfräu- lich. Er faltet es säuberlich der Länge nach und noch einmal zum DIN-A6-Format und steckt es in seine Gesäßtasche. Damit hat er genug Futter für sein Gepräch mit dem Alten. Krawuttke ist für heute mit sich zufrieden.

Der Konflikt im Hause Krawuttke spitzt sich zu. Die Schwangerschaft wird von unerwarteten Beschwerden der Übelkeit begleitet. Sie übergibt sich mehrmals am Tag, wird aber gleich darauf wieder von sonderbaren Gelüsten regelrecht überfallen. Die äußern sich in übermäßigem Konsum von Apfelsinen, die sie genüsslich schält und die einzelnen Stücke auf einem Dessertteller in Zucker wälzt, bevor sie ihren süßen Schnabel aufmacht und drei Früchte mit Wonne verzehrt. Das ginge ja noch an, denkt Krawutt- ke. Aber dass sie jeglichen Geschlechtsverkehr verwei- gert, zum Schutz des ungeborenen Kindes, wie sie es begründet, das geht dem angehenden Vater zu weit. Der Geschlechtstrieb ist doch ein von Gott gewollter natür- licher Trieb, der nicht einfach neun Monate auf Eis gelegt werden kann. Krawuttke kann ja verstehen, dass es ab dem fünften oder sechsten Monat angebracht ist, Absti- nenz zu üben. Das Rauchen aufgeben hält er für leichter. Er grübelt nach, weiß nicht, wie er seine Potenz zügeln soll. Sie ist nun mal da. Wohin damit? Er denkt an die vielen jungen Priesterseminaristen und überhaupt an die Geistlichkeit. Die müssen ja auch abstinent leben. Aber da fällt ihm der Ausdruck Pastorentöchter ein. Der kommt doch nicht von ungefähr. Seine Marie bleibt eisern. Alle Annäherungsversuche wehrt sie vehement ab, deutet auf ihren Bauch, auf dem noch gar nichts zu sehen ist. Will sie ihn nur auf die Probe stellen? Er wird unzufrieden mit diesem Zustand. Das kann es doch nicht sein. Wenn er das vorher gewusst hätte, dann hätte er lieber doch ein Kondom benutzt. Aber davon hielt seine Marie nichts. Das ist, so denkt der verstoßene Kriminalist, die weibliche Falle. In den folgenden Wochen beginnt im Hause Krawuttke eine neue Eiszeit. Beide fühlen sich beleidigt und gehen auf Distanz. Jetzt fühlt er sich nur noch zufrieden bei den ungelösten Fällen auf seinem verwilderten Schreibtisch im Revier, während sich Marie mit Spezialliteratur über die Schwangerschaft beschäftigt. Sie wälzt in dicken Katalogen nach Kinderwagen, Babynahrung und Strampelhosen. Außerdem strapaziert sie das Telefon mit Anrufen zu ihren Eltern, fragt nach Ratschlägen und Verhaltensmaßnahmen. Von dem Spannungsfeld zwischen ihr und ihrem Horst sagt sie nichts. Das will sie allein durchstehen. Helga Scheer sitzt an ihrem aufgeräumten Arbeitsplatz und beobachtet das unwirsche Gesicht von Horst Krawuttke durch die die Glasscheibe. Sie grübelt in sich hinein und denkt: Dem ist bestimmt eine Laus über die Leber gelaufen. Der brütet doch etwas aus. Doch was mag das sein? Es bedrückt ihn etwas. Das muß ich herausfinden. Vielleicht hängt das mit einer Krankheit zusammen, ein Leiden? Oder er hat private Sorgen. Mit seinem Beruf kann es nicht zusammenhängen. Das wüsste ich. Ich werde mich mal um ihn kümmern. Mit den Waffen einer Frau kann ich vielleicht hinter die Geheimnisse seiner Trübsal kommen. Wie in anderen Büros fühlen sich Frauen auch im Polizeirevier berufen, die Kaffeemaschine zu bedienen. Helga Scheer nutzt diese unverfängliche Gelegenheit, ihren Hauptkommissar mit einer frisch aufgebrühten Tasse des italienischen Kaffees zu verwöhnen. Sie weiß, wie er ihn mag. Ohne Zucker. Wenig Milch. Ungefragt bringt sie Krawuttke das Gebräu. „Genau das ist jetzt die richtige gute Tat,“ sagt Krawuttke. „Sie können tatsächlich Gedanken lesen. Mal wieder ein Beweis für Ihre psychologisch trainierte Handlungsweise. Sie denken mit, wissen, wo es fehlt. Das gefällt mir an Ihnen.“ „Sonst nichts“, fragt die Scheer schnippisch. „Sie wollen mich wohl in Verlegenheit bringen.“ „Wenn ich gewusst hätte, dass mein Kollege so rasch unsicher wird, dann wäre ich doch lieber das kleine brave Mädchen.“ Als sie das von sich gibt, lächelt sie so gewinnend, dass Krawuttke das mit einem Augenzwinkern quittiert. Er merkt, es ist eine einzige Koketterie. In seinem Kopf geht eine Warnampel an. Am nächsten Morgen bringt sie ihm sogar das Frühstück mit. Wurstbrot mit Schwartemagen und Leberwurst. Dazu eine saure Gurke, Messer und Gabel sowie eine rote Serviette. Krawuttke ist verblüfft und fragte: „Woher wissen Sie, dass ich zuhause nicht gefrüh- stückt habe?“ „Intuition, einfach weibliche Gefühlswelt.“ Krawuttke wird verlegen und denkt sich: Die geht aber ran. Vorsicht!

Die Vorladung beim Trierer Kriminalrat, bei dem er sich heute eine saftige Abreibung oder vielleicht sogar eine unausweichliche Rüge mit möglicher Demissionierung abholen wird, hält er vor seiner Marie geheim. Es ist für ihn ein Gang nach Canossa. Wenn das in die Hose geht, wirft er den Bettel hin, will dann nicht mehr leben. Aber wer trinkt dann all die Weine und Biere? Er wächst über sich hinaus und will doch weiterleben, auch wenn er dann den Kampf der Geschlechter bis zum bitteren Ende durchstehen muß.
Im Heiligtum, dem Dienstzimmer des Kriminalrates Benrath, herrscht zunächst Stille, die Krawuttke den Atem raubt. Was mag ihn in den nächsten Minuten erwarten? Sein Gegenüber scheint diese wortlose Ruhe zu genießen. Der Alte misst Krawuttke mit Blicken. Krawuttke registriert lediglich seinen eigenen Pulsschlag an seinen Schläfen. Gleich wird sich ein Gewitter entladen, denkt er in banger Erwartung. Er räuspert sich. Dann endlich schnauft der Alte und beginnt seinen Vortrag:
„Bei der Leiche im Römerweinschiff handelt es sich überhaupt nicht um einen Menschen, sondern um eine Wassernixe mit einer ausgewachsenen Schwanzflosse. Sie sind einer mythologischen Figur auf den Leim gegangen. Sie ist halb Mensch, halb Fisch und mag eine Tochter des Poseidon sein. Sie hätten einfach die Wolldecke von ihrem Unterleib entfernen müssen, dann wäre Ihnen die Schwanzflosse sofort aufgefallen. Aber wann beschäftigt man sich mit dem Unterleib einer Frau? Doch bestenfalls im Bett.“
Die letzte Bemerkung verpackt er mit einem leichten Schmunzeln. Krawuttke schmunzelt pflichtgemäß mit. Dann fährt sein Vorgesetzter fort:
„Fischmenschen haben meist Arme und Beine, ansons- ten aber Ähnlichkeiten und Fähigkeiten von Fischen. Sie sind übermenschlich stark, sind natürlich Extremschwim- mer und größer als Menschen. Sie können über Wasser und unter Wasser atmen, unter Wasser mit Kiemen und an Land mit Lungen. Deshalb konnte sie auch überleben. Selbst in der Kühlkammer des Instituts, denn Fische existieren auch in eisigen Gewässern.
Sie verbergen sich gerne in den Schleusenkammern, weil es in der Mosel keine Meereshöhlen gibt. Was Sie nicht einmal in Ihren Träumen vermuteten, war die mystische Existenz der Wassernixe. Immer, wenn sie das Element Wasser verlässt und an Land Luft atmet, verwan- delt sich der Fischkopf in einen Frauenkopf. Die Kiemen verschwinden nach innen, und ein der Lunge ähnliches Organ erhält sie am Leben. Selbst die Schwimmflossen mutieren zu Armen und Hände. Nur reden kann sie in keiner Sprache. Es sind nur unartikulierte Laute, die sie von sich gibt. Die Wissenschaft steht vor einem Rätsel. Wo nimmt sie ihre Energie her? Es ist kein Pulsschlag zu spüren. Es muß also ein Kreiselsystem geben, das keinen Herzschlag verursacht. Stammt sie etwa von einem anderen Stern?“
Eigentlich wollte Krawuttke nach dieser Erkenntnis nicht mehr leben. Er schämt sich so sehr für seine Leichtfer- tigkeit, mit der er den Fall angegangen ist. Er will seinen Beruf aufgeben und weit weg, am liebsten auswandern, wo ihn keiner kennt. Und wenn er auch dort scheitert, will er sich umbringen, einfach weg von dieser buckeligen Welt.
Aber nach diesem Vortrag schöpft er wieder Hoffnung, vor allem der Schlusssatz seines Vorgesetzten hat ihn innerlich wieder aufgebaut:
„Herr Krawuttke, mit der Entdeckung der menschen- ähnlichen Wassernixe gehen Sie in die Annalen der Wissenschaft ein. Machen Sie sich darauf gefasst, Sie werden von den Medien zu Interviews eingeladen, zu Talkshows und Expertenrunden. Ich bin stolz auf einen solchen Mitarbeiter.“
Krawuttke erlebt einen Anflug von Wärme. Sofort bekommt sein Gesicht wieder Farbe. Zum Schluss bekommt er doch noch einen kleinen Dämpfer von seinem Vorge- setzten:
„Aber, werden Sie jetzt nicht größenwahnsinnig. Die Sache mit dem Alten im Weinberg oberhalb der Geyersley geht uns überhaupt nichts an. Das ist Sache der Kollegen aus Bernkastel-Kues. Wir wollen in Zukunft die Zustän- digkeiten einhalten!“
Krawuttke wollte seinem Vorgesetzten nicht wider- sprechen. Er ist nicht umsonst zur Geyersley gefahren, er wollte doch nur den Neumagener Doktor sprechen, um sich mit dem über die Schiffsbesatzung des Römerweinschiffs auszutauschen.
Später erfährt das ganze Polizeirevier von dem größten Fang an der Mosel. Ein Fisch, der sich menschenähnlich verwandelte. In Krawuttkes Kopf tummeln sich, nein, überschlagen sich Überlegungen, wie das Monster in den Holzkahn gelangt sein könnte. War´s Übermut dieser Kreatur, wurde sie von einem Angler an Land gezogen, der sie im Innern des Schiffkörpers nur versteckt hielt, oder war es die große Sehnsucht der Wassernixe nach längst verflossenen Römerzeiten? Wenn dem so war, dann müsste sie steinalt sein. Oder war er nur einem Phantom auf den Leim gegangen?
Krawuttke schlittert in ein nächstes Dilemma. Sein Vorgesetzter sprach von Interviews in Presse, Rundfunk oder gar Fernsehen. Er ist zwar nicht auf den Mund gefallen, dennoch fehlt ihm die Routine im Umgang den Medien. Schreiben konnte er früher bereits. Er kann sich noch gut erinnern, als er noch Horoskope für eine kleine Zeitung erfunden hatte. Da bediente er sich eines Tricks. Er kaufte sich die aktuellen Zeitschriften der Regenbogen- presse und formulierte lediglich die Texte sinngemäß mit eigener Wortwahl um. Sein schlechtes Gewissen wurde einmal im Monat mit einem bescheidenen Honorar besänftigt. Das fand er einfacher als Kellnern oder Zeitungen austragen. Auch das Abfassen von Polizei- berichten bereitet ihm keine Schwierigkeiten. Nach dem alten journalistischen Motto: Wer, was, wann, wo und wie trifft er immer auf den genauen Sachverhalt. Wenn er dann noch das Warum erläutern kann, wobei er den Juristen ein Motiv liefert, fällt nicht selten sogar eine Belobigung für ihn ab.
Jetzt erst bemerkt Krawuttke, dass seine Gedanken mit ihm auf Reisen gehen. Noch sitzt er ja seinem Vorgesetz- ten gegenüber. Es schickt sich nicht, in diesem Augenblick Gedankengebilden nachzuhängen. Der Kriminalrat Ben- rath bringt ihn in die Gegenwart zurück:
„Herr Kollege, draußen sitzt eine bemerkenswerte ältere Dame, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Krypto- zoologie. Sie hat Medizin studiert und sich später der Wissenschaft verschrieben, spricht mehrere Sprachen und forscht heute noch in der Allmystery, wenn Sie wissen, was das bedeutet.“
Krawuttke schüttelt beschämt sein Haupt.
„Tschuldigung, aber was hat die mit dem Mord zu tun?“
„Es war kein Mord. Die Kreatur lebt.“
„Aber der Doktor hat doch überhaupt keinen Puls mehr messen können.“
„Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die kann auch ein studierter Mediziner nicht beurteilen. Mediziner sind Realisten. Sie leben ihren Lernstoff.“ Krawuttke macht Rätselaugen und traut seinen Ohren nicht. Sein Gegenüber holt weiter aus:
„Wenn Sie sich mal schlaumachen über die Mutation von Mensch und Tier werden Sie feststellen, dass die Säugetiere aus dem Meer kommen. Das liegt evoluti- onstheoretisch auf der Hand. Alle Landtiere stammen aus dem Wasser, also auch der Affe und der Mensch. Vielleicht war es auch nur ein Gendefekt. Dem Schöpfer kann doch auch mal was daneben gehen. Die Robben gehen noch immer zur Fortpflanzung und zur Aufzucht an Land. Die Urwale waren schon echte Wasserbewohner und hatten noch funktionstüchtige Hinterbeine. Das war vor 40 Millionen Jahren. Fünf Millionen Jahre danach waren bei dem Urwal die Hinterbeine schon zurückgebildet zur Flosse, und sein Körper hatte die Stromlinienform eines Fisches.“
Der aufmerksame Kriminalhauptkommissar erstarrt vor soviel Spezialwissen seines Vorgesetzten. Er fragt ihn und wird ein wenig verlegen:
„Ich bin erstaunt, das lernt man doch nicht bei der Polizei. Wo haben Sie diese Erkenntnisse erworben?“
„Das ist fürwahr eine Überraschung für Sie. Draußen sitzt eine nicht mehr ganz junge Dame, eine Professorin, die sich zeitlebens mit solchen Dingen befasst hat. Das Thema ist zwar unter Wissenschaftlern umstritten. Sehr sogar. Aber Sie sollten sich das mal anhören.“ Dabei erhebt er sich, geht zur Tür und bittet eine Frau mittleren Alters herein.
Die Dame ist elegant gekleidet, aber nicht protzig, hat graues langes Haar, das sie als Pferdeschwanz mit einer schwarzen Samtschleife gebunden hat. Sie kommt auf beide zu und begrüßt sie mit Handschlag. Dabei blickt sie in Krawuttkes Augen, als ob sie einen alten Bekannten begrüßen wollte. Krawuttke ist wie vom Donner gerührt. Diese glühenden Augen kennt er doch, auch die braunen Sprenkel. Aber wieso ist sie jetzt jünger und überhaupt nicht zerlumpt? Er zweifelt an seinem Verstand. Die Professorin bemerkt sofort Krawuttkes innere Verwor- renheit. Sie spricht zu ihm:
„Sie kennen mich nur in meiner Tarnung. Das ist wichtig für mich und für meine Arbeit. So bleibe ich im Bewusstsein der Menschen unauffällig. Damit Sie mir glauben, schnippe ich jetzt nur für Sie mit Zeigefinger und Daumen. Sehen Sie, jetzt bin ich wieder die alte, runzlige und unansehnliche Gestalt, die Sie am Römerweinschiff in Neumagen und an der Geyersley auf der Terrasse wahrgenommen haben. Und jetzt mutiere ich mich ebenfalls durch das Finger- schnippen wieder zurück in den vorherigen normalen Zustand. Machen Sie den Mund zu. Ich bin keine Zauberin. Es hat viel Energie gekostet, dieses Kunststück zu erlernen. Verraten werde ich diese Methode allerdings nicht. Nur soviel: Es hat etwas mit Hypnose zu tun.“
Krawuttke glaubt, er ist in einem falschen Film. Er fühlt sich in die Welt eines Harry Potter versetzt. Das darf er seiner Marie nicht erzählen. Die erklärt ihn für verrückt. Dann sieht er fragend seinen Vorgesetzten an.
Der tut so, als sei nichts Ungewöhnliches passiert. Ob der wohl ebenso die Verwandlung der Professorin erlebt hat? Er hat Hemmungen, ihn in Anwesenheit der sonder- baren Frau danach zu befragen. In seinen Überlegungen wird er von der Professorin unterbrochen. Sie kommt noch einmal auf ihr Spezialgebiet zurück:
„Sie müssen nämlich wissen, ich bin schon ein Jahr- zehnt hinter dem Phänomen her. Immer wieder ist mir der Fischmensch entkommen. Mit meiner Sonde konnte ich ihn orten von der Nordsee über die Mündungsarme des Rheins bis nach Duisburg. Dort suchte er Unterschlupf in den großen Hafenbecken. Vermutlich hatte er sich dort ausgeruht. Eines Nachts verschwand er spurlos. Zu Gesicht bekommen hatte ich ihn bislang nicht. Lediglich meine Sonde zeigte mir seine Position an. Es dauerte eine Weile, bis mein Piepmatz, so nenne ich das Gerät liebevoll, im Kölner Hafen am Schokoladenmuseum wieder zu arbeiten begann. Doch schon am nächsten Morgen war er wieder verschwunden. Er muß wohl seine Lachsroute stromauf- wärts beibehalten haben. Meine Vermutung war richtig. Am Deutschen Eck bei Koblenz wechselte er aber in die Mosel. Das erfreute mich außerordentlich, denn durch die vielen Schleusen wuchs meine Chance, ihn endlich zu Gesicht zu bekommen.“
„Sind Sie denn sicher, gnädige Frau“, unterbricht der Kriminalrat ihre Rede, „dass es sich bei dem Fund im Römerweinschiff um das gesuchte Objekt handelt?“
„Das Objekt, wie Sie es nennen, ist die Krönung meiner Forschungsarbeit. Ja, ich bin todsicher, endlich am Ziel zu sein. Ich werde darüber eine Dissertation schreiben. Damit werde ich die Welt in Staunen versetzen.“
Krawuttke erstarrt erneut in Hochachtung und stellt sich in Gedanken vor, wie er mit der Professorin im Fernsehstudio sitzt vor einem erlauchten Kreis von Wissenschaftlern. Er sieht schon die Kameras, Schein- werfer und Kabelstränge, das übliche Glas Wasser vor sich und bedauert, dass er sich mit Wasser nicht seinen Gaumen tapezieren kann. Mit Wein ginge das schon eher. Doch das Wässerchen wird er überstehen. Wenn schon im Fernsehen, dann wird er diese eine Stunde in der hochka- rierten Gesprächsrunde schon schaffen.
Krawuttke verlässt gedankenverloren das Polizeirevier. Um ein Haar wäre er über eine rote Ampel stolziert. Doch sein Schutzengel hat ihn in letzter Sekunde zurückgehalten. Als er das begreift, schaut er dankbar zum Himmel und wird sogleich von hinten angerempelt, weil die Ampel auf Grün umgesprungen ist.
Er ist davon überzeugt, sein Stellenwert im Trierer Polizeipräsidium wird nach der Ausstrahlung im SWR an Bedeutung steigen. Auch im häuslichen Bereich kann er sich vor seiner Marie profilieren. Sie liebt es, wenn ihr Gatte in der Öffentlichkeit Punkte sammelt. Ja, sie ist regelrecht versessen darauf. Falls er sich vor der Kamera verhaspelt oder wirres Zeug von sich gibt, muß er mit Schelte oder Häme rechnen. Sie möchte doch so gerne im Kaffeekränzchen vor den Rommeedamen glänzen. Sie will die Sendung sogar aufnehmen und ihren Eltern eine DVD schicken.
Zuhause angekommen wird er, noch bevor er seine Marie begrüßen konnte, von ihr mit einem Wortschwall überfallen:
„Na was ist, hast du deinen Text für das Fernseh- interview fertig? Lass mal hören! Ist das auch alles mit dem Sender abgestimmt? Dass du mir nur ja nicht stotterst! Wenn das ein Reinfall wird, trau ich mich nicht mehr unter die Leute.“
„Lass´ das Marie, ich bin kein strahlender Held. Helden gibt es in Chicago, in Neapel oder in Sizilien beim Umgang mit der Mafia, aber nicht in Trier. Dennoch habe ich einen verdammt harten Job. Das kann nur ermessen, der selbst involviert ist. Da ist Intelligenz gefragt und Einfühlungs- vermögen, Psychologie, auch Härte, wenn´s sein muß. Entschlossenheit, Mut, Weitsicht, Gesetzestreue, keine Alleingänge, keine Rachegefühle. Du musst vor dir selbst bestehen können. Nein, ich habe noch niemanden totgeschossen, kampfunfähig ja, aber in Notwehr, um Unschuldige zu schützen. Von alldem werde ich keinen Ton in dem Fernsehstudio sagen. Das geht niemand draußen an den Bildschirmen etwas an.“

Am Ende wird die Professorin mit hässlichen Bisswunden am ganzen Körper tot im wissenschaftlichen Institut vorgefunden. Ihre Dissertation ist verschwunden. Die lag doch gestern noch auf ihrem Schreibtisch. Doch oh Schreck. Sie hatte vergessen, ihre Aufzeichnungen auf dem Computer zu speichern. Das ist ein unverzeihlicher Fehler und ein unermesslicher Verlust für die ganze Menschheit.
Was noch schwerer wiegt, ist das Verschwinden des Ungeheuers mit den menschlichen Zügen und den Fähigkeiten eines Fisches. Nach dem gewaltsamen Tod der Professorin wird das Fernsehinterview abgesagt, weil ihre Erkenntnisse jetzt für alle Zeit der Menschheit verschlos- sen bleiben. Krawuttkes Zufallsfund reicht nach Angaben des Senders nicht, eine Ausstrahlung zu rechtfertigen. Aber der Gerichtsfotograf hat Bilder der lebenden „Leiche“ geschossen, bekommt jedoch einen Riesenärger, weil er diese Bilder an BILD verkauft hat. Auf diesem Weg gelangt auch ein Foto von Krawuttke in das Blatt, das im Hinter- grund das Neumagener Weinschiff zeigt. Jetzt hat auch Krawuttkes Frau Marie ihre Sensation. Die Trierer Redak- tion des Volksfreund schmollt mit der Polizeibehörde, weil sie die Fotos einen Tag zu spät erhalten hat. BILD war eben schneller. Das schmerzt einen Journalisten. Dafür hat der aber seine Leser mit Fakten versorgt, die nicht in dem Boulevardblatt stehen. Die Kriminalassistentin Helga Scheer kommt Krawuttke recht farbenfroh daher. Sie sieht aus wie ein Extrablatt, etwas halsschreierisch. Früher hätte er gesagt, sie trägt ein Kirmeskleid. Ob sie heute etwas vorhat? Auch ihr noch junges Gesicht hat bestimmt heute länger in den Spiegel geschaut. Bauernmalerei nennt er das. Aber er enthält sich eines Kommentars. Sie wird schon ihre Gründe haben. Als sie ihm die tägliche Post auf den Schreibtisch legt, kriecht ein Duft von Chanel Nr. 5 in seine Nase. Krawuttke sieht sie fragend an und entdeckt die Plüschaugen, die vielsagend schweigen. Das gelingt keinem Mann. Dann haucht sie: „Herr Kollege, ich habe diese Nacht von Ihnen geträumt“.
„Und was habe ich damit zu tun. Waren wir wieder Bösewichten auf der Spur?“
„Sie sind aber schwer von Begriff. Sie waren die Hauptperson.“ Sie schlug ihre Plüschdinger nieder und wurde rot. Dann flüsterte sie:
„Ich glaube, ich habe mich in Sie verliebt.“ Dabei wandte sie sich dem Fenster zu und wich meinen Augen aus. Er folgte ihr mit einem fragenden Blick. Sie drehte sich rasch um und sagte leise, dass nur er es hören konnte:
„Sagen Sie um Gottes Willen nichts Ihrer Frau, die würde mir die Augen auskratzen.“
„Das walte Hugo.“
„Halten Sie es bitte für sich. Das muß jetzt unser kleines Geheimnis bleiben. Denken Sie mal darüber nach, oder bin ich Ihnen so unsympathisch?“ Krawuttke schweigt in sich hinein. Soll er ihr unwirsch übers Mundwerk fahren? Dann würde sich das auf das Dienstverhältnis negativ auswirken. Schließlich ist diese Frau für ihn eine große Hilfe. Er braucht jetzt erst einmal Zeit. Eine solche Offerte hat er noch nie bekommen. Dann sagt er:
„Lassen wir das heute. Eines kann ich schon jetzt von mir geben. Sie sind mir nicht einerlei. Aber lassen Sie mich erst einmal darüber schlafen.“
„Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich will mich nicht in Ihre Ehe einmischen. Aber ich fühle mich innerlich zu Ihnen hingezogen. Das kann ich nicht verhindern. Ich hab Schmetterlinge im Bauch und will Sie auch nicht drängeln.“ Krawuttke läßt ihren Einwand unbeantwortet und beginnt in den Akten zu blättern. Doch die Scheer legt nach.
„Ich wäre schon zufrieden, wenn wir von dem steifen Sie Abstand nehmen und zum Du übergehen.“
„Wenn es sonst nichts bedeutet, einverstanden.“ Im Nachhinein macht sich Krawuttke Vorwürfe, weil eine Duzfreundschaft seine Autorität untergraben wird. Er bringt an dem Tag nichts Weltbewegendes auf die Reihe. Er ist etwas verwirrt, auf der Schifffahrt würde man sagen, aus dem Ruder gelaufen. Inzwischen ist Winter. Krawuttke hat am Abend wieder ellenlange Diskussionen mit seiner hochschwangeren Marie. Schmerzen hat sie keine, aber einen ausgewachsenen Weltschmerz.
„Was mag nur mit unserem Nachwuchs werden in dieser unsicheren Zeit? Die Welt ist so korrupt, so verdorben, dass sogar weltweit Rezession um sich greift. Im Gaza ist Krieg und die Russen pokern mit ihrem Gas und das bei den eisigen Temperaturen. In Afrika sterben die Kinder …“
„Wir sind nicht in Afrika und haben weder Krieg, noch haben wir Geld verloren bei den Banken und Gas gibt’s bei uns genug. Außerdem heizen wir mit Oel. Und das ist sogar billiger geworden. Ich glaube, du hast ein anderes Problem. Du wirst noch mit anderen Unannehmlichkeiten rechnen müssen. Neben der Übelkeit mit Erbrechen wird sich Brustspannen mit erhöhter Empfindlichkeit der Brustwar- zen einstellen. Auch Hämorriden können auftreten. Das sind Krampfadern im Darm, Sodbrennen und später Harnfluss, Krämpfe, Nasenbluten, Schambeinschmerzen, Schlaflosigkeit, Verstopfung und Ödeme sind nicht selten. Bislang bist du davon noch verschont geblieben.“
„Du machst mir ja schöne Aussichten. Du hast gut lachen. Männer haben ihr Vergnügen und wir Frauen müssen das alles aushalten. Wenn Männer Kinder kriegen müssten, würde die Menschheit aussterben.“
„Möchtest du ein Mann sein?“
„Keineswegs, ich bin froh, eine Frau zu sein. Nur wünsche ich mir etwas mehr Verständnis für meine augenblickliche Lage.“ Als sie das äußerte, nahm er Marie in den Arm und drückte sie an sich, wie er das sonst auch getan hatte. Aber er spürte eine dezente Zurückhaltung bei ihr. Sie fühlte sich für ihn etwas anders an, fülliger am Busen und fülliger am Leib. Kein Wunder. Sofort schlich sich bei ihm die idiotische Frage ein, wie sich wohl die Scheer anfühlen würde. Verdammt nochmal. Dieser Gedanke ist nicht zulässig. Dennoch schlich sich der anstehende Kameradschaftsabend in seinen Kopf, der in der nächsten Woche im Vereinsheim des Polizeisport-
vereins stattfinden wird. Da wird auch die Scheer auflau-
fen. Hoffentlich geht das alles sauber über die Bühne. Er muß nämlich öfter an sie denken. Zwischen Krawuttke und der Scheer kommt es auf dem Kameradschaftsabend im Vereinsheim zu ersten Zärtlichkeiten. Die Feierlaune hat sie zusammengeführt. Natürlich saß sie neben ihm, ganz wie im Dienst, denn dort sind sie ein Team. Das darf Krawuttkes Ehefrau unter keinen Umständen erfahren. Was war passiert? Heimlich trafen sich plötzlich ihre Hände unter dem Tisch. Und zwei Knie. Jetzt strickt sie nicht nur an seiner Karriere sondern auch an seinem Charakter und an der Loyalität seiner Ehefrau gegenüber. Als sie dann sogar auf dem Nachhauseweg gemeinsam im Taxi saßen, fanden sich ihre Hände wiederum, ohne dass es dem Taxifahrer aufgefallen wäre. Er kennt die Kollegin zu wenig, weiß nicht, woher sie kommt, noch was in ihrer Vergangenheit passiert ist. Er weiß nur, dass sie zu ihm nach Trier versetzt wurde. Er müsste einfach mal in der Verwaltung ihre Personalakte anfordern. Aber dann würden die womöglich Fragen stellen. Sachlich ist der Frau nichts anzuhaben.
Zwischen Krawuttke und Fräulein Scheer entwickelt sich ein heimliches Liebesverhältnis, das Krawuttke noch arge Kopfschmerzen bescheren sollte, ganz abgesehen von dem Getuschel in der Dienststelle, das die Betroffenen jedoch in ihrer liebestollen Blindheit einfach ignorierten oder nicht bemerken wollen. Aber andere bemerken es sehr wohl. Plötzlich stehen frische Blumen auf Krawuttkes Schreibtisch. Selbst das Frühstück nach der Morgenpost mit Serviette und Besteck wirft einen untrüglichen Blick auf die neue Verbundenheit. Und die strahlenden Minen der Beiden verraten eine neue Allianz. Krawuttke hat öfter Abendtermine, die er mit Observation begründet. Seine Frau Marie hat den Braten längst gerochen. Sie macht spitze Bemerkungen:
„Das war doch früher nicht so. Wieso bist du jetzt auch in der Dunkelheit unterwegs. Da stimmt doch was nicht.“ Er hingegen kontert:
„Du hast eben einen Polizisten, wie du sagst, einen Bullen geheiratet und keinen Bürohengst.“
„Bulle könnte schon sein. Das ist auch so was wie ein Hengst.“
„Jetzt werde nicht beleidigend.“
„Ich fahre morgen zu meiner Mutter, die hat, wie du sicher weißt, Geburtstag. Aber das interessiert dich sicher nicht.“
„Sag einen schönen Gruß von mir. Bleibst du über Nacht?“
„Glaubst du, ich fahre nur für ein paar Stunden in die Pfalz?“ „Nein, das glaube ich nicht. Das hast du bisher noch nie geschafft. Fahr nur hin und tanke Kraft. Wenn unsere Kinder mal erwachsen sind, dann freuen wir uns auch, wenn sie uns besuchen.“
„Wie großzügig von dir!“ Die Konversation plätschert vor sich hin bis zum Beginn der Tagesschau. Dann hatte eine Andere das Wort. Dem verliebten Casanova kam das nur gelegen. Sturmfrei und unkontrolliert, dieser Gedanke gefällt Krawuttke. Mit einer gespielten Abschiedsszene und dem gehauchten Kuss verabschieden sich die Beiden am nächsten Morgen. Marie steuert ihren Käfer in Richtung Kaiserslautern und Horst, der verwegene Kriminalbeamte erscheint frohgemut in seiner Dienststelle. Wo ist denn die Scheer? Was soll das? Ob die krank ist, aber dann hätte sie sich doch telefonisch gemeldet. Es kommt kein Anruf. Krawuttke wartet noch eine Stunde. Denn rappelt er sich verärgert auf und fährt zu ihrem Appartement. Doch auf sein Klingelzeichen rührt sich nichts. Der wird doch hoffentlich nichts zugestoßen sein. Er ruft die Wache an, ob irgendwo ein Unfall gemeldet wurde. Fehlanzeige. Nach einer weiteren Stunde erhält er vom Wasser- und Schifffahrtsamt den Hinweis, es gebe auf dem Neumage- ner Römerweinschiff wieder eine Leiche, eine weibliche. Krawuttke ist sofort sicher, das wird wohl wieder so ein Monster sein, ein verkapptes Fischmenschwesen wie beim ersten Fund. Er sagt in sich hinein, das Römerweinschiff muß eine sonderbare Anziehungskraft besitzen. Unterwegs konstruiert er sein Gedankengerüst. Die Alte ist verschwunden mitsamt ihrer Expertise. Jetzt ist die Menschheit doch nicht schlauer geworden. Und nun ist auch die Scheer weg. Wo leben wir eigentlich? Und dann wieder eine vermutete Leiche auf dem gleichen Schiff. So viel Duplizität gibt es nicht. Er ist schließlich Realist. Es ist am Vormittag, bald ist Mittag. Als er in Neumagen eintrifft, läutet das Uhrwerk im Kirchturm. Wenn er richtig mitge-
zählt hat, waren es sechsundzwanzig Schläge. Erst nach einer kurzen Pause beginnt das Läutwerk wie vor einem Gottesdienst, das eigentliche Mittagsläuten. Seltsame Bräuche haben die. Als er sein Fahrzeug verlässt, fällt ihm eine Gruppe von Menschen auf, die gestikulierend am Ufer vor dem Weinschiff diskutiert. Er zieht seinen Dienstausweis und verschafft sich Durchlass. Was er dann sieht, raubt ihm den Atem. Er wird kreidebleich und muß sich an der hölzernen Bordwand festhalten. Reglos schaut er auf das bekannte Gesicht, das er in den letzten Tagen so stürmisch geliebt, das er abgeküsst und gestreichelt hatte. Er kann seinen Blick nicht abwenden von der Blutlache, die aus ihrem Busen und aus dem sonst plappernden Mund quoll. Schnell seine Augen schließen und hoffen, wenn er sie wieder öffnet, es sei nur ein böser Traum gewesen. Aber es war bittere Realität. Ist das die Strafe Gottes für seinen Fehltritt in der Ehe? Seine Assistentin und Geliebte Helga Scheer ist tot. Ihr Herzblut zerronnen auf dem mystischen Schiff. Krawuttke ist in der Wirklichkeit angekommen. Er verspürt einen Stich in seinem Herzen und fühlt sich um zehn Jahre älter. Sofort meldet sich sein Kriminalinstinkt. Er fragt: Was hat die Helga auf dem Schiff gesucht und wer hat sie erstochen? Er entnimmt seinem Aktenkoffer die weißen Gummihandschuhe. Bevor er sie anzieht, benachrichtigt er seine Kollegen von der Gerichtsmedizin und die Spusi über sein Mobiltelefon. Bevor die Truppe eintrifft, ist bereits der Pressefotograf vom Volksfreund zur Stelle. Der ist ja schneller als die Polizei. Immer wieder stiert der Kripomann auf den Messerschaft, der noch im Oberkörper von Helga steckt. Ehe Krawuttke begreift, wieso der so schnell zur Stelle ist, hat er auch schon drei Bilder im Kasten. Krawuttke herrscht den Pressemann an:
„Wer hat Sie denn gerufen?“
„Die WSP, Wasserschutzpolizei.“
„Schleichen Sie ganz schnell von dannen. Lassen Sie mich meine Arbeit machen!“ Mit einem unverständlichen Gemurmel verschwindet der Fotograf. Immer wieder kommen die Bilder der letzten Nacht vor Krawuttkes Augen, als er mit der Helga ein Stelldichein in ihrer Wohnung hatte. Er ist sicher, sie hatte ihn geliebt. Sie liebte ihn auf anderer Weise als seine Frau Marie; viel gefühl-
voller, inbrünstig und ohne Diskussionen. Sie war wie ein Vulkan. Dieser Vulkan riss ihn in eine andere Welt. Und nun ist sie tot, mausetot.
Als die Kollegen eintreffen, wird er aus seinen Träumen gerissen. Paralysiert steht er neben sich.
Er weiß nicht einmal, wie er nach Trier zurückgefunden hat. Er kann sich nicht an Einzelheiten der Rückfahrt erinnern.
Es hat keine vierundzwanzig Stunden gedauert, bis die ersten Ergebnisse vorliegen. Krawuttke muß für die Tatzeit ein Alibi nachweisen. Das ist nur eine Formalie. Er ist ja im Büro gewesen, hat Helga Scheer vermisst. Er findet diese Frage idiotisch. Aber das enge Verhältnis zu ihr im Dienst konnte nicht unter den Teppich gekehrt werden. So sind sie, die Ermittlerkollegen. Sie haben sogar in seiner Wohnung eine Hausdurchsuchung angeordnet und dabei ein fehlendes Messer im Messerblock entdeckt. Es könnte doch sein, dass er der Mörder sei und habe sie bei Nacht und Nebel auf das unschuldige Römerweinschiff geschafft.
Es stellte sich heraus, die Scheer war eine Adoptivtochter der Alten mit dem Boskopgesicht. Offenbar wollte sie auf eigene Faust noch einmal das Römerweinschiff in Ruhe untersuchen und nach Hinweisen suchen für das Ver-
schwinden ihrer Adoptivmutter. Warum hat sie das getan. Warum hat sie ihre Beziehung zu der Alten verschwiegen?
Es kann doch nicht sein, dass sich die Scheer deshalb nach Trier versetzen ließ, weil das unbekannte Fischmensch-
wesen vom Rhein kommend in die Mosel abgebogen war. Dann hätte Fräulein Scheer gewusst, dass ihre Pflegemut-
ter hinter dem sonderbaren Wesen her gewesen war.
Vermutlich ist Marie ihr heimlich gefolgt. Es ist zum Streit gekommen, in dessen Verlauf Marie ihr das Steakmesser in das Herz gestochen hatte. Motiv Eifersucht.
Die Fingerabdrücke an dem Messer wurden Marie zugeordnet. Kein Wunder, denn schließlich arbeitet sie damit. Auch Krawuttkes Fingerabdrücke werden gefunden. Aber es ist ein Allerweltsmesser. Rostfrei Solingen.
In Krawuttkes Kopf tobt eine nie da gewesene Revolution. Hat Marie ihn belogen, als sie ihre Absicht, nach Kai-
serslautern zu fahren, äußerte? Ihr rosaroter Flitzer stand jedenfalls nicht mehr auf dem Parkplatz. Sollte sie etwa einen Umweg über Neumagen benutzt haben? Oder hat sie ihn observiert, als er am Abend das Stelldichein mit der Scheer hatte? Ist er schuld an der Untat? Ja, er fühlt sich schuldig, schuldig der Untreue.
Ein Anruf bei den Schwiegereltern bestätigt seinen Verdacht nicht, denn seine Schwiegermutter gibt Marie ein Alibi. „Ja, ist am Donnerstag gegen elf Uhr hier vorge-
fahren. Nein, sie ist nicht im Haus, ist mit Papa in die Stadt gefahren zum Einkaufen.“
Sein Trierer Vorgesetzter nimmt ihm den Fall ab, weil er und seine Frau darin verwickelt seien. Er wird vorläufig vom Dienst suspendiert. Die Zwangspause kostet seinen letzten Nerv. Er überlegt unablässig, wer diesen Mord verübt haben könnte. Er weiß nur, er ist es nicht gewesen. Dann spekuliert er in seinem Kopf, ob ein ihm unbekannter Liebhaber der Scheer aus verschmähter Liebe die Tat begangen haben könnte. Die Helga hat nie durchblicken lassen, dass es je einen Mann in ihrem Leben gegeben hat.
Entweder hatte sie das verschwiegen oder ich bilde mir ein, ich sei der erste Liebhaber in ihrem Leben. Ich bin doch nicht von gestern.Wenn es ihn gibt, werde ich ihn finden. Auf jeden Fall. Das schwöre ich mir.

Krawuttke hat Skrupel. Jetzt muß er seiner Frau erklären, weshalb er vom Dienst suspendiert ist. Soll er ihr sagen, dass seine Geliebte mit eingeschlagenem Schädel im Römerweinschiff von Passanten entdeckt wurde? Das kann er nicht verhindern, denn spätestens übermorgen wird es im Volksfreund stehen. „Kriminalbeamtin Opfer eines Verbrechens“, oder so ähnlich. Das Kaffeekränzchen tagt mal wieder bei Krawuttkes zuhause. Denn es gibt brand-
heißen Zündstoff. Krawuttke wundert sich, dass die Damen zu einer unüblichen Zeit ihre Köpfe zusammen stecken. Die kommen sonst nur donnerstags. Und warum spielen die heute kein Rommee? Ob sie seinen Fehltritt in der Ehe diskutieren? Das wäre ihm peinlich. Eigentlich geht das Außenstehende nichts an. Die sollen mal gefälligst vor ihrer eigenen Haustür kehren. Er ist sicher, Marie hat das ihren Eltern auch brühwarm erzählt. Er hat jetzt schon Angst vor dem nächsten Zusammentreffen mit seinen Schwiegereltern.
Das erste Gespräch mit seiner Marie hat er noch im Ohr. Sie beschimpfte ihn mit den Worten Ehebrecher, Fremd-
gänger, Drecksack und Haderlump. Dann begann eine neue Eiszeit mit Sendepausen, dann wieder Wutausbrüche, die er unkommentiert hinnehmen musste.
Als er an diesem Tag seine Wohnung betritt, hört er schon das Getuschel. Doch das verstummt augenblicklich, als er das Wohnzimmer betritt. Tiefes Schweigen lagert über den Köpfen. Feindliche Blicke irren umher. Krawuttke begrüßt die drei Damen mit Handschlag. „Guten Tag Frau Wilden, guten Tag Frau Freundlieb, guten Tag Frau von Endenich. Für seine Marie hat er einen gehauchten Wangenkuss übrig, den sie mit einem strafenden Blick quittiert. Er kommt sich vor wie ein Fremdkörper. Er ist sicher, hier wird ein Komplott gegen ihn geschmiedet.

Der Vernehmungsbeamte gilt im Revier als scharfer Hund. Vielleicht deshalb, weil er Hundt heißt. Horst Hundt, also HH wie Hansestadt Hamburg. Zu seiner Ehrenrettung Hundt mit dt. Das entschärft seinen Beinamen. Früher litt er darunter. In der Grundschule nannten sie ihn „Wauwau“, was ihm gar nicht passte. Er konnte sich nur mit seinen Fäusten wehren. Es gab blutige Nasen und Einträge in das Klassenbuch. Kinder sind grausam, diese Erfahrung übernahm er sogar in sein Erwachsenenleben. Er hatte sich frühzeitig den Polizeiberuf erwählt. Hier konnte es seine Überlegenheit ausleben. Kein Wunder, dass man ihm im Revier den Beinamen "scharfer Hund" verpasste.
Da kommt ihm der Fall Krawuttke im eigenen Beritt gerade gelegen. Diesem selbstgefälligen Sanguiniker wird er jetzt gehörig in die Suppe spucken. Der eigenen Frau einen dicken Bauch machen und gleichzeitig mit dem jungen Pflänzchen Helga flirten. Das schreit gerade zum Himmel.

Horst Hundt legt sich einen genialen Plan zurecht.



Hundt bestellt fünf Verdächtige aufs Revier. Krawuttke, seine Frau Marie, die drei Damen Wilden, Freundlieb und Endenich. Freitagmorgen 10 Uhr läßt er sie alle antanzen und im Wartezimmer schmoren. Das ist seine Taktik. Von dem versteckten Mikrofon hinter dem Gummibaum in der Ecke weiß nur der Sonderermittler Hundt. Schweigend sitzen die Verdächtigen auf ihren Stühlen und mustern die Umgebung. An der Wand hängt noch die vermisste Studentin, die im Sommer 2007 in Trier nach einem Sommerfest der Fachhochschule spurlos verschwunden ist. Die Blicke der Wartenden suchen den Fußboden ab und wandern zur Decke oder verfolgten den Flug zweier Fliegen. Keiner spricht. Im Nebenzimmer sitzt der Ermittler Hundt und wartet vergeblich auf Gesprächsfetzen, die jedoch ausbleiben. Hin und wieder vernimmt er ein Hüsteln, ein Hinweis, dass das Mikro funktioniert. Das macht ihn stutzig, er glaubt, das sei konspirativ. Ob der Kollege Krawuttke die Bande gewarnt hat? Aber der kann doch unmöglich sein Mikro entdeckt haben. Ob der diesen Trick kennt, vielleicht aus der Polizeischule? Krawuttke schweigt in sich hinein. Er weiß, der Kollege will uns weichkochen. Das ist seine Strategie. Also spielen wir das Spiel mit. Ich bin zwar verdächtigt, aber das muß der Kollege erst einmal beweisen. Wenn das Theater beendet ist, werde ich dem eine gehörige Lektion erteilen. Dem wird er in den Arsch kneifen. Vielleicht gibt es ja im Vorleben von Helga Scheer Figuren, die als Täter infrage kommen.
Das Warten auf den „scharfen Hund“ nervt. Die Frauen legen wie Soldatinnen das linke über das rechte Bein und wippen mit dem linken Fuß und demonstrieren so unbe-
wusst Eintracht wie im Ballett. Nacheinander blicken sie, jede für sich, auf ihre Armbanduhr. Sie kommen sich vor wie im Wartezimmer des Zahnarztes. Nach einer geschätz-
ten Viertelstunde öffnet sich unbemerkt die Tür.
„Guten Morgen, die Herrschaften“, tönt Horst Hundt. Alle Blicke vereinen sich auf die stattliche Figur des Vierzigjährigen, der Mann in der Filmstarfigur und ge-
pflegtem Äußeren. Sofort entsteht bei den Frauen ein Aha-Effekt, Krawuttke denkt innerlich an einen Lackaffen.
Horst Hundt mit verbindlichem Tonfall:
„Entschuldigen Sie bitte, normal haben ja die Damen Vortritt, aber in diesem besonderen Fall muß ich meinen verehrten Kollegen Krawuttke vorziehen. Bitte, verstehen Sie das nicht falsch. Es hat nichts mit Wertigkeit zu tun.“

Krawuttke folgt ihm in das Vernehmungszimmer.


„Nehmen Sie Platz, Kollege“.
Krawuttke folgt der Einladung. Er registriert das Wort Kollege, obschon das „Bitte“ fehlt. Ob er jetzt auf Kumpel macht?
„Glauben Sie mir, das ist auch für mich eine unange-
nehme Situation, einen Mann aus den eigenen Reihen vernehmen zu müssen.“
„Sie tun Ihre Pflicht, das sehe ich ein.“
„Krawuttke, haben Sie Ihre Kollegin Scheer umgebracht?“
„Nein, habe ich nicht. Warum sollte ich das tun?“
„Es ist uns nicht verborgen geblieben, dass Sie privaten Umgang mit ihr hatten. Vielleicht war es ja mehr als nur Umgang. Hatten Sie ein Verhältnis mit ihr?“
Krawuttke ist klar, dass er nicht leugnen kann. Deshalb antwortet er wahrheitsgetreu:
„Ja, wir haben uns geliebt.“
„Richtig, und dafür haben Sie jetzt die Quittung. Kriminalrat Benrath hat Sie deshalb vorübergehend beurlaubt. Wenn ich Sie richtig verstehe, haben Sie die Tat nicht begangen“. Krawuttke nickt mit dem Kopf.
„Kopfnicken genügt nicht“.
„Nein, ich wiederhole, ich habe sie nicht getötet“.
„Es wäre auch töricht von Ihnen. Jetzt helfen Sie mir mal, wer sonst hätte ein Motiv?“
„Vielleicht meine eigene Frau oder eine ihrer intimen Freundinnen, die ich nur als Rommeedamen kenne“.
„Wissen Sie, uns liegt ein Messer aus Ihrem Messerblock vor mit Fingerabdrücken Ihrer Frau und mit dem Blut des Opfers. Daran ist nichts zu rütteln“.
„Meine Frau ist schwanger. Ich kann mir nicht vorstel-
len, dass sie in ihrem Zustand einen Mord verübt“.
Der Fragesteller Hundt macht in bedenkliches Gesicht und gibt zu bedenken:
„Jeder von uns hat schon Pferde kotzen gesehen vor der Apotheke“.
„Diesen Spruch kenne ich, dennoch glaube ich nach wie vor an die Unschuld von Marie“.
„Was macht Sie so sicher?“
„Weil ich meine Frau kenne, sie ist nicht gewalttätig. Wenn sie streitet, dann mit Worten, mit Argumenten, eben mit den Waffen einer Frau bis hin zu der Lysistrata, die in der Antike die Männer von Athen und Sparta durch Liebesentzug zum Frieden zwangen“.
„Und darunter hatten Sie auch zu leiden?“
„Ja natürlich. Das war dann auch der Grund für die Zuwendung zu der Kollegin Scheer. Die war in ihrem

jugendlichen Überschwang unkompliziert locker“.


„Sie geben also unumwunden zu, mit Ihrer Kollegin ein richtiges Liebesverhältnis unterhalten zu haben.“
„Ja, verdammt. Das war so. Ich bin erschüttert von ihrem Tod. Noch vor drei Tagen haben wir miteinander eine tolle Nacht verlebt. Zu der Zeit war meine Frau bei ihren Eltern in Kaiserslautern zum Geburtstag meiner Schwiegermutter“.
„Dann hat Ihre Frau also ein Alibi. Denn genau an jenem Tag wurde unsere Kollegin ermordet“.
„So ist es. Und dabei wollen wir es erst einmal belassen. Sie können jetzt gehen, aber nehmen Sie die andere Tür, um jeglichen Kontakt zu den wartenden Damen zu verhindern“.
Krawuttke verlässt erleichtert das Verhör, wohl wissend, dass dadurch seine Beurlaubung bis zur endgültigen Klärung bestehen bleibt. Jetzt wird Marie Krawuttke zum Verhör gebeten.
Marie gibt sich gelassen. Sie verdrängt das Geschehen schlichtweg und kümmert sich innerlich nur auf das Kind in ihrem Bauch. Sie spürt seit dem langen Warten im Nebenzimmer erstmals Leben. Ihre Gedanken kreisen um die bevorstehende Geburt. Sie hat große Bedenken, was den Fortbestand ihrer Ehe angeht.
„Frau Krawuttke, fühlen Sie sich augenblicklich in der Lage, einige Fragen zu dem Mordfall Scheer zu beantwor-
ten?“
„Fragen Sie nur, es wird schon gehen. Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich bin ja nicht fremdgegangen“.
„Darum geht es auch nicht. Wie aber kommen Ihre Fingerabdrücke auf die Tatwaffe?“
„Sie meinen das Messer“.
„Ja, das meine ich. Denn darauf sind auch Blutspuren der Toten zu finden.“
„Mit diesem Messer arbeitete ich schließlich in der Küche. Wie das Messer entwendet wurde und wie die Blutspur darauf kam, ist mir unerklärlich“.
„Haben Sie denn das fehlende Messer vermisst, wenn ja, wann haben sie es vermisst?“
„Das ist mir erst aufgefallen, nachdem ich vom Geburtstag meiner Mutter aus Kaiserslautern zurückkam. Das war vor drei Tagen“.
„Ihr Mann hat bestätigt, dass Sie Ihre Eltern besucht hatten. Damit hätten Sie ein Alibi“.
„Hätten? Ich habe ein Alibi“.
„Was wir allerdings noch überprüfen müssen“.
„Das können Sie gerne tun“.
„Nun, dann habe ich noch einige Fragen zu den drei Damen da draußen, nämlich zu Frau Endenich, Frau Freundlieb und Frau Wilden. Sind die mit Ihnen verwandt oder verschwägert, oder sind das nur Bekannte von Ihnen?“
„Es sind lediglich Freundinnen. Wir treffen uns jede Woche bei uns zuhause zum Rommeespiel. Wir spielen in eine Kasse, und einmal im Jahr machen wir damit einen vergnügten Ausflug, genau so wie die Männer im Skatclub oder im Kegelclub praktizieren. Im letzten Jahr waren wir in Luxemburg Stadt mit Stadtbummel, gut Essen, Trinken und Shopping“.
„Und unter Freundinnen erzählt man sich nicht nur Banalitäten. Da geht es doch sicher schon mal ans Eingemachte. Da wurde doch sicher auch der Fehltritt Ihres Mannes beleuchtet“.
Diese Bemerkung ist Marie sichtlich unangenehm. Jetzt weiß das ganze Revier von dem Verhältnis zwischen der Scheer und Horst.
„Ja natürlich, vorletzte Woche kam ich ihm hinter die Schliche. Ich war niedergeschlagen. Das haben die Frauen gemerkt. So etwas kann ich nicht überspielen. Da hab ich meinem Herzen Luft gemacht. Danach ging es mir besser“.
„Ich kann es Ihnen nachfühlen, dass Sie sich schon mal besser gefühlt haben“, entgegnet Horst Hundt.
„Ja, ich denke jetzt öfter zurück an die Zeit unseres Kennenlernens. Ich war so schwärmerisch, offen für all die schönen Dinge dieser Welt, die ich umarmen mochte. Einmal sagte ich zu Horst, ich möchte die ganze Welt bunt anmalen. Damals hat Horst mir eine unpassende Antwort gegeben. Er meinte, dann hätte ich eigentlich den Malerberuf ergreifen müssen. Das fand ich gar nicht komisch. Aber so ist er. Sie kennen ihn sicher auch“.
Der Beamte lächelte verschmitzt und bedankt sich für das Gespräch. Dann entlässt er Marie Krawuttke und wendet sich dem „Kaffeekränzchen“ zu.

Liebe Leser, diese Geschichte ist hier nicht komplett. Sie erschien jetzt im Engelsdofer Verlag in Leipzig. Ab sofort kann das Buch unter IBSN 978-3-86901-641-2 zum Preis von 10 Euro in jeder Buchhandlung bezogen werden.


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Texte: Alle Rechte beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 23.12.2008

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